Die Menschen, die es nicht verdienen - Michael Hjorth - E-Book
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Die Menschen, die es nicht verdienen E-Book

Michael Hjorth

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Beschreibung

Er ist hochintelligent. Er liebt die Herausforderung. Aber reicht das aus, um Leben zu retten? Gerade noch hatte Mirre den Erfolg vor Augen, jetzt ist der Star einer Dokusoap tot. Hingerichtet, mit einem Bolzenschuss in den Kopf. Seine Leiche findet man in einem Klassenzimmer, an einen Stuhl gefesselt, einen Fragebogen auf den Rücken geheftet. Mirres Leistung: mangelhaft. Er hat nicht bestanden. Und sein Tod ist nur der Anfang. Während Kommissar Höglund und sein Team von der Reichsmordkommission nach Spuren in Mirres Umfeld suchen, stößt Kriminalpsychologe Sebastian Bergman auf eine andere Fährte. Jemand spottet über die fehlende Bildung von Menschen, die im Rampenlicht stehen. Die Vorbildfunktion haben sollten, aber keine Vorbilder sind. Die ihren Erfolg nicht verdienen. Sebastian will den Mörder aus der Reserve locken und ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Ein tödlicher Fehler...

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Michael Hjorth • Hans Rosenfeldt

Die Menschen, die es nicht verdienen

Ein Fall für Sebastian Bergman

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

Über dieses Buch

Er ist hochintelligent. Er liebt die Herausforderung. Aber reicht das aus, um Leben zu retten? Gerade noch hatte Mirre den Erfolg vor Augen, jetzt ist der Star einer Dokusoap tot. Hingerichtet, mit einem Bolzenschuss in den Kopf. Seine Leiche findet man in einem Klassenzimmer, an einen Stuhl gefesselt, einen Fragebogen auf den Rücken geheftet. Mirres Leistung: mangelhaft. Er hat nicht bestanden. Und sein Tod ist nur der Anfang.

Während Kommissar Höglund und sein Team von der Reichsmordkommission nach Spuren in Mirres Umfeld suchen, stößt Kriminalpsychologe Sebastian Bergman auf eine andere Fährte. Jemand spottet über die fehlende Bildung von Menschen, die im Rampenlicht stehen. Die Vorbildfunktion haben sollten, aber keine Vorbilder sind. Die ihren Erfolg nicht verdienen.

Sebastian will den Mörder aus der Reserve locken und ihn mit seinen eigenen Mitteln schlagen. Ein tödlicher Fehler...

Vita

Hans Rosenfeldt schreibt Drehbücher, zuletzt für die international bislang erfolgreichste skandinavische Serie «Die Brücke – Transit in den Tod», die zahlreiche Preise erhielt. In seinem Heimatland Schweden ist er ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.

Michael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und ebenfalls Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.

Ihre Krimireihe um den Stockholmer Psychologen Sebastian Bergman erscheint in 33 Ländern und wird von Sveriges Television in Kooperation mit dem ZDF verfilmt. Alle Bände befanden sich wochenlang in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste.

Sehr geehrter Herr Chefredakteur Källman,

 

schon seit vielen Jahren lese ich Ihre Zeitung, zu Beginn die gedruckte Ausgabe, seit einigen Jahren aber auch im Internet. Nicht immer sympathisiere ich mit Ihren Ansichten, und hin und wieder erscheinen mir sowohl die Themen als auch der journalistische Ansatz in manchen Reportagen eher fragwürdig. Nichtsdestotrotz hat mich Ihre Publikation zumeist mit einer gewissen Zufriedenheit erfüllt.

Nun aber ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich mich gezwungen sehe, Ihnen als verantwortlichem Herausgeber eine Frage zu stellen.

Warum huldigen Sie in Ihrer Zeitung der reinen Idiotie?

Wann hat man beschlossen, die bloße Dummheit in den Mittelpunkt zu stellen und nicht nur zur Norm zu erklären, sondern darüber hinaus auch noch als erstrebens- und beneidenswert darzustellen?

Warum bieten Sie täglich Personen ein Forum, die keine Ahnung haben, in welchem Jahr der Zweite Weltkrieg ausbrach, die nicht einmal Grundkenntnisse der Mathematik besitzen und allenfalls zufällig einen vollständigen Satz zustande bringen? Warum berichten Sie über Personen, deren einziges Talent darin besteht, auf sogenannten Selfies einen Kussmund zu ziehen, und deren einziges «Verdienst» es ist, dass sie sich öffentlich blamieren, indem sie sich mit irgendjemandem beim Geschlechtsverkehr filmen lassen – in einer von all diesen Dokusoaps, die unsere Fernsehkanäle derzeit jeden Abend überschwemmen.

Im Rahmen meines Berufs begegne ich vielen jungen Menschen, die strebsam, intelligent, engagiert und ehrgeizig sind. Es sind Menschen, die öffentliche Debatten verfolgen, ihr Wissen erweitern, kritisch denken und eine Ausbildung absolvieren, um einmal einen interessanten und anspruchsvollen Beruf ergreifen zu können, der unserer Gesellschaft dienlich ist. Diese jungen Menschen wollen etwas. Sie können etwas.

Ihnen sollten Sie Raum geben. Sie zu möglichen Vorbildern ernennen.

Nicht diesen gefühllosen, egoistischen, oberflächlichen Wesen, die mit vulgären Tätowierungen übersät, mit Metallschrott im Mund und ihrem niedrigen IQ sowie ihrer nicht vorhandenen Allgemeinbildung durch die Gegend stolzieren.

Deshalb wiederhole ich meine Frage abschließend noch einmal und sehe Ihrer Antwort in der Zeitung entgegen:

Wann hat man beschlossen, die bloße Dummheit in den Mittelpunkt zu stellen und nicht nur zur Norm zu erklären, sondern darüber hinaus auch noch als erstrebens- und beneidenswert darzustellen?

 

Mit freundlichen Grüßen

Cato d.Ä.

«Ab sofort haben Sie dreißig Sekunden.»

Mirre nahm das metallische Klicken der Stoppuhr kaum wahr. Wie lange sollte das Ganze dauern? Was hatte der Mann gleich noch gesagt?

Er wollte sechzig Fragen stellen.

Die wievielte war das jetzt? Mirre hatte keine Ahnung. Es kam ihm so vor, als wären sie schon eine Ewigkeit damit beschäftigt. Und er versuchte immer noch zu begreifen, was eigentlich passiert war.

«Möchten Sie die Frage noch einmal hören?»

Der Mann saß direkt vor ihm, auf der anderen Seite des Tischs. Seine Stimme war tief und ruhig.

Mirre hatte sie zum ersten Mal vor knapp zwei Wochen gehört, als sie miteinander telefonierten. Der Mann hatte ihn angerufen und sich als Sven Cato vorgestellt, ein freiberuflicher Journalist. Er wolle Mirre interviewen, hatte er gesagt. Oder besser noch: porträtieren. Mirre habe die Staffel zwar nicht gewonnen, gehöre aber zweifellos zu den Teilnehmern, die in der Presse und den sozialen Medien die meiste Aufmerksamkeit erhalten hätten. Und die Menschen hätten sich nach dem, was sie gesehen hatten, eine Meinung über ihn gebildet. Sven hatte erklärt, er wolle dieses Bild von ihm nun ein wenig vertiefen. Seine anderen Seiten zeigen, den Menschen hinter der Fernsehberühmtheit. Ob sie sich treffen könnten?

Sie hatten sich am Dienstag im Kurhotel verabredet, und Sven hatte ihn zum Mittagessen eingeladen. Obwohl es erst kurz nach halb zwölf gewesen war, hatten sie beschlossen, sich ein Bierchen zu gönnen. Schließlich war Sommer. Ferienzeit. Sven hatte ein kleines Diktiergerät zwischen ihnen auf dem Tisch platziert und Fragen gestellt. Und Mirre hatte geantwortet.

Jetzt deutete der Mann sein Schweigen offensichtlich als Ja.

«Wie nennt man Wörter, die das Verhältnis zwischen Personen, Dingen und Orten beschreiben – so wie beispielsweise auf, zu, vor und in?»

«Ich weiß nicht», sagte Mirre und hörte, wie erschöpft seine Stimme klang.

«Sie haben noch zehn Sekunden Bedenkzeit.»

«Ich weiß es nicht! Und ich habe keine Lust, Ihre bescheuerten Fragen zu beantworten!»

Einige Sekunden lang herrschte Stille, dann folgte ein Klicken, als die Stoppuhr angehalten, und ein weiteres, als sie wieder auf null gestellt wurde.

«Nächste Frage: Wie hieß das Flaggschiff, mit dem Christoph Kolumbus 1492 Amerika entdeckte? Dreißig Sekunden ab jetzt.»

Klick.

Die Stoppuhr tickte erneut.

Das Interview am Mittag war gut gelaufen. Dieser Sven war zwar mindestens so alt wie Mirres Vater und schien nicht wirklich den Durchblick zu haben, aber er wirkte ernsthaft interessiert. Es war nett, mit ihm zu reden. Als Mirre von der Toilette zurückgekommen war, hatten schon zwei neue Bier auf dem Tisch gestanden, die Sven in der Zwischenzeit bestellt hatte.

Das musste es gewesen sein. Das zweite Bier. Er musste irgendetwas hineingeschüttet haben, denn Mirre war kurz danach schlecht geworden. Er hatte sich nicht mehr konzentrieren können. Sich schwach gefühlt.

Sven hatte ihm angeboten, ihn nach Hause zu fahren.

Sie hatten das Restaurant verlassen und waren zum Parkplatz gegangen.

Und irgendwann war er hier aufgewacht.

Mit dem Kopf auf einer harten Tischplatte.

Er hatte sich aufgerichtet und einige Minuten gebraucht, bis er begriff, dass er nichts sah. Als er die Augenbinde hatte wegziehen wollen, bemerkte er, dass er seine Hände nur wenige Zentimeter bewegen konnte, ehe ein metallisches Klirren erklang.

Ketten. Handschellen.

Er hatte geschrien und an den Handschellen gerüttelt, war jedoch verstummt, als er die bekannte Stimme vernommen hatte.

«Niemand kann Sie hören, und Sie können sich auch nicht befreien.»

Er hatte erneut gefleht. Was zum Teufel passierte hier gerade? Was hatte dieser Typ vor? Mirre flehte und drohte. Vor allem Letzteres.

«Beruhigen Sie sich. Schon in einer guten halben Stunde können Sie hier weg sein. Vorausgesetzt natürlich, Sie bestehen.»

«Wie, bestehen?», hatte Mirre gefragt. «Was soll ich bestehen?»

Sechzig Fragen.

Dreißig Sekunden Bedenkzeit für jede.

Ein Drittel aller Antworten musste richtig sein.

«Und wenn nicht, was passiert dann?»

«Lassen Sie uns anfangen», hatte der Mann, der vermutlich gar nicht Sven Cato hieß, anstelle einer Antwort gesagt. «Erste Frage. Wofür steht die Abkürzung NATO? Dreißig Sekunden ab jetzt.»

Auf das Klicken, mit dem die Stoppuhr in Gang gesetzt wurde, folgte ein leiseres, aber schnelles Ticken, das die Sekunden zählte.

Um die ersten zehn oder fünfzehn Fragen hatte Mirre sich gar nicht gekümmert. Er hatte nur weiter an seinen Handschellen gezerrt und den Mann angeschnauzt, was er da verdammt noch mal mache und was er eigentlich von ihm wolle. Abwechselnd hatte Mirre ihm mit einer deftigen Abreibung gedroht oder ihn gefragt, was er haben wolle, damit er ihn freiließ. Drohen und flehen.

Doch der Mann hatte sich nicht davon beeindrucken lassen. Er hatte mit derselben ruhigen Stimme weiter seine Fragen gestellt, seine Stoppuhr gestartet, sich erkundigt, ob er die Frage wiederholen solle, und auf eine Antwort gewartet. Nach einer Weile hatte er sachlich darauf hingewiesen, dass die Chance, den Test zu bestehen, inzwischen dramatisch gesunken sei und Mirre gut daran tue, sich etwas mehr zu konzentrieren und weniger zu drohen.

Also begann Mirre zuzuhören.

«Was ist eine Primzahl?»

«Welche Tiere gehören zu den Big Five?»

«In welchem Jahrzehnt entstand die Insel Surtsey vor der isländischen Südküste?»

«Wie heißt die SI-Einheit, mit der man die Lichtstärke misst?»

Nach etwa der Hälfte des Tests hatte Mirre bemerkt, dass irgendetwas unter ihm knisterte, wenn er sich bewegte. Plastik. Er saß auf Plastik. Ein weiches Kissen, das jedoch in Plastikfolie gehüllt war. In Mirres Welt gab es dafür nur zwei mögliche Gründe.

Entweder war das Kissen so neu, dass es noch eingepackt war.

Oder man wollte es schützen.

Vor Flecken. Spritzern. Blut.

Nach diesem Adrenalinschub beschloss er, die Aufgabe zu bewältigen. Er würde es diesem Arschloch zeigen.

Er versuchte zuzuhören. Nachzudenken. Er musste verdammt noch mal bestehen.

«In welchem amerikanischen Bundesstaat liegt die Stadt Chicago?»

«Wie lautet die chemische Formel für Phosphorsäure?»

«Wer folgte Oscar I. auf den schwedischen Königsthron?»

Frage um Frage, mit derselben ruhigen tiefen Stimme gestellt. Mirre konnte keine einzige davon beantworten …

«Letzte Frage: Zu welcher Familie gehört der Vielfraß?»

Klick.

Familie? Was denn für eine Familie? Mirre wusste, was Vielfraß auf Englisch hieß. Wolverine. Er hatte jeden Marvel-Film gesehen. Aber die Familie?

«Möchten Sie, dass ich die Frage wiederhole?»

«Nein.»

Stille. Das leise, schnelle Ticken. Klick.

«Die Zeit ist um. Dann wollen wir mal sehen …»

Mirre seufzte und ließ seine Stirn auf die Tischplatte sinken. Nie im Leben hatte er zwanzig von sechzig richtigen Antworten. Auf so viele Fragen hatte er gar nicht erst versucht zu antworten.

Er hörte, wie der Mann auf der anderen Seite des Tisches aufstand. Langsam hob Mirre den Kopf und horchte auf die Bewegungen des anderen. Es klang, als käme der Mann näher. Im nächsten Moment spürte er etwas Kaltes, Metallisches an seiner Stirn.

«Sie sind durchgefallen», sagte der Mann, der tatsächlich nicht Sven Cato hieß. Mirre konnte nicht einmal mehr mit dem Kopf zucken, ehe die Druckluft den kleinen Bolzen abschoss, der sofort durch das Stirnbein und ins Gehirn drang.

Ihr ganzes Leben lang war sie von Lügen umgeben gewesen. Unsichtbaren Lügen. Über dreißig Jahre lang waren diese Schatten da gewesen, ohne dass sie sie entdeckt hatte. Jetzt war es anders. Jetzt sah sie die Schatten überall. Wohin sie auch blickte, stieß sie darauf.

Auf Lug und Betrug.

Keiner hatte ihr die Wahrheit gesagt.

Keiner.

Weder Anna noch Valdemar oder Sebastian.

Mutter, Vater und Vater.

Doch inzwischen weigerte sie sich, auch nur einen von ihnen als ihre Familie zu betrachten. Das wäre zu liebevoll. Das wollte sie ihnen nicht gönnen. Jetzt waren sie nur noch Personen mit Namen, mehr nicht.

Anna. Valdemar. Sebastian.

Allmählich hatten sich in der Fassade ihres Lebens Risse gebildet. Eine Ermittlung wegen Wirtschaftskriminalität hatte dazu geführt, dass Valdemar in Untersuchungshaft gekommen war. Anfangs war sie von seiner Unschuld überzeugt gewesen, hatte ihn für ein Opfer unglücklicher Umstände gehalten. Immerhin war er ihr Vater. Doch dann gestand er. Ihre Welt geriet ins Wanken.

Damals hatte Vanja noch nicht gewusst, dass dies nur die Spitze des Eisbergs gewesen war.

Der eigentliche Abgrund tat sich auf, als sie erfuhr, dass Valdemar nicht ihr leiblicher Vater war. Diese Enthüllung warf sie vollkommen aus der Bahn. Fieberhaft versuchte sie, sich in ihrem neuen Dasein zurechtzufinden und die Wahrheit zu erfahren. Sie konfrontierte Anna mit ihrem Wissen – nicht ahnend, zu welchen Intrigen ihre Mutter imstande war.

Anna erfand einen Vater.

Einen Mann, der bereits gestorben war.

Eine neue Lüge.

Vanja konnte verstehen, warum sie die Wahrheit über Valdemar nicht hatte erzählen wollen. Sie konnte es verstehen, und vielleicht wusste sie es sogar zu schätzen. In allen wesentlichen Dingen war er ihr zeit ihres Lebens ein guter Vater gewesen. Der beste Vater, den man sich vorstellen konnte. Warum sollte Anna ihn ihr wegnehmen? Warum sollte sie dieses Verhältnis zerstören?

Aber jetzt? Nachdem Vanja wusste, wer er war, oder besser gesagt, wer er nicht war: Warum hörte Anna jetzt nicht endlich auf zu lügen? Warum enthielt sie ihr die Wahrheit immer noch vor? Das ließ sich weder erklären oder verteidigen noch verstehen und führte zu einer eisigen Kälte zwischen ihnen. Einem Permafrost, den Vanja nicht wieder auftauen wollte.

Schließlich hatte nicht sie gelogen.

Sie war unschuldig.

Aber dann, als alles um sie herum bereits ins Wanken geraten war, trat Sebastian Bergman plötzlich aus dem Schatten.

Er war ihr Vater.

Deshalb hatte er sich wieder der Reichsmordkommission angeschlossen.

Seine Motivation war eindeutig. Und all sein Tun hatte nur ein einziges Ziel gehabt: ihr nah zu sein, ihr Freund zu werden.

In der Nacht nach Billys Hochzeit hatte er sie geweckt. Sie war noch im Halbschlaf gewesen, als er gesagt hatte, er müsse ihr unbedingt etwas erzählen und nein, es habe nicht bis morgen Zeit. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, als sie sich neben ihn auf das ungemachte Bett setzte. Aber auf keinen Fall das, was sie zu hören bekam, so viel war sicher.

«Ich bin dein Vater, Vanja», hatte er gesagt und ihre Hände genommen.

Immerhin hatte er sich bemüht, die Nachricht halbwegs behutsam zu verkünden. Hatte erklärt, wie er selbst es erfahren hatte. Wie er dann nicht ihr Verhältnis zu Valdemar hatte gefährden wollen und wie Anna ihm verboten hatte, das Geheimnis preiszugeben, und er trotzdem immer nur ihr Bestes gewollt hatte.

Er hatte ehrlich gewirkt.

Das rechnete sie ihm hoch an. Aber eigentlich änderte es nichts. Betrug war Betrug.

Sie hatten mit ihrem Leben gespielt, wie in diesem Film mit Jim Carrey, Die Truman Show.

Alles war nur ein Schauspiel gewesen, und alle hatten eine Rolle innegehabt – außer ihr.

Sie, die immer so großen Wert auf Vernunft und Logik gelegt hatte, verlor den Boden unter den Füßen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie in einem Haus wohnen, in dem keine Tür in irgendeinen anderen Raum führte. Sosehr sie auch suchte, sie fand keinen Ausweg.

Sie hatte sich zwei Wochen lang krankschreiben lassen. Hatte in ihrer Wohnung gesessen und versucht, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Es hatte zu nichts geführt als der Einsicht, wie einsam sie im Grunde war.

In ihrem Erwachsenenleben hatte sie all ihre Energie in zwei Dinge gesteckt: ihren Job und ihre Familie.

Eine gute Polizistin zu sein.

Und eine gute Tochter.

Jetzt, ohne Familie, blieb ihr nur noch die Arbeit.

Aber ausgerechnet dort war der Mann, der sich plötzlich als ihr Vater erwiesen hatte. Die beiden Welten waren kollidiert. Nirgends war sie frei von den Gedanken, die sie jagten, dabei hätte sie genau das gebraucht.

Sie musste sich ein Leben jenseits der Schatten aufbauen.

Ein eigenes Leben. Ihr Leben.

Nur wie, wusste sie nicht.

An normalen Tagen, wenn sich fast zweihundert Schüler vor den Schränken an der Wand drängten, herrschte hier ein ganz anderer Geräuschpegel. Doch vorigen Donnerstag hatten die Sommerferien begonnen, und jetzt war Lise-Lotte González allein in einer stillen Schule. In den letzten Wochen vor Schuljahresende waren einige administrative Aufgaben liegen geblieben, und sie hatte beschlossen, alles aufzuarbeiten, damit sie anschließend guten Gewissens freinehmen konnte. Gestern war sie nur wenige Stunden im Büro gewesen, dann hatte sie das schöne Wetter hinausgelockt, aber heute wollte sie bis mindestens sechzehn Uhr bleiben.

Eigentlich machte es ihr nichts aus, den Urlaub noch um ein oder zwei Wochen aufzuschieben. Sie arbeitete gern konzentriert und ohne dass das Telefon klingelte, die Kollegen ihren Kopf zur Tür hereinsteckten oder der Posteingang überquoll.

Gegen vierzehn Uhr gönnte sie sich eine wohlverdiente Pause. Sie ging in das verlassene Lehrerzimmer, stellte den Wasserkocher an und machte sich eine Tasse Nescafé. Zurück im Büro, wühlte sie in den Schubladen unter der Arbeitsplatte und fand eine Dose mit Mandelkeksen. Das musste reichen.

Nach der kurzen Kaffeepause beschloss sie, noch eine Runde zu drehen. Sie spazierte gern durch die frisch renovierten Räume ihrer Schule.

So empfand sie wirklich.

Es war «ihre Schule».

Was natürlich nicht stimmte. Die Hilding-Schule war die neueste Lehranstalt, die der Privatschulkonzern Donnergruppen eröffnet hatte.

Sie war sehr erfolgreich.

Hatten einen großen Zustrom an Schülern, einen guten Ruf, kompetente Lehrkräfte und überdurchschnittliche Ergebnisse im landesweiten Leistungsvergleich. Lise-Lotte konnte sich also sicher sein, dass die Konzernleitung es auf keinen Fall bereute, den Rektorenposten mit ihr besetzt zu haben.

Sie bog um die Ecke und gelangte in den Gang, wo hauptsächlich die naturwissenschaftlichen Fächer unterrichtet wurden. Lise-Lotte blieb stehen und stutzte. Eine der weiß lasierten Türen, die erstaunlicherweise das ganze Halbjahr ohne Schmierereien überstanden hatten, stand halb offen. Dabei sollten insbesondere diese Räume immer verschlossen sein, weil Chemikalien, Säuren, Gasflaschen und andere teure und gefährliche Dinge darin aufbewahrt wurden.

Als sie die Tür schließen und absperren wollte, erspähte sie etwas in dem Raum.

Was war das?

Sie öffnete die Tür ganz. Doch, sie hatte richtig gesehen. Links neben dem Smartboard saß ein Mensch mit nacktem Oberkörper, den Rücken dem Raum zugewandt.

«Hallo?»

Keine Reaktion. Lise-Lotte trat einen Schritt in das Zimmer.

«Hallo, alles in Ordnung?»

Noch immer erhielt sie keine Antwort. Nichts, was darauf hindeutete, dass dieser Mensch sie überhaupt gehört hatte. Stand er unter Drogen? Wie er auf dem Stuhl hing, ließ jedenfalls darauf schließen, dass er bewusstlos oder im Tiefschlaf war.

Lise-Lotte ging durch die Tischreihen, auf denen die Stühle ordentlich mit den Beinen nach oben hochgestellt waren und auf das nächste Schulhalbjahr warteten, das in acht Wochen begann.

«Alles in Ordnung? Können Sie mich hören?»

Jetzt konnte sie erkennen, dass es ein junger Mann war. Muskulös. Tätowiert. Aber was trug er auf dem Kopf? Eine Karnevalsmütze, oder was war das? Und was waren das für Papiere auf seinem Rücken? Falls er tatsächlich berauscht oder bewusstlos war, konnte Lise-Lotte nur hoffen, dass er nichts aus diesem Chemieraum konsumiert hatte. Es würde keinen guten Eindruck machen, wenn einer der hiesigen Jugendlichen in ihre Schule eingebrochen wäre und sich zugedröhnt oder vergiftet hätte.

Lise-Lotte blieb stehen und runzelte verblüfft die Stirn. Jetzt konnte sie die Blätter genau erkennen, die am Rücken des Mannes hingen.

Zwei Seiten im DIN-A4-Format.

Auf ihnen stand etwas. Und daneben waren Blutflecken, dort, wo die Seiten an der Haut des Jungen festgetackert waren. Lise-Lotte befürchtete das Schlimmste, als sie die letzten Schritte nach vorn eilte und sich hinabbeugte, um sein Gesicht zu sehen.

Hätten ihr nicht schon die starren Augen verraten, dass dieser junge Mann tot war, dann hätte es spätestens das kleine, runde Loch in seiner Stirn getan.

Vanja saß auf dem Sofa in Torkels Büro und wartete. Entweder war sie zu früh oder er zu spät.

Vermutlich Ersteres, denn Torkel war für seine Pünktlichkeit bekannt.

Sie ertappte sich dabei, dass sie nervös war, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab.

Torkel kannte die Wahrheit über Sebastian bereits. Sie hatte ihm alles erzählt, als er sie angerufen hatte, um sich zu erkundigen, wie es ihr ging. Er hatte nicht gewusst, warum sie krankgeschrieben war. Wahrscheinlich hatte er geglaubt, sie hätte eine Grippe oder etwas anderes, das irgendwann vorüberging. Natürlich war er erstaunt gewesen, zugleich aber verständnisvoll. Er hatte gesagt, sie solle sich alle Zeit nehmen, die sie benötige, und sie wisse ja, wo sie ihn finde, wenn sie jemanden zum Reden brauche.

Und jetzt brauchte sie jemanden.

Denn sie hatte eingesehen, dass sie allein nicht weiterkam, und sie hatte niemand anderen.

Durch die Glasscheibe sah sie Torkel herankommen. Sie stand auf, um sich zu sammeln, und verfluchte sich selbst für diese instinktive Bewegung. Schließlich war es nur Torkel, mit dem sie reden wollte. Ihr Freund und Mentor. Daran hatten auch die Ereignisse der letzten Zeit nichts geändert.

Es würde funktionieren.

Er stand auf ihrer Seite.

Als Torkel nur noch wenige Meter von seinem Büro entfernt war, sah er sie ebenfalls, lächelte freundlich und hob die Hand zum Gruß, aber Vanja glaubte, eine gewisse Unruhe in seiner Miene zu erkennen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass er vor dem Treffen womöglich genauso nervös war wie sie.

Schließlich wusste er nicht, warum sie hier war.

Glaubte er, dass er sie verlieren würde?

Aber vielleicht war es ja tatsächlich so? Warum war sie eigentlich hier?

Sie wusste es selbst nicht genau. Sie hatte die Kontrolle verloren. Das sah ihr nicht ähnlich, und deshalb war sie auch so nervös.

«Hallo, Vanja, wie schön, dich wiederzusehen!», sagte Torkel, als er durch die Tür trat und sie umarmte. «Wie ist es dir ergangen?»

«Nicht so gut.» Plötzlich spürte Vanja, wie schön es war, wenn diese Frage von jemandem gestellt wurde, der sich wirklich für die Antwort interessierte. Der sich für sie interessierte. «Irgendwie überfordert mich das alles.»

«Das verstehe ich gut», antwortete Torkel leise, trat einen Schritt zurück und hielt weiter ihre Schultern fest. «Du musstest ja auch einiges verkraften.»

«Ja, das kann man wohl sagen.»

Torkel lächelte schwach und drückte ihre Schultern noch einmal fest, ehe er sich in einen der Besuchersessel setzte. Er bedeutete Vanja mit einem Nicken, auf dem Sofa gegenüber Platz zu nehmen.

«Ich habe Sebastian gestern kurz getroffen», sagte er, als sie es sich bequem gemacht hatte. «Er war in letzter Zeit auch nicht gerade oft hier», fuhr er fort.

«Hast du ihm gesagt, dass du es weißt?», fragte Vanja.

Torkel schüttelte den Kopf. Was dachte sie eigentlich von ihm? Sie hatte ihn darum gebeten, es nicht zu tun. Und sie wusste doch wohl, dass er ihr Vertrauen niemals so missbrauchen würde.

«Was sollen wir jetzt tun?», fragte er und beugte sich vor, stützte die Unterarme auf die Beine und legte die Fingerspitzen aufeinander. «Wie hättest du es gern? Du bestimmst.»

Sie begegnete seinem offenen, wohlwollenden Blick und wünschte, sie hätte eine bessere Antwort.

«Ich weiß es nicht.»

«Er ist nicht bei uns angestellt, er hat nur einen Beratervertrag. Den kann ich noch heute zerreißen, wenn du das willst.»

Das war eine Überraschung. Vanja wusste nicht so recht, was sie sagen sollte. Diese Möglichkeit hatte sie gar nicht bedacht. Sie hatte immer das Gefühl gehabt, Sebastian wäre, genau wie sie, ein ebenbürtiges Mitglied des Teams. Jetzt bot sich ihr plötzlich die Chance, ihn hinauszuwerfen.

Leicht war das nicht.

Ein Teil von ihr wollte ihn nie wiedersehen. Ein anderer Teil war eher unsicher. Verwirrt.

«Ich weiß es nicht», presste sie schließlich hervor. Diese Nicht-Antwort, die sie in letzter Zeit immer häufiger verwendete. Die alle Entscheidungen den anderen überließ.

«Ich kann ihn sofort entlassen. Das liegt in deiner Hand», wiederholte Torkel.

Sie nickte dankbar, aber ihre Unsicherheit war genauso groß wie ihre Dankbarkeit. Wenn nicht größer. Sie hasste Sebastian Bergman nicht. Sie war keineswegs so wütend auf ihn wie auf Anna und Valdemar. Bei weitem nicht. Eigentlich wollte sie ihm nichts Böses. Sie hatten sich angenähert, das konnte sie nicht verleugnen. Und manchmal mochte sie ihn sogar.

«Ich muss nachdenken. Irgendwie erscheint mir das zu einfach», sagte sie.

«Manchmal ist die einfachste Lösung die beste», entgegnete Torkel.

Nur zu wahr, aber das käme ihr vor, als würde sie vor den Schwierigkeiten davonlaufen. So war sie nicht. Sie wollte Schwierigkeiten nicht aus dem Weg gehen. Sie wollte sie lösen. Ohne Umschweife. Jedenfalls wollte sie es zumindest versuchen, ehe sie aufgab.

Sie schüttelte langsam den Kopf.

«Behalte ihn. Ich sage Bescheid, wenn ich es mir anders überlege.»

Torkel nickte. Er verriet mit keiner Miene, was er von ihrer Entscheidung hielt. Als er schließlich etwas entgegnen wollte, klingelte sein Telefon, und diesmal ließ sein Gesichtsausdruck keinen Zweifel zu: Irritation. Er stand auf und hob den Hörer ab, noch während er um den Schreibtisch herumging.

«Ich möchte nicht gestört werden», sagte er barsch. Dann hörte er jedoch, was der Anrufer zu sagen hatte, und zog einen Block und einen Stift heran.

«Von wo aus rufen Sie an, sagten Sie?»

Torkel begann zu schreiben. Vanja stand vom Sofa auf. Sie wusste nicht, wer da anrief, aber sie begriff, dass sie gerade einen neuen Fall bekommen hatten.

Sebastian konnte es kaum fassen, dass er auf der Insel Adelsö gelandet war. Oder besser gesagt, er verfluchte sich dafür, dass er es sich erlaubt hatte, auf Adelsö zu landen. Zwar spielte er grundsätzlich auswärts, aber normalerweise achtete er immer darauf, dass er auch schnell wieder entkommen konnte. Meistens noch ehe die Frau, mit der er im Bett gewesen war, aufwachte. Dass er diesmal nicht so vorausschauend gehandelt hatte, lag daran, dass seine Sucht in letzter Zeit eskaliert war. Der Eroberungszwang dominierte inzwischen fast sein ganzes Dasein. Aufgrund seiner Sehnsucht.

Nach Värmland.

Nach Maria und ihrer Tochter Nicole.

Das Mädchen hatte miterleben müssen, wie ihr Onkel, ihre Tante und ihre beiden Cousins ermordet worden waren, und hatte nicht mehr gesprochen, als die Polizei sie fand. Sebastian hatte sich ihrer angenommen. Er hatte ihr geholfen, das Trauma zu verarbeiten, und dabei eine enge Bindung zu dem Mädchen und dessen Mutter aufgebaut. Zu eng. Sie waren bei ihm eingezogen. Sebastian, Maria und Nicole waren zu einer kleinen Familie geworden. Nicole musste die Leere ausfüllen, die seine Tochter hinterlassen hatte.

Das war ungesund und konnte nicht auf Dauer gutgehen.

So kam es dann auch.

Es endete damit, dass Maria ihm deutlich machte, dass sie ihn nie wiedersehen wollte.

Aber er wollte sie und ihre Tochter wiedersehen.

Also hatte er einige Zeit damit verbracht, sie zu finden, was nicht besonders schwer gewesen war. Sie waren von ihrer Wohnung in Enskede in ein kleines Reihenhaus in Åkersberga gezogen. Sebastian war dorthin gefahren, doch als er vor der Tür gestanden hatte, waren ihm Zweifel gekommen.

Was sollte er tun?

Was konnte er tun?

Er wollte ihnen alles erklären. Wie viel sie ihm bedeuteten. Wie gern er sie wieder in seiner Nähe haben würde. Wie er sich dank ihnen wieder wie ein ganzer Mensch gefühlt hatte, zum ersten Mal seit jenem zweiten Weihnachtsfeiertag im Jahr 2004.

Aber er hatte sie auch belogen. Und sich selbst. Oder wie Vanja es formuliert hatte: Er hatte diejenigen ausgenutzt, die am schwächsten waren. Das wusste auch Maria. Was wollte er also damit erreichen, wieder in ihrem Leben aufzutauchen? Nichts. Also hatte er darauf verzichtet und die Reihenhausgegend wieder verlassen.

Maria und Nicole verlassen.

Hatte sich wieder in kurze, sinnlose sexuelle Abenteuer gestürzt.

Wie jetzt auf Adelsö.

 

Der Traum hatte ihn um kurz vor sechs geweckt. Wie immer war seine rechte Hand fest geballt. Er streckte seine verkrampften Finger, und im selben Moment sah er ein, dass es keinen Sinn hatte, einfach aufzustehen und sich davonzuschleichen. Selbst wenn er den Weg finden würde, was garantiert nicht der Fall wäre, hatte er keine Lust, sieben Kilometer bis zu einer Autofähre zu spazieren, um anschließend eine halbe Ewigkeit in einem Bus zu sitzen, bis er endlich wieder in Stockholm war. Also blieb er liegen und wartete, bis die Frau neben ihm, Kristina … Soundso endlich aufwachte. In derselben Sekunde, als sie die Augen aufschlug, lächelte er sie an und streichelte ihr über die Wange.

«Guten Morgen.»

Sie rekelte sich und wollte gerade ihre Hand unter seine Decke schieben, als er sie zur Seite schlug und aufstand.

«Ich gehe duschen. Darf ich mir ein Handtuch nehmen?»

Kristina wirkte etwas enttäuscht angesichts seines schnellen Abgangs. Aber er konnte sich wirklich keinen Sex mehr mit ihr vorstellen. Es war das Unvorhersehbare, das ihn reizte, die Herausforderung, jemanden zu verführen, die Ereignisse zu lenken, dieses Spiel zu spielen, das ihn für kurze Zeit all den Schmerz und die Schuld vergessen ließ, die ihn langsam vergifteten. Und genau das brauchte er. Ohne das wäre Sex nur eine Qual für ihn.

Als er aus der Dusche kam, hatte Kristina Frühstück gemacht. Aber er hatte keinen Hunger. Situationen wie diese versuchte er um jeden Preis zu vermeiden. Dieses falsche Spiel von Zweisamkeit, die Illusion, sie hätten irgendetwas gemeinsam, obwohl sie sich, wenn es nach ihm ging, nie wiedersehen würden, ließ ihn erschauern.

«Möchtest du nach dem Frühstück einen Spaziergang machen?», fragte Kristina, während sie einen selbstgebackenen Bagel, den sie in der Mikrowelle aufgewärmt hatte, mit Butter bestrich.

«Nein, ich möchte, dass du mich mit deinem Auto zur Fähre bringst», sagte Sebastian wahrheitsgemäß. «Oder besser gleich bis in die Stadt.»

Kristina legte das Buttermesser auf den Teller und lächelte ihn leicht erstaunt an, als würde seine Antwort überhaupt nicht zu ihrer Tagesplanung passen.

«Letzte Nacht hast du aber gesagt, du hättest heute keine Eile, wieder zurückzufahren.»

«Letzte Nacht hätte ich alles gesagt, um dich ins Bett zu kriegen.»

Auch das war wahr, aber diesmal hatte seine Ehrlichkeit positive und negative Folgen.

Die positive war, dass dieses lästige Frühstück umgehend beendet wurde.

Die negative, dass Kristina nicht vorhatte, ihn auch nur einen einzigen Meter zu fahren.

Jetzt ging Sebastian also eine Straße namens Adelsö ringväg entlang und hoffte, dass sie ihn irgendwann zum Fähranleger bringen würde.

Sein Telefon klingelte.

Er wünschte, es wäre Vanja.

Vor einem Monat, in der Nacht nach Billys Hochzeit, hatte er ihr erzählen müssen, was er schon eine Weile gewusst hatte: dass er ihr Vater war.

Natürlich war Vanja schockiert gewesen. Erst hatte sie ihm nicht glauben wollen, und dann, als er sie davon überzeugt hatte, dass er die Wahrheit sagte, hatte sie ihn erst einmal aus ihrem Leben verbannt. Nicht auf die Ich-will-dich-nie-wieder-sehen-Art, sondern eher aus dem Bedürfnis heraus, allein zu sein.

Sie hatte gesagt, sie brauche Zeit, um das alles zu verdauen.

Sie werde sich wieder melden.

Das hatte sie bisher nicht getan.

Sebastian kannte sie gut genug, um zu wissen, dass künftig alles nach ihren Bedingungen ablaufen musste, damit ihre ohnehin schon zerbrechliche Beziehung eine Chance hätte. Sobald sie auch nur ansatzweise das Gefühl hätte, dass er etwas erzwingen wollte, würde sie ihm für immer den Rücken kehren.

Deshalb war er allein.

Und er war nicht gut darin, allein zu sein.

Und deshalb stapfte er nun auf Adelsö umher.

Und es war auch nicht Vanja, die ihn anrief, sondern Torkel.

Es war Zeit, wieder zu arbeiten.

Ursula war verwundert, als sie ihre jüngere Kollegin durch die Drehtür ins Terminal treten sah. Torkel war nicht sicher gewesen, ob Vanja mitkommen würde, aber anscheinend war es ihm gelungen, sie zu überreden. Ursula hätte vollstes Verständnis gehabt, wenn Vanja ihren Arbeitsbeginn noch etwas verschoben hätte. Sie wusste selbst nicht genau, ob sie weiter mit Sebastian zusammenarbeiten wollte. Nicht nur, weil er ein notorischer Lügner und sexsüchtig war und obendrein, wie sich jetzt herausgestellt hatte, noch Vanjas Vater.

Ursula hatte ihre eigenen Gründe.

Sie hatte ihr rechtes Auge verloren, weil sie in seiner Nähe gewesen war.

Bei ihm zu Hause.

Nur er und sie, in einer erotisch aufgeladenen Stimmung.

Vielleicht war da auch noch mehr gewesen, zumindest von ihrer Seite, obwohl sie das im Nachhinein nie zugeben würde. Eine Exfreundin von Sebastian und eine Pistole am Türspion. Anschließend hatte er sie nicht einmal im Krankenhaus besucht. Und sich nur halbherzig entschuldigt und da weitermachen wollen, wo sie beim letzten Mal aufgehört hatten. Als wäre nichts geschehen.

Ursula wandte sich an Torkel, der ein Stück entfernt stand.

«Kommt Sebastian auch?»

«Ja, das hat er zumindest gesagt.»

«Und Vanja hat nichts dagegen?»

«Nein.»

«Können wir nicht darüber abstimmen?», fragte sie und winkte Vanja zu, die hinter der Drehtür stehen geblieben war und suchend um sich blickte. Dann winkte sie zurück und ging mit ihrem schwarzen Rollkoffer auf ihre Kollegen zu. Ursula fand, dass sie erstaunlich gefasst wirkte. Vielleicht ein wenig blasser als sonst. Und ein paar Kilo leichter.

«Ist es ein Problem, dass er mitkommt?», fragte Torkel und betrachtete sie forschend. Irgendetwas schwang in seinem Tonfall mit. Dabei hatte sie geglaubt, er sei darüber hinweg, dass sie bei Sebastian zu Hause gewesen war, als sie angeschossen wurde. Seine anfängliche Eifersucht hatte sie für überwunden gehalten. Aber vielleicht war es doch nicht so. Obwohl Sebastian und sie einhellig beteuert hatten, dass es ein unverfängliches Treffen gewesen war. Ein nettes Abendessen. Mehr nicht.

«Sebastian ist immer ein Problem», sagte sie und zuckte mit den Schultern, um die Situation zu entschärfen.

«Für dich persönlich?»

Eindeutig nicht überwunden.

«Nein», seufzte sie. «Jedenfalls nicht mehr als sonst», fügte sie hinzu.

Jetzt war Vanja bei ihnen, und Ursula überraschte sowohl ihre Kollegin als auch sich selbst damit, dass sie die Jüngere in den Arm nahm. Sie umarmte sonst nie jemanden. Nicht einmal ihre Tochter.

«Hallo, meine Liebe, wie geht es dir?», fragte sie.

Vanja bedachte Ursula mit einem zärtlichen Blick, dankbar für die unerwartete Fürsorge.

«Ganz okay. Es wird mir guttun, wieder zu arbeiten.»

Sie wandte sich Torkel zu, um das Thema zu wechseln. «Ich konnte den ersten Bericht nur kurz im Taxi überfliegen», sagte sie ein wenig entschuldigend. «Wissen wir noch mehr?»

«Nicht gerade viel», antwortete Torkel. «Zwei Morde. Spektakulär. Nahezu identisch. Beide Toten wurden mit einem Schuss in die Stirn getötet und mit einer Narrenkappe auf dem Kopf in einem Klassenzimmer gefunden, und man hat ihnen eine Art Test am Rücken festgetackert. Das erste Opfer wurde vor einer Woche in Helsingborg gefunden, das zweite vorgestern in Ulricehamn.»

«Also wechselt der Mörder seinen Ort?»

«Das scheint so», antwortete Torkel. «Leider ist der erste Bericht der Polizei in Helsingborg etwas lückenhaft.»

Ursula schüttelte den Kopf.

«Dann müssen wir wohl wie üblich an beiden Orten noch einmal bei null anfangen», sagte sie säuerlich.

Sie sah Vanja Zustimmung heischend an, doch die Aufmerksamkeit der Kollegin galt etwas ganz anderem. Ursula drehte sich um und sah, was Vanja längst entdeckt hatte: Sebastian, der durch die Drehtür schlenderte, als gäbe es keine Probleme auf dieser Welt. Hinter ihm bemerkte Ursula Billy, der gerade aus einem Taxi stieg und auf das Terminal zueilte.

Die ganze Mannschaft versammelt …

Sebastian hielt inne, als er Vanja erblickte. Seine Sorglosigkeit schien plötzlich wie weggeblasen.

«Ich rede mal kurz mit ihm», sagte Vanja leise und ließ den Griff ihres Koffers los.

«Soll ich mitkommen?», fragte Torkel mit einer beinahe väterlichen Stimme.

«Nicht nötig.»

Vanja ging auf Sebastian zu, der seinen Koffer abstellte und anscheinend beschlossen hatte, sie zu ihm kommen zu lassen. Billy lief an Sebastian vorbei, ohne stehen zu bleiben, grüßte ihn nur kurz mit einem Nicken und steuerte dann auf Ursula und Torkel zu. Sebastian kannte die dunklen Geheimnisse hinter Billys neutraler Fassade, doch in diesem Moment wusste er es zu schätzen, dass der Kollege sich nichts anmerken ließ. Sebastian musste sich auf seine Tochter konzentrieren.

«Hallo, Vanja», sagte er ruhig, als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war. «Ich war mir nicht sicher, ob du hier sein würdest.»

«Doch, das bin ich.»

«Du hast gesagt, du würdest dich melden …»

Vanja ging die letzten Schritte auf ihn zu und kam ihm so nah, dass er ihr Shampoo riechen konnte. Offenbar versuchte sie, inmitten des Gewimmels eine private Atmosphäre zu schaffen.

«Ich bin heute in der Grev Magnigatan vorbeigegangen», sagte sie so leise, dass keiner der Vorbeigehenden verstehen konnte, worüber sie redeten. «Aber du warst nicht zu Hause.»

«Nein, ich war bei … einem Kumpel.»

Wieder verfluchte Sebastian es, dass er auf Adelsö gelandet war. Wäre er innerhalb der Stadtgrenzen geblieben, hätte er Vanja wahrscheinlich nicht verpasst.

«Du hast keine Freunde», entgegnete Vanja unnötig hart. «Du warst doch bestimmt wieder vögeln», fuhr sie fort und bewies einmal mehr, dass sie ihn viel zu gut kannte.

Sebastian sah ein, dass es gute und schlechte Gelegenheiten gab, um zu lügen, und dies war eine sehr schlechte.

«Entschuldige», sagte er ehrlich. «Ich wusste ja nicht, dass du kommen würdest. Du hättest vorher anrufen sollen.»

«Es war nur ein spontaner Einfall.» Vanja zuckte mit den Schultern. «Ich war vorher bei Torkel und wollte dir mitteilen, dass ich allen im Team von unserer … Verwandtschaft erzählt habe.»

«Dass ich dein Vater bin.»

Sie betrachtete ihn ein wenig kühl. Es war so leicht für ihn und so schwer für sie. Das war einfach ungerecht.

«Es gefällt dir gut, dich selbst so zu nennen, oder?»

Er nickte.

«Ja, so ist es. Ich bin stolz auf dich. Aber wenn dich das stört, kann ich auch damit aufhören.»

Er sah sich im Terminal um. Ein Stück entfernt standen Torkel, Ursula und Billy nebeneinander, die Blicke auf Vanja und ihn gerichtet. Sebastian hatte das Gefühl, dass es mindestens zwei von ihnen, wenn nicht sogar drei, am liebsten wäre, wenn er sich jetzt umdrehen und gehen würde. Für immer. Aber es war ihm egal, was sie dachten. Die Einzige, bei der es ihm ganz und gar nicht egal war, stand vor ihm.

«Ich tue alles, was du willst, um dich nicht zu verlieren», sagte er, und ohne darüber nachzudenken, streckte er seine Hand aus und nahm die ihre. Zu seinem Erstaunen zog sie sie nicht zurück. «Du warst nicht darauf vorbereitet», fuhr er behutsam fort. Dies konnte das wichtigste Gespräch seines Lebens sein, und er wollte nichts riskieren. «Ich verstehe, dass du böse auf mich bist. Auf alle. Ich verstehe …»

Er verstummte. Wog seine Worte ab. Er balancierte auf einer schmalen Brücke über einen Abgrund, und seine Tochter konnte ihn jederzeit hinabstürzen.

«Seit ich weiß, wer du bist, ist meine größte Angst, dass du so vor mir stehen und deines Weges gehen könntest. Und mich nie wieder an dich heranlassen würdest. Davor hatte ich eine panische Angst. Und ich habe sie nach wie vor.»

Er atmete tief ein, ehe er fortfuhr. Hatte keine Ahnung, ob seine Worte sie erreichten. Ihre Miene verriet nicht, was sie dachte, aber er durfte noch immer ihre Hand halten.

«Aber es ist dein Leben. Und es muss auch deine Wahl sein.»

Er schwieg. Es gab noch mehr zu sagen, aber das wäre jetzt zu viel. Zu große Themen für einen lärmenden, wuseligen Flughafen. Also wartete er. Eine gefühlte Ewigkeit.

«Du kannst mein Kollege sein», antwortete sie schließlich. Ruhig und konzentriert. «Was das andere betrifft …» Sie verstummte. Auch sie schien ihre Worte sorgfältig abzuwägen. Mit ihren schönen blauen Augen sah sie ihn intensiv an. «Du bist nicht mein Vater. Nicht auf diese Art. Nicht so, dass ich mit dir Weihnachten feiern und dir zum Vatertag Blumen schenken würde.»

Sebastian nickte. Es lief besser, als er es sich erhofft hatte.

«Das verkrafte ich momentan nicht», fuhr Vanja fort, als rechnete sie mit seinem Widerspruch. «Und werde es vielleicht nie tun. Aber wir können einfach Kollegen sein. Schaffst du das?»

Sebastian atmete mit einem Seufzer der Erleichterung aus. Immerhin akzeptierte sie einen kleinen Teil von ihm, und das war besser als nichts.

«Ich werde mein Bestes tun», antwortete er würdevoll.

«Dann musst du dich noch mehr anstrengen», erwiderte Vanja und rang sich ein Lächeln ab. «Dein Bestes habe ich schon zur Genüge kennengelernt.»

Mit diesen Worten verließ sie ihn und ging zu den anderen zurück.

Eine Stimme aus dem Lautsprecher rief die Passagiere nach Göteborg auf, sich zum Ausgang 37 zu begeben. Sebastian nahm seinen Koffer und folgte seiner Kollegin.

Wie immer ignorierte Billy auf den knapp achtzig Kilometern vom Flughafen Landvetter bis nach Ulricehamn sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen und Radarfallen, sodass sich bereits nach fünfundvierzig Minuten Fahrt der Åsunden vor ihnen ausbreitete. Sebastian glaubte sich zu erinnern, dass dort irgendwann einmal eine wichtige Schlacht auf dem Eis stattgefunden hatte. Er hatte jedoch keine Ahnung, wann, zwischen wem und wer als Sieger daraus hervorgegangen war.

Sie passierten das nördliche Ende des Sees und einen großen Campingplatz, der voll belegt war. Dann sagte das Navi, dass sie rechts abbiegen sollten und noch einmal nach rechts in den Boråsvägen, der in Sebastians Augen aussah wie jede andere Zufahrtstraße zu jeder anderen Kleinstadt, in der er bereits gewesen war. Viel Grün. Ältere Wohnhäuser wechselten sich mit einzelnen Geschäften und kleineren Fabriken ab. Anschließend folgten einige Mehrfamilienhäuser, in denen man zumindest von den oberen Wohnungen aus Seeblick haben musste, und vermutlich waren die Quadratmeterpreise dementsprechend.

Dann waren sie beim Polizeirevier angekommen. In der Nachmittagssonne sah es wie neu erbaut aus. Das Erdgeschoss war mit Ziegeln verkleidet, weiter oben war das Gebäude gelb verputzt. Auf beiden Seiten des Eingangs hingen grüne Markisen und das Polizeisymbol. Billy parkte vor einer kreisförmigen Grasfläche, auf der drei Steine aneinanderlehnten wie eine Art Miniatur-Stonehenge.

«Torkel Höglund?», fragte eine Stimme hinter ihnen, als sie aus dem Auto stiegen. Sie drehten sich um und erblickten eine etwa fünfzigjährige Frau, die auf sie zukam, während sie gleichzeitig den Knopf eines Autoschlüssels betätigte, woraufhin ein grüner Passat auf dem Parkplatz aufblinkte. «Eva Florén von der Polizei Borås in Västra Götaland. Ich habe Sie heute Morgen angerufen.»

Torkel ergriff ihre ausgestreckte Hand und stellte die anderen Mitglieder des Teams vor.

«Ich komme gerade vom Rechtsmedizinischen Institut in Göteborg», erklärte Eva Florén und bat sie ins Gebäude. «Inzwischen hat der Vater das Opfer zweifelsfrei identifiziert.»

Die Kommissarin führte sie an der Rezeption vorbei, hinter der zwei uniformierte Polizisten auf ihren jeweiligen Bildschirm starrten. Sonst war niemand zu sehen. Eine durchgezogene Schlüsselkarte und ein Türschloss später waren sie im Revier.

«Kaffee?», fragte Eva, als sie an der Personalküche vorbeikamen, wo Arbeitsplatte, Schränke und Tische in einem hellen Holz gehalten waren. Eine geschwungene Kücheninsel und ein Schrank, der darüber von der Decke hing, trennten die Ecke mit den Elektrogeräten, der Spüle, der Kaffeemaschine und den Arbeitsflächen von einem Bereich mit knallrosa gepolsterten Stühlen, die um helle Holztische standen. In den Fenstern hingen weiße Gardinen mit großen bunten Punkten. Jemand hatte sich bemüht, diesen Raum wie einen modernen Arbeitsplatz aussehen zu lassen, und das ziemlich erfolgreich.

«Sehr gern», antwortete Sebastian, nachdem alle anderen Kaffee dankend abgelehnt hatten. «Schwarz, aber mit einem Stückchen Zucker, wenn das möglich ist.»

Vanja bedachte ihn mit einem bösen Blick. Natürlich konnte es sein, dass er Lust auf eine Tasse Kaffee hatte, aber seine Antwort und sein warmes Lächeln deuteten darauf hin, dass dies der Beginn eines Versuchs war, mit der Kommissarin aus Borås anzubändeln. Die nahm eine Tasse aus dem Schrank, wobei ihr Verlobungs- und Ehering deutlich sichtbar wurden. Als ob sich Sebastian davon abhalten ließe.

«Vielen Dank», sagte er, als Eva ihm kurz darauf die Tasse mit dem heißen Getränk reichte. Er lächelte erneut, und Vanja registrierte seufzend, dass er wie zufällig Evas Hand streifte, als er die Tasse entgegennahm. Es war einfach unmöglich, ihn in einer solchen Situation nur als Kollegen anzusehen. Sie überlegte, ob sie dieses Verhalten ihm gegenüber ansprechen sollte.

Eva bat sie in den Konferenzraum. An der einen Wand stand ein Whiteboard, davon abgesehen dominierten die gleichen knallrosa Stühle wie in der Küche und die gleichen gepunkteten Gardinen an den Fenstern den Raum.

«Das hier ist Ihr Arbeitsplatz. Es ist der einzige freie Raum im Moment. Wenn Sie etwas anderes möchten, müssen Sie mit uns nach Borås kommen.»

Statt eines Konferenztisches, wie es die Reichsmordkommission sonst gewohnt war, gab es hier kleinere Tische, die paarweise in drei Reihen zum Whiteboard hin ausgerichtet waren. «Das ist doch gut so», antwortete Torkel. «Und größer, als wir es sonst gewohnt sind.»

«Im Moment erinnert der Raum nur ein bisschen an ein Klassenzimmer, mit diesen Tischreihen», sagte Eva beinahe entschuldigend. «Aber Sie können die Möbel natürlich nach eigenem Gusto umstellen.»

Sie nahmen Platz. Ursula, Vanja und Torkel belegten die erste Reihe. Sebastian und Billy setzten sich hinter sie. Vor sich hatten sie je eine dunkelgrüne Mappe.

«Hatten Sie genügend Zeit, sich in die Unterlagen einzuarbeiten?», fragte Eva.

«Einige mehr, andere weniger, aber wir hätten sowieso gern, dass Sie uns den Fall noch einmal schildern.»

Eva nickte, öffnete eine identische Mappe und hielt das Bild eines muskulösen jungen Mannes hoch, der entspannt in die Kamera grinste.

«Miroslav Petrovic, einundzwanzig Jahre alt, wurde gestern Nachmittag tot in einem Chemieraum der Hilding-Schule aufgefunden.»

«Mirre!», rief Billy, als hätte er einen alten Bekannten erblickt.

«Ja, so wird er genannt.»

«Der Zusammenhang war mir bisher gar nicht klar», fuhr Billy kopfschüttelnd fort.

«Welcher Zusammenhang?», fragte Torkel und sah Billy neugierig an.

«Mirre ist dieses Jahr Dritter bei Paradise Hotel geworden», antwortete Billy, als erklärte das alles.

Die anderen gaben sich jedoch damit zufrieden.

«Heute Morgen wurden wir darüber informiert, dass in Helsingborg letzte Woche ein ähnlicher Mord stattgefunden hat», fuhr Eva fort. «Da haben wir beschlossen, Sie zu kontaktieren.»

«Patricia Andrén», ergänzte Torkel.

«Genau, aber das ist auch schon fast alles, was wir wissen. Sie wurde ebenfalls mit einem Schuss in die Stirn getötet und in einer Schule gefunden, mit Narrenkappe auf dem Kopf und einem Test am Rücken festgetackert. Alles genau so wie bei Petrovic. Ich hoffe, ein detaillierter Bericht ist unterwegs.»

«Gut», sagte Torkel nickend. «Was wissen wir noch über Petrovic, abgesehen davon, dass er tot ist?»

«Seit seiner Teilnahme an dieser Dokusoap ist er eine Art Promi. Miroslavs Vater Gabriel Petrovic hat erzählt, dass sein Sohn am Dienstag mit einem Journalisten zum Mittagessen verabredet war. Danach hat ihn niemand mehr gesehen.»

«Wusste der Vater, wie dieser Journalist hieß?», fragte Vanja.

«Ja, Sven Cato. In Schweden gibt es sechs Personen mit diesem Nachnamen, aber nicht in Kombination mit dem Vornamen.»

«Ist einer davon Journalist?», fragte Vanja weiter, obwohl sie die Antwort schon kannte. Wäre die Sache so einfach, hätte man wohl kaum die Reichsmordkommission eingeschaltet.

«Nein, wir gehen dem natürlich weiterhin nach, nehmen aber an, dass der Name falsch ist.»

«Wissen wir, ob sie sich tatsächlich getroffen haben und wenn ja, wo?»

«Noch nicht. Bisher ist es uns gelungen, seine Identität vor der Presse geheim zu halten, aber damit haben wir natürlich auch keine Hinweise aus der Bevölkerung erhalten können.»

«Ob das so klug war?», fragte Torkel, und seine Missbilligung war nicht zu überhören. Miroslav Petrovic war vermutlich schon seit über achtundvierzig Stunden tot. Der wichtigste Zeitraum bei einer Ermittlung. Je länger man wartete, desto weniger exakt würden die Zeugenaussagen ausfallen.

«Sicher nicht, aber es war der Wunsch des Vaters.»

Torkel seufzte tief und nickte. In solchen Fällen fiel die Entscheidung schwer.

«Wenn die Presse es nicht sowieso vorher herausfindet, sollten wir morgen damit an die Öffentlichkeit treten. Wir müssen seine letzten Stunden nachvollziehen, so gut es geht.»

«Es ist jetzt Ihre Ermittlung», sagte Eva nickend. «Sie veröffentlichen die Informationen, wann immer Sie es für richtig halten. Ich wollte nur erklären, warum wir es bisher nicht getan haben.»

«Was ist mit der Schule?», unterbrach Ursula die kleine Diskussion. «Gibt es dort irgendwelche Spuren?»

Eva schüttelte den Kopf.

«Das Klassenzimmer war der Fundort, nicht der Tatort.»

«Und was ist mit dem Rest der Schule?»

«Eine Tür im Erdgeschoss ist aufgebrochen worden. Aber nichts deutet darauf hin, dass das Opfer dort ermordet wurde.»

Nichts, was die örtliche Polizei in Ulricehamn bisher gefunden hat, deutet darauf hin, dass das Opfer dort ermordet wurde, hätte Ursula sie am liebsten korrigiert. Doch dann fiel ihr ein, dass Torkel sie gebeten hatte, ihr mangelndes Vertrauen in die örtliche Polizei diesmal für sich zu behalten.

«Alarmanlage?», fragte sie stattdessen, obwohl sie die Antwort schon ahnte. Ein erneutes Kopfschütteln bestätigte es ihr. Ursula seufzte. «Ich möchte mir das gern selbst einmal ansehen.»

«Ja natürlich, ich fahre Sie hin, sobald wir hiermit durch sind.»

Sebastian blätterte in den Fotos, die am Fundort aufgenommen worden waren. Der Stuhl, das Seil um den Bauch, mit dem das Opfer aufrecht gehalten wurde, mit dem Gesicht zur Ecke, die weiße Narrenkappe auf dem Kopf. Da war ein Serienmörder am Werk, der seine Taten gut plante und eine Botschaft hatte.

Normalerweise lauschte Sebastian solchen Fallübergaben nur mit halbem Ohr, aber irgendetwas an dieser makabren Szenerie faszinierte ihn. Er blätterte weiter in den Unterlagen, bis er fand, was er suchte. Eine Kopie des Papiers, das am Rücken des Opfers befestigt worden war. Sebastian überflog den Inhalt. Teilweise war die Schrift schwer zu lesen, weil sie blutbefleckt war.

«Wie ist dein spontaner Eindruck, Sebastian?», fragte Torkel und wandte sich halb um.

Sebastian richtete sich auf, hob seinen Blick von der Mappe und wünschte, er hätte eine Brille, die er respekteinflößend in die Stirn hätte schieben können – oder auf die Nasenspitze, um einen strengen Blick darüber hinweg zu werfen. Vielleicht sollte er sich eine zulegen. Den Professorenstil etwas mehr pflegen. Er lächelte Eva zu, die sein Lächeln nicht erwiderte.

«Ein Mann. Schon älter. Wahrscheinlich kann sich kaum jemand unter vierzig daran erinnern, dass man sich früher als Strafmaßnahme in der Schule in die Eselsecke stellen musste. Und auch das Symbol der Narrenkappe deutet darauf hin.» Sebastian sah erneut auf die Bilder. «Der Täter war der Meinung, dass sich dieser junge Mann hätte schämen sollen. Über seine mangelnde Allgemeinbildung, so scheint es.»

«In der letzten Staffel von Paradise Hotel gab es eine Folge, in der die Teilnehmer eine Reihe von Grundschulaufgaben lösen sollten», warf Billy ein. «Da war Fremdschämen angesagt. Sie haben sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert.»

«Vermutlich hat sich der Täter daraufhin bei Petrovic gemeldet.»

«Haben Sie sein Handy gefunden?», fragte Billy jetzt. Eva schüttelte erneut den Kopf.

«Wir haben seinen Computer …»

«Durchsuchen Sie die Mails und die Kommentarfelder, falls er irgendeinen Blog, ein Instagram-Konto, einen Twitter-Account oder Ähnliches hatte», sagte Sebastian. «Dieser Mann hat garantiert schon vorher mit ihm Kontakt aufgenommen.»

«Diese Typen haben mindestens so viele Freunde wie Feinde. Da wird sich garantiert vieles finden», meinte Billy.

Torkel wandte sich wieder Sebastian zu.

«Wonach suchen wir?»

Sebastian betrachtete weiter das Bild des gefesselten Toten mit der Narrenkappe.

«Wohlformulierte Beiträge, in denen Verachtung zum Ausdruck gebracht wird. Keine Drohungen. Keine Flüche. Korrekte Rechtschreibung.»

Er sah zu den anderen auf und wünschte sich abermals eine Brille.

«Da ist noch eine Sache – aber darauf seid ihr bestimmt auch schon selbst gekommen.» Er machte eine kleine dramaturgische Pause und wartete, bis er sich der Aufmerksamkeit aller gewiss war, ehe er fortfuhr: «Er hat jetzt zweimal innerhalb von einer Woche auf diese Weise gemordet. Und er wird weitermachen.»

Leserbrief an die Zeitung Eskilstuna-Kuriren

 

Überall müssen sie dabei sein.

Ohne auch nur das Geringste beitragen zu können.

All diese Leute aus den Dokusoaps und diesen Blogs.

Äußerlich nahezu identisch, mit ihren tätowierten Körpern (Männer und Frauen) und ihren silikongefüllten Brüsten (Frauen). Allesamt auf dem intellektuellen Niveau von Zweijährigen.

Jeden Tag verkünden unsere Fernsehsender lautstark, dass Eigenschaften wie Oberflächlichkeit, Unwissenheit und Idiotie in unseren Zeiten am schnellsten zum Erfolg führen.

Fördert man die Klugen, die wirklich etwas können? Gibt man ihnen Raum? Nein, Junge wie Alte mit Intelligenz und profundem Wissen werden zynisch an den Rand gedrängt.

Sie machen keine «Quoten».

Sie generieren keine «Klicks».

Sie sorgen nicht für «Gossip» und «Skandale».

Das übernehmen Menschen, die nichts können und auch noch stolz darauf sind und die unsere Gesellschaft zu Vorbildern und Idolen überhöht.

Wie der begabte Kristian Luuk in seiner Sendung sagte, einer Freistatt, die zum Glück bislang von dieser Huldigung der Dummheit verschont bleiben durfte: Quo vadis, Schweden?

Mit besten Grüßen

Cato d.Ä.

Am Hotel gab es nichts auszusetzen. An seinem Zimmer auch nicht.

Trotzdem wollte Billy nur noch weg. Hinaus.

Er hatte sich vorgenommen, mit Petrovics Computer anzufangen. Ein Acer Aspire mit 17,3-Zoll-Bildschirm, vier GB RAM und einer Fünfhundert-GB-Festplatte. Jetzt wollte er sich einen Überblick verschaffen. Einen Eindruck, wie viel Arbeit auf ihn zukommen würde, wenn er ernsthaft zu suchen anfinge. Er wusste bereits, dass Mirre auf Instagram und Twitter war, aber wie stand es mit Facebook? Und hatte er einen Blog? Oder vielleicht ein Flickr-Konto, auch wenn das nicht so verbreitet war?

Aber die Konzentration wollte sich einfach nicht einfinden. Eigentlich liebte er diese Art von Aufgaben. Er war gut darin. Die Kollegen erwarteten von ihm, dass er sie bewältigte, und ihre Wertschätzung bedeutete ihm viel. Und dennoch schweiften seine Gedanken ab, kaum dass er begonnen hatte.

Er dachte an Jennifer und wurde wütend, weil er an Jennifer dachte und nicht an seine Frau. Also dachte er stattdessen an My. An ihre Flitterwochen, zehn wirklich schöne Tage in der Türkei. Und er dachte an die Hochzeit.

Die Hochzeitsnacht.

Den Morgen danach.

Dann ging nichts mehr.

Er klappte den Laptop zu und erhob sich mit einem Seufzer. Er ging zum Fenster und blickte auf den See. Was sollte er tun? Beim Einchecken hatte der Mann an der Rezeption gesagt, das Hotel habe einen kleinen Fitnessbereich. Trainieren? Eigentlich war er nicht in der Stimmung. Wenn überhaupt, dann wäre es verlockender, draußen laufen zu gehen. Jemanden anrufen? Wieder kam ihm Jennifer in den Sinn. Er wusste nicht, warum. Sie hatten sich einmal geküsst, ein paar Monate vor der Hochzeit. Das war alles. Sie wären wohl beide gern noch weitergegangen, aber Billy hatte es verhindert. Weil er My heiraten wollte. Inzwischen war er verheiratet. Er liebte My, also müsste er jetzt eigentlich sie anrufen, wenn er das Bedürfnis zu reden hatte. Doch mit Jennifer war alles einfacher. Sie waren sich ähnlicher. Hatten mehr gemeinsam. Jennifer verstand ihn auf eine andere Art.

Allerdings wusste sie natürlich nichts von der Hochzeitsnacht. Und dem Morgen danach. Das konnte niemand verstehen.

Nicht einmal er selbst.

Aber nichts wurde besser dadurch, dass er in diesem etwas zu warmen Hotelzimmer stand und seinen Gedanken freien Lauf ließ. Er griff im Vorbeigehen seine Jacke und verließ den Raum.

 

Eine Minute später ging er die Treppe hinab und betrat die Lobby. Er sah sich um und entdeckte Sebastian, der lesend in einem der braunen Sessel neben der Rezeption saß. Billy hoffte, dass er sich unbemerkt hinausschleichen konnte, doch im selben Moment sah Sebastian von seiner Zeitung auf und erblickte ihn. Billy fluchte stumm vor sich hin. Warum musste Sebastian im Foyer sitzen? Warum war er nicht in seinem Zimmer oder draußen, auf der Suche nach irgendeiner Frau aus Ulricehamn, die er abschleppen konnte? Das machte er doch sonst auch immer. Bewachte Sebastian ihn etwa?

«Wo willst du hin?» Sebastians Stimme dröhnte durch die Lobby, während er aufstand, seine Jacke überzog und auf Billy zuging.

«Raus.»

«Ich komme mit.»

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Anscheinend hatte Billy diesbezüglich nichts zu melden.

«Ich brauche keinen Babysitter.»

«Dann betrachte mich doch stattdessen einfach als einen … Tierfreund.»

Billy hatte keine Lust, darauf einzugehen. Er schob die Tür auf und trat auf den runden, kopfsteingepflasterten Platz vor dem Hoteleingang. Obwohl es nach wie vor warm war, knöpfte er seine dünne Jacke zu und entfernte sich ohne ein Wort vom Hotel. Er bog rechts ab und ging über eine kleine Rasenfläche und dann nach links.

Sebastian folgte ihm und holte ihn ein. Gemeinsam überquerten sie eine größere Straße und liefen weiter in Richtung See. Dort angekommen, entschied sich Billy, abermals nach links zu gehen, mit dem Wind im Rücken.

Sebastian blieb schweigend an seiner Seite. Es war Billys Schuld, dass im letzten Monat so viel passiert war.

Billy hatte Vanjas und Sebastians Verwandtschaft enthüllt. Ordentliche, althergebrachte Polizeiarbeit und das Sammeln von DNA-Material hatten den Verdacht bestätigt, den Billy schon eine Weile gehegt hatte.

Er hatte damit gedroht, Vanja alles zu erzählen, wenn Sebastian nicht vergessen würde, was er gesehen hatte.

Dass Billy in seiner eigenen Hochzeitsnacht eine Katze erdrosselt hatte.

Dass es ihn befriedigt hatte.

Sexuell.

Und auch wenn Sebastian es am liebsten vergessen hätte – er konnte es nicht. Also hatte er Vanja sofort erzählt, dass er ihr Vater war, damit Billy nicht mehr in der stärkeren Position war. Anschließend hatte er nachdenken müssen. Und sich entscheiden. Ob er Torkel von den Vorfällen erzählen sollte oder nicht.

Von Edward Hinde.

Und Charles Cederkvist.

Zwei Personen, die Billy im Dienst erschossen hatte. Billys ausbleibende Reaktion auf die tödlichen Schüsse hatte Sebastian erstaunt, doch selbst in seiner wildesten Phantasie wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, dass Billy das Töten in seinem Kopf mit Genuss verknüpfen würde und er wegen dieser Koppelung auf einem äußerst gefährlichen Weg war.

Die natürliche Sperre, die normalerweise dafür sorgte, dass man seine Phantasien nicht auslebte, war bei ihm gefallen. Eigentlich müsste Billy sie wieder neu errichten, denn die Phantasien würden ihn sein Leben lang verfolgen. Wichtig war, dass er lernte, sie einzuordnen, und sich bewusst wurde, dass sie genau das waren: Phantasien. Und dass Billy den Impuls, den sie auslösten, nicht zwingend ausleben musste.

Sebastian hatte darauf gedrängt, dass Billy sein Problem anpacken und sich Hilfe suchen sollte. Soweit Sebastian wusste, hatte er bisher allerdings nichts in diese Richtung unternommen.

Als sie schon ein ganzes Stück am Ufer zurückgelegt hatten, brach Sebastian das Schweigen.

«Warum bist du rausgegangen?»

«Ich muss doch wohl verdammt noch mal mein Hotelzimmer verlassen dürfen.»

«Bist du rastlos?»

Billy antwortete nicht, was Sebastian als Ja deutete.

«Wie läuft’s mit My?»

Billy antwortete nicht. Das brauchte er auch gar nicht. Natürlich war die Beziehung zu My belastet. Geheimnisse wogen schwer, und Billys Geheimnis war wohl eines der schwersten, die man überhaupt haben konnte. Er steckte mitten in einem Prozess, indem er das meiste, was er über sich selbst zu wissen geglaubt hatte, neu überdenken musste. Und bei alldem musste er auch noch seiner Arbeit nachgehen und eine Beziehung führen.

«Hast du schon mit jemandem darüber geredet?», fragte Sebastian und spürte, wie er langsam außer Atem kam. Billy legte ein flottes Tempo vor, und Sebastian war nicht in Form für schnelle Spaziergänge. In der Ferne sah er einen weiteren Campingplatz. Wie viele davon gab es in diesem Kaff denn noch?

«Wenn du nicht mit mir redest, rede ich mit Torkel, das weißt du.»

Er hatte das Gefühl, dass Billy seine Schritte ein wenig verlangsamte.

«Was hindert dich denn daran?»

Eine vollkommen berechtigte Frage. Sebastian hatte auch schon darüber nachgedacht. Warum hielt er dicht? Er hegte keine besonderen Gefühle für Billy. Aber Vanja mochte ihn. Er wusste nicht, wie sie reagieren würde, wenn er mit einer Nachricht käme, die das Team auseinanderreißen würde. Er konnte es sich nicht leisten, dass sie dem Boten die Schuld gab. Außerdem war es schön, einen Machtvorsprung zu haben, das musste er zugeben. Zu wissen, was Billy getan hatte, ermöglichte ihm eine gute Verhandlungsposition, wenn er einmal Hilfe oder Beistand brauchen würde.

«Wie geht es denn nun mit My?», wiederholte Sebastian seine Frage.

Für einen kurzen Moment glaubte er, dass er auch diesmal keine Antwort bekäme, aber dann hörte er, wie Billy tief Luft holte, mit einem Seufzer wieder ausatmete und sagte: «Sie ist gerade bei ihren Eltern, und ich bin froh, dass ich sie nicht jeden Tag sehen muss.»

Sebastian nickte stumm.

«Ich drücke mich davor, sie anzurufen», fuhr Billy fort. «Ich bin frisch verheiratet und will nicht mit meiner Frau telefonieren. Beantwortet das deine Frage?»

«Ja», antwortete Sebastian und nickte.

«Gut.»

Sie setzten ihren Weg fort.

Ursula kam gegen halb neun am Abend ins Hotel zurück.

Miroslav Petrovic war eindeutig nicht im Klassenzimmer ermordet worden. Man hatte die Leiche dorthin transportiert. Wie und wann, würden sie mit Hilfe von Überwachungskameras herauszufinden versuchen, sofern es welche gab. Das zu eruieren würde Billys Aufgabe sein.

Sie hatte einen Spaziergang um die Hilding-Schule herum gemacht, um sich einen Überblick zu verschaffen, auf den ersten Blick jedoch nichts Besonderes entdeckt. Die Gänge, die weiße Tür, der Chemieraum dahinter, die aufgebrochene Eingangstür im Erdgeschoss. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass die Polizei in Borås gute Arbeit geleistet hatte. Die Bereiche, die sie für interessant erachtete, hatten die Kollegen bereits untersucht, und ihr Bericht war aufschlussreich. An diesem Abend wollte sie ihn noch einmal gründlich lesen und den verantwortlichen Mann von der Spurensicherung dann gleich am nächsten Morgen anrufen. Der persönliche Kontakt mit den Leuten, die die erste Untersuchung vorgenommen hatten, war wichtig. Eigentlich erbte sie die Fälle fast immer von anderen, sie war selten die Erste vor Ort. Das dokumentierte Material bot die Grundlage, doch meistens erlangte man erst durch ein persönliches Treffen eine tiefere Einsicht. Nur auf diese Weise konnte sie verstehen, wie die Techniker gearbeitet und wie sie gedacht hatten, und so vielleicht auf Details stoßen, nach denen nicht gesucht oder die schlimmstenfalls sogar übersehen worden waren.

Manchmal versteifte sich die Polizei außerdem schon früh auf eine Spur und versuchte, Beweise zu finden, die ihre Theorie bestätigte, anstatt objektiv den Beweisen zu folgen und so eine Theorie entstehen zu lassen. In diesem Fall war es hilfreich, wenn man gut vorbereitet war. Für Ursula war nur die technische Beweisführung unanfechtbar. Alles andere konnte falsch interpretiert, verzerrt oder erlogen sein, Beweise hingegen waren unumstößlich und echt.

Wahrscheinlich mochte Ursula sie deshalb lieber als Menschen.

Sie hob ihren kleinen Koffer auf die eine Seite des Betts und legte sich selbst auf die andere, ohne die Schuhe auszuziehen. Es war eine lange Reise gewesen, und sie war müde. Ihre Augenprothese fühlte sich trocken an, und sie blinzelte mehrmals, um sie zu befeuchten. Allmählich gewöhnte sie sich daran. Das hätte sie anfangs nie gedacht.