Das Lied von Eis und Feuer 06 - George R.R. Martin - E-Book
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Das Lied von Eis und Feuer 06 E-Book

George R.R. Martin

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Beschreibung

Die Streiter von Winterfell sehen sich plötzlich einer ganz neuen Gefahr gegenüber. Eine Barbarenhorde dringt aus dem Norden in die Sieben Königreiche ein – und ihre Vorhut besteht aus beinahe unbezwingbaren übernatürlichen Kreaturen!

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Inhaltsverzeichnis

ARYABRAN JON DAENERYS ARYA JAIME CATELYN SAMWELL ARYA JON CATELYN ARYA CATELYN A RYA TYRION DAVOS JON BRAN DAENERYS TYRION SANSA TYRION SANSA JAIME DAVOS JON A RYA TYRION JAIME SANSA JON TYRION DAENERYS JAIME JON ARYA SAMWELL JON TYRION SAMWELL JON SANSA EPILOG Anhang - DER KÖNIG DES NORDENS
DER KÖNIG VOM TRIDENT
Die Könige und ihre Höfe
DER KÖNIG AUF DEM EISERNEN THRON DER KÖNIG IN DER MEERENGE DIE KÖNIGIN JENSEITS DES MEERES DER KÖNIG DER INSELN UND DES NORDENS
Weitere große und kleine Häuser
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Rebellen, Schurken und verschworene Brüder - DIE VERSCHWORENEN BRÜDER DER NACHTWACHE Die Bruderschaft ohne Banner
EINE GEFOLGSCHAFT VON GEÄCHTETEN DIE WILDLINGE ODER DAS FREIE VOLK
DANKSAGUNGCopyright

ARYA

Der Mann auf dem Dach starb als Erster. Er hatte zweihundert Meter entfernt am Schornstein gehockt und war nur ein schemenhafter Schatten in der Dunkelheit kurz vor dem Morgengrauen, doch als der Himmel sich zu erhellen begann, rührte er sich, reckte sich und stand auf. Anguys Pfeil traf ihn in die Brust. Der Mann stürzte schlaff vom Schieferdach und landete vor der Tür der Septei.

Dort hatte der Mummenschanz zwei Wachen postiert, doch sie waren durch das Licht ihrer Fackel geblendet, und die Geächteten hatten sich bereits nah herangeschlichen. Kyl und Kerbe ließen gleichzeitig ihre Pfeile fliegen. Ein Mann brach mit einem Pfeil in der Kehle zusammen, der zweite wurde in den Bauch getroffen. Dabei ließ er die Fackel fallen, und die Flammen loderten an ihm hoch. Er schrie, als seine Kleider Feuer fingen, und damit war es mit der Heimlichkeit vorbei. Thoros gab den Befehl zum Angriff, und die Geächteten stürmten los.

Arya schaute aus dem Sattel von der Kuppe eines bewaldeten Hügels aus zu. Von hier konnte man die Septei, die Mühle und die Brauerei sehen und natürlich auch die Stallungen, die verwüsteten Felder, die verbrannten Bäume und den Schlamm zwischen den Gebäuden. Die meisten Bäume hatten inzwischen ihr Laub verloren, und die wenigen, die noch verdorrte braune Blätter trugen, beeinträchtigten die Sicht kaum. Lord Beric hatte Mugel und den Bartlosen Dick zu ihrem Schutz abgestellt. Arya hasste es, zurückgelassen zu werden wie ein kleines Kind, aber wenigstens musste auch Gendry dableiben. Widerspruch hatte keinen Zweck. Dies war Krieg, und im Krieg galt es zu gehorchen.

Der Horizont im Osten glühte golden und rosa, und über ihrem Kopf spähte der halbe Mond zwischen vorbeihuschenden Wolken hindurch. Ein kalter Wind wehte, und Arya hörte das rauschende Wasser und das Knarren des großen hölzernen Mühlrades. In der Morgenluft lag der Geruch von Regen, doch statt Tropfen flogen brennende Pfeile durch den Morgendunst, zogen helle Feuerbänder hinter sich her und bohrten sich in die Holzwände der Septei. Einige durchschlugen die Fensterläden, und bald krochen dünne Rauchfäden aus den zerbrochenen Fenstern.

Zwei vom Mummenschanz stürzten aus der Septei, Äxte in den Händen. Anguy und die anderen Bogenschützen warteten schon. Einer der Axtträger starb auf der Stelle. Dem anderen gelang es, sich zu ducken, daher traf ihn der Pfeil nur in der Schulter. Er schleppte sich weiter, bis ihn zwei weitere Pfeile erwischten, und zwar so kurz hintereinander, dass man unmöglich sagen konnte, welcher zuerst getroffen hatte. Die langen Schäfte durchschlugen seinen Brustpanzer, als wäre er aus Seide und nicht aus Stahl. Der Mann brach zusammen. Anguy hatte Pfeile sowohl mit Feldspitzen als auch mit Jagdspitzen. Eine Feldspitze vermochte selbst den härtesten Harnisch zu durchschlagen. Ich werde lernen, wie man mit Pfeil und Bogen umgeht, dachte Arya. Sie liebte den Schwertkampf, dennoch war offensichtlich, wie nützlich Pfeile sein konnten.

Aus der Westwand der Septei schlugen Flammen, und dichter Rauch quoll aus einem zerbrochenen Fenster. Ein myrischer Armbrustschütze steckte den Kopf aus einem anderen Fenster, schoss einen Bolzen ab und duckte sich sofort wieder, um nachzuladen. Auch von den Ställen her hörte sie Kampflärm, Rufe, die sich mit dem Wiehern der Pferde und dem Klirren von Stahl vermischten. Tötet sie alle, dachte sie grimmig. Sie biss sich so heftig auf die Unterlippe, dass sie Blut im Mund schmeckte. Tötet jeden Einzelnen von ihnen.

Der Armbrustschütze erschien abermals, doch kaum hatte er seinen Bogen abgeschossen, zischten drei Pfeile an seinem Kopf vorbei. Einer prallte scheppernd von seinem Helm ab. Der Kopf verschwand mit Armbrust und allem. Arya bemerkte nun Flammen in mehreren Fenstern des oberen Stockwerks. Rauch und Morgennebel bildeten einen schwarzweißen Dunst in der Luft. Anguy und die Bogenschützen schlichen näher heran, um ihre Ziele besser anvisieren zu können.

Dann sprudelte der Mummenschanz plötzlich wie wütende Ameisen aus der Septei hervor. Zwei Männer aus Ibben rannten hinter mit Fell besetzten Schilden, die sie hoch vor sich hielten, durch die Tür, ihnen folgte ein Dothraki mit einem großen krummen Schwert und Glöckchen im Zopf, und danach kamen drei Söldner aus Volantis mit wilden Tätowierungen. Andere kletterten aus den Fenstern und sprangen auf den Boden. Arya sah, wie ein Mann in die Brust getroffen wurde, während er noch ein Bein auf der Fensterbank hatte, und hörte seinen Schrei, als er fiel. Der Rauch wurde dichter. Bolzen und Pfeile flogen hin und her. Watty ging grunzend zu Boden, der Bogen glitt ihm aus der Hand. Kyl versuchte gerade, einen neuen Pfeil aufzulegen, als ihm ein Mann in schwarzer Rüstung einen Speer durch den Bauch rammte. Sie hörte Lord Berics Ruf. Aus den Gräben und Bäumen stürmte der Rest seiner Truppe mit Stahl in der Hand los. Arya entdeckte Zits hellgelben Mantel, der hinter seinem Reiter im Wind wehte, während Zit den Mann niederritt, der Kyl getötet hatte. Thoros und Lord Beric waren überall zugleich und ließen die flammenden Schwerter kreisen. Der Rote Priester hackte auf einen Schild aus Rohhaut ein, bis dieser in tausend Stücke zerbrach, während sein Pferd dem Gegner die Hufe ins Gesicht schlug. Ein Dothraki kreischte schrill und griff den Blitzlord an, und das brennende Schwert prallte auf sein krummes Schwert. Die Klingen küssten sich, trennten sich und küssten sich erneut. Dann loderte das Haar des Dothraki auf, und einen Augenblick später war er tot. Arya sah auch Ned, der Seite an Seite mit dem Blitzlord kämpfte. Das ist ungerecht, er ist nur ein bisschen älter als ich, sie hätten mich auch mitkämpfen lassen sollen.

Das Gefecht dauerte nicht sehr lange. Die Tapferen Kameraden, die noch standen, starben rasch oder streckten die Waffen. Zwei Dothraki gelang es, die Pferde zu erreichen und zu fliehen, jedoch nur, weil Lord Beric sie mit Absicht ziehen ließ. »Sollen sie die Nachricht nach Harrenhal bringen«, sagte er, derweil er das flammende Schwert noch in der Hand hielt. »Sollen der Egel-Lord und seine Ziege ruhig ein paar schlaflose Nächte mehr haben.«

Hans im Glück, Harwin und Merrit aus Mondstadt wagten sich in die brennende Septei, um nach Gefangenen zu suchen. Einige Augenblicke später kamen sie mit acht Braunen Brüdern wieder heraus, von denen einer so schwach war, dass Merrit ihn über der Schulter tragen musste. Unter ihnen befand sich auch ein Septon mit hängenden Schultern und lichtem Haar, der allerdings ein schwarzes Kettenhemd über der grauen Robe trug. »Wir haben ihn unter der Kellertreppe gefunden, wo er sich versteckt hielt«, sagte Hans hustend.

Thoros lächelte, als er den Mann sah. »Du bist Utt.«

»Septon Utt. Ein Mann der Götter.«

»Welche Götter wollen so einen wie dich schon haben?«, knurrte Zit.

»Ich habe gesündigt«, jammerte der Septon. »Ich weiß, ich weiß. Vergib mir, Vater. Oh, ich habe schwer gesündigt.«

Arya konnte sich noch aus ihrer Zeit in Harrenhal an Septon Utt erinnern. Shagwell der Narr hatte gesagt, er weine und bete immer um Vergebung, wenn er wieder einmal einen Knaben umgebracht hatte. Manchmal ließ er sich sogar von den Männern des Mummenschanzes geißeln. Denen bereitete das viel Vergnügen.

Lord Beric schob das Schwert in die Scheide und erstickte so die Flammen. »Gewährt den Sterbenden die letzte Gnade und fesselt den anderen für die Verhandlung Hände und Füße«, befahl er, und genauso geschah es.

Die Verhandlungen waren rasch vorüber. Mehrere Geächtete traten vor und schilderten die Untaten der Tapferen Kameraden: geplünderte Städte und Dörfer, niedergebrannte Felder, vergewaltigte und ermordete Frauen, gefolterte und verstümmelte Männer. Einige erzählten von den Knaben, die Septon Utt verschleppt hatte. Der Septon weinte und betete die ganze Zeit. »Ich bin schwach«, erklärte er Lord Beric. »Den Krieger bat ich oft um Stärke, aber die Götter haben mich sündig erschaffen. Habt Gnade mit meiner Schwäche. Die Knaben, die süßen Knaben … Ich wollte ihnen doch nie wehtun …«

Bald baumelte Septon Utt, nackt wie an seinem Namenstag, von einer hohen Ulme und schwang langsam im Winde hin und her. Die anderen Tapferen Kameraden folgten einer nach dem anderen. Einige wehrten sich und traten mit den Beinen in die Luft, als sich die Schlinge um ihre Hälse zuzog. Einer der Armbrustschützen schrie ständig mit starkem myrischem Akzent: »Ich Soldat, ich Soldat.« Ein anderer bot an, seine Häscher zu Gold zu führen, ein dritter redete auf sie ein, was für einen prächtigen Geächteten er abgeben würde. Einer nach dem anderen wurden sie ausgezogen, gefesselt und gehängt. Tom Siebensaiten spielte auf seiner Harfe ein Klagelied für sie, und Thoros flehte den Herrn des Lichts an, er möge ihre Seelen bis zum Ende aller Zeiten in seinem Feuer schmoren.

Ein Mummenschanzbaum, dachte Arya, während sie zuschaute, wie sie baumelten und ihre bleiche Haut im Flammenschein der brennenden Septei rötlich leuchtete. Schon ließen sich die ersten Krähen nieder, die aus dem Nichts aufgetaucht waren. Arya hörte ihr Krächzen und Keckern und fragte sich, worüber sie sich wohl unterhielten. Sie hatte Septon Utt nicht so sehr gefürchtet wie Rorge und Beißer und einige andere, die sich noch in Harrenhal aufhielten, trotzdem freute sie sich über seinen Tod. Den Bluthund hätten sie ebenfalls hängen oder ihm den Kopf abhacken sollen. Stattdessen hatten die Geächteten zu ihrer Empörung sogar Sandor Cleganes verbrannten Arm behandelt, ihm Schwert, Pferd und Rüstung zurückgegeben und ihn einige Meilen vom Hohlen Hügel entfernt laufengelassen. Lediglich das Gold hatten sie ihm abgenommen.

Bald stürzte die Septei lodernd und rauchend mit Getöse ein, als die Wände das Gewicht des schweren Schieferdaches nicht mehr trugen. Die acht Braunen Brüder sahen niedergeschlagen zu. Sie seien die einzigen Überlebenden, berichtete der älteste, der einen kleinen Eisenhammer an einer Kordel um den Hals trug, wodurch er zum Ausdruck brachte, dass er sich ganz der Verehrung des Schmiedes widmete. »Vor dem Krieg waren wir vierundvierzig, und unsere Septei blühte und gedieh prächtig. Ein Dutzend Milchkühe und einen Bullen hatten wir, hundert Bienenkörbe, einen Weinberg und einen Apfelgarten. Aber als die Löwen hier durchkamen, haben sie uns Wein, Milch und Honig gestohlen, die Kühe geschlachtet und den Weinberg niedergebrannt. Danach … ich kann die ›Gäste‹ schon gar nicht mehr zählen. Dieser falsche Septon war der letzte. Ein wahres Ungeheuer … wir haben ihm all unser Silber gegeben, doch er glaubte, wir hätten noch Gold versteckt, also haben seine Männer einen nach dem anderen von uns ermordet, um unseren ältesten Bruder zum Reden zu zwingen.«

»Wie habt ihr acht überlebt?«, fragte Anguy der Bogenschütze.

»Ich schäme mich, es zuzugeben«, sagte der alte Mann. »Es war meine Schuld. Als die Reihe an mich kam, habe ich ihnen verraten, wo unser Gold versteckt war.«

»Bruder«, meinte Thoros von Myr, »du hast nur eine einzige Schuld auf dich geladen: ihnen den Ort nicht gleich zu verraten.«

Die Geächteten verbrachten die Nacht in dem Brauhaus neben dem kleinen Fluss. Ihre Gastgeber hielten ihre Vorräte unter dem Boden der Stallungen verborgen und teilten das einfache Mahl mit ihren Rettern: Haferbrot, Zwiebeln und eine wässrige Kohlsuppe, die schwach nach Knoblauch schmeckte. Arya fand ein Stück Möhre in ihrer Schüssel und schätzte sich glücklich. Die Brüder fragten die Geächteten nicht nach ihren Namen. Sie wissen Bescheid, dachte Arya. Das wunderte sie nicht. Lord Beric trug den Blitz auf seinem Brustpanzer, seinem Schild und seinem Mantel, und Thoros war in seine rote Robe gekleidet oder besser in das, was von ihr geblieben war. Ein Bruder, ein junger Novize, wagte es, den Roten Priester aufzufordern, während seine Anwesenheit unter ihrem Dach nicht zu seinem falschen Gott zu beten. »Du kannst uns mal«, entgegnete Zit Zitronenmantel. »Es ist auch unser Gott, und ihr schuldet uns euer verdammtes Leben. Überhaupt, was ist falsch an ihm? Vielleicht kann euer Schmied ein zerbrochenes Schwert flicken, aber kann er auch einen verwundeten Mann heilen?«

»Genug, Zit«, befahl Lord Beric. »Unter ihrem Dach gehorchen wir ihren Regeln.«

»Die Sonne hört nicht gleich auf zu scheinen, nur weil wir mal ein oder zwei Gebete verpassen«, stimmte Thoros milde zu. »Ich sollte es ja schließlich wissen.«

Lord Beric selbst aß nichts. Arya hatte ihn noch nie essen sehen, er trank lediglich von Zeit zu Zeit einen Becher Wein. Auch zu schlafen schien er nie. Oft schloss er sein verbliebenes Auge, als wäre er müde, doch wenn man ihn ansprach, schlug er es sofort wieder auf. Der Lord aus den Marschen kleidete sich in seinen schäbigen schwarzen Mantel und seinen verbeulten Brustpanzer mit dem angeschlagenen Emailleblitz. Er ruhte sogar in dieser Rüstung. Der stumpfe schwarze Stahl verdeckte die fürchterliche Wunde, die der Bluthund ihm zugefügt hatte, genauso wie der dicke Wollschal den dunklen Ring um die Kehle versteckte. Doch nichts verbarg den zerschmetterten Kopf, der an der Schläfe eingedrückt war, das rohe rote Fleisch in der Höhle, in der das Auge fehlte, oder den Schädel, der sich unter dem Gesicht abzeichnete.

Arya betrachtete ihn aufmerksam und rief sich die Geschichten in Erinnerung, die in Harrenhal über ihn erzählt wurden. Lord Beric spürte ihre Furcht offensichtlich. Er wandte ihr den Kopf zu und winkte sie zu sich. »Mache ich dir Angst, Kind?«

»Nein.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nur … also … ich dachte, der Bluthund hätte Euch getötet, aber …«

»Eine Wunde«, sagte Zit Zitronenmantel. »Eine schwere Wunde, ja, aber Thoros hat sie geheilt. Einen besseren Heiler hat es nie gegeben.«

Lord Beric warf Zit mit seinem gesunden Auge einen eigenartigen Blick zu, während man in der anderen Höhle nur Narben und getrocknetes Blut sah. »Es gibt keinen besseren Heiler«, sagte er müde. »Zit, ich glaube, es ist längst an der Zeit, die Wachen abzulösen. Wärst du so gut und kümmerst dich darum?«

»Jawohl, Mylord.« Zits langer gelber Mantel wehte hinter ihm her, als er in die windige Nacht hinaustrat.

»Sogar tapfere Männer wollen manchmal nicht wahrhaben, wovor sie sich fürchten«, sagte Lord Beric, nachdem Zit gegangen war. »Thoros, wie oft habt Ihr mich jetzt schon zurückgeholt? «

Der Rote Priester neigte den Kopf. »Es ist R’hllor, der Euch zurückbringt, Mylord. Der Herr des Lichts. Ich bin nur sein Werkzeug.«

»Wie oft?«, beharrte Lord Beric.

»Sechsmal«, antwortete Thoros widerwillig. »Und jedes Mal fällt es mir schwerer. Ihr seid unbesonnen geworden, Mylord. Ist der Tod so süß?«

»Süß? Nein, mein Freund. Nicht süß.«

»Dann macht ihm nicht ständig den Hof. Lord Tywin befehligt sein Heer aus der Reserve. Lord Stannis ebenso. Ihr wäret weise, es genauso zu halten. Ein siebter Tod könnte unser beider Ende bedeuten.«

Lord Beric berührte die Stelle über seinem linken Ohr, wo die Schläfe eingedrückt war. »Hier hat Ser Berton Rallenhall meinen Helm und meinen Kopf mit seinem Morgenstern zertrümmert. « Er nahm den Schal ab und enthüllte die schwarze Schwellung, die sich um seinen Hals zog. »Hier ist die Narbe, die mir der Mantikor bei Toswasser zufügte. Er hatte einen armen Bienenzüchter und sein Weib ergriffen, weil er glaubte, sie gehörten zu mir, und er ließ weithin verlautbaren, dass er sie aufhängen würde, wenn ich mich ihm nicht stelle. Als ich mich ihm stellte, hat er sie trotzdem aufgeknüpft und mich an dem Galgen zwischen ihnen.« Er zeigte auf das rohe rote Fleisch der Augenhöhle. »Dort hat mir der Reitende Berg den Dolch durchs Visier gestochen.« Ein müdes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. »Dreimal bin ich schon durch das Haus Clegane zu Tode gekommen. Man sollte doch meinen, ich hätte etwas daraus gelernt …«

Es war ein Scherz, das wusste Arya, nur lachte Thoros nicht. Er legte eine Hand auf Lord Berics Schulter. »Am besten lasst Ihr Euch nicht weiter darüber aus.«

»Kann ich mich über etwas auslassen, an das ich mich kaum erinnere? In den Marschen hat mir einst eine Burg gehört, und es gab eine Frau, mit der ich verlobt war, doch heute könnte ich weder die Burg wiederfinden noch Euch die Haarfarbe meiner Liebsten sagen. Wer hat mich zum Ritter geschlagen, alter Freund? Was ist meine Lieblingsspeise? Alles verblasst und verschwindet. So denke ich manchmal, ich wurde auf dem blutigen Gras in diesem Eschenhain geboren, mit dem Geschmack von Feuer auf der Zunge und einem Loch in meiner Brust. Seid Ihr meine Mutter, Thoros?«

Arya starrte den myrischen Priester mit seinem zerzausten Haar, seinen rosafarbenen Lumpen und seiner zusammengestückelten alten Rüstung an. Graue Stoppeln bedeckten seine Wangen und die schlaffe Haut unter seinem Kinn. Er sah überhaupt nicht aus wie die Zauberer in den Geschichten der Alten Nan, und trotzdem …

»Könntet Ihr einen Mann ohne Kopf zurückbringen?«, fragte Arya. »Nur einmal, nicht sechsmal. Könntet Ihr das?«

»Ich habe keine magischen Fähigkeiten. Ich kann lediglich beten. Beim ersten Mal hatte Seine Lordschaft ein Loch quer durch den Leib und Blut im Mund, und ich wusste, es gab keine Hoffnung mehr. Als seine arme, zermalmte Brust sich also nicht mehr regte, gab ich ihm den Kuss des guten Gottes, um ihn auf seine Reise zu schicken. Ich füllte meinen Mund mit Feuer und hauchte ihm die Flammen ein, durch die Kehle hinein in die Lunge und ins Herz und in die Seele. Der letzte Kuss nennt man es, und viele Male wurde ich Zeuge, wie die alten Priester ihn Dienern des Herrn zuteilwerden ließen, wenn diese im Sterben lagen. Ich selbst hatte den Kuss ebenfalls ein-oder zweimal erteilt, wie es die Pflicht eines Priesters ist. Nie zuvor jedoch hatte ich das Schaudern eines Toten gespürt, den das Feuer erfüllt, nie zuvor gesehen, wie er seine Augen aufschlug. Nicht ich war es, der ihn wieder auf die Beine brachte, Mylady. Es war der Herr selbst. R’hllor will ihn noch nicht gehen lassen. Das Leben ist Wärme, und Wärme ist Feuer, und das Feuer ist des Gottes und des Gottes allein.«

Arya spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Thoros machte eine Menge Worte, und dabei meinte er schlicht nein, das begriff auch sie.

»Dein Vater war ein guter Mann«, sagte Lord Beric. »Harwin hat mir viel von ihm erzählt. Um seinetwillen würde ich gern auf das Lösegeld verzichten, aber wir brauchen das Gold leider zu dringend.«

Sie biss sich auf die Unterlippe. Das stimmt vermutlich. Das Gold des Bluthunds hatte Lord Beric Grünbart und dem Jägersmann gegeben, damit sie südlich des Manders Vorräte einkaufen konnten. »Die letzte Ernte ist verbrannt, diese ertrinkt im Regen, und der Winter wird bald über uns hereinbrechen«, hatte sie ihn sagen hören, als er sie losschickte. »Das Volk braucht Getreide und Saatgut, und wir brauchen Klingen und Pferde. Zu viele meiner Männer reiten auf Ochsen, Brauereipferden und Maultieren gegen Feinde auf Jagdpferden und Schlachtrössern in den Kampf.«

Arya wusste allerdings nicht, wie viel Robb für sie zahlen würde. Er war jetzt König und nicht mehr der Junge, den sie mit schmelzendem Schnee im Haar auf Winterfell zurückgelassen hatte. Und wenn er von all den Dingen erfuhr, die sie getan hatte, von dem Stalljungen und der Wache in Harrenhal und … »Und wenn mein Bruder nun kein Lösegeld für mich bezahlen will?«

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Lord Beric.

»Na ja«, antwortete Arya, »mein Haar ist verfilzt, meine Fingernägel sind schmutzig, und außerdem habe ich ganz schwielige Füße.« Darum würde Robb sich vermutlich kaum scheren, ihre Mutter hingegen ganz bestimmt. Lady Catelyn hatte immer gewollt, dass sie wie Sansa wurde, sang und tanzte und nähte und gute Manieren zeigte. Schon wenn sie nur daran dachte, begann Arya unwillkürlich, sich mit den Fingern durchs Haar zu fahren, aber das verfilzte Gewirr ließ sich nicht kämmen, und so riss sie nur einige Haare aus. »Ich habe das Kleid kaputt gemacht, das mir Lady Kleinwald geschenkt hat, und ich kann nicht so gut nähen.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich meine, ich kann überhaupt nicht gut nähen. Septa Mordane hat immer gesagt, ich hätte die Hände eines Schmiedes.«

Gendry lachte lauthals. »Diese zarten kleinen Dinger?«, rief er. »Du könntest nicht einmal einen Hammer halten.«

»Könnte ich wohl, wenn ich wollte!«, fauchte sie ihn an.

Thoros kicherte. »Dein Bruder wird zahlen, Kind. Darüber zerbrich dir mal nicht den Kopf.«

»Ja, aber was ist, wenn nicht?«, beharrte sie.

Lord Beric seufzte. »Dann werde ich dich für eine Weile zu Lady Kleinwald schicken oder vielleicht auf meine eigene Schwarzburg. Doch das wird gewiss nicht notwendig sein, dessen bin ich mir sicher. Ich habe zwar nicht die Kraft, dir deinen Vater zurückzugeben, genauso wenig wie Thoros, dennoch kann ich wenigstens dafür sorgen, dass du sicher in die Arme deiner Mutter zurückkehren kannst.«

»Schwört Ihr das?«, fragte sie. Yoren hatte ihr auch versprochen, sie nach Hause zu bringen, nur war er stattdessen getötet worden.

»Bei meiner Ehre als Ritter«, erwiderte der Blitzlord feierlich.

Es regnete, als Zit zum Brauhaus zurückkam und leise vor sich hin fluchte, während das Wasser von seinem gelben Mantel lief und auf dem Boden eine Pfütze bildete. Anguy und Hans im Glück saßen an der Tür und würfelten, doch was für ein Spiel sie auch spielten, der einäugige Hans hatte kein Glück. Tom Siebensaiten zog eine neue Saite auf seine Harfe und sang »Die Mutter der Tränen«, »Wenn Willums Weib willig war«, »Lord Hart ritt im Regen aus« und zum Schluss »Der Regen von Castamaer«.

Wer seid Ihr, rief der stolze Lord,dass ich mich soll verbeugen?Nur eine Katze in anderem Fell,so ist’s, ihr sollt’s bezeugen.Ob in goldnem oder rotem Mantel,es ist doch stets das GleicheLöwen haben Fänge,und meine sind auch lang und spitz, Mylord,sie haben Eure Länge.Und so sprach er, ja, so sprach er,der Lord von Castamaer,Nun weint der Regen über seiner Burg,und keiner hört ihn mehr,Nun weint der Regen über seiner Burg,und niemand hört ihn mehr.

Am Ende gingen Tom die Regenlieder aus, und er legte die Harfe zur Seite. Dann hörte man nur noch das Prasseln des Regens, der auf das Schieferdach des Brauhauses niederging. Das Würfelspiel endete, und Arya stand erst auf einem Bein und dann auf dem anderen und hörte Merrit zu, der sich darüber beschwerte, dass sein Pferd ein Hufeisen verloren hatte.

»Ich könnte es für dich beschlagen«, erbot sich Gendry plötzlich. »Ich war zwar nur ein Lehrling, aber mein Meister hat immer gesagt, meine Hand wäre für den Hammer gemacht. Pferde kann ich wohl beschlagen, außerdem Risse in Rüstungen flicken und Beulen aus Panzern hämmern. Ich wette, ich könnte sogar Schwerter schmieden.«

»Was sagst du da, Junge?«, fragte Harwin.

»Ich könnte für Euch schmieden.« Gendry beugte ein Knie vor Lord Beric. »Wenn Ihr mich haben wollt, M’lord, könnte ich Euch von Nutzen sein. Ich habe schon Werkzeuge und Messer gemacht, und einmal einen Helm, der war gar nicht so schlecht. Einer der Männer des Reitenden Bergs hat ihn mir gestohlen, als wir gefangen genommen wurden.«

Arya biss sich auf die Lippe. Er will mich auch verlassen.

»Du solltest lieber Lord Tully auf Schnellwasser dienen«, erwiderte Lord Beric. »Ich kann dich für deine Arbeit nicht bezahlen. «

»Bezahlt wurde ich noch nie. Ich möchte bloß eine Schmiede, genug zu essen und einen Platz zum Schlafen. Das würde mir genügen, Mylord.«

»Ein Schmied ist überall willkommen. Ein geschickter Waffenschmied umso mehr. Warum willst du dich uns anschließen? «

Arya beobachtete, wie Gendry ein dümmliches Gesicht machte und nachdachte. »In dem Hohlen Hügel habt Ihr gesagt, Ihr wärt König Roberts Mann, und alle hier wären Brüder. Das hat mir gefallen. Es hat mir gefallen, dass Ihr dem Bluthund eine Verhandlung gewährt habt. Lord Bolton hat die Menschen einfach nur aufgehängt oder ihnen den Kopf abgehauen, und Lord Tywin und Ser Amory waren nicht besser. Ich würde lieber für Euch schmieden.«

»Wir haben viele Rüstungen, die ausgebessert werden müssten, Mylord«, erinnerte Hans den Lord. »Die meisten haben wir Toten abgenommen, und an den Stellen, wo die tödlichen Hiebe sie getroffen haben, sind Löcher.«

»Du musst ein Schwachkopf sein, Junge«, sagte Zit. »Wir sind Geächtete. Abschaum von niederer Geburt, jedenfalls die meisten von uns, wenn man von Seiner Lordschaft absieht. Glaub ja nicht, das Leben bei uns sei so wie in einem von Toms dummen Liedern. Du wirst Prinzessinnen keine Küsse rauben oder in gestohlener Rüstung auf Turnieren antreten. Wenn du dich uns anschließt, endest du mit dem Hals in der Schlinge, oder dein Kopf wird irgendwann über einem Burgtor aufgespießt. «

»Das Gleiche würden sie doch auch mit dir machen«, erwiderte Gendry.

»Ja, das stimmt«, meinte Hans im Glück fröhlich. »Uns alle erwarten die Krähen. M’lord, der Junge erscheint mir tapfer genug, und was er mitbringt, können wir wirklich brauchen. Nehmt ihn, rät Hans.«

»Und zwar schnell«, schlug Harwin kichernd vor, »ehe das Fieber nachlässt und er wieder zu Verstand kommt.«

Ein mattes Lächeln spielte um Lord Berics Lippen. »Thoros, mein Schwert.«

Diesmal setzte der Blitzlord die Klinge nicht in Brand, sondern legte sie lediglich sanft auf Gendrys Schulter. »Gendry, schwörst du im Angesicht von Göttern und Menschen, jene zu verteidigen, die sich nicht selbst verteidigen können, Kinder und Frauen zu beschützen, deinen Hauptleuten, deinem Lehnsherrn und deinem König zu gehorchen, tapfer zu kämpfen, wenn es notwendig ist, und alle Pflichten zu erfüllen, die dir auferlegt werden, wie hart oder demütigend oder gefährlich sie auch sein mögen?«

»Ich schwöre es, Mylord.«

Der Lord aus den Marschen hob das Schwert von der rechten Schulter zur linken und fuhr fort: »Erhebt Euch, Ser Gendry, Ritter vom Hohlen Hügel, und seid willkommen in unserer Bruderschaft.«

Von der Tür her ertönte raues, schnarrendes Gelächter.

Der Regen lief an ihm herunter. Sein verbrannter Arm war in Blätter und Leinen gewickelt und mit einer groben Schlinge fest an die Brust gebunden, doch die älteren Verbrennungen, die sein Gesicht zeichneten, glänzten schwarz und seidig im Schein ihres kleinen Feuers. »Ernennt Ihr immer noch Ritter, Dondarrion?«, fragte der Eindringling knurrend. »Ich sollte Euch dafür ein weiteres Mal umbringen.«

Lord Beric fasste ihn kühl ins Auge. »Ich hatte gehofft, Euch zum letzten Mal begegnet zu sein, Clegane. Wie habt Ihr uns gefunden?«

»Das war nicht schwer. Ihr habt so viel verfluchten Rauch gemacht, dass man es bis Altsass sehen kann.«

»Was ist mit meinen Wachposten?«

Cleganes Mund zuckte. »Mit diesen beiden Blinden? Vielleicht habe ich sie beide umgebracht. Was würdet Ihr dann machen?«

Anguy hakte die Sehne seines Bogens ein. Kerbe tat das Gleiche. »Wollt Ihr denn unbedingt sterben, Sandor?«, fragte Thoros. »Ihr müsst wahnsinnig oder betrunken sein, um uns hierher zu folgen.«

»Vom Regen betrunken? Ihr habt mir nicht mal genug Gold gelassen, damit ich mir einen Becher Wein kaufen kann, ihr Hurensöhne.«

Anguy zog den Pfeil durch. »Wir sind Geächtete. Geächtete stehlen. So hört man es in den Liedern, und wenn Ihr Tom nett bittet, singt er bestimmt eins für Euch. Seid froh, dass wir Euch nicht getötet haben.«

»Komm und versuch es nur, Schütze. Ich nehme dir den Köcher ab und schiebe dir die Pfeile in deinen kleinen sommersprossigen Hintern.«

Anguy nahm den Langbogen hoch, aber Lord Beric hob die Hand, ehe er den Pfeil loslassen konnte. »Weshalb seid Ihr hier, Clegane.«

»Um mir mein Eigentum zurückzuholen.«

»Euer Gold?«

»Weshalb sonst? Bestimmt nicht wegen des Vergnügens, Euch noch einmal ins Gesicht zu schauen, Dondarrion, das kann ich Euch verraten. Ihr seid inzwischen hässlicher als ich. Und außerdem ein Raubritter, will es mir scheinen.«

»Ich habe Euch einen Schuldschein für Euer Gold gegeben«, entgegnete Lord Beric gelassen. »Mit dem Versprechen zu zahlen, wenn der Krieg vorbei ist.«

»Mit dem Papier habe ich mir den Arsch abgewischt. Ich will das Gold.«

»Wir haben es nicht mehr. Ich habe Grünbart und den Jägersmann auf die andere Seite des Manders geschickt, um Getreide und Saatgut zu kaufen.«

»Und damit werden diejenigen versorgt, deren Ernte Ihr verbrannt habt«, sagte Gendry.

»Sind wir jetzt in der Märchenstunde?« Sandor Clegane lachte abermals. »Zufällig wollte ich genau das Gleiche mit dem Gold machen. Einen Haufen hässlicher Bauern und ihre pockennarbige Nachkommenschaft füttern.«

»Ihr lügt«, sagte Gendry.

»Der Junge hat ein großes Maul, wie ich sehe. Warum glaubst du ihnen und nicht mir? Kann doch nicht an meinem Gesicht liegen, oder?« Clegane blickte Arya an. »Sie werdet Ihr auch noch zum Ritter schlagen, nicht wahr, Dondarrion? Das erste achtjährige Rittermädchen?«

»Ich bin zwölf«, log Arya laut, »und ich könnte wirklich ein Ritter sein, wenn ich wollte. Euch hätte ich auch töten können, wenn Zit mir nicht das Messer weggenommen hätte.« Schon bei dem Gedanken daran kochte die Wut wieder in ihr hoch.

»Beschwer dich bei Zit, nicht bei mir. Und dann klemm deinen Schwanz zwischen die Beine und such das Weite. Weißt du, was Hunde mit Wölfen machen?«

»Beim nächsten Mal werde ich Euch wirklich töten. Und Euren Bruder auch!«

»Nein.« Er kniff die dunklen Augen zusammen. »Das tust du bestimmt nicht.« Er wandte sich wieder an Lord Beric. »Also, wollt Ihr nicht mein Pferd zum Ritter schlagen? Es scheißt nie in die Halle und tritt nicht mehr um sich als die meisten, demnach hätte es den Ritterschlag verdient. Solange Ihr nicht beabsichtigt, es mir auch zu stehlen.«

»Am besten steigt Ihr auf dieses Pferd und reitet fort«, warnte Zit.

»Ich gehe nur mit meinem Gold. Euer eigener Gott hat mich für unschuldig erklärt …«

»Der Herr des Lichts hat Euch Euer Leben zurückgegeben«, verkündete Thoros von Myr. »Er hat Euch nicht zum wiedergeborenen Baelor dem Seligen erklärt.« Der Rote Priester zog sein Schwert aus der Scheide, und Arya sah, dass auch Hans und Merrit die Waffen gezogen hatten. Lord Beric hielt noch immer die blanke Klinge, mit der er Gendry zum Ritter geschlagen hatte. Vielleicht bringen sie ihn diesmal um.

Erneut zuckte der Mund des Bluthunds. »Ihr seid nichts anderes als gemeine Strauchdiebe.«

Zit starrte ihn finster an. »Eure Löwenfreunde reiten in irgendein Dorf, holen sich alles Essbare und alles Gold, das sie finden, und das nennen sie dann Vorratsbeschaffung. Die Wölfe sind nicht besser, wieso also sollten wir es nicht genauso machen? Niemand hat Euch beraubt, Hund. Ihr seid lediglich unserer Vorratsbeschaffung zum Opfer gefallen.«

Sandor Clegane schaute ihnen ins Gesicht, einem nach dem anderen, als versuche er, sie sich alle einzuprägen. Dann ging er hinaus in die Dunkelheit und den strömenden Regen, woher er gekommen war, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Die Geächteten warteten und grübelten …

»Ich sollte am besten mal schauen, was er mit unseren Wachen angestellt hat.« Harwin lugte vorsichtig zur Tür hinaus, ehe er ging, um sich zu versichern, dass der Bluthund ihm draußen nicht auflauerte.

»Woher hat der verfluchte Bastard überhaupt so viel Gold?«, fragte Zit Zitronenmantel, um die angespannte Atmosphäre zu lockern.

Anguy zuckte die Achseln. »Er hat das Turnier der Hand gewonnen. In Königsmund.« Der Bogenschütze grinste. »Ich habe selbst ein hübsches Sümmchen gewonnen, allerdings habe ich dann Reigen kennen gelernt und Jayde und Alayaya. Die haben mir gezeigt, wie gebratener Schwan schmeckt und wie man in Arborwein badet.«

»Hast alles auf den Kopf gehauen, was?« Harwin lachte.

»Nicht alles. Ich habe mir diese Stiefel gekauft und diesen hervorragenden Dolch.«

»Du hättest dir ein Stück Land kaufen sollen und eins von diesen Mädchen mit dem gebratenen Schwan zu einer ehrbaren Frau machen sollen«, meinte Hans im Glück. »Hättest Steckrüben anbauen und Söhne aufziehen können.«

»Der Krieger behüte! Was für eine Verschwendung, mein Gold in Rüben zu verwandeln.«

»Ich mag Rüben«, erwiderte Hans gekränkt. »Jetzt zum Beispiel käme mir ein Rübeneintopf gerade recht.«

Thoros von Myr beachtete ihr Geplänkel nicht. »Der Bluthund hat mehr verloren als nur ein paar Beutel mit Gold«, überlegte er. »Er hat seinen Herrn und dazu noch seinen Zwinger verloren. Zu den Lennisters kann er nicht zurück, der Junge Wolf wird ihn nicht haben wollen, und sein Bruder würde ihn vermutlich auch nicht sehr freundlich willkommen heißen. Mir scheint, das Gold war alles, was ihm geblieben war.«

»Verflucht noch mal«, schimpfte Watty der Müller, »er wird im Schlaf über uns herfallen und uns ermorden.«

»Nein.« Lord Beric hatte sein Schwert in die Scheide geschoben. »Sandor Clegane würde uns nur zu gern umbringen, aber nicht im Schlaf. Anguy, ab morgen bildest du mit dem Bartlosen Dick die Nachhut. Wenn ihr Clegane dabei erwischt, wie er hinter uns herumschnüffelt, erschießt sein Pferd.«

»Das ist ein gutes Tier«, protestierte Anguy.

»Ja«, stimmte Zit zu. »Wir sollten lieber den verdammten Reiter töten. Das Pferd könnten wir gebrauchen.«

»Ich sehe es genauso wie Zit«, sagte Kerbe. »Wenn ich den Hund ein wenig mit Federn verziere, wird ihn das entmutigen. «

Lord Beric schüttelte den Kopf. »Clegane hat sein Leben im Hohlen Hügel vom Herrn geschenkt bekommen. Ich werde es ihm nicht rauben.«

»Mylord ist weise«, sagte Thoros an die anderen gewandt. »Brüder, ein Urteil durch Kampf ist heilig. Ihr habt gehört, wie ich zu R’hllor gebetet habe, er möge eingreifen, und ihr habt mit angeschaut, wie sein feuriger Finger das Schwert zerbrechen ließ, als Lord Beric Clegane gerade den letzten Stoß versetzen wollte. Der Herr des Lichts ist mit Joffreys Bluthund noch nicht fertig, scheint es mir.«

Harwin kehrte bald ins Brauhaus zurück. »Breifuß hat tief geschlafen, war ansonsten aber unverletzt.«

»Wartet nur, bis ich den in die Finger bekomme«, sagte Zit. »Ich schneide ihm ein neues Spundloch. Wir hätten alle draufgehen können.«

In dieser Nacht schlief jeder von ihnen unruhig, denn sie wussten, dass sich Sandor Clegane irgendwo dort draußen in der Dunkelheit herumtrieb, und zwar ganz in der Nähe. Arya rollte sich dicht beim Feuer zusammen, wo es warm und gemütlich war, und dennoch konnte sie nicht einschlafen. Als sie dort unter ihrem Mantel lag, holte sie die Münze hervor, die Jaqen H’ghar ihr geschenkt hatte, und schloss die Hand darum. Wenn sie die Münze spürte, fühlte sie sich stark; sie erinnerte sich daran, wie sie der Geist von Harrenhal gewesen war. Damals hatte sie mit einem Flüstern töten können.

Doch Jaqen war fort. Er hatte sie verlassen. Heiße Pastete hat mich auch verlassen und jetzt auch noch Gendry. Lommy war gestorben, Yoren war gestorben, Syrio Forel war gestorben, sogar ihr Vater war tot, und Jaqen hatte ihr bloß diese dumme Eisenmünze geschenkt und war verschwunden. »Valar morghulis«, flüsterte sie leise und schloss die Faust so fest um das Geldstück, dass es sich in ihre Haut grub. »Ser Gregor, Dunsen, Polliver, Raff der Liebling. Der Kitzler und der Bluthund. Ser Ilyn, Ser Meryn, König Joffrey, Königin Cersei.« Arya versuchte sich vorzustellen, wie ihre Feinde aussehen würden, wenn sie erst tot wären, doch es fiel ihr schwer, sich ihre Gesichter in Erinnerung zu rufen. Den Bluthund konnte sie vor sich sehen und seinen Bruder, den Reitenden Berg, auch, und Joffreys Gesicht würde sie ebenfalls niemals vergessen oder das seiner Mutter … Raff und Dunsen und Polliver verblassten jedoch allmählich und sogar der Kitzler, der so gewöhnlich ausgesehen hatte.

Endlich stellte sich der Schlaf ein, doch mitten in der finsteren Nacht erwachte Arya mit einem Kribbeln im Bauch. Das Feuer war zur Glut heruntergebrannt. Mugel stand an der Tür, eine zweite Wache schritt draußen hin und her. Der Regen hatte aufgehört, und Arya hörte Wölfe heulen. So nah, dachte sie, und so viele. Es klang, als streiften Dutzende oder gar Hunderte um die Stallungen. Hoffentlich fressen sie den Bluthund. Sie erinnerte sich an das, was er über Wölfe und Hunde gesagt hatte.

Am nächsten Morgen baumelte Septon Utt noch immer am Baum, für die anderen Toten hingegen hoben die Braunen Brüder draußen im Regen flache Gräber aus. Lord Beric dankte ihnen für die Unterkunft und die Mahlzeit und schenkte ihnen einen Beutel mit Silberhirschen, der ihnen beim Wiederaufbau helfen sollte. Harwin, der Wahrscheinliche Luke und Watty der Müller zogen voraus und kundschafteten, doch weder Wölfe noch Bluthunde ließen sich blicken.

Während Arya ihren Sattelgurt festzog, kam Gendry zu ihr und entschuldigte sich. Sie setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel, damit sie von oben auf ihn herabschauen konnte, anstatt zu ihm hinaufblicken zu müssen. Du hättest auf Schnellwasser Schwerter für meinen Bruder schmieden können, dachte sie, doch stattdessen sagte sie: »Wenn du ein blöder geächteter Ritter sein und dich aufhängen lassen willst, was schert es mich? Ich werde für ein Lösegeld freigelassen und gehe zu meinem Bruder nach Schnellwasser.«

Glücklicherweise ließ der Regen an diesem Tag nach, und so kamen sie endlich einmal rasch voran.

BRAN

Der Turm stand auf einer Insel, und sein Spiegelbild lag wie ein Zwillingsbruder auf dem stillen blauen Wasser. Wenn der Wind wehte, kräuselte sich die Oberfläche des Sees, und die winzigen Wellen trieben einander vor sich her wie Jungen im Spiel. Eichen wuchsen dicht am Ufer in einem Wäldchen, dessen Boden mit Eicheln bedeckt war. Dahinter lag das Dorf oder vielmehr das, was davon übrig war.

Es war das erste Dorf, auf das sie gestoßen waren, seit sie die Ausläufer der Berge hinter sich gelassen hatten. Meera war vorausgelaufen und hatte gekundschaftet, um sicherzugehen, dass ihnen in den Ruinen niemand auflauerte. Mit Netz und Speer in der Hand schlich sie von einer Eiche zur nächsten und scheuchte drei Rehe auf, die durch das Unterholz davonrannten. Sommer bemerkte die Bewegung und jagte ihnen sofort hinterher. Bran beobachtete den Schattenwolf, während er davonsprang, und einen Augenblick lang wäre er am liebsten in seinen Leib geschlüpft und mit ihm gerannt, doch Meera winkte sie voran. Widerwillig wandte er sich von Sommer ab und trieb Hodor ins Dorf. Jojen ging hinter ihnen.

Das Gebiet von hier bis zur Mauer war Grasland, das wusste Bran, es bestand aus brachliegenden Äckern und niedrigen Hügeln, hohen Wiesen und Tieflandsümpfen. Sie würden hier viel leichter vorankommen, als wenn sie durch die Berge zogen, doch in derart offenem Gelände war Meera unbehaglich zu Mute. »Ich fühle mich nackt«, gestand sie. »Hier kann man sich nirgendwo verstecken.«

»Wem gehört dieses Land?«, fragte Jojen Bran.

»Der Nachtwache«, antwortete er. »Das hier ist die Schenkung. Die Neue Schenkung, und nördlich davon liegt Brandons Schenkung.« Maester Luwin hatte ihm die Geschichte erzählt. »Brandon der Erbauer hat den Schwarzen Brüdern alles Land südlich der Mauer geschenkt, einen Streifen von fünfundsiebzig Meilen. Für ihre … für ihre Versorgung und ihren Unterhalt.« Er war stolz, weil er sich diese Begriffe gemerkt hatte. »Manche Maester behaupten, es sei ein anderer Brandon gewesen, nicht der Erbauer, aber trotzdem heißt es Brandons Schenkung. Tausende von Jahren später hat die Gute Königin Alysanne die Mauer auf ihrem Drachen Silberschwinge besucht, und sie hielt die Nachtwache für so tapfer, dass sie ihre Ländereien vom Alten König verdoppeln ließ, auf hundertfünfzig Meilen südlich der Mauer. Das war die Neue Schenkung.« Er umfasste das Land mit einer Geste. »All dies hier.«

Seit Jahren hatte in diesem Dorf niemand mehr gewohnt, so viel konnte Bran erkennen. Die Häuser waren eingestürzt. Selbst das Gasthaus. Es war vermutlich nie eine besonders noble Herberge gewesen, wenn man es so anschaute, aber jetzt standen nur noch ein Schornstein und zwei brüchige Wände inmitten eines Dutzends Apfelbäume. Einer wuchs im Schankraum, wo eine Schicht braunen Laubs und faulender Äpfel den Boden bedeckte. Der Geruch hing schwer in der Luft, ein aufdringlicher Duft von gärenden Äpfeln, der Bran fast den Atem raubte. Meera spießte einige der Äpfel mit ihrem Froschspeer auf und suchte nach genießbaren, doch sie waren alle braun und wurmstichig.

Es war ein friedliches Fleckchen, still und ruhig und lieblich anzuschauen, dennoch hatte das leere Gasthaus in Brans Augen etwas Trauriges an sich, und Hodor schien das ebenso zu spüren. »Hodor?«, fragte er verwirrt. »Hodor? Hodor?«

»Das ist gutes Land.« Jojen hob eine Hand voll Erde auf und zerrieb sie zwischen den Fingern. »Ein Dorf, ein Gasthaus, ein hoher Wehrturm im See, diese Apfelbäume … aber wo sind die Menschen, Bran? Warum haben sie diesen schönen Ort verlassen? «

»Sie hatten Angst vor Wildlingen«, erklärte Bran. »Wildlinge kommen über die Mauer oder durch die Berge, überfallen die Dörfer und rauben sie aus und verschleppen die Frauen. Wenn sie dich erwischen, machen sie aus deinem Schädel einen Becher, aus dem sie Blut trinken, hat die Alte Nan immer gesagt. Die Nachtwache ist nicht mehr so stark wie zu Brandons oder Königin Alysannes Zeiten, deshalb können sich immer mehr durchschleichen. Die Ortschaften, die der Mauer am nächsten liegen, sind so oft überfallen worden, dass die Leute nach Süden gezogen sind, in die Berge oder auf das Umberland östlich des Königswegs. Das Volk des Großjons wird manchmal auch überfallen, aber nicht so häufig wie die Menschen in der Schenkung.«

Jojen Reet drehte langsam den Kopf und lauschte einer Musik, die nur er allein hören konnte. »Wir müssen hier Schutz suchen. Ein Sturm zieht auf. Ein schwerer Sturm.«

Bran blickte zum Himmel. Bisher war es ein wunderschöner klarer Herbsttag gewesen, sonnig und fast schon warm, inzwischen hatten sich jedoch dunkle Wolken im Westen gesammelt, das stimmte, und der Wind nahm offenbar ebenfalls an Stärke zu. »Das Gasthaus hat kein Dach und bloß diese beiden Wände«, zeigte er auf. »Wir sollten zu dem Wehrturm gehen.«

»Hodor«, sagte Hodor. Vielleicht war er derselben Meinung.

»Wir haben aber kein Boot, Bran.« Meera stocherte mit ihrem Froschspeer in den Blättern herum.

»Es gibt einen Damm. Einen Steindamm, der unter dem Wasser verborgen ist. Wir können hinübergehen.« Sie konnten es jedenfalls, er würde auf Hodors Rücken reiten, aber wenigstens würde er auf diese Weise trockene Füße behalten.

Die Reets wechselten einen Blick. »Woher weißt du das?«, fragte Jojen. »Bist du schon einmal hier gewesen, mein Prinz?«

»Nein. Die Alte Nan hat es mir erzählt. Der Wehrturm hat eine goldene Krone, seht ihr?« Er zeigte über den See. An den Zinnen konnte man noch Reste von Blattgold erkennen. »Königin Alysanne hat hier übernachtet, deshalb haben sie die Zinnen ihr zu Ehren mit Gold beschlagen.«

»Einen Damm?« Jojen betrachtete den See eingehend. »Bist du sicher?«

»Ganz sicher«, beharrte Bran.

Meera fand ihn rasch, nachdem sie erst wusste, wonach sie zu suchen hatte: einen steinernen meterbreiten Weg, der hinaus in den See führte. Schritt für Schritt führte sie die Gruppe hinüber und prüfte jedes Stück vor ihnen mit dem Froschspeer. Man konnte sehen, wo der Pfad aus dem Wasser auf die Insel führte und in einer kurzen Treppe an der Tür des Wehrturms endete.

Pfad, Treppe und Tür befanden sich in einer geraden Linie, weshalb man glauben mochte, der Damm verlaufe ebenfalls gerade, was jedoch nicht der Fall war. Unter Wasser ging es im Zickzack hin und her und fast zu einem Drittel um die Insel herum, ehe der Weg einen Bogen zurück schlug. Die Kurven waren heimtückisch, und ein Angreifer wäre während des Anmarsches die ganze Zeit dem Pfeilbeschuss vom Turm ausgesetzt gewesen. Die verborgenen Steine waren glitschig und rutschig; Hodor glitt zweimal aus und schrie erschrocken: »HODOR! «, bevor er im letzten Moment das Gleichgewicht wiederfand. Beim zweiten Mal bekam Bran fürchterliche Angst. Falls Hodor mit ihm im Korb in den See fiele, könnte Bran leicht ertrinken, vor allem, wenn der riesige Stallbursche in Panik geriet und ihn vergaß, wie ihm das manchmal passierte. Vielleicht hätten wir doch im Gasthaus bleiben sollen, unter den Apfelbäumen, dachte er, doch nun war es zu spät.

Glücklicherweise rutschte Hodor kein drittes Mal aus, und das Wasser reichte ihm niemals über die Hüfte; den Reets ging es jedoch bis zur Brust. Kurz darauf hatten sie die Insel erreicht und stiegen die Stufen zum Turm hinauf. Die Tür war noch immer stabil, allerdings hatten sich die Eichenbretter im Laufe der Jahre verzogen, so dass sie nicht mehr richtig schloss. Meera schob sie auf, und die rostigen Angeln knarrten. Der Sturz war niedrig. »Duck dich, Hodor«, sagte Bran, und der große Bursche gehorchte, bückte sich jedoch nicht tief genug, und Bran stieß sich trotzdem den Kopf. »Au«, beschwerte er sich.

»Hodor«, erwiderte Hodor und richtete sich auf.

Sie befanden sich in einem dunklen Raum, der kaum groß genug war, um die vier aufzunehmen. In die innere Mauer des Turms waren Stufen eingelassen, die sich, jeweils hinter einem Eisengitter, links herum in die Höhe und rechts herum nach unten wanden. Bran blickte nach oben und sah genau über ihren Köpfen ein weiteres Gitter. Ein Mordloch. Er war nur froh, dass dort oben niemand war, der siedendes Öl auf sie heruntergoss.

Die Gitter waren verschlossen, aber die Eisenstangen hatten vom Rost eine rote Farbe angenommen. Hodor packte die Tür linker Hand, riss einmal kräftig daran und schnaufte vor Anstrengung. Nichts rührte sich. Er versuchte es mit Drücken, hatte jedoch ebenso wenig Erfolg. Nun rüttelte er an den Stangen, schlug und trat dagegen und bearbeitete die Angeln mit seiner riesigen Pranke, bis es Rostflocken regnete, doch noch immer wollte die eiserne Tür nicht nachgeben. Die andere, die nach unten führte, zeigte sich ebenso widerspenstig. »Keine Chance«, sagte Meera und zuckte die Achseln.

Das Gitter des Mordlochs befand sich direkt über Brans Kopf, wie er so im Korb auf Hodors Rücken saß. Er langte hinauf, packte die Stangen und zerrte daran. Das Gitter löste sich aus der Verankerung, und ein Schauer von Rost und Sand ging auf sie nieder. »HODOR!«, brüllte Hodor. Bran stieß sich den Kopf an dem schweren Eisengitter, das Jojen vor die Füße fiel. Meera lachte. »Schau dir das an, mein Prinz«, sagte sie, »du bist stärker als Hodor.« Bran errötete.

Nachdem das Gitter gelöst war, konnte Hodor Meera und Jojen durch das offene Mordloch nach oben heben. Die Pfahlbaumenschen ergriffen Bran an den Armen und zogen ihn in die Höhe. Hodor hinaufzubekommen war der schwierigste Teil. Sein Gewicht war für die Reets zu groß, um ihn einfach heraufzuziehen. Schließlich trug Bran ihm auf, er solle nach ein paar großen Steinen suchen. Auf der Insel herrschte kein Mangel daran, Hodor häufte sie auf, packte die bröckligen Kanten des Lochs und kletterte hinauf. »Hodor«, keuchte er fröhlich und grinste die anderen an.

Sie befanden sich in einem Labyrinth kleiner Räume, die leer und dunkel waren, doch Meera suchte so lange, bis sie den Weg zur Treppe entdeckte. Je höher sie stiegen, desto heller wurde es; im zweiten Stock gab es bereits Schießscharten, im dritten ein Fenster, und das vierte und oberste Stockwerk bestand aus einem einzigen großen runden Raum, von dem nach drei Seiten halbrunde Türen zu kleinen Steinbalkonen hinausgingen. Auf der vierten Seite befand sich ein Abtritt über einem Rohr, das nach unten in den See führte.

Als sie das Dach erreichten, hatte sich der Himmel schon vollständig bezogen, und die Wolken im Westen waren schwarz. Der Wind war so heftig, dass er Brans Mantel flattern ließ. »Hodor«, sagte Hodor zu dem Geräusch.

Meera drehte sich im Kreis. »Ich fühle mich fast wie ein Riese, so hoch über der Welt.«

»In der Eng stehen Bäume, die sind doppelt so hoch wie dieser Turm«, erinnerte ihr Bruder sie.

»Ja, aber um sie herum stehen andere Bäume, die genauso hoch sind«, wandte Meera ein. »In der Eng drängt sich die Welt eng zusammen, und der Himmel ist so viel kleiner. Hier … spürst du den Wind, Bruder? Und sieh nur, wie groß die Welt geworden ist.«

Das stimmte, man konnte von hier aus weit ins Land schauen. Im Süden erhob sich das Vorgebirge, dahinter lagen die grauen und grünen Berge. In die anderen Richtungen erstreckte sich die wellige Ebene der Neuen Schenkung, so weit das Auge reichte. »Ich hatte gehofft, wir könnten von hier aus die Mauer sehen«, sagte Bran enttäuscht. »Das war dumm, wir sind ja noch hundertfünfzig Meilen entfernt.« Allein wenn er die Distanz aussprach, fühlte er sich schon müde, und kalt wurde ihm auch. »Jojen, was machen wir, wenn wir die Mauer erreicht haben? Mein Onkel hat mir immer erzählt, wie hoch sie ist. Fast zweihundertfünfzig Meter hoch und unten so dick, dass die Tore eher Tunnel durch das Eis sind. Wie sollen wir sie überwinden und die dreiäugige Krähe finden?«

»Es gibt verlassene Festungen entlang der Mauer, habe ich gehört«, antwortete Jojen. »Festungen, die von der Nachtwache gebaut wurden, jetzt aber leer stehen. In einer davon finden wir vielleicht einen Weg hinüber.«

Die Geisterburgen hatte die Alte Nan sie genannt. Maester Luwin hatte Bran einmal alle Namen der Burgen entlang der Mauer auswendig lernen lassen. Das war schwierig gewesen, es gab immerhin neunzehn, obwohl niemals mehr als siebzehn gleichzeitig bemannt gewesen waren. Bei dem Fest zu Ehren von König Roberts Besuch auf Winterfell hatte Bran die Namen für seinen Onkel Benjen aufgezählt, von Ost nach West und von West nach Ost. Benjen Stark hatte gelacht und gesagt: »Du kennst sie besser als ich, Bran. Vielleicht solltest du Erster Grenzer werden. Ich bleibe dafür an deiner Stelle hier.« Doch das war vor Brans Sturz gewesen. Bevor er zerschellt war. Als er verkrüppelt aus dem Schlaf erwacht war, hatte sich sein Onkel bereits auf den Rückweg zur Schwarzen Festung gemacht.

»Mein Onkel hat gesagt, die Tore wurden jedes Mal mit Eis und Stein versiegelt, wenn eine Burg aufgegeben wurde«, erklärte Bran.

»Dann müssen wir sie eben wieder öffnen«, meinte Meera.

Bei diesem Gedanken wurde ihm unbehaglich zu Mute. »Das sollten wir nicht tun. Von der anderen Seite könnten böse Wesen herüberkommen. Am besten gehen wir zur Schwarzen Festung und sagen dem Lord Kommandant, er soll uns durchlassen. «

»Euer Gnaden«, sagte Jojen, »Die Schwarze Festung müssen wir genauso meiden wie bisher den Königsweg. Dort leben Hunderte von Männern.«

»Männer der Nachtwache«, wandte Bran ein. »Sie legen ein Gelübde ab, in Kriegen und so keine Partei zu ergreifen.«

»Ja«, meinte Jojen, »aber ein einziger Verräter genügt, um dein Geheimnis an die Eisenmänner oder an den Bastard von Bolton zu verkaufen. Und woher sollen wir wissen, ob die Wache uns überhaupt passieren lässt. Sie könnte sich entschließen, uns aufzuhalten oder zurückzuschicken.«

»Aber mein Vater war ein Freund der Nachtwache, und mein Onkel ist Erster Grenzer. Vielleicht weiß er sogar, wo die dreiäugige Krähe lebt. Und Jon ist auch in der Schwarzen Festung. « Bran hatte gehofft, Jon wiederzusehen, und auch ihren Onkel. Die letzten Schwarzen Brüder, die Winterfell besucht hatten, hatten berichtet, Benjen Stark sei auf einer Patrouille verschollen, inzwischen war er jedoch bestimmt zurück. »Ich wette, die Wache würde uns sogar Pferde geben«, fügte er hinzu.

»Still.« Jojen beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte in die untergehende Sonne. »Seht mal. Da ist etwas … ein Reiter, glaube ich. Seht ihr ihn?«

Bran legte ebenfalls die Hand über die Augen, dennoch musste er sie zusammenkneifen. Zuerst entdeckte er nichts, bis er eine Bewegung erhaschte. Er dachte, es wäre Sommer, aber nein. Ein Mann auf einem Pferd. Der Reiter war zu weit entfernt, um mehr zu erkennen.

»Hodor?« Auch Hodor hielt sich eine Hand an die Stirn, nur schaute er in die falsche Richtung. »Hodor?«

»Er hat es nicht eilig«, stellte Meera fest, »aber er hält anscheinend auf dieses Dorf zu.«

»Wir sollten am besten in den Turm zurückgehen, ehe er uns entdeckt«, schlug Jojen vor.

»Sommer treibt sich in der Nähe des Dorfes herum«, gab Bran zu bedenken.

»Sommer passiert schon nichts«, versprach Meera. »Das ist bloß ein einzelner Reiter auf einem erschöpften Pferd.«

Einige dicke Tropfen klatschten auf die Steine, während sie sich ins nächsttiefere Stockwerk zurückzogen. Sie hatten sich den richtigen Zeitpunkt ausgesucht, kurze Zeit später begann es richtig zu regnen. Selbst durch die dicken Mauern hörten sie das Prasseln auf der Oberfläche des Sees. Sie saßen auf dem Boden des leeren runden Raums, in dem sich nach und nach die Dunkelheit ausbreitete. Vom nördlichen Balkon aus konnte man das verlassene Dorf sehen. Meera kroch auf dem Bauch hinaus und spähte über den See, um festzustellen, was aus dem Reiter geworden war. »Er hat in der Ruine des Gasthauses Zuflucht gesucht«, sagte sie, als sie zurückkam. »Scheinbar macht er Feuer im Kamin.«

»Wenn wir nur auch ein Feuer hätten«, jammerte Bran. »Mir ist kalt. Unten gibt es zerbrochene Möbel, ich hab’s gesehen. Wir könnten sie von Hodor klein hacken lassen, und dann hätten wir es warm.«

Hodor gefiel der Gedanke. »Hodor«, sagte er hoffnungsfroh.

Jojen schüttelte den Kopf. »Feuer bedeutet Rauch. Rauch auf diesem Turm kann man meilenweit sehen.«

»Wenn jemand da ist, der ihn sehen kann«, sagte seine Schwester.

»Der Mann im Dorf.«

»Ein Mann.«

»Ein Mann genügt, um Bran an seine Feinde zu verraten, wenn es der falsche Mann ist. Wir haben von gestern noch eine halbe gebratene Ente. Die sollten wir essen und uns ausruhen. Morgen früh wird der Mann weiterziehen und wir auch.«

Jojen setzte sich wie immer durch. Meera teilte die Ente unter den vieren auf. Sie hatte den Vogel gestern mit ihrem Netz gefangen, als er aus dem Sumpf auffliegen wollte, wo sie ihn überrascht hatte. Kalt schmeckte das Fleisch nicht mehr so gut wie heiß und knusprig frisch vom Feuer, doch wenigstens konnten sie ihren Hunger stillen. Bran und Meera teilten sich das Bruststück, während Jojen einen Schenkel aß. Hodor verschlang Flügel und Bein, murmelte »Hodor« und leckte sich nach jedem Bissen das Fett von den Fingern. Bran war an der Reihe, eine Geschichte zu erzählen, und so gab er eine über einen anderen Brandon Stark, Brandon den Schiffsbauer, zum Besten, der über das Meer der Abenddämmerung gesegelt war.

Nachdem die Ente verspeist und die Geschichte zu Ende war, legte sich die Dämmerung über das Land, und der Regen ließ noch immer nicht nach. Bran fragte sich, wie weit Sommer wohl streifen mochte und ob er eines der Rehe gerissen hatte.

Graues Zwielicht erfüllte den Turm und ging mehr und mehr in Dunkelheit über. Hodor wurde unruhig und lief herum, schritt im Kreis an der Mauer entlang, blieb nach jeder Runde an dem Abtritt stehen und blickte hinein, als habe er vergessen, was sich dort befand. Jojen stand am Nordbalkon im Schatten und schaute hinaus in die Nacht und den Regen. Irgendwo im Norden zuckte ein Blitz über den Himmel und erhellte das Innere des Turms für einen Moment. Hodor machte einen Satz und wimmerte vor Angst. Bran zählte bis acht, während er auf den Donner wartete. Als dieser ertönte, schrie Hodor: »Hodor!«

Hoffentlich fürchtet sich Sommer nicht auch, dachte Bran. Die Hunde in den Zwingern von Winterfell hatten bei Gewittern genauso Angst bekommen wie Hodor. Ich sollte nachschauen und ihn beruhigen …

Abermals blitzte es, und diesmal erfolgte der Donner bei sechs. »Hodor!«, rief Hodor wieder. »HODOR! HODOR!« Er schnappte sich sein Schwert und schien gegen den Sturm kämpfen zu wollen.

Jojen sagte: »Sei ruhig, Hodor. Bran, sag ihm, er soll aufhören zu schreien. Kannst du ihm das Schwert abnehmen, Meera?«

»Ich kann es versuchen.«

»Hodor, pssst«, sagte Bran. »Sei still. Jetzt wird nicht mehr gehodort. Setz dich.«

»Hodor?« Nahezu widerstandslos überließ er Meera das Schwert, doch auf seinem Gesicht zeigte sich Verwirrung.

Jojen wandte sich wieder der Dunkelheit zu, und alle hörten, wie er plötzlich heftig Atem holte. »Was ist los?«, erkundigte sich Meera.

»Männer im Dorf.«

ENDE DER LESEPROBE

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel »A Storm of Swords« (Pages 439-975 + Appendix) bei Bantam Dell, a division of Random House, Inc., New York.

1. Auflage Taschenbuchausgabe Januar 2012 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München.

Copyright © 2000 by George R. R. Martin Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2002 by Verlagsgruppe Random House GmbH Published in agreement with the author c/o Ralph M. Vicinanza, Ltd.

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