Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe. Konfrontiert mit seiner größten Angst: Wieder ein Kind zu verlieren. Die Bewohner von Torsby stehen unter Schock: Das Ehepaar Carlsten und seine zwei Söhne wurden ermordet. Aus nächster Nähe erschossen, im eigenen Haus. Kommissar Torkel Höglund und seine Kollegen von der Reichsmordkommission finden bald heraus, dass es eine Zeugin gegeben haben muss: Nicole, die zehnjährige Nichte der Carlstens. Ihre Fußabdrücke führen in den Wald. Und ihre Überlebenschancen schwinden stündlich. Den sonst so ruppigen Kriminalpsychologen Sebastian Bergman berührt der Fall, Nicole erinnert ihn an seine eigene Tochter. Die jetzt im gleichen Alter wäre. Die er nicht retten konnte. Bergman setzt alles daran, das Mädchen zu finden. Doch Nicole wechselt ihre Verstecke planvoll, getrieben von Todesangst. Denn jemand will um jeden Preis verhindern, dass Nicole erzählt, was sie gesehen hat.
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Michael Hjorth • Hans Rosenfeldt
Das Mädchen, das verstummte
Ein Fall für Sebastian Bergman
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe.
Konfrontiert mit seiner größten Angst:
Wieder ein Kind zu verlieren.
Die Bewohner von Torsby stehen unter Schock: Das Ehepaar Carlsten und seine zwei Söhne wurden ermordet. Aus nächster Nähe erschossen, im eigenen Haus. Kommissar Torkel Höglund und seine Kollegen von der Reichsmordkommission finden bald heraus, dass es eine Zeugin gegeben haben muss: Nicole, die zehnjährige Nichte der Carlstens. Ihre Fußabdrücke führen in den Wald. Und ihre Überlebenschancen schwinden stündlich.
Den sonst so ruppigen Kriminalpsychologen Sebastian Bergman berührt der Fall, Nicole erinnert ihn an seine eigene Tochter. Die jetzt im gleichen Alter wäre. Die er nicht retten konnte. Bergman setzt alles daran, das Mädchen zu finden. Doch Nicole wechselt ihre Verstecke planvoll, getrieben von Todesangst. Denn jemand will um jeden Preis verhindern, dass Nicole erzählt, was sie gesehen hat.
Hans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, schreibt Drehbücher, zuletzt für die ZDF-Koproduktion «Die Brücke – Transit in den Tod». In Schweden ist er ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.
Michael Hjorth, geboren 1963, ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und ebenfalls Drehbuchautor. Er schrieb u. a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.
Ihr gemeinsames Krimidebüt «Der Mann, der kein Mörder war» wurde ein Riesenerfolg, das Buch erschien in 22 Ländern und stand monatelang auf den internationalen Bestsellerlisten. Der zweite und dritte Band der Reihe um den Stockholmer Kriminalpsychologen Sebastian Bergman, die von Sveriges Television in Kooperation mit dem ZDF verfilmt wird, befanden sich wochenlang unter den Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste.
Weitere Veröffentlichungen
Der Mann, der kein Mörder war
Die Frauen, die er kannte
Die Toten, die niemand vermisst
Er weiß nicht, welcher Tag heute ist.
Aber es sind Ferien. Er trägt noch immer seinen Schlafanzug, dabei ist es schon nach neun Uhr.
Sie sind alle zu Hause. Aus dem Wohnzimmer dringt der Ton von SpongeBob Schwammkopf.
Mama stellt ihm einen Teller Joghurt hin und fragt, ob er sich die Hände gewaschen hat, nachdem er auf der Toilette war. Er nickt. Ob er auch Brot wolle? Er schüttelt den Kopf. Der Joghurt reicht ihm. Vanille und Banane. Am liebsten hätte er Frosties dazu gehabt, aber Fred hat die letzten aufgegessen, also muss er sich mit den Haferkissen begnügen. Weil Fred die letzten guten Flakes bekommen hat, darf er dafür direkt nach dem Frühstück eine DVD gucken. Er wird Transformers sehen. Die dunkle Seite des Mondes.
Noch einmal.
Es klingelt an der Tür.
«Wer kann das denn sein, so früh am Morgen?», fragt die Mutter verwundert und geht zur Haustür. Als sie die Klinke herunterdrückt und öffnet, nimmt er diese alltäglichen Geräusche gar nicht wahr.
Doch dann ertönt ein lauter Knall, und es klingt, als würde jemand im Flur umfallen.
Er schreckt so sehr zusammen, dass der Joghurt vom Löffel auf dem Tisch landet, aber er bemerkt es nicht einmal. Papa ruft besorgt aus dem Schlafzimmer im Obergeschoss. Er war noch nicht aufgestanden, aber jetzt sind hastige Schritte zu hören.
Dann taucht jemand in der Küchentür auf.
Mit einem Gewehr.
Jetzt waren sie zwei.
Sie war zwei.
Ein Außen und ein Innen.
Außen bewegte sie sich noch.
Widerwillig und doch zielstrebig. In der Schule hatte sie gelernt, dass man sich nicht von der Stelle rühren sollte, wenn man sich verlaufen hatte, aber ihr Fluchtinstinkt trieb sie weiter voran.
Hatte sie sich verlaufen?
Sie wusste nicht genau, wo sie war, aber sie wusste, wohin sie wollte. Sie entfernte sich immer nur so weit von der Straße, dass sie die vorbeifahrenden Autos noch hören konnte. Sie könnte dort am Rand entlanglaufen und sich verstecken, wenn ein Wagen kam. So lange, bis ein Schild auftauchte, damit sie sehen konnte, ob sie auf dem richtigen Weg war, und anschließend wieder im Wald verschwinden. Dann verirrte sie sich auch nicht und konnte sich gut von der Stelle rühren. Außerdem war da die Kälte. Und die ungemütliche Feuchtigkeit, also war es besser, nicht stehen zu bleiben. Wenn sie sich bewegte, wurde ihr wärmer. Und sie war weniger hungrig. Also lief sie weiter.
Innen war sie ruhig.
Eine Weile war sie auch Innen gerannt. War blind davongestürmt. Jetzt konnte sie sich nicht mehr genau daran erinnern, wovor sie weggelaufen war, und auch nicht erkennen, wohin sie gelangt war. Es war kein Ort, kein Raum, es war mehr wie ein … vielleicht wie ein Gefühl …
Sie wusste es nicht. Aber dort war sie, und dort war alles leer, und sie war ruhig.
Sie war leer und ruhig.
Alles war still.
Das schien ihr am wichtigsten. Solange es still blieb, war sie sicher. An dem Ort, der kein Ort war, erleuchtet und doch ohne Licht. Wo keine Farben sie an jene Farben erinnerten, die ihre starren Augen dennoch von der Welt dort draußen wahrnahmen. Ihre Augen waren offen, aber gleichzeitig vor allem verschlossen. Sonst würde das Gefühl der Sicherheit zusammen mit der Stille verschwinden. Das spürte sie. Aber vor allem Worte würden sie verraten. Worte würden die Wände einreißen, die sie nicht sah, und alles wieder wirklich machen. All das Grauen hereinlassen, das dort draußen lauerte.
Die Schüsse, die Schreie, das Rote, Warme, und die Angst.
Ihre eigene und die der anderen.
Innen war sie ruhig und still.
Außen war sie gezwungen weiterzugehen.
Dorthin zu gelangen, wo niemand sie finden konnte. Außen war sie gezwungen, das Innen zu schützen.
Sie wusste, wo sie hinmusste.
Sie hatten von einem Ort gesprochen. Davor gewarnt. Ein Ort, an dem man nie wiedergefunden würde, wenn man ihn einmal betrat. Nie wieder. So hatten sie es gesagt. Niemand würde sie finden.
Außen zog sie die viel zu dünne Jacke fester um den Körper und beschleunigte ihre Schritte.
Innen kuschelte sie sich zusammen, wurde kleiner und kleiner und hoffte, bald ganz zu verschwinden.
Anna Eriksson saß im Auto vor dem hellgelben Mietshaus und wartete. Vanja kam zu spät. Das tat sie sonst nie. Anna vermutete dahinter ein weiteres jener vielen Zeichen, die ihre Tochter in den letzten Monaten gesetzt hatte.
Am schlimmsten war, dass sie nicht mehr anrief.
Anna selbst konnte im Grunde damit leben. Sie verstand Vanjas Reaktion. Teilweise war sie sogar auch der Meinung, dass sie es verdient hatte. Außerdem hatten Vanja und sie noch nie eine besonders innige Mutter-Tochter-Beziehung mit langen Gesprächen gehabt.
Schlimmer war es für Valdemar. Ihn schmerzte es sehr, dass Vanja sich vollkommen von ihm distanziert hatte. Und das hatte, mehr noch als die Krankheit, aus ihm einen Schatten seiner selbst gemacht. Er redete ununterbrochen von seiner Tochter und den Wahrheiten, die sie ihr niemals hätten vorenthalten dürfen. Von all dem, was sie hätten anders machen sollen. Kaum hatte er den Tod überlistet, musste er einsehen, dass sein Leben von Reue und Resignation bestimmt war. Natürlich war die Situation auch für Anna schmerzhaft, aber sie verkraftete die Lage besser. Sie war schon immer stärker gewesen als ihr Mann.
Er war bereits vor mehr als einem Monat aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber seither konnte sie ihn nicht zum Verlassen der Wohnung bewegen. Sein Körper hatte die neue Niere offenbar vollständig akzeptiert, Valdemar jedoch konnte seine neue Welt nicht akzeptieren. Eine Welt ohne Vanja. Daher stieß er alle anderen von sich.
Sie selbst. Die wenigen Kollegen, die sich trotz all dem, was er getan hatte, noch bei ihm meldeten. Die noch rareren Freunde, die zunehmend seltener anriefen.
Nicht einmal das Ermittlungsverfahren, das weiterhin gegen ihn lief, schien ihn noch zu berühren. Die Vorwürfe der Steuerhinterziehung und Bilanzfälschung waren gravierend, aber beides wurde von dem Betrug überschattet, den er an Vanja begangen hatte.
Sie hatte sich rasend vor Wut auf ihn gestürzt. Es war schrecklich gewesen. Die Schreie, die Auseinandersetzungen, die Tränen. Keiner von ihnen hatte Vanja je so erlebt.
So wütend.
So schrecklich verletzt.
Ihre Vorwürfe waren immer dieselben: Wie konntet ihr nur? Was seid ihr bloß für Menschen? Welche Eltern tun so etwas?
Anna verstand das. Genau das hätte sie an Vanjas Stelle auch gedacht. Ja, ihre Fragen waren berechtigt und nachvollziehbar. Aber die Antwort gefiel ihr nicht: Sie. Sie war die Mutter, die so etwas tat.
Während der schlimmsten Auseinandersetzungen war Anna mehrere Male kurz davor gewesen, sie zu fragen: «Willst du wissen, wer dein Vater ist? Willst du es wirklich wissen?»
Aber sie hatte sich stets zusammengerissen. Sich geweigert, es zu erzählen. Gesagt, dass es keine Rolle spiele.
Nicht, weil sie Sebastian Bergman schützen wollte. Sie sah sehr wohl, was er vorhatte. Wie er sich in ihr Leben drängen wollte. Anspruch auf ein Recht erhob, das ihm nicht zustand, wie ein Eintreiber, der eine Schuld einforderte, die ihm niemand schuldig war.
Sebastian war nie Vanjas Vater gewesen. Im Gegensatz zu Valdemar. Der war es die ganze Zeit über gewesen, voll und ganz. Was auch immer in der Akte aus dem Krankenhaus gestanden hatte, mit der Vanja Hals über Kopf bei ihnen hereingestürmt war – immerhin hatte Sebastian die Situation nicht zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen können. Genau wie sie hatte er sich viel zu sehr in dieses Lügengeflecht verstrickt. Wenn er Vanja erzählte, dass er die Wahrheit ebenso lange kannte, ohne sie preisgegeben zu haben, müsste er denselben Betrug gestehen, den Anna und Valdemar begangen hatten.
Und würde genauso von ihr gehasst werden.
Mit derselben Kälte bedacht.
Sebastian wusste das. In den letzten Wochen hatte er Anna mehrmals angerufen und sie geradezu auf Knien angefleht, ihm zu einem Weg zu verhelfen, Vanja die Wahrheit zu erzählen. Doch Anna weigerte sich. Niemals würde sie ihm dabei helfen, Valdemar die Tochter wegzunehmen. Das gehörte zu den wenigen Dingen, die sie mit Bestimmtheit wusste. Alles andere in ihrem Leben war dagegen ein einziges Chaos.
Aber heute würde sie die Kontrolle wiedererlangen.
Heute würde sie den ersten Schritt tun, um alles wieder in Ordnung zu bringen.
Sie hatte einen Plan.
Endlich wurde die Haustür geöffnet, und Vanja kam heraus, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, die Schultern hochgezogen. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und sah so blass und mitgenommen aus, als wäre sie in den letzten Monaten um Jahre gealtert. Mit einer Hand strich sie sich das stumpfe, ungewaschene Haar aus dem Gesicht, als sie die Straße überquerte und auf den Wagen zuging. Anna sammelte ihre Gedanken, holte tief Luft und stieg aus.
«Hallo! Wie schön, dass du kommen konntest», sagte sie so positiv, wie es nur ging.
«Was willst du?», erwiderte Vanja. «Ich habe viel zu tun.»
Drei Wochen waren vergangen, seit sie zum letzten Mal miteinander geredet hatten, und Anna hatte das Gefühl, die Stimme ihrer Tochter klänge nicht mehr ganz so schneidend. Aber vielleicht war es reines Wunschdenken.
«Ich möchte dir eine Sache zeigen», sagte Anna vorsichtig.
«Was denn?»
«Können wir nicht erst losfahren? Dann erzähle ich es dir im Auto.»
Vanja musterte sie misstrauisch. Je länger sie schweigen würden, desto wahrscheinlicher war es, dass Vanja mitkam. Das hatte Anna aus all ihren Auseinandersetzungen gelernt. Vanja durfte man nicht angreifen, in die Ecke drängen oder versuchen, ihr gegenüber den eigenen Willen durchzusetzen. Um sie zum Mitkommen zu bewegen, musste alles nach ihren Bedingungen ablaufen, und Anna musste jede Konfrontation vermeiden.
«Du wirst feststellen, dass es sich lohnt», sagte Anna zurückhaltend. «Da bin ich mir sicher.»
Schließlich nickte Vanja und ging zur Beifahrertür. Sie stieg ein und setzte sich. Schweigend.
Anna startete den Wagen, und sie fuhren los. Als sie bei der Tankstelle am Frihamnen angekommen waren, brach Anna das Schweigen und beging den ersten Fehler.
«Ich soll dich von Valdemar grüßen. Er vermisst dich.»
«Ich vermisse meinen Vater auch. Und zwar meinen richtigen Vater», zischte Vanja.
«Ich mache mir ein wenig Sorgen um ihn.»
«Das habt ihr euch selbst zuzuschreiben», fiel Vanja ihr ins Wort. «Schließlich habe nicht ich euch mein ganzes Leben lang belogen.»
Anna spürte, dass sie kurz davor waren, sich wieder in die Haare zu kriegen. Wie schnell das gehen konnte. Vanjas Wut war verständlich, aber Anna wünschte sich dennoch, ihre Tochter würde begreifen, wie sehr sie die Menschen verletzte, die sie wirklich liebten. Die ihr ganzes Leben lang für sie da gewesen waren und hinter ihr gestanden hatten. Dass sie sie angelogen hatten, um sie zu schützen, nicht um ihr zu schaden. Doch Vanja wartete nur auf einen Grund, um erneut an die Decke zu gehen, also versuchte Anna, die Situation zu entschärfen.
«Ich weiß, ich weiß. Entschuldige, ich möchte mich wirklich nicht streiten. Nicht heute …»
Vanja schien sich auf die vorübergehende Waffenruhe einzulassen. Schweigend fuhren sie weiter, den Valhallavägen hinunter nach Westen, in Richtung Norrtull.
«Wohin fahren wir?», fragte Vanja, als sie am Stallmästergården vorbeifuhren.
«Ich will dir etwas zeigen.»
«Aber was?»
Anna antwortete nicht direkt. Vanja wandte sich ihr zu.
«Du hast gesagt, du würdest es mir im Auto sagen, also erzähl schon!»
Anna holte tief Luft, richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch weiterhin auf die Straße und den Verkehr.
«Ich habe vor, dich zu deinem Vater zu bringen.»
«Ihr könnt jetzt rein.»
Erik Flodin wandte sich zu dem großen weißen, zweistöckigen Haus um. Fabian Hellström, der Kriminaltechniker aus Karlstad, der mit ihm hergekommen war, stand auf der Terrasse und deutete auf das Gebäude. «Wir sind gleich fertig.»
Erik hob die Hand zum Zeichen, dass er verstanden hatte, und richtete seinen Blick erneut auf die offene Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete.
Es war schön hier.
Der saftige Rasen, der sich bis zur Steinmauer erstreckte. Dahinter Äcker, die darauf warteten, dass das Frühjahr weiter voranschritt, und die in das dunkle Grün der Nadelbäume übergingen, denen seit kurzem die Laubbäume mit ihrem zarten, hellen Frühlingsgewand Konkurrenz machten. Über dem freien Feld segelte ein Mäusebussard und unterbrach die Stille mit seinem klagenden Kreischen.
Erik überlegte, ob er Pia anrufen sollte, ehe er hineinging. Sie würde ohnehin erfahren, was passiert war, und verzweifelt sein. Es würde die ganze Kommune betreffen.
Ihre Kommune.
Aber wenn er jetzt anriefe, würde sie Fragen stellen.
Alles wissen wollen.
Und er wusste selbst nicht mehr als das, was er von den Kollegen erfahren hatte, die bei seiner Ankunft bereits vor Ort gewesen waren.
Was hätte es also für einen Nutzen?
Keinen.
Pia musste warten, beschloss er. Er warf einen letzten Blick auf den Sandkasten, der auf der rechten Seite ein Stück vom Haus entfernt stand. Der Regen am Wochenende hatte auf der Ladefläche eines gelben Plastik-LKWs eine Pfütze hinterlassen. Daneben lagen ein Spaten, ein sandiger Transformer und zwei Dinosaurier.
Erik seufzte und ging zum Haus und zu den Toten.
Fredrika Fransson hatte neben dem Streifenwagen gestanden und schloss sich ihm nun schweigend an. Sie war als Erste eingetroffen und hatte ihn bei seiner Ankunft mit knappen Worten über das informiert, was sie wusste. Er kannte sie noch von früher. Sie hatten zusammengearbeitet, ehe er zum Kommissar mit besonderer Dienststellung befördert wurde und seine neue Position in Karlstad angetreten hatte. Fransson war eine gute Polizistin, sorgfältig und engagiert. Sie war fast zwanzig Zentimeter kleiner als Erik mit seiner Länge von einem Meter und fünfundachtzig Zentimetern und wog mindestens zehn Kilo mehr als er, und er brachte achtundsiebzig Kilo auf die Waage. Über sie hinwegzuspringen sei leichter, als um sie herumzulaufen, hatte er einmal boshafte Kollegen über sie sagen gehört. Sie selbst sprach nie über ihr Übergewicht, genauso wenig wie über andere Dinge. Fredrika war nicht gerade redselig.
Erik glaubte Schmauchgestank zu riechen, als er das Haus betrat und das erste Opfer sah. Doch es war nicht möglich, das wusste er. Der Gerichtsmediziner hatte ihm einen vorläufigen Todeszeitpunkt genannt, nachdem er die Toten kurz untersucht hatte: Sie waren vor ungefähr vierundzwanzig Stunden gestorben. Nach einer so langen Zeit gab es keine Geruchsrückstände mehr, zumal die Haustür offen gestanden hatte, als die neunjährige Nachbarstochter gekommen war, um einen Spielkameraden zu finden.
Erik zog Schuhüberzieher und Handschuhe an, ehe er das Haus betrat. Er schob einige Zweige des Osterstrauchs mit den bunten Eiern beiseite, die in einer Vase neben dem Schuhregal standen, und kniete sich neben die Frau, die rücklings auf dem groben Steinboden lag. Offensichtlich war sie das erste der vier Opfer.
Vier Tote.
Zwei Kinder.
Eine Familie.
Noch waren sie nicht zweifelsfrei identifiziert, aber Karin und Emil Carlsten besaßen und bewohnten dieses Haus zusammen mit ihren Söhnen Georg und Fred, weshalb Erik sicher war, Karin Carlsten vor sich zu haben. Sprach er mit Kollegen aus Stockholm oder Göteborg, ja selbst aus Karlstad, wunderten sie sich immer darüber, dass er nicht alle Bewohner von Torsby kannte. Schließlich stamme er doch von dort. Sei das nicht bloß ein kleines Kaff mitten im Wald? Normalerweise seufzte Erik dann nur entnervt. In der gesamten Kommune wohnten fast zwölftausend Menschen. In der Kreisstadt fast viertausend. Wer kannte in Stockholm schon viertausend Menschen? Niemand.
Nein, er war den Carlstens nie begegnet. Aber hatte er nicht schon von ihnen gehört? Waren sie nicht erst kürzlich in irgendeine polizeiliche Angelegenheit verwickelt gewesen?
«Kennst du die Carlstens?»
Er blickte zu Fredrika hinüber, die sich draußen auf der Terrasse mit den Schuhüberziehern abmühte.
«Nein.»
«Ich meine mich zu erinnern, dass wir im Winter mit ihnen zu tun hatten?»
«Schon möglich.»
«Kannst du das überprüfen?»
Fredrika nickte, entfernte den blauen Plastikschutz wieder, den sie gerade unter erheblichen Anstrengungen über ihre Schuhe gestülpt hatte, machte kehrt und steuerte auf den Wagen zu. Erik richtete seinen Blick erneut auf die braunhaarige Frau auf dem Boden, die schätzungsweise Mitte dreißig war.
Ein Loch im Brustkorb. Groß. Fast einen Dezimeter. Zu groß für eine Waffe mit gezogenem Lauf wie eine Pistole oder eine Büchse. Es passte eher zu einer doppelläufigen Flinte. Die Blutmenge auf dem Boden deutete auf ein entsprechend großes Austrittsloch hin. Erik vermutete einen aufgesetzten Schuss, eine auf den Körper gepresste Mündung. Die Pulvergase hatten sich zwischen der Haut und dem Brustbein gesammelt, und der hohe Druck hatte die Haut aufplatzen lassen und auf dem weißen Strickpullover der Frau rund um das Eintrittsloch schwarze Schmauchspuren hinterlassen. Der Tod musste sofort eingetreten sein.
Erik warf einen Blick zum Eingang. Die Frau lag einen knappen Meter davon entfernt. Als hätte sie die Haustür geöffnet, und jemand hatte ihr, ehe sie reagieren konnte, sofort ein Gewehr an die Brust gesetzt und abgedrückt. Die Wucht des Schusses hatte sie nach hinten geworfen.
Anschließend musste der Täter über sie hinweggestiegen und weiter ins Haus vorgedrungen sein.
Der erste Raum nach dem Flur war die große Küche, deren Ausstattung ein Makler sicherlich als «rustikalen Bauernstil» bezeichnet hätte. Ein gemauerter offener Kamin mit Abzug in der einen Ecke. Ein robuster Kieferndielenboden, ähnlich breite Holzlatten an der Decke. Ein Brotschieber und ein Küchenwerkzeug, das er nicht kannte, über einer Küchenbank. Zwischen den ansonsten modernen Küchengeräten ein alter schwarzer Holzfeuerofen.
Auf dem großen Kiefernholztisch standen noch immer die Reste des Frühstücks. Ein Teller mit Joghurt und Haferkissen an der Schmalseite. Der Stuhl davor war umgefallen. Ein Junge, schätzungsweise acht oder neun, lag auf dem Boden. Im Schlafanzug.
Es waren Osterferien.
Kein Unterricht hatte die Kinder gezwungen, in die Schule zu gehen. Leider, dachte Erik.
Er sah seine Theorie von der Schrotflinte erneut bestätigt, als er den Jungen eingehender betrachtete. Der eine Arm war fast gänzlich von der Schulter abgetrennt worden, und er hatte kleinere Perforierungen am Hals bis hinauf zur Wange. Weit stiebender Schrot. Wie groß war die Entfernung, wenn der Mörder von der Tür aus geschossen hatte? Zwei Meter? Drei? Jedenfalls hatten die tödlichen Projektile ihre Wirkung über den Körper ausbreiten können. Vielleicht waren sie nicht unmittelbar tödlich gewesen, aber der Junge musste dennoch schon nach wenigen Minuten verblutet sein.
Und dann?
Jemand war durch den Raum gerannt, nachdem der Junge erschossen worden war. Ein weiteres Kind. Kleine Fußabdrücke waren in dem Blut rund um den Stuhl zu sehen. Erik blickte hinüber zu dem Raum neben der Küche. Ein kleineres Wohnzimmer. Mit Fernseher und DVD-Player. Hatte der andere Sohn dort gesessen und ferngesehen? Und den Schuss gehört? Vielleicht war er schon beim ersten Knall aufgesprungen. Hatte in der Tür gestanden und gesehen, wie sein Bruder erschossen wurde. War losgerannt. Wohin? Die Spuren führten zur Treppe ins Obergeschoss.
Warum war er nicht auch in der Küche ermordet worden? Musste der Schütze sein Gewehr neu laden? Erik sah sich auf dem Boden um. Soweit er erkennen konnte, lagen hier keine Patronenhülsen. Er musste daran denken, nachher Fabian zu fragen, ob der sie eingesammelt hatte.
«Jan Ceder.»
Erik musste sich beherrschten, um nicht zusammenzuzucken. Fredrika hatte sich ihm lautlos von hinten genähert.
«Carlstens haben ihn im Dezember bei der Polizei angezeigt», fuhr Fredrika fort, den Blick auf den toten Jungen am Boden geheftet.
«Und weshalb?»
«Verstoß gegen das Jagdgesetz.»
«Welcher Art?», fragte Erik geduldig.
«Sie haben einen Film abgegeben, der zeigt, dass Ceder einen toten Wolf auf seinem Grundstück hatte.»
«Also wurde er verurteilt?»
«Bußgeld», bekräftigte Fredrika.
Erik nickte vor sich hin.
Ein Jäger.
Eine Flinte.
Natürlich bewies das rein gar nichts, denn in dieser Gegend gab es zahllose Jagdscheine und Gewehre, aber es war immerhin ein Anfang.
«Erst letzten Dienstag hat er ihnen noch gedroht.»
Damit wurde Erik aus seinen Überlegungen gerissen. Hatte er sie richtig verstanden? Mitunter war das nicht so leicht, weil Fredrika nie mehr Informationen von sich gab als unbedingt notwendig, und bisweilen nicht einmal das.
«Ceder?», fragte Erik, um sich zu vergewissern. «Hat den Carlstens noch am Dienstag gedroht?»
Fredrika nickte und drehte sich zum ersten Mal, seit sie in die Küche gekommen war, zu Erik um.
«Vor dem Schwimmbad. Mehrere Zeugen.»
Erik verarbeitete die Informationen schnell. Konnte es so einfach sein? Konnte jemand so ungeschickt sein? Beide Fragen ließen sich eindeutig mit Ja beantworten. Nur weil eine Tat brutal und gewalttätig war, musste sie noch lange nicht kompliziert und durchdacht sein. Ganz im Gegenteil.
«Ich möchte mit ihm reden», sagte er zu Fredrika. «Bestell ihn ein.»
Fredrika drehte sich um und verließ die Küche. Erik ging seine Schlussfolgerung noch einmal im Kopf durch, während er den kleinen blutigen Fußspuren zur Treppe folgte.
Drohungen.
Ein Jäger.
Eine Schrotflinte.
Er wünschte sich wirklich, dass es so wäre. Erst seit zwei Monaten leitete er das Dezernat für Gewaltdelikte bei der Polizei Värmland, und dies war ein Fall, den er unbedingt rasch gelöst haben wollte. Pia sicher ebenso. Sie würde ihn auffordern, das Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären. Damit die Kommune wieder nach vorn blicken konnte.
Die Fußspuren verblassten immer mehr und verschwanden einige Meter vor der Treppe ganz. Erik legte die Hand auf das weiß lackierte Geländer und ging hinauf.
Im zweiten Stock endete die Treppe in einem länglichen Flur mit drei Türen. Zwei davon standen offen. Erik warf einen kurzen Blick in das linke Zimmer. Ein Etagenbett und verstreute Spielsachen verrieten, dass hier die Jungen gewohnt hatten. Er ging zum Ende des Korridors und hielt erneut inne. Dort, gegen die Tür gelehnt, hinter der vermutlich das Badezimmer lag, saß Emil. Er war schätzungsweise einige Jahre älter als Karin, vielleicht ließ ihn das graue Haar aber auch älter erscheinen. Daran, dass er tot war, bestand allerdings kein Zweifel. Diesmal war es eindeutig Schrot. Mitten in die Brust. Erik stellte sich vor, wie der Mann aus dem Schlafzimmer stürmte und der Schütze am Ende der Treppe auf ihn wartete.
Er sah sich um. Emil hatte offenbar keine Waffe bei sich gehabt. Er musste gehört haben, was im Erdgeschoss passiert war, und dennoch war er vollkommen unbewaffnet aus dem Zimmer gerannt.
Wahrscheinlich fasste man in einer solchen Situation keinen klaren Gedanken. Erik konnte sich nicht einmal vorstellen, wie er reagiert hätte, wenn sich all das bei ihm zu Hause abgespielt hätte. Bei ihnen. Wenn das Pia und ihre gemeinsame Tochter gewesen wären, dort im Untergeschoss.
Er stieg über die Beine des Mannes hinweg und ging in das Schlafzimmer, in dem ein Doppelbett fast den ganzen Raum einnahm. Mindestens zweimal zwei Meter. Groß genug, um auch von Albträumen geplagte Kinder aufzunehmen. Die Überdecke und die Zierkissen lagen ordentlich an ihrem Platz. Rechts und links zwei Nachttische. Eine Kommode mit einem Spiegel an der einen Schmalseite des Raums, an der anderen mehrere Schränke. Die Tür des mittleren stand offen.
Es war Karins Schrank. Kleider, Blusen und Röcke auf Bügeln.
Zwischen den Schuhen auf dem Boden ragten zwei kleine nackte Beine hervor. Erik ging näher.
In der hintersten Ecke saß der zweite Sohn. Eine Decke auf dem Schoß. Als hätte er versucht, sich zu verstecken. War Emil deshalb nicht weitergelaufen? War er dem Sohn begegnet, der die Treppe hinaufstürmte, und hatte ihn zu verstecken versucht?
Ihn retten wollen?
Vergeblich.
Der Schütze hatte ihn gefunden. Er musste dort gestanden haben, wo Erik jetzt stand. Einen knappen Meter von dem Jungen entfernt. Die Gewehrmündung noch näher. Der Schuss auf den Hals hatte ihm beinahe den Kopf abgerissen.
Erik musste sich abwenden. Er hatte schon oft gesehen, wozu Menschen fähig waren, aber das hier …
Die Kinder. Die Schlafanzüge. Die kleinen nackten Beine.
Erik setzte sich auf das gemachte Bett, holte tief Luft und hielt die Tränen zurück. Mit brennenden Augen schwor er sich, denjenigen zu fassen, der das getan hatte. Er konnte sich nicht erinnern, schon einmal einen solchen Vorsatz gefasst zu haben, jedenfalls nie so konkret. Aber er würde denjenigen fassen, der das getan hatte.
Um jeden Preis.
Sebastian war wie immer zu Fuß zur Arbeit nach Kungsholmen gegangen.
Das war seine neue Angewohnheit. So brauchte er länger, und je weniger er sich in seiner Wohnung aufhielt, desto besser. Er zog ernsthaft in Erwägung umzuziehen, denn er verbrachte ohnehin die meiste Zeit außerhalb seiner vier Wände. Die wenigen Stunden, die er sich dort aufhielt, tigerte er unruhig hin und her. Wenn er irgendwann müde wurde, versuchte er, alle Bücher zu lesen, von denen er immer behauptete, sie längst gelesen zu haben. Doch er war so rastlos, dass er stets schon mit dem nächsten anfing, bevor er das erste beendet hatte. Ein Kapitel hier, ein anderes da, und er ertappte sich ständig dabei, dass seine Gedanken davonschwammen wie Treibholz.
Selbst Frauen langweilten ihn. Er flirtete weiterhin, weil es ihn etwas ablenkte, aber er war selbst darüber erstaunt, wie selten er den Weg zu Ende ging. Das sah ihm nicht ähnlich.
Aber der Anblick von Ursula auf dem Boden …
Er ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Das Blut, das sich ausgebreitet hatte, aus dem rechten Auge gesickert war wie aus einer geplatzten Tüte, ihr Haar, mit schmierigem Rot verklebt. Im Flur glaubte er noch immer den süßlichen Geruch von Blut wahrzunehmen, trotz all des Klorins, mit dem er den Boden geschrubbt hatte.
Also ging er jeden Tag ins Büro. Er brauchte die Arbeit. Einen Fall, idealerweise so kompliziert und anspruchsvoll, dass er all seine Konzentration erforderte.
Doch die Aufträge glänzten durch Abwesenheit. Bisher hatte kein Polizeibezirk die Hilfe der Reichsmordkommission angefordert, und wie so oft nutzte das Team solche Zeiten dazu, die angehäuften Überstunden abzubummeln. Selbst Billy, der sonst immer am Platz war, ob mit oder ohne Auftrag, schaute nur hin und wieder vorbei, um seine E-Mails zu lesen, mehr aber auch nicht.
Torkel bekam Sebastian noch weniger zu Gesicht, aber das war vielleicht auch ganz gut so.
Torkel liebte Ursula, und als der Schuss sie durchbohrt hatte, war sie bei Sebastian gewesen. In seinem Flur war ihr Körper wie leblos zu Boden gesackt. Sebastian hatte das Gefühl, Torkel würde ihm das Geschehene bis in alle Ewigkeit übel nehmen, auch wenn sie das Thema bisher geschickt mieden, wenn sie sich ein seltenes Mal doch begegneten.
Liebte Sebastian Ursula? Vor langer Zeit hatte er es wohl einmal getan. Aber sein erster Gedanke, als er den Schuss gehört und sie im Flur hatte liegen sehen, war schäbig gewesen. Und nicht von Panik verzerrt, sondern klar und deutlich, und alles andere als liebevoll.
Verdammt, wie lästig!
Eine Frau, die er seit vielen Jahren kannte. Eine Frau, der er nähergekommen war, der er sich mehr geöffnet hatte als jeder anderen, lag sterbend auf seinem Boden, und seine erste Reaktion war: Verdammt, wie lästig.
Er kannte diesen Gedanken nur zu gut.
So dachte er über das meiste: Konflikte, anhängliche Frauen, langweilige Arbeitsaufgaben, soziale Verpflichtungen. In diesen Zusammenhängen war das auch nur natürlich, ja, sogar gut.
Aber in einem solchem Moment – in seinem Flur, nach dem Schuss …
Das erschreckte selbst ihn.
Dass Vanja von Zeit zu Zeit vorbeischaute, war momentan seine einzige Freude. Sie war der eigentliche Grund dafür, dass er noch ins Büro kam.
In letzter Zeit hatte sich ihr Verhältnis gebessert. Der Schock über die Enthüllung, dass Valdemar nicht ihr biologischer Vater war, hatte ihr Leben auf den Kopf gestellt. Das lenkte sie von dem Verdacht ab, dass Sebastian etwas mit ihrer gescheiterten Bewerbung für die FBI-Ausbildung zu tun gehabt haben könnte. Es schien, als hätte sie keine Kraft mehr, dieser Befürchtung weiter nachzugehen.
Was eine menschliche Reaktion war, denn nur die wenigsten schafften es, sich so heftig mit allen zu streiten, wie sie es gerade tat. Einen Mehrfrontenkrieg zu führen. Da war es besser, zumindest einen zerbrechlichen Frieden mit jemandem zu schließen.
Außerdem hatte Sebastian konsequent daran festgehalten, dass er in keiner Weise involviert gewesen sei. Zweimal hatte er das Auswahlkomitee angefleht und seinen Mitgliedern erklärt, wie falsch ihre Entscheidung gewesen sei. Natürlich hatte er beide Male dafür gesorgt, dass Vanja auf Umwegen von seinen tapferen Versuchen erfahren hatte. Doch die Kommission hatte sich nicht von ihrem Beschluss abbringen lassen. Er stand fest, und Vanja Lithner war herzlich eingeladen, sich beim nächsten Mal wieder zu bewerben, wenn in Quantico ein neuer Platz frei wurde. Sein Einsatz hatte sich trotzdem ausgezahlt.
Einige Tage nach seinem letzten Versuch war er ihr zufällig auf dem Flur in die Arme gelaufen. Sie war sanfter als früher. Wirkte müde, nicht in demselben Maß kampfeslustig, nicht mehr bereit, bei der ersten Gelegenheit zuzubeißen. Sie grüßte ihn sogar. Sie habe davon gehört, dass er sich bei der Kommission für sie eingesetzt habe, sagte sie und erzählte dann von ihrem Vater, der nicht länger ihr Vater war.
Sie waren sich nähergekommen. Nicht so nah wie vorher, aber dennoch. Es war ein Anfang, und nach dieser Begegnung waren seine Gedanken an Ursula weniger intensiv.
Er hatte seinen Fokus wiedergefunden.
Vanja.
Vanja hatte nicht ansatzweise in Betracht gezogen, sich wieder zu Anna ins Auto zu setzen. Sie musste den Abstand wahren zwischen sich und der Frau, die ihre Mutter war, sich aber keineswegs so benahm. Das war deutlich.
Draußen war der Frühling weit fortgeschritten, obwohl es erst April war. Seit über einer Woche war es nun schon warm, und man bekam einen Vorgeschmack auf den Frühsommer. Dennoch fühlte Vanja sich innerlich ausgekühlt. Verlassen. Ihr Vater war nicht länger ihr Vater. Und ihre Mutter machte sie ratlos.
Wer war ihr eigentlich geblieben?
Billy nicht. Nicht mehr. Sie waren einmal wie Geschwister gewesen, hatten sich jedoch entfremdet. Er ging voll und ganz in der Beziehung mit seiner Verlobten My auf, die Vanja bisher nur flüchtig kennengelernt hatte, obwohl die beiden schon seit einem Jahr zusammen waren. Und jetzt würden sie offenbar bald heiraten. Vanja wusste nicht einmal, ob sie eingeladen werden würde.
Torkel, ihren Chef und Mentor, traf sie ebenfalls nicht mehr so oft. Nach der Sache mit Ursula kam er nicht gerade häufig ins Büro. Sie machte sich sogar Gedanken, ob er vielleicht ganz aufhören wollte. Manchmal hatte sie das Gefühl – bei den wenigen Gelegenheiten, wenn sie sich doch einmal begegneten.
Wen hatte sie noch, der ihr nahestand?
Die Liste war kurz.
Lächerlich kurz.
Jonathan, ihr Exfreund, der sich hin und wieder in der Hoffnung meldete, dass aus ihnen doch wieder ein Paar werden würde oder sie zumindest eine Bettgeschichte anfingen.
Vielleicht auch ein paar Kollegen, mit denen sie auf der Polizeischule gewesen war und die sie hin und wieder traf, die aber alle mitten in der Familienplanung steckten.
Und dann Sebastian Bergman.
Hätte ihr jemand damals, als sie zum ersten Mal in Västerås zusammenarbeiteten, erzählt, wie oft sie sich einmal sehen würden, hätte sie laut gelacht. Die Behauptung wäre ihr viel zu absurd erschienen, um überhaupt darauf einzugehen. Damals trieb er sie abwechselnd in den Wahnsinn und an den Rand der Erschöpfung. Aber jetzt ertappte sie sich mitunter dabei, ihn zu vermissen. Wie hatte es dazu kommen können? Wie war ein sexsüchtiger, narzisstischer Kriminalpsychologe auf ihrer lächerlich kurzen Liste gelandet?
Das lag nicht nur an dem Mangel an Alternativen, obwohl es vielleicht einfacher gewesen wäre, ihn von der Liste zu streichen, wenn es in ihrem Leben andere Menschen gegeben hätte, die ihr wirklich nahestanden.
Es gab auch einen anderen Grund.
Sie redete gern mit ihm. Er, der zu anderen unmöglich, rücksichtslos und herablassend sein konnte, war ihr gegenüber aufmerksam und verständnisvoll. Er, der andere Frauen wie Trophäen jagte, ohne einen Gedanken an ihre Gefühle zu verschwenden, nahm bei ihr Rücksicht. Sie verstand nicht, warum, aber er tat es. Ernsthaft. Das konnte er nicht verbergen.
Aber durfte sie ihm wirklich trauen? Er war allzu oft allzu nah dran, wenn irgendein Mist passierte.
Zu nah an den Beweisen, die zu der Anklage gegen Valdemar geführt hatten.
Zu nah an Persson Riddarstolpe und dem Gutachten, das ihre Hoffnungen auf die FBI-Ausbildung zunichtegemacht hatte.
Aber wie sie es auch drehte und wendete, sie konnte einfach keinen rationalen Grund dafür finden, warum Sebastian ihr Leben zerstören wollte. Vielleicht war es tatsächlich so, wie er beharrlich behauptete, und es waren reine Zufälle. Nur dass Vanja in ihrem Job eines sicher gelernt hatte: Die Anzahl der Zufälle war begrenzt. Wurden es zu viele, verwandelten sie sich in Indizien. Das Mögliche wurde unwahrscheinlich.
Und die Zufälle rings um Sebastian hatten diese Grenze fast erreicht. Aber vielleicht hatten sie sie noch nicht überschritten.
Vanja brauchte ihn.
Sie war so einsam in diesem Moment.
Erik Flodin parkte seinen Wagen vor dem niedrigen flachen und, wenn er ehrlich war, auch hässlichen und langweiligen Gebäude im Bergebyvägen 22, das noch bis Februar sein Arbeitsplatz gewesen war. Er stellte den Motor ab, stieg aus und begab sich zum Eingang. Die drei Personen, die auf den zwei Holzbänken vor dem Polizeirevier gewartet hatten, erhoben sich, als sie ihn kommen sahen. Er erkannte sie wieder, zwei waren von Värmlands Folkblad und einer aus der Lokalredaktion der Nya Wermlands-Tidningen.
Mit einem «überhaupt nichts» beantwortete er die Frage, was er über den Mord erzählen könne, und schob die Eingangstür auf. Er nickte Kristina und Dennis hinter der Rezeption zu und kramte gerade seine Schlüsselkarte hervor, als sein Handy klingelte. Während er die Karte durch das Lesegerät zog und den vierstelligen Code eingab, der ihm Zutritt zum Revier verschaffte, nahm er den Anruf von Pia entgegen.
«Ist das wahr?», fragte sie anstelle einer Begrüßung. Erik meinte einen leisen Vorwurf herauszuhören, weil sie es von jemand anderem erfahren hatte als ihm. «Eine Familie? Man hat eine ganze Familie erschossen?»
«Ja.»
«Wo? Und wen?»
«Ein Stück außerhalb von Storbråten, Carlsten hieß die Familie.»
«Wisst ihr, wer das getan hat?»
«Wir haben einen … keinen Verdächtigen, aber eine Person, die die Familie bedroht hat.»
«Wer ist es?»
Erik zögerte nicht einmal. Er erzählte seiner Frau fast immer jedes Detail aus den laufenden Ermittlungen, und bisher hatte sie alles stets vertraulich behandelt.
«Jan Ceder.»
«Den kenne ich nicht.»
«Wir hatten schon mit ihm zu tun. Ich werde gleich mit ihm sprechen.»
Pia seufzte tief, und Erik konnte sich genau vorstellen, wie sie am Fenster ihres Büros im zweiten Stock der Kommunalverwaltung stand und auf die Ebereschen vor dem Coop auf der Tingshusgatan sah.
«Die Zeitungen werden sich darauf stürzen», meinte sie mit einem weiteren bekümmerten Seufzen.
«Das ist nicht sicher, bisher sind nur das VF und die Nya Wermlands hier.» Er sagte das, weil er annahm, dass sie es hören wollte, nicht weil er es glaubte.
Natürlich würden sie alle darüber schreiben.
Innerhalb kürzester Zeit würden die drei Reporter vor dem Revier Gesellschaft von ihren Kollegen aus Karlstad und Konkurrenz von den großen Zeitungen aus Stockholm bekommen. Vermutlich auch vom Fernsehen. Vielleicht sogar aus Norwegen.
«Kannst du dich an Åmsele erinnern?», fragte Pia trocken und machte ihm so augenblicklich klar, dass sie seinen Versuch, sie zu trösten, durchschaut hatte. Natürlich erinnerte er sich an Åmsele. Ein Mord an einer Familie, der nahe einem Friedhof begangen worden war. Drei Tote wegen eines gestohlenen Fahrrads. Damals war Erik im ersten Jahr auf der Polizeischule. Alle hatten in den Zeitungen, im Radio und im Fernsehen die Jagd auf Juha Valjakkala und seine Freundin Marita quer durch ganz Schweden verfolgt. «Das ist über fünfundzwanzig Jahre her», fuhr Pia fort. «Und trotzdem verbindet man Åmsele immer noch vor allem mit dem Mord. Wir wollen, dass die Leute hierherziehen, nicht von hier flüchten.»
Erik ging in die kleine Teeküche, nahm sich eine Tasse, stellte sie auf das Gitter der Kaffeemaschine und drückte auf «Cappuccino». Eine plötzliche Müdigkeit erfasste ihn. Er verlor allmählich die Geduld mit Pia. Sie war nicht dort gewesen. In dem Haus. Hatte nicht in der hintersten Ecke des Schranks den kleinen Jungen gesehen, der im Herbst in die Schule kommen sollte. Und auch nicht seinen Bruder, im Schlafanzug, beim Frühstück erschossen.
Sie hatte sie nicht gesehen.
Das Blut gesehen.
Die Sinnlosigkeit.
«Ich verstehe ja, dass das nicht gut ist», sagte er und bemühte sich, die Irritation in seiner Stimme zu verbergen, «aber es sind vier Menschen gestorben. Darunter zwei Kinder. Wie das den Zuzug in der Kommune beeinflusst, sollte doch eher zweitrangig sein, meinst du nicht?»
Sie reagierte mit Schweigen. Die Maschine hatte ihre Arbeit getan, und er nahm seine Tasse. Nippte an dem leider nicht sonderlich heißen Getränk. Der Kaffee in Karlstad war besser.
«Du hast recht», sagte sie nach einer Weile. «Es tut mir leid, ich muss furchtbar egozentrisch geklungen haben.»
«Du hast engagiert geklungen», antwortete er. Wie immer, wenn sie einknickte und um Entschuldigung bat, wich seine Irritation einem schlechten Gewissen. «Wie üblich», fügte er hinzu.
«Werdet ihr jemanden hinzurufen?», fragte sie und klang wieder so zielstrebig wie üblich.
«Was genau meinst du?»
«Hilfe. Von außen.»
«Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor, jedenfalls jetzt noch nicht.»
Weiter hinten im Flur steckte Fredrika den Kopf aus der Tür. Ihr Blick verriet deutlich, dass sie der Meinung war, er solle sich augenblicklich von seinem Gesprächspartner verabschieden, wer auch immer es war, und zu ihr kommen. Erik gehorchte ihrem stummen Befehl.
«Ich muss jetzt aufhören, wir reden heute Abend weiter. Küsschen!»
Er steckte das Telefon in die Tasche, stellte die noch fast volle Tasse ab und ging mit schnellen Schritten zu Fredrikas Büro, um sich über den aktuellen Stand in Kenntnis zu setzen.
Sebastian senkte das Buch mit dem langen akademischen Titel Psychopathology of Crime: Criminal Behavior as a Clinical Disorder, als er jemanden an den Glastüren hörte. Vanja. Sie sah blass aus und wirkte mitgenommen. Sie holte ihre Schlüsselkarte hervor und öffnete die Tür, die mit einem Mal schwerer geworden zu sein schien. Irgendetwas war passiert. Sebastian stand auf und durchquerte die sterile Bürolandschaft. Er versuchte sich an einem herzlichen Lächeln, aber Vanja sah ihn zunächst gar nicht. Erst als er den halben Weg zurückgelegt hatte, bemerkte sie ihn.
«Hallo, ist etwas passiert?», fragte er und beschleunigte voller Besorgnis seine letzten Schritte.
Im ersten Moment schien sie ihm gar nicht antworten zu wollen, sie blieb nur schweigend stehen und betrachtete ihn. All ihre Kraft schien in dem Blick aus ihren schönen blauen Augen zu liegen, denn als die Worte schließlich aus ihrem Mund kamen, klangen sie so schwach und brüchig, als hätten sie unterwegs Schaden genommen.
«Mama … hat mir erzählt, wer mein Vater war», brachte sie hervor.
Sebastian wurde innerlich eiskalt. Darauf war er nicht vorbereitet.
Auf den unmöglichen Moment.
Seine Gedanken überschlugen sich.
Anna hatte doch wohl nicht die Wahrheit gesagt? Bisher hatte sie sich immer geweigert, ihm zu helfen. Sollte sie es jetzt doch getan haben?
«Wer ist es?», presste er heraus und war nicht wenig beeindruckt davon, dass seine Stimme trotz allem ausgeglichen und auf natürliche Weise neugierig klang.
«Weißt du, was sie mir gezeigt hat?», fuhr Vanja fort, als hätte sie seine Frage nicht gehört, diesmal jedoch mit festerer Stimme.
«Keine Ahnung», gelang es ihm zu antworten, während er spürte, wie die schlimmste Panik wieder abflaute. Offenbar war er noch einmal davongekommen. So würde sie nicht mit ihm reden, wenn Anna die Wahrheit enthüllt hätte. So gut kannte er Vanja inzwischen. Sie war – im Gegensatz zu ihm – keine gute Lügnerin.
«Ein Grab. Sie hat mir ein Grab gezeigt.»
«Ein Grab?»
«Mm. Er ist tot. 1981 gestorben, hat sie gesagt. Hans Åke Andersson hieß er.»
«Hans Åke Andersson?»
Sebastian versuchte, die Information rasch zu verarbeiten. Anna imponierte ihm ein bisschen. Ihr war es gelungen, Vanja einen Vater zu präsentieren und ihn im selben Moment für tot zu erklären. Das war eine beachtliche kreative Leistung. Vanja beeindruckte das eindeutig nicht im selben Maße.
«Anscheinend war das irgendjemand, mit dem sie etwas hatte und der keine Verantwortung übernehmen wollte, als sie mit mir schwanger war», fuhr sie fort und schüttelte den Kopf. «Und als Valdemar in ihrem Leben auftauchte, haben sie einfach beschlossen, mir niemals von ihm zu erzählen.»
«Niemals?»
«Nein. Sie behauptet, sie hätte mich nicht verletzen wollen. Vor allem deshalb nicht, weil Hans Åke Andersson acht Monate nach meiner Geburt starb und keine weiteren Angehörigen hatte.»
Vanja sah plötzlich wütend aus. Ihre Kraft war zurückgekehrt, jetzt war nicht nur ihr Blick energiegeladen. So erkannte er sie wieder.
«Sie muss mich wirklich für dumm halten. Nach mehreren Monaten zaubert sie plötzlich den Namen eines Mannes aus dem Hut, und passenderweise stellt sich heraus, dass dieser Mann tot ist. Ob sie wirklich gedacht hat, dass ich darauf hereinfalle?»
Sebastian ahnte, dass es eine rhetorische Frage war, und hielt lieber den Mund. Vanja erwartete ohnehin keine Antwort. Die Worte strömten nur so aus ihr heraus, aufgestauter Ärger, der lediglich darauf wartete, den Damm zu durchbrechen.
«Warum hat sie mir das verdammte Grab nicht schon früher gezeigt? Warum hat sie mehrere Monate gewartet?»
«Ich weiß es nicht», antwortete Sebastian wahrheitsgemäß.
«Aber ich weiß es. Weil es eine dämliche Lüge ist. Sie versucht nur … den Deckel über allem zu schließen. Damit ich mich mit ihnen versöhne.»
Sebastian schwieg weiter. Er wusste nicht genau, welche Strategie er wählen sollte. Sollte er Anna in Schutz nehmen? Ihr helfen, indem er Vanja dazu brachte, ihr die Lüge abzukaufen, oder stattdessen lieber Vanjas Skepsis nähren? Einen weiteren Keil zwischen die beiden treiben? Seine Lage war schwierig, aber er war zu einer Entscheidung gezwungen. Vanja schüttelte den Kopf und holte tief Luft, um sich selbst zu beruhigen. «Das Einzige, was mich auch nur ansatzweise dazu bringen würde, ihnen irgendwann einmal zu verzeihen, wäre, wenn sie ehrlich zu mir sind. Mit dem Lügen aufhören. Verstehst du?»
Sebastian beschloss, Vanja zu unterstützen. Das erschien ihm das Beste zu sein. So gewann er Zeit. Und vor allem Nähe.
«Ja, das verstehe ich. Das muss schrecklich belastend sein», erwiderte Sebastian einfühlsam.
«Ich schaffe es nicht mehr, mich mit dir zu streiten», sagte Vanja leise und sah ihn aufrichtig und mit feuchten Augen an. «Ich schaffe es nicht, gegen alle Welt zu kämpfen. Das geht nicht.»
«Du brauchst nicht gegen mich kämpfen», antwortete er so zurückhaltend wie möglich. Vanja nickte schwach, in ihrem Blick lag ein ehrliches Flehen.
«Dann musst du mir eines sagen: Hattest du etwas damit zu tun, dass Riddarstolpe mir keine Empfehlung für das FBI ausgesprochen hat? Hast du dafür gesorgt, dass ich den Eignungstest nicht bestehe?»
Sebastian musste sich anstrengen, seine Überraschung nicht zu zeigen. Wie kamen sie denn jetzt wieder auf dieses Thema?
«Das habe ich doch schon gesagt», antwortete er, um erneut Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln.
«Sag es noch einmal», erwiderte Vanja und hatte den Blick fest auf ihn gerichtet. «Ehrlich. Ich würde es leichter verkraften, wenn es so wäre, als wenn Menschen, die ich mag, mich weiterhin anlügen.»
Sebastian sah sie so eindringlich an, wie er nur konnte. Wenn so viel auf dem Spiel stand, fiel ihm das leicht.
«Nein», log er und bemerkte erfreut, dass seine Stimme ein wenig vom Ernst der Stunde gebrochen war. «Ich schwöre, dass ich damit nichts zu tun hatte.»
Er registrierte, wie sie ausatmete, wie ihre Schultern vor Erleichterung sanken, und ihm wurde warm vor Stolz. Wenn er sich nur konzentrierte, war er ein irrsinnig guter Lügner. Vermutlich hätte er sie sogar davon überzeugen können, dass die Erde eine Scheibe war.
«Allein die Tatsache, dass du mir zutraust …», begann er mit trauriger Stimme, um die Lüge noch einmal zu zementieren, aber sie hielt abwehrend die Hand hoch und fiel ihm ins Wort.
«Du brauchst nicht mehr zu sagen. Ich habe beschlossen, dir zu glauben.»
Sebastian erwachte jäh aus seiner wiederbelebten Selbstgefälligkeit. Was hatte sie da gesagt? Sie habe beschlossen, ihm zu glauben.
«Was heißt das denn?», fragte er mit ehrlicher Neugier.
«Genau das, was ich gesagt habe. Ich habe beschlossen, dir zu glauben. Weil ich das brauche.»
Sebastian betrachtete seine Tochter, die erneut den Tränen nahe zu sein schien. Nach all dem, was passiert war, brauchte sie wirklich jemanden, und sie hatte ihn gewählt. Dass sie beschlossen hatte, ihm zu glauben, war nicht dasselbe, wie ihm zu vertrauen. Aber vermutlich war es das Äußerste, zu dem sie in der Lage war. Jetzt lag es an ihm, ihr zu beweisen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
«Ich habe nicht vor, dich zu enttäuschen», sagte er.
«Na dann.» Ihr Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt, und sie trat einen Schritt vor und umarmte ihn.
Fester und länger, als er es je zu hoffen gewagt hätte.
Jan Ceder saß in einem der zwei Verhörzimmer des Gebäudes, wie Erik mitgeteilt wurde. Die Räume wurden zwar so genannt, aber er wusste, dass nicht gerade oft Verhöre darin durchgeführt wurden. Meistens wurden sie für Jahresgespräche, private Telefonate und kleinere Versammlungen genutzt und hin und wieder auch für ein Nickerchen.
Ceder habe keineswegs erstaunt gewirkt, als sie ihn abgeholt hatten, teilte Fredrika mit. Er sei auch nicht wütend gewesen und habe sich nicht widersetzt. Nein, er sei höchst freiwillig mitgekommen. Sie hätten ihm allerdings nicht gesagt, warum sie ihn sprechen wollten, obwohl er sich mehrmals nach dem Grund erkundigt habe. Hätten lediglich auf Ereignisse verwiesen, in die sie ein wenig Klarheit bringen wollten, ohne Details preiszugeben. Was über ihn vorlag, hatte Fredrika in einer Mappe gesammelt, eine Kopie für Erik lag auf dem Tisch. Fredrika schloss ihren Bericht mit der Information, dass sie die Ermittlungsbeamtin und Staatsanwältin Malin Åkerblad kontaktiert und diese eine Hausdurchsuchung bewilligt hatte. Die Kollegen seien bereits unterwegs.
Erik nickte beeindruckt und erbat sich einige Minuten Zeit, um die Unterlagen durchzulesen. Ob man hier unterdessen einen Kaffee bekommen könne, der ein bisschen wärmer sei als Zimmertemperatur? Die Antwort lautete nein. Nicht in diesem Haus. Nach dem Wochenende würde ein Techniker kommen und die Maschine reparieren.
Also nahm er ohne einen Kaffee Platz und schlug die dünne Mappe auf.
Jan Ceder, geboren 1961. Fünf Jahre älter als Erik. Wohnte in seinem Elternhaus, einer kleineren Hütte wenige Kilometer von den Carlstens entfernt. Seit 2001 erwerbsunfähig. Zweimal verheiratet und geschieden. Beide Male mit Thailänderinnern. Zurzeit alleinstehend, nachdem ihn letztes Weihnachten eine russische Frau – die er offenbar selbst nur als «die, die ich mir bestellt habe» bezeichnete – nach einem Streit verlassen hatte. Dieser hatte eine Anzeige wegen Körperverletzung zur Folge gehabt, die später jedoch zurückgenommen worden war.
Erik blätterte in Ceders Strafregister.
Mehrere Verkehrsdelikte, Alkohol am Steuer, zwei Festnahmen wegen Verstößen gegen das Alkoholgesetz, Schwarzbrennerei und Hehlerei, Bedrohung von Beamten und Angriffe auf selbige, Verletzungen des Jagdgesetzes und eine weitere Anzeige wegen Körperverletzung von einer der thailändischen Ehefrauen, die ebenfalls zurückgezogen worden war.
Erik schlug die Mappe zu.
Alkohol und mangelnde Impulskontrolle.
Es war definitiv an der Zeit, ein Wörtchen mit Jan Ceder zu reden.
Er saß in einem schlichten weißen T-Shirt und zerschlissenen Jeans zusammengesunken am Tisch. Mit seinen unrasierten Wangen, dem roten Haar, das dringend gewaschen werden müsste und einen Friseurbesuch nötig hatte, und den feinen Äderchen, die unter der trockenen Haut um die knochige Nase hervortraten, sah er älter aus als seine knapp fünfzig Jahre. Mit leicht geröteten Augen beobachtete er, wie der uniformierte Polizist den Raum verließ und Erik und Fredrika sich setzten. Fredrika schaltete das Diktiergerät ein, das auf dem Tisch stand. Sie begann mit dem Datum des Tages, erklärte dann, dass es sich um das Verhör von Jan Ceder handele, und endete damit, dass Kriminalkommissar Erik Flodin ebenfalls anwesend sei. Anschließend verstummte sie. Erik räusperte sich und begegnete Ceders ein wenig müdem Blick.
«Wir würden mit Ihnen gern ein bisschen über die Familie Carlsten sprechen.»
Ceder gab einen tiefen und diesmal sehr müden Seufzer von sich.
«Was soll ich deren Meinung nach jetzt schon wieder getan haben?»
«Was haben Sie denn getan?»
«Nichts, aber dieser Typ kam hier rein und hat, wie heißt das noch mal …», er hielt eine leicht zitternde Hand hoch, «… Proben genommen, von meinen Händen. Und meine Jacke, mein Hemd und meine Schuhe wollte er auch haben. Worum geht es hier eigentlich?»
Erik beschloss, nicht auf die Frage zu antworten. Noch nicht.
«Vorgestern haben Sie Emil Carlsten und seinen beiden Söhnen vor dem Hallenbad gedroht», fuhr er fort, ohne den Blick von Ceder zu wenden.
«Ich habe ihnen nicht gedroht.»
Erik wandte sich zu Fredrika, die die Akte aufschlug, die vor ihnen auf dem Tisch lag.
«Sie sagten, die Carlstens sollten …», Fredrika blätterte in dem dünnen Papierstapel und las Wort für Wort vor, «… verdammt vorsichtig sein, damit keiner von ihnen der nächsten Kugel in die Quere käme.»
«Das klingt wie eine Drohung», warf Erik ein.
Jan Ceder sah von Fredrika wieder zu Erik und zuckte mit den Achseln.
«Ich hatte ein bisschen was getrunken.»
«Es ist und bleibt eine Drohung.»
«Ich war besoffen.»
«Wissen Sie, was ich denke, wenn Leute wie Sie ihre Dummheiten damit verteidigen, dass sie betrunken waren?»
Schweigen erfüllte den Raum. Ceder vermutete wohl, dass Erik auch ohne eine Antwort von ihm weiterreden würde. Aber als neunzig stille Sekunden verstrichen waren, begriff er, dass Erik das nicht tun würde.
«Nein, ich weiß nicht, was Sie denken.»
«Ich denke: Hält er mich für einen Idioten?» Erik lehnte sich über den Tisch. Nicht weit, aber doch weit genug, dass Ceder ein Stück zurückwich. «Alkohol lässt keine neue Gedanken entstehen, er bewirkt nur, dass man das sagt, was man sowieso denkt, worüber man aber aus Gründen der Vernunft den Mund hält, wenn man nüchtern ist. Sie haben sie mit dem Tod bedroht.»
Jan räusperte sich und rutschte auf seinem Stuhl ein wenig hin und her. Er strich sich mit den Handflächen über die Bartstoppeln.
«Ich kann mich entschuldigen, wenn es das ist. Wenn ich die Kinder erschreckt habe oder so.»
Noch ehe Erik antworten konnte, vibrierte Fredrikas Handy auf dem Tisch. Erik bedachte sie mit einem missbilligenden Blick, den sie erfolgreich ignorierte, indem sie auf das Display sah und das Gespräch zu Eriks großem Erstaunen auch noch annahm. Es wurde still, während die beiden Männer darauf warteten, dass sie ihr Telefonat beendete. Nur Fredrikas zustimmendes Brummeln und ihre einsilbigen Fragen waren zu hören.
«Gibt es zufällig ein bisschen Kaffee?», fragte Ceder, nachdem er sich noch einmal geräuspert hatte.
«Keinen warmen», antwortete Erik im selben Moment, als Fredrika ihr Handy wieder einsteckte. Erik wollte gerade eine säuerliche Bemerkung fallenlassen und die Befragung wieder aufnehmen, als sie sich zu ihm herüberbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Nicht viel, höchstens drei Sätze, doch als Erik seine Aufmerksamkeit erneut auf Ceder richtete, schien es, als hätten ihm diese paar Worte neue Energie verliehen.
«Sie besitzen einen Waffenschein für zwei Schusswaffen und eine Schrotflinte», begann er, während er die Mappe aufschlug, die er bei sich getragen hatte, als er hereingekommen war. «Eine …», Erik sah auf das Papier, das vor ihm lag, «… Benelli Supernova, Kaliber .12. Stimmt das?»
Ceder nickte.
«Antworten Sie bitte in Worten», bat Fredrika schnell. «Wegen der Aufnahme», verdeutlichte sie und deutete mit einem Nicken auf das Diktiergerät.
«Ja», sagte Ceder jetzt unnötig laut und deutlich. «Ich habe eine Benelli Supernova Kaliber .12.»
«Die Kollegen, die bei Ihnen eine Hausdurchsuchung durchführen, haben gerade angerufen.» Erik machte eine kleine Pause und beugte sich erneut vor. Diesmal weiter. Hungriger. «Sie finden die Flinte nicht. Können Sie uns sagen, wo sie ist?»
«Sie wurde geklaut.»
Die Antwort kam schnell und wie selbstverständlich. Ob sie ehrlich oder eingeübt war, konnte Erik unmöglich entscheiden. Aber es gab vier Tote, hingerichtet mit einer Schrotflinte. Und Jan Ceder wusste nicht, wo sein eigenes Gewehr war.
Was für ein Zufall.
So leicht würde Erik ihn nicht davonkommen lassen.
«Wann war das?»
«Ist vielleicht ein paar Monate her. Irgendwann vor Weihnachten …»
«Ich kann hier aber nirgends eine Anzeige wegen Diebstahls finden», erwiderte Erik und deutete auf die Mappe auf dem Tisch.
«Ich habe das ja auch nicht gemeldet.»
«Warum nicht?»
Zum ersten Mal, seit Fredrika und Erik den Raum betreten hatte, öffnete sich Ceders Mund zu einem verhaltenen Grinsen. Wenn er den Friseur hinter sich hatte, müsste er als Nächstes zum Zahnarzt, dachte Erik.
«Warum sollte ich? Ihr habt doch wohl in den vergangenen zehn Jahren keinen einzigen Einbruch aufgeklärt?»
Die Aufklärungsquote von Einbrüchen war in der Tat peinlich niedrig, aber die meisten gesetzestreuen Bürger meldeten die Taten trotzdem. Besonders Waffendiebstahl. Nicht so Ceder. Aber der war ja auch nicht sonderlich gesetzestreu.
«Ein solches Gewehr kostet wohl um die zehntausend Kronen.» Erik lehnte sich wieder ein wenig zurück und wechselte in einen vertraulichen Plauderton.
«So um den Dreh.» Ceder zuckte mit den Schultern, als wollte er betonen, dass er nicht genau wüsste, was eine Benelli Supernova Kaliber .12 derzeit kostete.
«Das ist eine Menge Geld. Wollen Sie sich das nicht von der Versicherung erstatten lassen? Dafür müssten Sie den Diebstahl allerdings anzeigen.»
«Ich habe keine Versicherungen.»
«Überhaupt keine?» Fredrika konnte sich nicht zurückhalten.
«Das verstößt doch nicht gegen das Gesetz?»
«Nein, illegal ist es nicht, nur dumm.»
Ceder zuckte erneut mit den Schultern. Dann kratzte er sich an der Nase und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Körpersprache verriet deutlich, dass er der Meinung war, sie hätten das Thema nun zur Genüge ausgeschöpft. Weiter würden sie in dieser Sache also nicht kommen. Es war an der Zeit, sich wieder an die Ermordung der Carlstens heranzutasten.
«Wo waren Sie gestern?», fragte er, erneut mit dieser Stimme, als würden sie nur eine Kaffeepause machen.
Erik hämmerte gegen die dämliche Kaffeemaschine in der Küchenecke. Jetzt war er gestresst. Das Verhör war unterbrochen worden, nachdem Ceder nach einem Anwalt verlangt hatte. Natürlich kannte er keinen, den er vorschlagen konnte, und so warteten sie jetzt darauf, dass ein Pflichtverteidiger in Torsby ankam. Fredrika, die zu Ceders Elternhaus gefahren war, hatte soeben angerufen und berichtet, dass man dort nichts gefunden habe, was Ceder mit der wenige Kilometer entfernt verübten Tat in Verbindung brachte. Dafür hatte einer der Techniker in einer Kiste am Rand des Grundstücks ein Wolfsfell gefunden. Frisch geschossen, denn es war aufgespannt und wurde gerade mit Salz getrocknet. Fredrika bemerkte sarkastisch, dass sie Ceder vielleicht für einen weiteren Verstoß gegen das Jagdgesetz vor Gericht bringen könnten, wenn sie schon nichts anderes fänden. Dann legte sie auf. Und obendrein gab es keinen Kaffee.
Sie kamen nicht weiter. Ceder hatte eine Drohung ausgesprochen, aber das war alles. Wenn sie nichts Konkretes gegen ihn in der Hand hatten, waren sie gezwungen, von vorn anzufangen. Es war Eriks erster großer Fall nach der Beförderung. Er durfte nicht versagen, aber die Zeit lief ihm davon. Bald hatte der Mörder eineinhalb Tage Vorsprung, die wichtigen ersten vierundzwanzig Stunden waren im Nu verflogen.
Sie würden Hilfe benötigen.
Er würde Hilfe benötigen.
Es gab nicht viele, die er darum bitten konnte. Hans Olander, seinen Chef in Karlstad, schloss er sofort aus. Olander hatte im Kampf um den Posten des Kriminalkommissars mit besonderer Dienststellung den Gegenkandidaten Per Karlsson unterstützt und keinen Hehl daraus gemacht.
«Wir werden ja sehen, wie es so läuft», waren Olanders erste Worte an Erik gewesen, als seine Ernennung feststand. Olander war also nicht der richtige Ansprechpartner, um zwei Monate später um Beistand anzusuchen. Zudem hatte Olander in einem Telefongespräch bereits angedeutet, dass er die Ermittlungen gern selbst übernehmen würde, weil ihre Komplexität das erforderte, was er selbst als «Seniorität» bezeichnete. Allein seinem Vertrauensvorschuss bei der Kreispolizeidirektorin hatte Erik es zu verdanken, dass er leitender Ermittler blieb, jedenfalls bis auf weiteres. Aber die Direktorin namens Anna Bredholm, eine enge Freundin von Pia, wollte er nicht anrufen. Das würde umso mehr den Anschein erwecken, seine Karriere resultiere nur aus den Kontakten seiner Frau. Dieses böswillige Gerücht kursierte ohnehin schon, und er wollte auf keinen Fall Öl ins Feuer gießen. Nein, er brauchte jemanden, der in keiner Weise in das politische Spiel in Värmland involviert war.
«Wenn man nicht alles allein schafft, ist das keine Schande», hatte seine Mutter in manchen Situationen gesagt. Das stimmte natürlich, aber welche Signale würde er aussenden, wenn er schon am zweiten Tag seiner ersten größeren Ermittlung Außenstehende hinzuzog? Was Olander denken würde, konnte Erik sich leicht vorstellen, aber die anderen … Würde er seine Autorität untergraben und sich die Zukunft verbauen? War das ein Zeichen von Schwäche?
Und wenn schon, dachte er. Wenn der Mord an den Carlstens nicht aufgeklärt würde, hielte man ihn erst recht für inkompetent. Und das war schlimmer.
Vor seinem inneren Auge sah er den kleinen Jungen erschossen im Schrank sitzen.
Der Moment war gekommen, die Besten um Unterstützung zu bitten.
Es war ihm nie schwergefallen, sie anzusehen.
Im Gegenteil, normalerweise liebte er es, seinen Blick über ihren Mund, ihre Nase und ihre Wangen wandern zu lassen, um am Ende bei den Augen innezuhalten. Manchmal hatte er sie im Büro heimlich beobachtet. Es hatte etwas Besonderes, sie zu betrachten, wenn sie sich dessen nicht bewusst war. Natürlich hatte sie es meistens doch bemerkt, und er hatte schnell weggeschaut und eine Unschuldsmiene aufgesetzt, aber wenn er sich ihr anschließend erneut zuwandte, hatte sie gelächelt.
In der Zeit kurz vor dem Unglück hatte sie jedoch meistens betreten reagiert. Ihr Verhältnis hatte sich in die falsche Richtung entwickelt. Und er wusste nicht, wie es dazu gekommen war.
Sie würde sich von Micke scheiden lassen, und Torkel hatte gehofft, dass er vom Liebhaber zum Lebensgefährten aufsteigen würde. Das war aber keineswegs der Fall gewesen. Stattdessen trafen sie sich immer seltener. Nun aber stand er vor einer noch größeren Herausforderung als der Enttäuschung darüber, abgewiesen zu werden.
Er konnte ihr Gesicht nicht mehr betrachten.
So wie jetzt, als sie unter der rot melierten Wolldecke auf dem Sofa im Wohnzimmer lag. Sosehr er sich auch bemühte, er sah doch immer nur die weiße Kompresse, die ihr rechtes Auge bedeckte und das Gesicht, das er liebte, dominierte. Er wusste, dass sein Blick dem ihren begegnen musste, und brachte es doch nicht über sich. Die Kugel aus der Pistole hatte ihren rechten Augapfel und den Sehnerv zerfetzt, aber der Schusswinkel war glücklicherweise so schräg gewesen, dass sie durch die Schläfe wieder ausgetreten war, ohne allzu großen Schaden anzurichten, wie die Ärzte ihr gesagt hatten. Das rechte Auge war allerdings für immer verloren.
Er stand auf, um für einen Moment von der Kompresse wegzukommen, und steuerte ihre Küche an.
«Mehr Kaffee?»
«Nimm dir nur», sagte Ursula. «Ich habe noch.»
Torkel betrachtete die Tasse in seiner Hand und fühlte sich dumm, er hatte seinen Kaffee kaum angerührt. War es offensichtlich, dass er nur flüchtete? Aber jetzt konnte er auch nicht mehr umkehren, also setzte er seinen Weg in die Küche fort.
«Ich schenke mir ein bisschen nach», sagte er, hauptsächlich zu sich selbst. Ursulas Stimme folgte ihm.
«Wie geht es Vanja?»
Torkel blieb an der schwarzen Kaffeemaschine neben dem Herd stehen.
Im Grunde hatte er keine Ahnung. In der letzten Zeit hatte er nur Ursula im Kopf gehabt. Er war kaum im Büro gewesen und hoffte eigentlich auch, dass möglichst lange keine neuen Aufträge auf das Team zukommen würden. Er wollte sich voll und ganz Ursula widmen.
«Gut, glaube ich», antwortete er nach einer Weile.
«Bist du sicher?» Ursula klang zweifelnd. «Sie hat vorgestern hier vorbeigeschaut, und da wirkte sie ziemlich niedergeschlagen.»
Torkel hörte ihr zu und goss einige Tropfen frischen Kaffee nach.
«Wir haben uns nicht oft gesehen», gestand er. «Ich habe gehört, dass sie zu Hause Probleme hat. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht.»
Ich habe vor allem an dich gedacht, wollte er sagen. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich wieder.
«Du hast viel Zeit mit mir verbracht», entgegnete Ursula und lächelte ihn zum ersten Mal seit langem an. «Dafür bin ich dir wirklich dankbar», fuhr sie fort.