Die Schuld, die man trägt - Michael Hjorth - E-Book
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Die Schuld, die man trägt E-Book

Michael Hjorth

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Sebastian Bergman! Nachdem bei der Reichsmordkommission ein Kollege als Mörder entlarvt wurde, soll die Sondereinheit unter Leitung von Sebastians Tochter Vanja Lithner aufgelöst werden. Da erhält sie einen Anruf: Eine Frau wurde außerhalb von Västerås ermordet aufgefunden, in einem Schweinemastbetrieb. An die Stallwand hat jemand in blutroten Buchstaben geschrieben: «Löse den Fall, Sebastian Bergman!». Vanja trommelt die verbliebenen Mitglieder des Teams zusammen. Um jeden Preis will sie den Fall aufklären und den Ruf der Reichsmordkommission retten. Doch dazu braucht sie auch Sebastians Hilfe. «Die Bergman-Serie birgt echte Suchtgefahr.» Westdeutsche Zeitung

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Michael Hjorth • Hans Rosenfeldt

Die Schuld, die man trägt

Ein Fall für Sebastian Bergman

Kriminalroman

 

 

Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein

 

Über dieses Buch

Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe.

Hochintelligent. Kein Menschenfreund.

Jemand fordert ihn heraus. Ganz persönlich.

 

 

Sebastian Bergman geht es nicht gut – sein australischer Klient Tim ist verstorben. Beide Männer verloren beim Tsunami 2004 ein Kind, hatten viele Gemeinsamkeiten. Vielleicht kreuzten sich damals sogar die Wege von Tim und Sebastians Tochter Sabine, die nie gefunden wurde. Doch nun wird Sebastian es nie erfahren.

Nachdem bei der Reichsmordkommission ein Kollege als Mörder entlarvt wurde, soll die Sondereinheit unter Leitung von Sebastians Tochter Vanja Lithner aufgelöst werden. Da erhält sie einen Anruf: Eine Frau wurde außerhalb von Västerås ermordet aufgefunden, in einem Schweinemastbetrieb. An die Stallwand hat jemand in blutroten Buchstaben geschrieben: «Lös das hier, Sebastian Bergman!»

Vanja trommelt die verbliebenen Mitglieder des Teams zusammen. Um jeden Preis will sie den Fall aufklären und den Ruf der Reichsmordkommission retten. Doch dazu braucht sie Sebastians Hilfe.

 

«Ein schwedisches Autorenduo mit Weltklasse-Format.» WDR 5

Vita

Michael Hjorth ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u. a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.

 

Hans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, ist einer der angesehensten Drehbuchautoren Schwedens und Schöpfer der bislang erfolgreichsten skandinavischen Serie «Die Brücke», die in über 170 Ländern ausgestrahlt wurde und zahlreiche Preise erhielt. Für die britische Fernsehserie «Marcella» wurde er mit dem British Screenwriters' Award in der Kategorie Best Crime Writing on Television ausgezeichnet. Als Teil des Autorenduos Hjorth & Rosenfeldt schrieb er sechs Kriminalromane der Sebastian-Bergman-Reihe, die in 34 Ländern erscheint, sich weltweit über vier Millionen Mal verkauft hat – allein in Deutschland 2,5 Millionen Mal – und die von Sveriges Television in Kooperation mit dem ZDF verfilmt wird. Alle Bände befanden sich monatelang in den Top 10 der Spiegel-Bestsellerlisten, mit Band 6 gelang der Sprung auf Platz 1 sowohl auf der Spiegel-Hardcover- als auch der -Taschenbuch-Liste. In seinem Heimatland Schweden ist Hans Rosenfeldt ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator. 

 

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u. a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Impressum

Die schwedische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Skulden man bär» bei Norstedts Förlagsgrupp AB, Stockholm.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Skulden man bär» Copyright © 2023 by Michael Hjorth & Hans Rosenfeldt

Redaktion Annika Ernst

Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Coverabbildung Johnér Images/Getty Images; Millennium/Ilona Wellmann/plainpicture

ISBN 978-3-644-01202-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Der Hass.

Er durchströmte ihn, erfüllte ihn. Trieb ihn. Von dem Moment, als er erwachte, bis er, oft aus reiner Erschöpfung, einschlief und für einige Stunden unruhig schlummerte.

Der Hass.

Rein und unverfälscht.

Er trug ihn schon eine ganze Weile in sich, seit jenem schicksalhaften Tag, doch früher war sein Hass von anderen Gefühlen gedämpft oder gar überschattet worden: Trauer, Verzweiflung, Wut, Unzulänglichkeit.

Aber jetzt nicht mehr. Jetzt waren alle anderen Empfindungen verschwunden.

Es gab nur noch den Hass.

Er ging ein Risiko ein. Eine helle und laue Juninacht, eine beliebte, gut besuchte Gegend. Es schien waghalsig, die bewusstlose Frau bis zum Wasser zu tragen und anschließend, wenn sie tot war, wieder zum Auto. Jeden Moment konnte irgendjemand kommen, ihn sehen, seine sorgfältig geplante Rache zunichtemachen, ehe er überhaupt den ersten Schritt getan hätte.

Diese Frau.

Sie tat ihm aufrichtig leid.

Sie war unschuldig. Mehr noch, sie war selbst ein Opfer. Aber einige Menschen mussten leider sterben. Er bedauerte es wirklich und wünschte sich aus tiefstem Herzen, es gäbe eine andere Möglichkeit, einen anderen Weg. Die Tatsache, dass Leben erlöschen mussten, hatte ihn zögern und nach Alternativen suchen lassen, doch es gab keine. Dies war das einzige Mittel, um jene Aufmerksamkeit zu erwecken, die ihm so wichtig war, die er brauchte.

In Film und Fernsehen war das Töten leicht. Wer Boulevardzeitungen las und True-Crime-Podcasts hörte, konnte den Eindruck gewinnen, dass so gut wie jeder Mensch in der Lage wäre, einen anderen umzubringen.

Doch das Töten war nicht leicht.

Er war dankbar, dass die Frau bewusstlos war und sich nicht wehrte, als er sie mit seinem Gummistiefel unter die Oberfläche des knapp zehn Zentimeter tiefen Wassers drückte. Er weinte, aber es half nichts, ihr Tod war notwendig.

Genau wie es im Buch stand:

«Es war wichtig, dass er verstand: Es war gegen ihn gerichtet. Der Antrieb war nicht das Töten an sich, sondern die Herausforderung, das Kräftemessen. Hinde wollte sich stellvertretend mit ihm messen. Es war die Begegnung zweier Großmeister.»

Die Begegnung zweier Großmeister.

Zwei brillante Köpfe in einem Zweikampf.

Die Frau im Kofferraum war das erste Opfer. Wie viele weitere folgen würden, hing ganz allein vom Gegner ab, wenn der denn wirklich so schlau war, wie er behauptete.

Dieser arrogante Dreckskerl.

Sebastian Bergman.

Wieder zurück.

Er hatte die Stadt bewusst gemieden und sie schon seit vielen Jahren nicht mehr besucht, nicht, seit er mit der Reichsmordkommission dort gewesen war, um einen Serienvergewaltiger zu finden, der sich später als Frau erwiesen und ihm eine Zeit lang die größte Angst seines Lebens eingejagt hatte. In den Monaten, als er glaubte, er wäre vielleicht der Vater von …

Nein! Seine Gedanken durften gar nicht erst dorthin zurückwandern. Alles war gut gegangen. Er war Amandas Großvater, sonst nichts.

Jedenfalls biologisch gesehen. Amanda nannte ihn nur Sebastian. Valdemar war derjenige, der sich Opa nennen lassen durfte. Die Sache war kompliziert. Es stand so viel anderes zwischen ihm und Vanja.

Seiner Tochter.

Chefin der Reichsmordkommission, seit Torkel in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war.

Den ersten Fall unter ihrer Leitung hatten sie ziemlich schnell gelöst, zwei Heckenschützen in Karlshamn, doch darüber sprach niemand. Ihre gesamte Arbeit wurde davon überschattet, dass sich Billy, viele Jahre Mitglied des Teams und Vanjas bester Freund, vielleicht auch ihr einziger, wie Sebastian mitunter dachte, als Serienmörder entpuppt hatte.

Deshalb war er wieder in Uppsala.

Deshalb schweiften seine Gedanken ab.

Nichts war schwerer zu verkraften als die Tatsache, dass ein Kollege, dem sie alle vertraut und den sie zu kennen geglaubt hatten, jahrelang mordend mit ihnen durch die Gegend gereist war. Nach der dramatischen Verhaftung, die Torkel und Ursula fast das Leben gekostet hätte, hatte Billy sich verändert. Er gestand die Taten ohne Umschweife, half bei der Aufklärung und berichtete detailliert, wie er vorgegangen war und wo er die Leichen versteckt hatte. Anfangs war Sebastian von dem Gefühl beschlichen worden, es wäre nur ein Spiel, um in dem bevorstehenden Gerichtsprozess ein milderes Urteil zu erhalten. Doch eine andere Strafe als lebenslange Haft war ohnehin undenkbar, und nachdem einige Zeit vergangen war, in der sie sich häufig getroffen hatten, war sich Sebastian zunehmend sicher. Billy war tatsächlich erleichtert darüber, dass man ihn überführt hatte.

Dass es vorbei war.

Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass seine Taten falsch waren, und zwischen den Morden mit Scham und Reue gekämpft, doch sein Trieb, sein Verlangen, war zu stark gewesen. Obwohl ihm klar gewesen war, dass ihn dies alles kosten konnte, hatte er nicht widerstehen können. In einem ihrer vielen Gespräche seit Billys Verhaftung hatte er selbst zu Sebastian gesagt, als My schwanger geworden war und er Vater werden sollte, habe er beschlossen, damit aufzuhören. Weil er widerstehen konnte. Er hatte zu viel zu verlieren. Dann war er in Karlshamn gelandet, und die Gelegenheit zu einem vermeintlich perfekten Verbrechen hatte sich geboten.

Ein letztes Mal. Ein letzter Mord.

Doch nicht deshalb befanden sie sich jetzt wieder in Uppsala, sondern wegen des ersten Mordes.

Der erste Mord, das vierte Opfer.

Billy hatte bereits zwei Personen im Dienst erschossen. Nach den internen Ermittlungen war er in beiden Fällen freigesprochen worden, doch damals war zum ersten Mal in seinem Kopf die ungesunde Verknüpfung zwischen Töten und Genuss entstanden, sein Verlangen geweckt worden. Damals hatte er Geschmack gefunden an der absoluten Macht, die es bedeutete, das Leben eines anderen Menschen in Händen zu halten und es zu beenden.

Das dritte Opfer war Jennifer gewesen, eine Kollegin, mit der er eine Affäre gehabt hatte, allerdings hatte er ihren Tod nicht geplant. Billy war sich nicht einmal bewusst gewesen, was er getan hatte, ehe er sie nach einem feuchtfröhlichen Abend am nächsten Morgen fand. Ein Unfall, so nannte er es.

Das konnte man von Hugo Sahléns Ableben nicht behaupten. Der Vater des Siebzehnjährigen hatte eine Tierarztpraxis gegenüber einigen Räumen, in denen Prostituierte eine Zeit lang ihre Dienstleistungen angeboten hatten. Der geschäftstüchtige Hugo hatte sich sein Taschengeld aufgebessert, indem er die Freier und ihre Autos fotografiert, die Männer über das öffentliche Kfz-Register ausfindig gemacht und schließlich erpresst hatte. Große Summen waren es nicht gewesen, ein paar Hundertkronenscheine. Ein angemessener Betrag dafür, nicht entlarvt zu werden.

Es sei denn, man war Polizist.

Es sei denn, man war Billy Rosén.

«Hier links», drang es von der Rückbank. Die Frau am Steuer des Zivilfahrzeugs, Therese Soundso – Sebastian hatte sich ihren Nachnamen nicht gemerkt –, setzte den Blinker, damit auch der Streifenwagen hinter ihnen wusste, dass sie abbiegen wollten.

«Bist du sicher?», fragte Sebastian und drehte sich um. Hinter dem Gitter auf der Rückbank saß Billy in Handschellen und blickte aus dem Seitenfenster. Wie so oft in letzter Zeit war sein Gesicht vollkommen ausdruckslos, sein leerer Blick starr in die Ferne gerichtet. Er nickte kurz.

«Das ist ein anderer Weg als der, den Sie uns vorhin genannt haben», sagte Therese Soundso verbissen.

«Tut mir leid. Aber wir müssen hier entlang … Ich hatte mich nicht richtig erinnert, ich war ziemlich …» Billy verstummte. Sebastian überlegte kurz, was er wohl hatte sagen wollen. Ziemlich was?

Aufgewühlt? Erschüttert? Angefasst?

Alle Worte erschienen zu klein und zu dürftig, um das Gefühl zu beschreiben, das er gehabt haben musste, nachdem er zum ersten Mal vorsätzlich das Leben eines jungen Menschen beendet hatte. Vermutlich war er deshalb verstummt.

Die anderen Leichen waren gefunden worden. Billys Anwesenheit war dabei nicht erforderlich gewesen, Karten und ein Live-Feed mit Positionsangaben von einem Telefon der Polizisten hatten genügt, um sie an den richtigen Ort zu lotsen. Doch dort gab es keine Spur von Hugo Sahléns Leiche. Gemäß Billys Anweisungen hatten sie ergebnislos drei unterschiedliche Gebiete abgesucht und zuletzt beschlossen, sich den Weg von ihm persönlich zeigen zu lassen.

Sie hatten sich im Urwald Fiby an dem Ort versammelt, wo Billy den Jugendlichen laut eigener Aussage erwürgt hatte. Nachdem er kurz den Tathergang beschrieben hatte, so wie er sich daran erinnerte, hatten sie sich in eines der Autos gesetzt und sich von ihm dorthin lotsen lassen.

Jetzt bogen sie in einen Schotterweg mit einem Grasstreifen in der Mitte.

«Wo sind wir?», fragte Sebastian.

«Weiß nicht genau, irgendwo in Stora branden», antwortete Therese Soundso, und Sebastian hakte nicht nach, was Stora branden war, vermutlich ein Naherholungsgebiet oder Naturreservat oder etwas Ähnliches. Es war unwichtig.

«Hinter der Kurve kommt ein Sammelplatz für Notfälle», sagte Billy leise von der Rückbank. «Da können wir halten.»

Und tatsächlich. Nach der Biegung tauchte der Platz auf, und sie parkten vor dem blauen Schild. Das Auto hinter ihnen folgte.

«Er liegt ein Stück weiter da drinnen», sagte Billy und deutete auf den dichten Wald. Therese Soundso stellte den Motor ab und stieg aus. Sie öffnete die hintere Tür und half Billy. Sebastian löste seinen Sicherheitsgurt und stieß dazu. Die Polizisten aus dem anderen Auto ließen einen Hund aus einem Käfig im Kofferraum. Billy deutete noch einmal in Richtung der Bäume, und sie setzten sich schweigend in Bewegung.

Sebastian schielte zu Billy hinüber, während sie den Weg entlanggingen. Die von Torkel verursachten Verletzungen in seinem Gesicht waren verheilt, bis auf die Reste eines Veilchens, eine gelbgrüne Verfärbung neben der Nasenwurzel unter dem einen Auge. Auf dem linken Auge hatte Billy fast die gesamte Sehkraft eingebüßt, doch das merkte man ihm nicht an. Zu Prozessbeginn würde er aussehen wie immer.

Freundlich, gut gekleidet, redegewandt.

«Wie ein Mörder wirkt er nicht», würden die Leute sagen.

Doch bis dahin würden noch Monate vergehen. Die Voruntersuchung war umfangreich und zeitaufwendig. Mit ein wenig Glück würde der Prozessauftakt mit der Veröffentlichung seines Buchs zusammenfallen, hoffte Sebastian. Mörderpolizist, hatte eine der Boulevardzeitungen Billy getauft. Das stand in weißen Lettern auf schwarzem Grund über jedem Artikel über ihn.

Es war ein guter Name.

Ein guter Titel.

Wenn Sebastian das Buch schnell genug herausbrachte, würde es große Aufmerksamkeit erregen. Sein letztes Werk, Die Frauen, die er kannte, hatte sich bei Weitem nicht so gut verkauft wie die Vorgänger und weder bei den Lesern noch bei den Kritikern große Begeisterung geweckt. Dementsprechend selten trat Sebastian mittlerweile im Fernsehen oder in Podcasts auf, und niemand schien noch daran interessiert zu sein, ihn zu Vorträgen einzuladen. Er hatte auch kein großes Netzwerk, auf das er zurückgreifen konnte, oder Leute, die ihm einen Gefallen schuldeten, denn er hatte es sich mit fast allen verdorben. Jene Menschen, die ihm theoretisch hätten helfen können, mieden ihn bewusst. Geld besaß er genug, um über die Runden zu kommen, aber seiner Karriere hätte ein kleiner Aufwind gutgetan, jetzt, in der Schlussphase. Er war immerhin über sechzig …

Seit Billys Verhaftung waren mittlerweile bald sechs Wochen vergangen, aber man konnte noch immer jeden Tag irgendwo etwas über ihn lesen. Wenn sie Hugo Sahlén jetzt fänden, würde das Medienecho erneut aufflammen. Leider wusste Billy nicht, dass seine Gespräche und Treffen mit Sebastian zu einem Buch verarbeitet werden sollten.

Er hatte ihm keine Zustimmung erteilt. Genauso wenig wie My.

Nicht, dass Sebastian die gebraucht hätte, er konnte schreiben, was und über wen er wollte. Da er Billy jedoch unter dem Vorwand traf, mit ihm unter psychologischen Aspekten herauszufinden, was passiert war, seine Gefühle zu erforschen, eine Zukunftsmöglichkeit zu finden und außerdem ein Verbindungsglied zwischen Billy und My darzustellen – die sich weigerte, ihren Mann zu treffen –, war er beinahe als Billys Therapeut einzustufen. Und als solcher durfte er nicht eine Zeile schreiben. Ob es unethisch war, interessierte ihn nicht, aber illegal sollte es keineswegs sein, er hatte keine Lust auf Anzeigen oder langwierige Gerichtsprozesse. Doch es gab keinerlei schriftliche Vereinbarung zwischen ihnen, er hatte keinen offiziellen therapeutischen Auftrag. Weder von Billy noch von My oder von der Justizvollzugsbehörde. Er war ein … Freund.

Ein Unterstützer in schweren Zeiten.

Ein Unterstützer, der die Kasse klingeln lassen wollte.

«Wie fühlst du dich jetzt?», fragte Sebastian, als Billy nach rechts zeigte und sie den kleinen Pfad verließen, dem sie bisher gefolgt waren. Billy antwortete nicht, sondern ging einfach nur weiter, während er sich umsah. «Wie hast du dich damals gefühlt, an diesem Tag, erinnerst du dich daran?»

«Wie geht es My?», fragte Billy, anstatt Sebastian zu antworten. Das war nicht überraschend. Je mehr er sich seiner Taten bewusst wurde, je deutlicher die Konsequenzen zutage traten, desto schwieriger konnte er seine Gefühle ausdrücken. Sebastian hatte Sitzungen mit ihm im Untersuchungsgefängnis abgehalten, bei denen er kaum ein Wort gesprochen hatte.

«Du hast ihr Leben mehr oder weniger zerstört», sagte Sebastian achselzuckend. Als wüsste Billy das nicht schon.

«Aber ist alles in Ordnung mit ihr? Haben die Jungen es gut?»

«Es ist nicht alles in Ordnung, und das wird auch noch länger so bleiben.»

«Triffst du sie immer noch?»

«Ja.»

«Richtest du ihr Grüße von mir aus?»

«Das möchte sie nicht.»

Billy nickte vor sich hin und blieb stehen. Er deutete links in den Wald hinein auf einen entwurzelten Baum zwischen zwei kräftigen Kiefern, dessen Krater an den dunklen geöffneten Schlund des Riesenwals aus dem Pinocchio-Film erinnerte.

«Er liegt dort. Unter der Wurzel.» Die beiden Polizisten und der Hund näherten sich. «Er ist mit Steinen und Erde bedeckt.»

Der Hund schlug einige Meter entfernt an, und Therese Soundso trat einen Schritt beiseite und rief Verstärkung. Mit Grabwerkzeugen. Einer der Hundeführer stieg vorsichtig in den Krater hinein. Billy stand da und sah zu. Eine einsame Träne lief seine Wange herab. Ob er über seine eigene Situation weinte oder um das Opfer, war unmöglich festzustellen. Und Sebastian fragte auch nicht.

Wahrscheinlich wusste Billy es selbst nicht.

«Nehmen Sie Platz.»

Rosmarie Fredriksson nickte zu einem der Stühle auf der anderen Seite des Schreibtischs.

Vanja setzte sich und schlug die Beine übereinander, lehnte sich ein wenig zurück und versuchte, möglichst entspannt auszusehen, obwohl sie das Gefühl hatte, zur Schuldirektorin einbestellt worden zu sein, um sich eine Rüge abzuholen. Das war ihr als Kind allerdings nie passiert. Doch sie war auch noch nie in Rosmarie Fredrikssons Arbeitsräumen gewesen und sah sich schnell um. Ein Eckbüro. In der zweithöchsten Etage. Mit Blick auf den Kronobergsparken und die Kungsholmsgatan. Ziemlich nichtssagende Kunst an den Wänden, aber was wusste Vanja schon, vielleicht hing dort auch ein Vermögen. Auf einem kleinen Tisch neben einem der Fenster stand eine Vase mit weißen Lilien, die ihren etwas zu süßlichen Duft im ganzen Zimmer verbreiteten. Der Schreibtisch mit den beiden Stühlen. In der einen Ecke drei kleine Sessel rings um einen Sofatisch auf einem dicken, breit gemusterten Teppich. Ein Beistelltisch mit einer Kaffeemaschine. Das war vermutlich der Ort für entspanntere Besprechungen, als es diese hier zu werden versprach.

«Wie ist die Lage?»

Mit etwas Wohlwollen hätte man die Frage als einen Ausdruck von Fürsorge interpretieren können, ein aufrichtiges Interesse daran, wie es Vanja und ihrem Team nach den erschütternden Ereignissen der letzten Zeit ging, doch nichts in Rosmaries Tonfall oder Blick sprach für diese Annahme.

«In Bezug worauf?»

«Ihre Abteilung.»

«Ursula ist wieder da, wir arbeiten also unter Hochdruck, sie, Carlos und ich», antwortete Vanja mit einem kleinen Achselzucken. Was gab es denn sonst zu sagen? Billy hatte Vanja auf eine unfassbare Weise hintergangen, und er hatte versucht, Ursula umzubringen. Jeder Mensch, der auch nur ein Fünkchen Einfühlungsvermögen besaß, konnte sich also denken, wie es um ihre Abteilung stand.

«Mhm.» Rosmarie stand auf und ging zur Kaffeemaschine. «Von der Reichsmordkommission ist nicht mehr viel übrig, was?»

«Nein, wir müssen neues Personal suchen.»

«Wenn es Ihre Abteilung weiterhin geben soll. Kaffee?»

Vanja war so überrascht, dass sie nur nicken konnte.

Rosmarie drückte auf eine Taste der Kaffeemaschine, woraufhin diese mit einem derartigen Lärm Bohnen zu mahlen begann, dass jedes weitere Gespräch unmöglich war. Wobei Vanja sowieso nicht gewusst hätte, was sie sagen sollte. Also saß sie schweigend da, während die Maschine die kleine Tasse füllte, die Rosmarie ihr anschließend reichte.

«Wenn es unsere Abteilung weiterhin geben soll?», fragte sie schließlich langsam, als Rosmarie zu ihrem Platz hinter dem Schreibtisch zurückging und sich setzte.

«Angeblich gehören Sie zu den besten Ermittlern Schwedens, und dann merken Sie nicht, dass Sie einen Serienmörder in den eigenen Reihen haben? Das wirkt nicht gerade vertrauenerweckend.»

«Er konnte es gut verbergen, und er war ein Kollege, ein Freund …» Vanja verstummte. Sie hörte, wie sie sich stärker in eine Verteidigungsrolle begab, als sie wollte. Als es nötig war. Selbst eine Bürostute wie Rosmarie musste doch wohl erkennen, dass einerseits wohl kaum jemand so gute Chancen hatte, schwere Verbrechen zu vertuschen, wie ein gut ausgebildeter, erfahrener Mordermittler, und man andererseits nicht durch die Gegend lief und seinen Kollegen irgendwelcher Taten verdächtigte, die bis dato noch gar nicht entdeckt worden waren.

«Sie sind der Nationalen Operativen Abteilung unterstellt, deren Chefin ich bin.»

«Der NOA, ich weiß», sagte Vanja und begriff, worauf das Gespräch hinauslaufen würde. Nun durfte sie selbst Zeugin jener Eigenschaft ihrer Chefin werden, die Sebastian und Torkel schon mehrmals als Rosmarie Fredrikssons herausragende Fähigkeit bezeichnet hatten: wie gut sie ihre eigene Haut retten konnte.

«Ich will ehrlich zu Ihnen sein», sagte Rosmarie, beugte sich über den Schreibtisch und sah Vanja mit einem Blick an, den sie sicher für vertrauenseinflößend hielt, wobei sie jedoch eher an eine Schlange erinnerte, die eine wehrlose kleine Maus entdeckt hatte. «Wenn eine meiner Abteilungen im Dreck steckt, werde auch ich beschmutzt.»

Vanja nickte nur, was sollte sie dazu sagen. Um nicht desinteressiert zu wirken, trank sie einen Schluck Kaffee und nickte erneut, diesmal ein wenig nachdrücklicher, um zu zeigen, dass sie den Ernst der Lage begriffen hatte.

«Aber ich hätte eine Idee, wie wir beide uns relativ unbeschadet retten könnten.»

Vanja antwortete auch darauf nicht, denn sie war sich ohnehin sicher, dass sie die Fortsetzung zu hören bekäme, ob sie wollte oder nicht.

«Wir brauchen einen Sündenbock.»

Rosmarie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, während Vanja erstarrte.

«Und an wen dachten Sie?», fragte sie, obwohl sie ziemlich sicher war, die Antwort bereits zu kennen. Sie war neu, verhältnismäßig jung, in ihrer ersten Führungsrolle. Das Peter-Prinzip – ein erfolgreicher Mitarbeiter, der so lange befördert wird, bis er seine maximale Inkompetenz erreicht hat. Sie wusste nicht einmal, ob ihre Stelle ordnungsgemäß ausgeschrieben gewesen war. Sie hatte sie einfach bekommen … als Torkel untragbar wurde. Perfekt. Verdammt! Sie würde nie wieder einen Job finden, wenn man sie für diesen Shitstorm verantwortlich machte.

«Torkel», sagte Rosmarie in einem selbstverständlichen Ton, der jede Alternative undenkbar machte. Vanja zuckte zusammen und verschüttete beinahe ihren Kaffee. Mit seinem Namen hätte sie am wenigsten gerechnet. «Wir erklären, dass all dies unter seiner Führung passiert ist», fuhr Rosmarie fort. «Und lassen auf taktvolle Weise durchsickern, dass er alkoholabhängig war und sein Urteilsvermögen getrübt.»

«Billy hat seine Verbrechen über Jahre verübt», wandte Vanja ein. «Torkels Problem begann erst, als Lise-Lotte starb.»

«Aber das war der Grund, warum er gehen musste.»

«Wir haben alle mit Billy zusammengearbeitet. Keiner hatte einen Verdacht. Nicht einmal Sebastian.»

«Sebastian, ja …» Rosmaries Mund verzog sich, das war entweder ein zufriedenes kleines Lächeln oder eine missbilligende Grimasse. Schwer zu sagen. «Ich habe mir seine Verträge angesehen, in den Fällen, in denen es einen Vertrag gab.»

«Er arbeitete ja eher als Berater …»

«Normalerweise schließen wir auch mit unseren Beratern Verträge ab. Und soweit ich weiß, wurde er nie einer Sicherheitsprüfung unterzogen.»

«Torkel kannte ihn gut.»

«Trotzdem besetzen wir üblicherweise so keine verantwortungsvollen Posten, oder?»

«Nein.»

Vanja sank ein wenig auf ihrem Stuhl zusammen. Sie konnte sich genau vorstellen, wie es laufen würde. Die Medien würden alles aufstöbern, was über Torkel zu finden war, bis unendlich weit in die Vergangenheit hinein. Vanja wusste, dass er nach seiner ersten Scheidung auch eine schwierige Phase gehabt hatte. Man konnte über Rosmarie sagen, was man wollte, aber sie hatte wirklich ein beneidenswertes Talent, Sündenböcke zu finden. Jahrelanges Training, vermutete Vanja.

«Wissen Sie, was die Leute denken?», fragte Rosmarie und riss sie aus ihren Gedanken.

«Worüber?»

«Über Menschen in Führungspositionen. Vor allem auf öffentlichen Stellen … Die Leute denken, dass sie genau wie Politiker nie zur Verantwortung gezogen werden, dass sie mit allem davonkommen. Und anstatt sie zu entlassen, werden sie sogar noch auf bessere Posten gehievt.» Sie bedachte Vanja mit einem Blick, bei dem diese tatsächlich sofort an eine Politikerin im Wahlkampf denken musste. Ein Blick, der deutlich machte, dass ihre Behauptung eine unanfechtbare Wahrheit darstellte und sie sich nicht auf Einwände einlassen würde. Vanja hatte auch keine. «Deshalb ist es an der Zeit, dass endlich jemand die Verantwortung für ein solches Führungsversagen übernimmt.»

«Torkel ist der beste Chef, den ich je hatte.» Hundertmal besser als Sie, hätte sie am liebsten ergänzt, hoffte jedoch, ihr Blick spräche für sich. Wenn es so war, ging es allerdings spurlos an Rosmarie Fredriksson vorüber.

«Ich gebe Ihnen eine Chance, die Reichsmordkommission und Ihren Job zu retten.»

«Und damit gleichzeitig zu verhindern, dass Sie in die Schlagzeilen geraten.» Jetzt hätte sich Vanja fast auf die Zunge gebissen. Zu hart? Zu ehrlich? Nur weil Rosmarie sich auf Torkel eingeschossen hatte, bedeutete das noch lange nicht, dass Vanja fest im Sattel saß. Doch ihre Chefin zuckte nur die Achseln.

«Oder Sie. Ich tue Ihnen einen Gefallen. Sie werden die Zukunft sein. Die junge Frau, die nach dem Machtmissbrauch des alten privilegierten Mannes aufräumt.»

«Und wenn ich diese Frau gar nicht sein will?»

Rosmarie sah Vanja an, als verstünde sie nicht, was ihre Untergebene meinte. Als wäre sie ein Kind in der Trotzphase, das sich allem rein aus Prinzip verweigerte. Sie atmete mit einem leisen Seufzer aus, den Vanja als erstes Anzeichen von Irritation wertete.

«Dann wird eine Prüfung mit größter Wahrscheinlichkeit ergeben, dass die Abteilung schlecht geführt und außer Kontrolle war. Es wird zu einer Neuorganisation kommen, nach der die Reichsmordkommission vermutlich keine eigenständige Einheit mehr sein wird.»

«Das ist Erpressung.»

Rosmarie lehnte sich erneut vor.

«Sie werden nicht bei der Reichsmordkommission bleiben, Vanja. Sie werden aufsteigen.» Zum ersten Mal glaubte Vanja, eine aufrichtige Herzlichkeit bei ihr wahrzunehmen, ein Engagement. Wie eine Mentorin, die Geheimnisse verriet, damit die Adeptin ihr volles Potenzial entfalten konnte. «Aber dann müssen Sie dieses Spiel lernen.»

«Meine Freunde zu verraten?»

«Für das zu kämpfen, was Ihnen wichtig ist.»

Vanja schwieg. Seit Amandas Geburt hatte sie andere Prioritäten, Arbeit und Karriere waren nicht mehr das Wichtigste für sie, aber natürlich war sie immer noch ehrgeizig und wollte viel erreichen. So viel wie möglich. Doch nicht um jeden Preis.

«Torkel ist mir wichtig.»

Diesmal versuchte Rosmarie nicht, ihren verärgerten Seufzer zu unterdrücken. Indem sie aufstand, machte sie unmissverständlich klar, dass die Besprechung beendet war.

«Torkel wird den Kopf hinhalten müssen», betonte sie. «Die Frage ist nur, ob er Sie und Ihre Abteilung mit in den Abgrund reißt oder nicht.»

Er war tot.

Das war der einzige Gedanke, der fieberhaft in ihrem Kopf umherkreiste.

Er war fort, für immer. Ihr Vater war tot.

Ihre Tränen begannen erneut zu fließen. Still, aber unaufhaltsam. Zwar schien es, als wären sie weniger geworden, aber ihr Schmerz und die Trauer waren unverändert stark. Und würden lange anhalten, das wusste sie. Cathy atmete mehrmals tief durch, um sich zu beruhigen. Der Schock steckte ihr noch immer in den Knochen wie ein physisches Wesen.

Als Tim nicht wie angekündigt nach Hause gekommen war, hatte sie sich Sorgen gemacht und ihn angerufen, doch er war nicht ans Handy gegangen. In ihr war die Gewissheit aufgestiegen, dass ihm etwas zugestoßen war. Denn es sah ihm nicht ähnlich, dass er sich nicht meldete, wenn er sich verspätete oder seine Pläne änderte. Eigentlich hatten sie geplant, gemeinsam Mittag zu essen, den Nachmittag in der Stadt zu verbringen und um 16 Uhr zur amerikanischen Botschaft zu gehen, um ihr Visum zu beantragen.

Doch aus alldem wurde nichts.

Gegen Mittag hatte die Polizei angerufen.

Die Beamtin hatte Cathy gefragt, ob sie mit Tim Cunningham verwandt sei. Er sei zusammengesunken in einem Hauseingang in der Nähe des Stureplan gefunden worden. Vermutlich ein Herzinfarkt, meinten die Rettungssanitäter. Sie hatten noch vor Ort seinen Tod festgestellt.

In verwirrtem Zustand war Cathy zum Karolinska-Krankenhaus gefahren, wohin man seine Leiche gebracht hatte, und auf den langen Gängen umhergeirrt, bis sie jemanden fand, der ihr weiterhelfen konnte. Schließlich war sie bis zur Rechtsmedizin gelangt, nur um dort zu erfahren, dass sie die Leiche nicht sehen durfte. Sie musste auf einen verantwortlichen Arzt warten, und selbst dann war nicht sicher, ob man es ihr gestatten würde. Die Regeln waren streng. Seither saß sie in dem tristen graublauen Wartezimmer und weinte. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass sie nicht mehr allein war. Eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern war hereingekommen und hatte ein Stück entfernt Platz genommen. Die Frau starrte mit rot geweinten leeren Augen in den Raum, der Mann blätterte mit den Kindern in einer Bamse-Zeitschrift und las ihnen gedämpft etwas vor. Sie waren wegen des Vaters der Frau oder einem anderen Angehörigen da, dachte Cathy, riss sich zusammen und brachte ihre Tränen unter Kontrolle. Nicht vor Fremden weinen. Das hatte ihre Mutter ihr beigebracht. Es gab keinen Grund, unbekannten Menschen gegenüber starke Gefühle zu zeigen. Im schlimmsten Fall könnte das als Zeichen von Schwäche gewertet werden.

Sie nickte der Frau zu und stand auf. Aus alter Gewohnheit begann sie, an dem kleinen Schmetterlingsring herumzufingern, den sie an einer Kette um den Hals trug. Sie besaß ihn, solange sie denken konnte – oder sogar noch länger. Er war in Thailand gekauft worden, an jenen Weihnachtstagen, bevor der verheerende Tsunami das Land erfasst hatte. Manchmal kam es Cathy so vor, als könnte sie sich an den Tag erinnern, an das Wasser, das Chaos, den Schrecken, aber die Bilder konnten genauso gut von den vielen Aufnahmen herrühren, die sie in verschiedenen Zusammenhängen gesehen hatte, oder von Geschichten, die ihr später erzählt worden waren. Wie etwa, dass sie den Ring auf diesem Markt gekauft hätten. Daran konnte sie sich auf keinen Fall erinnern. Doch da alle aus ihrer Familie überlebt hatten, bildete sie sich ein, der kleine Schmuck würde Glück bringen. Ihn zu berühren, beruhigte sie normalerweise. Ein billiges, mit roten und blauen Steinen besetztes Stück Neusilber, das sie immer mit Geborgenheit verband, und obwohl ihre Mutter ihr deswegen oft in den Ohren gelegen hatte, weigerte sie sich bis heute, ihn abzunehmen. Sie würde ihn niemals gegen ein teureres, erwachseneres Stück eintauschen. Der Ring bedeutete ihr etwas, das sie nicht in Wort fassen konnte.

Es war eine der wenigen Auseinandersetzungen gewesen, die ihre Mutter nie gewonnen hatte.

Cathy ging wieder zur Anmeldung zurück. Sie musste es jetzt wissen. Was war mit ihrem Vater geschehen? Sie musste ihn sehen. Wie hatte das passieren können? Sie hatten doch so große Pläne gehabt. Sie wollte in die USA und er nach … Es war alles so verwirrend.

Draußen stand ein Mann im Anzug und sprach mit einem Pfleger. Als er Cathy sah, beendete er das Gespräch schnell und ging auf sie zu. Hatte sie ihn nicht schon einmal gesehen?

«Cathy?», fragte er und streckte ihr die Hand entgegen. «Stan Ludlow, ich bin ein Kollege deines Vaters bei Heyman & Schroder, mein tiefstes Beileid», fuhr er in gutem Englisch fort und drückte freundlich ihre Hand. Jetzt erkannte sie ihn wieder. Sie waren sich einmal kurz bei einer Firmenveranstaltung begegnet, und ihr Vater hatte oft wohlwollend von ihm gesprochen.

«Tim hatte mich als Ansprechpartner bestimmt, falls etwas passieren sollte, deshalb bin ich so schnell wie möglich gekommen. Wie geht es dir?», erkundigte er sich sanft. Sie versuchte, stark zu bleiben, aber ihre Augen liefen erneut über.

«Ich weiß nicht. Ich verstehe das Ganze nicht …», war alles, was sie hervorbrachte.

«Du musst dir keine Sorgen machen. Wir werden dir die organisatorischen Angelegenheiten abnehmen und dich in dieser schweren Zeit unterstützen. Du bekommst jede Hilfe, die du brauchst.»

Cathy wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Der Mann war freundlich, aber irgendetwas an dieser ganzen Situation war merkwürdig. Heyman & Schroder waren immer im Hintergrund gewesen und hatten mehr oder weniger ihr ganzes Leben bestimmt. Jetzt traten sie einen Schritt vor, nur wenige Stunden, nachdem ihr Vater tot aufgefunden worden war.

«Danke», sagte sie mit einer gewissen Schärfe in der Stimme. «Bisher habe ich ihn nicht einmal sehen dürfen, deshalb weiß ich nicht genau, was ich brauche.»

Stan wich ein Stück zurück und lächelte entschuldigend.

«Bitte verzeih. Das klang … als wäre ich von der Firma geschickt worden. Aber ich bin hier, weil ich es deinem Vater versprochen habe. Meinem Freund. Er wollte, dass du nicht allein bist.»

Cathy sah ihn fragend an. Sie konnte sich keinen Reim auf seine Aussage machen.

«Was soll das heißen? Er hat Sie gebeten herzukommen? Wie konnte er … ich meine … wie konnte er das wissen?»

Cathy verstummte. Stan wirkte gequält und antwortete nicht, aber sein Schweigen sprach für sich. Sie verstand, was es besagte, was es bedeutete – aber das war doch unmöglich!

«Wusste er, dass er sterben würde?», fragte sie schließlich leise.

Sie hoffte auf ein Nein, auf ein Kopfschütteln und ein trauriges Lächeln, das ihr bestätigte, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Doch stattdessen nickte Stan kurz, ehe er antwortete.

«Vor ein paar Monaten war Tim bei einer Routineuntersuchung, und unser Betriebsarzt hatte ein sogenanntes Aorten-Aneurysma entdeckt, eine Erweiterung der Hauptschlagader. Es war ziemlich groß und lag an einer sehr ungünstigen Stelle.»

«Er wusste, dass er sterben würde, und hat mir nichts gesagt?»

Cathy sah den Mann auffordernd an. Jetzt hoffte sie nicht mehr auf ein Nein, sie brauchte es. Dies war zu viel, zu groß. Ungreifbar. Stan blickte sie voll Mitgefühl und Wärme an.

«Er wusste, dass das Risiko bestand. Es wurde über eine vorbeugende Operation diskutiert, aber es war … kompliziert. Aber Tim wollte dich nicht beunruhigen, so kurz vor dem Umzug und allem.»

Cathy versuchte erfolglos, ihre widerstreitenden Gefühle zu ordnen. Zu der tiefschwarzen Trauer gesellte sich plötzlich eine Wut auf jenen Mann, den sie für den Rest ihres Lebens vermissen würde.

«Aber er wusste, dass er sterben würde?» Ihre Stimme klang härter als beabsichtigt. Stan beugte sich vor und ergriff erneut ihre Hand. Diesmal noch sanfter. Tröstender.

«Er hat an das Leben geglaubt, Cathy. Bei allem, was er tat oder nicht tat, dachte er an dich. Er hat immer das gemacht, was er für dein Bestes hielt.»

«Dann hätte er mich vielleicht fragen sollen, was ich darüber denke.»

Jetzt konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie schwankte kurz, als wäre alle Kraft aus ihr gewichen. Stan schloss sie in die Arme und hielt sie fest.

Ihr Vater war erst seit wenigen Stunden tot, aber Cathy vermisste ihn schon so sehr. Wie sollte sie das ganze restliche Leben ohne ihn überstehen? Seit dem Tod ihrer Mutter waren sie stets zusammen gewesen. Überall auf der Welt, immer. Jetzt gab es niemanden mehr.

Sie war allein.

Dieses Gefühl wuchs, als sie etwas später neben ihrem Vater stand, um von ihm Abschied zu nehmen. Eine Kerze brannte auf einem Rollwagen aus rostfreiem Stahl. Tim lag nicht auf einem Bett, sondern auf einer Bahre aus kaltem, glänzendem Metall, bis zum Kinn mit einem weißen Laken bedeckt. Kein Fenster, keine Möbel. Es war kein Zimmer, kein Saal, es war ein Raum, in dem der Tod so häufig zu Gast war, dass man sich keine Mühe mehr gab, ihn bei seinen zahlreichen Besuchen angemessen zu empfangen.

Der verantwortliche Arzt hatte sie hereingelassen und bestätigt, dass Tim vermutlich an einer geplatzten Hauptschlagader gestorben war, nach der Obduktion hätten sie Klarheit. Cathy wollte nicht, dass man ihn aufschnitt, doch da man ihn im Freien und ohne eine eindeutige Todesursache gefunden hatte und er damit ein Fall für die Polizei geworden war, blieb keine andere Wahl.

Cathy bat Stan zu gehen. Sie nahm seine Visitenkarte entgegen und versprach ihm, sich zu melden, wenn sie etwas bräuchte, aber jetzt wollte sie allein sein. Nachdem er gegangen war, schob sie sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihren verstorbenen Vater. Eine Weile betrachtete sie ihn nur. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie überlegte kurz, wo eigentlich die Kleidung war, die er heute Morgen beim Verlassen des Hauses in Bromma getragen hatte. Unwichtig. Er sah friedlich aus, das beruhigte sie. Ob der Tod schnell eingetreten war? Cathy musste alles über dieses Aorten-Aneurysma nachlesen, dachte sie und berührte seine viel zu kalte Wange.

«Du hättest etwas sagen sollen», presste sie schließlich hervor.

Sie wollte weiter wütend auf ihn sein, mit Wut konnte sie umgehen, aber es gelang ihr nicht. Jetzt verstand sie sein Verhalten in der letzten Zeit besser. Alles hing damit zusammen. Dass er sich seltsam benommen hatte. Die Villa verlassen wollte. Um eine neue Stelle in einem anderen Land gebeten und für sie das Studium in den USA organisiert hatte. Er hatte ein Leben ohne sich für sie vorbereitet. Um nichts anderes war es gegangen.

Sie würde ihn so sehr vermissen.

Was sie mit ihrem Studienplatz in Yale machen sollte, würde sie später entscheiden. Heyman & Schroder konnten sich gern um alle praktischen Angelegenheiten kümmern, doch es gab noch etwas in Schweden, das ungeklärt war. Etwas Unausgesprochenes, das ihrem Vater wichtig gewesen war und das er nicht mehr hatte abschließen können. Cathy war sich sicher, dass Tim ihr etwas hatte erzählen wollen, das auf ihm lastete. Sie konnte zwar unmöglich sagen, was es war, aber sie hatte in der letzten Zeit eine Unruhe bei ihm wahrgenommen. Eine Unruhe, die sie mit diesem Psychologen verknüpfte, zu dem er plötzlich gegangen war. Und ihr Vater hatte darauf beharrt, dass sie ihn auch treffen sollte.

Sebastian Bergman.

Ein tiefer Atemzug.

Sie wusste, was sie zu sagen hatte, aber nicht, wie. Denn sie ahnte, wie es aufgenommen werden würde, und das machte es nicht leichter. Unverrichteter Dinge wieder kehrtzumachen wäre aber auch keine Lösung. Nicht nach all den Jahren ihrer Zusammenarbeit, nach allem, was er für sie getan hatte. Ein weiterer tiefer Atemzug, dann legte sie den Finger auf den Klingelknopf.

Der Riegel wurde schneller beiseitegeschoben, als sie es erwartet hätte, und als die Tür aufging, verstand sie auch, warum. Ursula.

«Hallo, du hier?»

Dieser Satz war selbst als rhetorische Frage misslungen, und Vanja war sofort klar, dass ihr ohnehin schwieriges Unterfangen in Anwesenheit ihrer Kollegin noch komplizierter werden würde.

«Ja, komm rein.» Ursula trat zur Seite und ließ sie in die Wohnung. «Torkel ist in der Küche.»

Vanja hängte ihre Jacke an die Garderobe und zog ihre Stiefel aus, ehe sie Ursula in die Wohnung folgte.

Torkel saß am Küchentisch. Obwohl seit ihrer letzten Begegnung nur ein paar Wochen vergangen waren, wirkte er kleiner und definitiv älter. Nur mehr ein Schatten jenes Mannes, der noch vor weniger als einem Jahr die Reichsmordkommission geleitet hatte. Die Folge von Trauer, Alkoholismus und schweren Verletzungen. Vanja war erstaunt gewesen, als sie gehört hatte, dass er schon aus dem Krankenhaus entlassen werden sollte. Immerhin war er von zwei Kugeln getroffen worden und hatte Verbrennungen dritten Grades an beiden Händen erlitten. Doch momentan wollte man die Patienten so schnell wie möglich wieder loswerden. Torkel bildete da keine Ausnahme. Betten und Personal waren Mangelware. Zweimal täglich kam eine Krankenschwester zu ihm und kontrollierte seine Hände, davon abgesehen musste er allein zurechtkommen. Zum Glück hatte er Ursula, die offenbar viel Zeit hier verbrachte.

Torkels Gesicht erhellte sich zu einem glücklichen Lächeln, als er sie erblickte, und er wollte aufstehen, doch stattdessen ging Vanja zu ihm und umarmte ihn an seinem Platz.

«Schön, dich zu sehen», sagte er und wies auf den Küchenstuhl gegenüber. Vanja setzte sich. Ursula blieb neben der Tür stehen. «Möchtest du etwas trinken oder essen?», fragte Torkel.

«Nein, danke.»

«Wie geht es Amanda? Und Jonathan?»

«Alles bestens. Die beiden sind quietschvergnügt.»

Torkel nickte, und dann entstand eine Pause wie eine Aufforderung an Vanja, den Anlass ihres Besuchs zu erklären. Doch sie wollte gern noch ein paar Minuten kollegialer und freundschaftlicher Plauderei genießen, ehe sie alles zerstörte.

«Wie geht es dir?», fragte sie.

Torkel zuckte die Schultern und hob seine Hände in den Baumwollhandschuhen.

«Den Umständen entsprechend … nehme ich an. Ich bin wieder trocken.»

«Das freut mich.» Sie hatte nicht gewusst, wie es mit Torkels Alkoholsucht weitergegangen war. Ursula hatte es nicht erwähnt, und Vanja hatte nicht fragen wollen. «Und dein Körper? Deine Hände und alles?»

«Von den Schussverletzungen werde ich mich erholen. Aber die Hände … sie werden wohl nie wieder richtige Hände werden, glauben die Ärzte.»

Vanja nickte mitleidig, und gleichzeitig stieg die Wut in ihr auf.

Verdammter Billy!

Verdammter mieser Billy!

Sie hatte sich wirklich gezwungen, nach seiner Verhaftung nicht mehr an ihn zu denken. Es schmerzte zu sehr und machte sie viel zu wütend. Von allen Personen, die sie in den letzten Jahren im Stich gelassen hatten, nicht zuletzt ihre Mutter, war dies die schlimmste Enttäuschung. Ihr bester Freund, ein Mensch, auf den sie sich hundertprozentig verlassen hatte, der sogar ihre Tochter aus der Betreuung hatte abholen und auf sie aufpassen dürfen. All diese Gedanken hatte sie erfolgreich verdrängt, aber Torkel wollte sie offensichtlich nicht so leicht davonkommen lassen.

«Besuchst du Billy?», fragte er.

«Nein.»

«Hast du seither überhaupt schon einmal mit ihm gesprochen?»

«Nein.»

«Er hat wirklich Mist gebaut …», meinte Torkel in einem beinahe melancholischen Ton. Vanja musste sich ein höhnisches Lachen verkneifen. «Mist gebaut» war ja wohl die Untertreibung des Jahrhunderts.

«Aber wir haben ihn gekriegt», kam es von Ursula in der Tür. «Dank dir und Sebastian.»

«Siehst du Sebastian denn ab und zu?», fragte Torkel.

«Manchmal holt er Amanda von der Vorschule ab, aber abgesehen davon haben wir keinen Kontakt.» Sie schielte kurz zu Ursula hinüber, die ihre Gedanken mit keiner Miene verriet. Irgendetwas war zwischen Sebastian und ihr vorgefallen. Etwas, das dazu geführt hatte, dass sie sich von ihm distanziert hatte. Doch Ursula hatte nichts erzählt, sie hatte noch nie gern private oder persönliche Angelegenheiten mit anderen geteilt. Vanja auch nicht, wenn sie ehrlich war.

In der Küche war es wieder still. Vanja wand sich innerlich. Torkel und Ursula wussten beide genau, dass sie nicht gekommen war, um ein Weilchen mit ihnen zu plaudern. Es wurde Zeit, ihr Anliegen vorzubringen.

«Eigentlich bin ich wegen der Sache hier», begann sie und sah die beiden an. «Der mit Billy.»

«Ach ja?» Die Aussage verriet eine gewisse Skepsis und die Ahnung, worum auch immer es ging, es würde ihnen nicht gefallen.

«Ich habe heute mit Rosmarie gesprochen …» Die Reaktion der beiden fiel ungefähr wie erwartet aus. Ursula schnaubte verächtlich, und selbst Torkel verzog seine Lippen zu einem schiefen Grinsen, als würde es nicht einer gewissen Komik entbehren, dass alles noch schlimmer kommen konnte.

«Und was hat sie gesagt?», fragte er und beugte sich zu Vanja vor, die einen Moment zögerte. Aber es gab einfach nichts zu beschönigen.

«Sie hat vor, morgen eine Pressekonferenz zu geben und zu behaupten, dass du unaufmerksam warst und fahrlässig gehandelt hast.»

«Diese miese Ratte», murmelte Ursula. Torkel nickte nur vor sich hin, als hätte er von seiner ehemaligen Chefin nichts anderes erwartet.

«Die Journalisten werden erfahren, warum du deinen Posten verlassen hast, dass du getrunken hast, all das …», fuhr Vanja fort.

«Billy hat schon Jahre, bevor Torkel mit dem Trinken anfing, sein Unwesen getrieben», wandte Ursula ein.

«Ich weiß, das habe ich ihr auch gesagt.»

«Und was hast du noch gesagt?»

Vanja drehte sich zu ihr um. Hatte die Stimme ihrer Kollegin einen vorwurfsvollen Unterton? Der Blick, den Ursula ihr zuwarf, bestätigte es. Vanjas Wut flackerte erneut auf. Das alles war verdammt noch mal nicht ihre Schuld. Sie war nur die Botin.

«Ich habe gesagt, dass keiner von uns etwas ahnte, dass Billy uns alle an der Nase herumgeführt hat und es ungerecht ist, Torkel zum Sündenbock zu machen.»

«Das kann sie am besten, ihre eigene Haut retten», stellte Torkel fest.

«Wirst du bei dieser Pressekonferenz dabei sein?» Ursula wollte Vanja offensichtlich nicht so schnell aus der Verantwortung entlassen.

«Mir bleibt nicht viel anderes übrig. Ich soll über den zukünftigen Weg sprechen.»

«Deinen zukünftigen Weg?»

Jetzt reichte es. Sie hatte nicht vor, hier zu sitzen und sich vorwerfen zu lassen, sie ließe sich für Rosmaries Zwecke einspannen und würde Torkel als Sprungbrett für ihre eigene Karriere missbrauchen. Sie hatte getan, was sie konnte, aber sie war nun einmal nicht die höchste Chefin, daran ließ sich nichts rütteln.

«Unseren zukünftigen Weg. Die Alternative wäre, dass sie Torkel dennoch opfert, aber gleichzeitig auch die ganze Reichsmordkommission abschafft. Ich kann nicht erkennen, was das irgendeinem von uns nutzen sollte.»

Ursula antwortete nicht, verschränkte jedoch die Arme vor der Brust, offensichtlich wollte sie sich damit noch nicht zufriedengeben.

«Das ist nicht deine Schuld», schaltete Torkel sich mit Nachdruck ein und warf Ursula einen Blick zu. «Ich bin sicher, du hast dein Bestes gegeben. Wir kennen doch alle Rosmarie.»

«Es tut mir leid», sagte Vanja aufrichtig. «Aber du solltest besser dein Handy ausschalten und eine Weile keine Nachrichten sehen.»

«Ich komme schon zurecht. Danke für die Vorwarnung.»

«Das war das Mindeste, was ich tun konnte.»

Ihre Blicke trafen sich über dem Küchentisch, Torkel lächelte, und Vanja wurde daran erinnert, wie viel er ihr in all den Jahren bedeutet hatte, wie er sie unterstützt hatte und was für ein durch und durch feiner Mensch er war. Sie streckte sich über den Tisch und wollte seine Hände ergreifen, hielt jedoch vor den weißen Handschuhen inne.

«Es tut mir wirklich leid», wiederholte sie.

«Ich weiß.»

Vanjas Handy klingelte. Sie sah auf das Display. Eine unbekannte Nummer. Dennoch nahm sie den Anruf an. Wie sich herausstellte, war es die Polizei in Västerås.

Nachdem sie kurz mit den Kollegen vor Ort gesprochen und ein Bild vom Tatort geschickt bekommen hatte, wandte sie sich der nun eindeutig neugierigen Ursula zu.

«Wir haben zu tun.»

Als My ihm die Tür öffnete und ihn hereinließ, sah er sofort, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Natürlich nicht. Sie hätte eine frischgebackene Mama sein sollen, zu Hause mit ihren neugeborenen Zwillingen, in einer rosaroten Babyblase. Stattdessen versuchte sie zu verarbeiten, dass der Mann, den sie geliebt und geheiratet hatte, der Vater ihrer Kinder, für Verbrechen verantwortlich war, die ihn zum schlimmsten schwedischen Serienmörder aller Zeiten machten. Also war gar nichts so, wie es sein sollte, aber heute schien es ihr noch schlechter zu gehen als sonst. Ihr Haar hing ungewaschen und schlaff um ihr fahles Gesicht, das von den schwarzen Augenringen dominiert wurde. Es sah so aus, als hätte sie die fleckige Jogginghose nur rasch zu dem großen T-Shirt angezogen, das sie als Nachthemd trug. Mit zwei Kindern allein zu sein, wäre für jeden anstrengend, doch Sebastian hatte das Gefühl, dass es bei My um viel mehr ging als um durchwachte Nächte und Schlafmangel.

Er hatte My als Erster vom Verdacht gegen Billy erzählt, und er hatte die Ermittlungen vorangetrieben, die am Ende zu Billys Verhaftung führten. Deshalb fühlte er sich teilweise für ihre Situation verantwortlich und dafür, dass Mys ganzes Leben aus den Fugen geraten war. Das war natürlich dumm und irrational und sah ihm wirklich nicht ähnlich, doch von allen Menschen, die er kannte, war sie nichtsdestotrotz am härtesten betroffen, und manchmal war Sebastian sich nicht sicher, wie sie es im Laufe der Zeit verkraften würde. Deshalb achtete er darauf, den Kontakt zu halten. Deshalb, und weil ihre Sicht auf die Ereignisse, ihre Geschichte, wichtig sein würde für den emotionalen Teil seines nächsten Buchs.

«Möchtest du einen Kaffee?», fragte My, während er seinen Mantel aufhängte.

«Nur wenn du auch einen trinken würdest.»

«Dann gibt es keinen.»

Sie bat ihn ins Wohnzimmer, in dem erstaunlich wenig, wenn nicht gar nichts, darauf hindeutete, dass die Bewohnerin eine alleinstehende Mutter von zwei neugeborenen Zwillingen war. Keine Sachen auf dem Boden, die Zierkissen in einer ordentlichen Reihe auf dem Sofa, eine Fernbedienung und eine Unterlage auf dem Couchtisch. Frische Schnittblumen im Fenster.

«Schlafen die Jungs?», fragte Sebastian und sah sich in der stillen Wohnung um.

«Sie sind nicht hier.»

Für einen kurzen Moment hatte Sebastian das lähmende Gefühl, etwas Furchtbares wäre passiert und hinter Mys gefasster, fast abweisender Fassade verbärge sich eine Tragödie.

«Wo sind sie?», fragte er und bemerkte zu seiner eigenen Zufriedenheit, dass seine kurze Frage nichts von seiner Unruhe verriet.

«Bei meiner Mutter.» My setzte sich auf das Sofa und zog die Füße unter sich. Sie nahm eines der Kissen und umfasste es, während Sebastian im Sessel gegenüber Platz nahm. «Ich … es wurde immer schlimmer. Ich konnte sie kaum angucken. Und erst recht nicht in den Armen halten und stillen …»

Ihre Stimme klang, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch ihre Augen blieben trocken und fixierten ihn. In ihrem Blick erkannte er einen Teil der alten My wieder. Entschlossen, tatkräftig, darüber im Klaren, was sie wollte.

«Es ist nicht ihre Schuld, nichts von alldem ist ihre Schuld, natürlich, aber ich kann das nicht. Es steckt so viel von ihm in ihnen, und damit kann ich nicht umgehen.»

«Gib dem Ganzen ein bisschen Zeit und …»

«Das ist keine postpartale Depression, Sebastian», unterbrach sie ihn und beugte sich vor. «Das wird nicht vorübergehen. Er hat acht Menschen umgebracht. Weil er es wollte. Weil er es genossen hat.»

Nicht bei den drei ersten, dachte Sebastian im Stillen. Sie haben Billy erst dazu gebracht, es zu genießen. Aber das würde er My natürlich nicht sagen. Diese Information änderte wenig bis gar nichts.

«Aber deine Kinder sind nicht er», versuchte er sie zu beruhigen.

«Zur Hälfte schon.»

Zu einem gewissen Grad waren ihre Aversion und Unruhe begreifbar. Sebastian fand sie zwar unnötig und übertrieben, hatte aber dennoch Verständnis dafür. War Billys Tötungstrieb genetisch bedingt? Die «Schlange», von der er gesprochen hatte, als wäre sie ein beinahe physisches, lebendiges Wesen, das ihn lenkte, was war sie eigentlich? Wo kam sie her? Für Sebastian war die Antwort eindeutig. Er glaubte, genug über die menschliche Psyche zu wissen, um dafür argumentieren zu können, dass die Erfahrungen und Handlungen eines Menschen, seine Beziehungen und Erlebnisse, ihn viel mehr formten als seine Gene. Niemand war zum Mörder geboren.

«Nur deshalb werden sie aber nicht so werden wie er», sagte er daher. «Wenn du das Erbgut hinzuziehen willst, sind sie ja auch zur Hälfte du.»

«Genau, vielleicht führen sie ja nur die Gene des Lügners, Betrügers und Sexkäufers weiter?»

Diese Bitterkeit und Wut würde sie mit der Zeit verschlingen und vernichten.

«Das ist nur ein Teil seiner Persönlichkeit», erwiderte Sebastian ruhig.

«Hör auf, ihn in Schutz zu nehmen!»

«Ich nehme nicht ihn in Schutz, sondern die Jungen.»

Für einen kurzen Moment schien die Streitlust von ihr abzufallen. Sie seufzte tief, lehnte sich zurück und umklammerte ihr Kissen fester.

«Ich weiß. Ich weiß, dass sie nicht automatisch aufwachsen und zu Serienmördern werden. Das ist nicht das Problem.»

«Was ist denn dann das Problem?», fragte Sebastian mit aufrichtigem Interesse. Trotz ihrer schweren Situation – oder vermutlich gerade deswegen – waren die Gespräche mit My jene Eindrücke, die ihn derzeit am meisten beschäftigten. Billy hatte sich immer mehr verschlossen. Seine Worte schienen im selben Takt zu versiegen, in dem ihm die Folgen seines Handelns bewusst wurden. Dass sie am Morgen die Leiche von Hugo Sahlén gefunden hatten, verstärkte diesen Effekt nun noch. Auf dem Weg zurück ins Untersuchungsgefängnis hatte Billy kein Wort gesagt, sondern nur aus dem Fenster gestarrt und nicht einmal reagiert, wenn man ihn ansprach. My redete dagegen und fasste ihre Gefühle in Worte – oder versuchte es jedenfalls. Etwas an ihrer Art und Weise, mit dem Geschehen umzugehen, sich davon definieren zu lassen, kannte Sebastian allzu gut. Sollte er diesen Aspekt mit in das Buch aufnehmen? Seine eigenen Verlusterfahrungen? Dem Ganzen eine persönliche Note geben? Es wäre eine Überlegung wert, aber nicht jetzt.

«Es ist …», begann My und hielt inne, als suchte sie nach der richtigen Formulierung. «Das Problem ist, dass sie eine konstante Erinnerung an Ereignisse sind, die ich zu vergessen versuche.»

Wie gesagt, sie waren sich ähnlich, My und er. Wie oft hatte er sich erfolglos darum bemüht, die Vorkommnisse des zweiten Weihnachtstages 2004 zu verdrängen.

Mittlerweile war es neunzehn Jahre her.

Neunzehn Jahre, in denen er es sich nicht erlaubt hatte, glücklich zu sein, weil er glaubte, es nicht zu verdienen. Einsam im Dunkeln. Tausende und Abertausende Tage, die zu einem einzigen, langen, alles erstickenden Schlamm wurden, in denen sinnlose sexuelle Eroberungen ein Werkzeug für ihn gewesen waren, um für einen kurzen Moment alles zu verdrängen, um die Nase über Wasser zu halten und zu atmen.

Jetzt hatte er das hinter sich gelassen.

Er hatte es geschafft, sich ein neues Leben aufzubauen.

Was für ihn notwendig gewesen war, würde auch für My wichtig sein.

«Die Zwillinge erinnern dich momentan daran, aber eines Tages wirst du Unterschiede machen können.» Er beugte sich vor und sah ihr in die Augen. «Was Billy dir angetan hat und was die Jungen für dich bedeuten, das werden zwei völlig getrennte Empfindungen sein.»

«Ich werde sie zur Adoption freigeben.»

Sebastian wusste nicht genau, welche Antwort er erwartet hatte, aber diese jedenfalls nicht. War das überhaupt möglich? Offenbar hatten sich die Zweifel in seinem Gesicht gespiegelt, denn My fuhr fort: «Das Gericht und das Jugendamt werden hinzugezogen, aber es geht. Wenn es dem Kindeswohl dient.»

«Und da bist du dir sicher?»

«Sie verdienen jemanden, der sie liebt.»

Die ernsthafte Überzeugung und Aufrichtigkeit in ihrer Stimme hielten Sebastian von allen weiteren Einwänden ab. Was er auch sagte, es würde sie ihre Meinung nicht ändern lassen, jedenfalls nicht heute.

«Ich möchte dich um einen Gefallen bitten», fuhr My mit fester Stimme fort.

«Und worum geht es?»

«Billy hat als Vater immer noch ein Mitspracherecht, er muss seine Zustimmung geben. Wenn du ihn das nächste Mal triffst, musst du ihn darum bitten.»

«Das wird er nicht tun.»

«Überrede ihn. Er wird ohnehin nie Teil ihres Lebens sein.»

«Wie du schon gesagt hast, er ist der Vater …»

«Ja, ja, ja», fiel sie ihm ins Wort. «Kann sein, dass sie ihn im Gefängnis besuchen müssen, das weiß ich nicht, aber … Er wird sie nicht kennen und keine wichtige Rolle in ihrem Leben spielen, dafür werde ich sorgen.»

«Okay, ich werde es ihm erklären.»

Ob das eine gute Idee war oder nicht, konnte man diskutieren, dachte Sebastian, beschloss aber erneut, seine Einwände nicht zu äußern. Später, wenn etwas mehr Zeit vergangen wäre, würde er kritischer hinterfragen, wie gut durchdacht ihre Entscheidung war. Ohne es genau zu wissen, vermutete er, dass eine Adoption in einem solchen Fall ein ziemlich zäher Prozess sein würde. Und wenn er Billy richtig einschätzte, würde der sich weigern und querstellen, solange es ging. Sebastian ahnte, dass Billy immer noch an der naiven Hoffnung festhielt, zwischen ihm und My würde irgendwann alles wieder halbwegs normal sein. Vielleicht glaubte er nicht, dass sie ihm verzeihen werde, aber ihn verstehen und tolerieren. Der blauäugige Wunsch, etwas aus seinem früheren Leben behalten zu dürfen. Aber Billy hatte noch nicht die My gesehen, die jetzt vor Sebastian saß.

«Du hast nicht vor, mit jemandem zu reden?», fragte er behutsam und beugte sich vor.

«Mit wem sollte ich reden?»

«Einem Therapeuten. Jemandem, der dir dabei helfen kann, das alles zu verarbeiten.»

«Ich rede doch mit dir.»

«Ich bin nicht dein Therapeut, ich bin ein Freund.»

«Ich glaube, ich brauche eher einen Freund als einen Therapeuten, aber danke für den Rat.»

Sebastians Handy brummte in der Tasche. Normalerweise hätte er es ignoriert, aber jetzt war er beinahe dankbar für die Unterbrechung. Mit einer entschuldigenden Geste zog er das Telefon hervor. Vanja. Für einen kurzen Moment dachte er, er hätte vergessen, Amanda in der Vorschule abzuholen, heute wäre sein Tag, aber erstens vergaß er das nicht, und zweitens hätte Vanja sich dann schon eher gemeldet. Allerdings rief sie nie wegen etwas an, das nicht Amanda betraf, deshalb nahm er den Anruf mit einer gewissen Besorgnis entgegen.

Zwanzig Minuten später holte sie ihn vor Mys Wohnung ab, und sie fuhren zusammen in Richtung Västerås.

Der Geruch hatte sich zwar bereits angekündigt, als sie sich näherten, aber es war dennoch ein Schock, als sie auf dem Platz vor dem Hof aus dem Auto stiegen.

«Pfui Teufel!», stieß Sebastian hervor und versuchte, nur noch durch den Mund einzuatmen.

«Eintausendsechshundert Schweine», sagte Vanja und grinste ihn an.

«Wie kann man hier arbeiten?»

«Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran.»

«Ja, man gewöhnt sich daran, mit Schweinen zu arbeiten», sagte Ursula.

Sebastian ignorierte ihren säuerlichen Kommentar, und sie steuerten auf das große, ein Stück entfernt liegende Gebäude zu. Mehrere Streifenwagen standen in der Einfahrt und überall uniformierte Polizisten bei den Absperrungen. Ein kriminaltechnisches Team war bereits vor Ort und wurde sofort von Ursula erspäht. In der knappen Stunde, die sie gemeinsam im Auto verbracht hatten, war sie ziemlich wortkarg gewesen. Es war das erste Mal, dass sie sich seit den Geschehnissen zu Hause bei Torkel gesehen hatten. Sebastian wusste, dass sie ihn dafür verantwortlich machte, weil er sie nicht gewarnt und in diese gefährliche Situation gebracht hatte. Nicht ganz zu Unrecht, wie er wohl oder übel zugeben musste.

Er hatte auf der Rückbank Platz genommen, als sie ihn abgeholt hatten. Ursula war nicht auf die Idee gekommen, ihm den Beifahrersitz anzubieten, obwohl er fast zwanzig Zentimeter größer war als sie. Er zog die Tür zu, und zu Beginn der Fahrt herrschte ein für Sebastian nicht ganz angenehmes Schweigen.

«Was wissen wir über die Sache in Västerås?», fragte er, als sie Stockholm hinter sich gelassen hatten und Vanja auf der E18 Richtung Westen beschleunigte.

«Das, was ich dir schon am Telefon erzählt habe und was du auf dem Foto gesehen hast, das ich dir geschickt habe.»

Das Foto, ja. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass jemand anders gemeint war und es rein gar nichts mit ihm zu tun hatte, aber das glaubte Vanja offenbar nicht, und er selbst glaubte es auch nicht, wenn er ehrlich war.

«Ich habe im Internet gelesen, dass sie eine weitere Leiche gefunden haben», sagte Vanja hinter dem Steuer. Sie sprach also von sich aus das Thema Billy an. Da musste es ihm doch wohl erlaubt sein zu antworten?

«Ja, Hugo Sahlén», bestätigte er mit einem Seitenblick zu Ursula.

«Warst du dabei?»

«Ja.»

«Warum?»

«Er brauchte jemanden zum Reden.» Ursulas leises Schnauben verriet mit aller Deutlichkeit, was sie davon hielt.

«Seit seiner Verhaftung ist einiges mit ihm passiert», erklärte Sebastian vorsichtig.

«Bereut er es?»

Sebastian zögerte. Auf diese Frage gab es keine einfache Antwort. Kein schlichtes Ja oder Nein. Er war nicht sicher, ob Ursula an den psychologischen Faktoren interessiert war, die in Bezug auf Billy eine Rolle spielten, aber er wollte es wenigstens versuchen.

«Die Folgen bereut er definitiv. Die Taten an sich … Sie wurden nicht von dem Billy verübt, den wir kennen, also … er weiß selbst nicht genau, wie er dazu stehen soll.»

«Und das herauszufinden, dabei hilfst du ihm?»

«Ich versuche es.»

Zum ersten Mal seit Beginn der Fahrt drehte sie sich um und sah ihn an.

«Warum? Billy ist dir scheißegal, aber er hat mehrere Menschen verletzt, von denen du behauptest, sie wären dir nicht egal.»

«Ich weiß.»

«Also, warum? Weil du so ein gutherziger Kerl bist, der immer das Wohl der anderen im Blick hat und seinen Mitmenschen um jeden Preis helfen möchte?»

Die triefende Ironie war nicht zu überhören. Es gab wohl niemanden, der ihn so gut kannte wie Ursula. Wenn er also eine Chance haben wollte, dass ihr Verhältnis auch nur halbwegs funktionierte, konnte er nicht lügen.

Nicht bei ihr. Nie wieder.

«Ich schreibe ein Buch über ihn.»

«Weiß er davon?»

«Nein.»

«Die Geschichte glaube ich.» Ursula lachte boshaft. «Einen anderen Menschen ausnutzen, um Gewinn daraus zu schlagen, das passt schon besser zu dir.» Erneut musste er zugeben, dass sie recht hatte. Ursula drehte sich wieder nach vorn.

«Vanja geht ein ziemliches Risiko ein, indem sie dich mitnimmt. Du stehst nicht gerade auf Rosmaries Wunschliste.»

«Aber bei dem, was dort an der Wand zu sehen ist, bleibt euch wohl keine große Wahl.»

«Man hat immer eine Wahl, man kann das Richtige tun oder das Falsche.»

Auch wahr. Das Problem war nur, dass er jahrelang ständig und höchst bewusst das Falsche getan hatte, um sich selbst zu bestrafen. Denn das Richtige zu tun, konnte ihm möglicherweise ein Fünkchen Freude und Glück schenken, das er nicht verdient hatte.

«Danke», sagte er zu Vanja.

«Ich erwarte keine Dankbarkeit, aber jetzt liegt es an dir, dafür zu sorgen, dass ich es nicht bereue.»

Sebastian nickte und lehnte sich zurück. Genau diese Worte hatte Torkel benutzt, als er Sebastian vor vielen Jahren in Västerås wieder ins Team aufgenommen hatte. Das hatte er jetzt davon …

Sie hatten die Fahrt schweigend fortgesetzt.

Jetzt wurden sie unter den Absperrungen hindurchgelassen, und ein Ermittler in Zivil kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen. Er war vielleicht fünfundvierzig Jahre alt und hatte leicht angegraute Schläfen. Sneakers, Chino-Hosen, ein Hoodie und eine Daunenweste ließen ihn aussehen wie einen Mann, der gerade von einem Grillfest mit Freunden und Familie abberufen worden war.

«Hallo, Radjan Micic, ich hatte euch angerufen.»

«Was wisst ihr?», fragte Vanja, nachdem sie sich begrüßt und vorgestellt hatten.