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Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe. Ganz nah am Abgrund. Beruflich und privat. In den Bergen von Jämtland stürzt eine Wanderin ab. Sie überlebt. Jemand anderes hatte dafür weniger Glück: Aus der Erde vor ihr ragen die Knochen einer Hand. Die Polizei vor Ort birgt sechs Leichen, darunter die zweier Kinder. Alle per Kopfschuss getötet. Stockholm wird um Verstärkung gebeten, und Kommissar Höglund reist mit großem Tross in die Provinz. Doch die Ermittlungen stehen unter keinem guten Stern. Den Kriminalpsychologen Sebastian Bergman plagen private Probleme, Spannungen belasten das ganze Team. Und auch der Fall entpuppt sich als kompliziert. Die Identität der Toten gibt Rätsel auf, niemand vermisst sie. Als Höglund und Bergman endlich auf eine brauchbare Spur stoßen, schaltet sich der schwedische Geheimdienst ein ... «Ein echter Pageturner.» (Söderhamns-Kuriren) «Der beste schwedische Kriminalroman des Jahres.» (Örnsköldsviks Allehanda)
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Seitenzahl: 737
Michael Hjorth • Hans Rosenfeldt
Die Toten, die niemand vermisst
Ein Fall für Sebastian Bergman
Kriminalroman
Aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein
Ihr Verlagsname
Sebastian Bergman, Kriminalpsychologe. Ganz nah am Abgrund. Beruflich und privat.
In den Bergen von Jämtland stürzt eine Wanderin ab. Sie überlebt. Jemand anderes hatte dafür weniger Glück: Aus der Erde vor ihr ragen die Knochen einer Hand. Die Polizei vor Ort birgt sechs Leichen, darunter die zweier Kinder. Alle per Kopfschuss getötet.
Stockholm wird um Verstärkung gebeten, und Kommissar Höglund reist mit großem Tross in die Provinz. Doch die Ermittlungen stehen unter keinem guten Stern. Den Kriminalpsychologen Sebastian Bergman plagen private Probleme, Spannungen belasten das ganze Team. Und auch der Fall entpuppt sich als kompliziert. Die Identität der Toten gibt Rätsel auf, niemand vermisst sie.
Als Höglund und Bergman endlich auf eine brauchbare Spur stoßen, schaltet sich der schwedische Geheimdienst ein ...
«Ein echter Pageturner.» (Söderhamns-Kuriren)
«Der beste schwedische Kriminalroman des Jahres.» (Örnsköldsviks Allehanda)
Michael Hjorth, geboren 1963, ist ein erfolgreicher schwedischer Produzent, Regisseur und Drehbuchautor. Er schrieb u.a. Drehbücher für die Verfilmungen der Romane von Henning Mankell.
Hans Rosenfeldt, Jahrgang 1964, schreibt ebenfalls Drehbücher, zuletzt für die ZDF-Koproduktion «Die Brücke – Transit in den Tod», und ist in Schweden ein beliebter Radio- und Fernsehmoderator.
Ihr gemeinsames Krimidebüt «Der Mann, der kein Mörder war» wurde ein Riesenerfolg, auch international. Das Buch erschien in 22 Ländern und stand monatelang auf den internationalen Bestsellerlisten. Der zweite Band der Reihe um den Stockholmer Kriminalpsychologen Sebastian Bergman, die vom schwedischen Fernsehen in Kooperation mit dem ZDF verfilmt wird, erschien unter dem Titel «Die Frauen, die er kannte» im August 2012 bei Rowohlt Polaris. Das Buch befand sich wochenlang unter den Top 10 der Spiegel-Bestsellerliste und wurde von der Presse hoch gelobt.
«Hjorth und Rosenfeldt haben einen Krimi geschrieben, wie er besser nicht sein kann.» (NDR Info)
«Eines der intelligentesten und interessantesten Produkte, die in den letzten Jahren aus der schwedischen Thrillerproduktion lanciert wurden.» (taz)
«Fesselnd bis zum überraschenden Schluss.» (Berliner Morgenpost)
«Noch spannender und abgründiger als das Erfolgsdebüt des schwedischen Duos. Ein echter Pageturner, der den Leser ungeduldig auf den dritten Bergman-Fall warten lässt.» (Hörzu)
Weitere Veröffentlichungen:
Der Mann, der kein Mörder war
Die Frauen, die er kannte
Diesmal hieß sie Patricia.
Patricia Wellton.
Neue Orte, neue Namen.
Am Anfang war das am schwersten gewesen – zu reagieren, wenn sie von Hotelportiers und Taxifahrern angesprochen wurde.
Aber das war lange her. Mittlerweile nahm sie den Namen auf ihren neuen Papieren an, sobald sie sie in der Hand hielt. Auf dieser Reise war sie bisher nur einmal namentlich angesprochen worden, von dem Autovermieter in Östersund, der ihr mitteilte, dass der von ihr bestellte Mietwagen nun frisch gereinigt und fahrbereit sei.
Sie war pünktlich gelandet, um kurz nach fünf am Mittwochabend, und hatte den Arlanda Express in die Stockholmer Innenstadt genommen. Es war ihr erster Besuch in der schwedischen Hauptstadt, aber sie beschränkte ihr Sightseeing auf ein nahegelegenes Restaurant, in dem sie ein frühes und ziemlich geschmacksarmes Abendessen einnahm.
Um kurz vor neun stieg sie dann in den Nachtzug, der sie nach Östersund bringen sollte. Sie hatte sich ein eigenes Abteil im Schlafwagen gebucht. Nicht weil sie glaubte, dass man ihr auf die Spur käme, auch wenn ihre Täterbeschreibung womöglich der Polizei und anderen Behörden mehrfach vorlag, sondern weil sie nicht gern mit fremden Menschen in einem Raum schlief. Es nie gern getan hatte.
Nicht in jungen Jahren mit ihrer Volleyballmannschaft, wenn sie zu Turnieren fuhren. Nicht während der Ausbildung, weder auf der Basis noch im Feld.
Und auch nicht bei ihren Aufträgen.
Nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, war sie ins Bistro gegangen, hatte sich eine kleine Flasche Wein und ein Tütchen Erdnüsse gekauft und sich in ihr Abteil zurückgezogen, um zu lesen. I know what you’re really thinking, ein neues Buch mit dem etwas skurrilen Untertitel: Reading Body Language like a Trial Lawyer. Die Frau, die derzeit Patricia Wellton hieß, wusste nicht, warum ausgerechnet Strafverteidiger eine besondere Begabung für die Deutung von Körpersprache haben sollten. Sie war jedenfalls noch nie auf einen von ihnen gestoßen, der sich auf diesem Gebiet hervorgetan hätte. Doch das Buch war, wennschon nicht unbedingt lehrreich, so doch zumindest spannend und unterhaltsam. Um kurz nach eins schlüpfte sie zwischen die sauberen, weißen Laken und löschte das Licht.
Fünf Stunden später stieg sie in Östersund aus und fragte sich zu einem Hotel durch, wo sie ein ausgiebiges Frühstück einnahm, ehe sie sich zu der Avis-Filiale begab, bei der sie einen Wagen reserviert hatte. Aber das Auto stand noch nicht bereit, also musste sie warten und bekam eine Tasse Maschinenkaffee angeboten.
Es war ein neuer anthrazitfarbener Toyota Avensis, mit dem sie nach knapp hundert Kilometern die Stadt Åre erreichte. Die ganze Fahrt über hatte sie sich an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten, denn es war nicht nötig, sich einen Strafzettel einzuhandeln, obwohl es im Prinzip auch nichts ausmachen würde. Soweit sie in Erfahrung gebracht hatte, durchsuchte die schwedische Polizei bei kleineren Verkehrsdelikten nicht gleich das Auto und das Gepäck. Und ihr Auftrag konnte höchstens dadurch gefährdet werden, dass man ihre Pistole entdeckte. Sie hatte keine Papiere, die sie dazu berechtigten, in Schweden eine Waffe zu tragen. Wenn Polizeibeamte ihre Beretta M9 fänden, würden sie jedoch nachforschen und entdecken, dass Patricia Wellton an keinem anderen Ort als im Hier und Jetzt existierte. Daher drückte sie nicht allzu sehr aufs Gas, sondern fuhr gemächlich an den grasgrünen Skipisten vorbei und hinein in die kleine Stadt, die über dem See lag.
Sie machte einen kurzen Spaziergang, wählte auf gut Glück ein Café und bestellte sich ein Panino und eine Cola light. Während sie aß, studierte sie die Landkarte. Vor ihr lagen noch knapp fünfzig Kilometer auf der E14, ehe sie abfahren und den Wagen parken würde, anschließend war es noch eine Laufstrecke von etwa zwanzig Kilometern. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Wenn sie drei Stunden rechnete, bis sie vor Ort war, und eine weitere, um die Spuren zu beseitigen, zwei, um sich wieder zum Auto zu begeben und Bericht zu erstatten … dann wäre sie am Abend pünktlich in Trondheim, um von dort den Flug nach Oslo zu erreichen und am Freitag den Anschluss nach Hause.
Nach einem weiteren Spaziergang durch Åre setzte sie ihre Fahrt nach Westen fort. Obwohl sie bei ihrer Arbeit schon viel herumgekommen war, hatte sie eine solche Landschaft noch nie erlebt. Die sanften Berge, die deutliche Baumgrenze, das Sonnenglitzern auf dem Wasser im Tal. Hier könnte sie sich wohl fühlen. In dieser Einöde. Der Stille. Der klaren Luft. Hier würde sie gern einmal eine einsame Hütte mieten und lange Wanderungen unternehmen. Angeln. Im Sommer das Licht genießen und im Winter am offenen Kaminfeuer sitzen und lesen.
Vielleicht irgendwann einmal.
Vermutlich nie.
Als ein Schild anzeigte, dass es links nach Rundhögen ging, verließ sie die E14 und kurz darauf auch ihren Mietwagen, griff nach ihrem Rucksack, holte die Gebirgskarte über das Gebiet heraus und lief los.
Hundertzweiundzwanzig Minuten später hielt sie an. Etwas außer Atem, aber keineswegs müde. Sie war nicht so schnell gelaufen, wie sie konnte, auf langen Strecken teilte sie sich ihre Kräfte lieber ein. An einer Bergflanke ließ sie sich nieder und trank etwas Wasser, ihre Atmung normalisierte sich schnell wieder. Anschließend setzte sie ihren Feldstecher an die Augen und nahm das kleine Holzhaus ins Visier, das etwa dreihundert Meter entfernt lag. Sie war am richtigen Ort. Die Hütte sah genau so aus wie auf dem Foto, das sie von ihrem Informanten bekommen hatte.
Soweit sie wusste, war es heutzutage nicht mehr erlaubt, am Fuß des Berges zu bauen, wo die kleine Hütte lag. Doch sie war bereits in den dreißiger Jahren errichtet worden. Irgendein Direktor mit guten Beziehungen zum Königshaus hatte einen Unterstand gebraucht, um sich bei seinen Jagden in diesem Gebiet aufzuwärmen. Im Grunde konnte man das Gebäude kaum als Haus, ja nicht einmal als Hütte bezeichnen. Wie groß mochte es sein? Achtzehn Quadratmeter? Zwanzig? Gezimmerte Wände, kleine Fenster und ein schmächtiger Schornstein, der aus der Dachpappe emporragte. Zwei Stufen führten zu einer Tür an der Schmalseite, zehn Meter daneben lag ein kleinerer zweigeteilter Verschlag; die eine Hälfte mit Tür, vermutlich ein Plumpsklo, die andere ohne, höchstwahrscheinlich ein Holzvorrat, denn es stand ein Hackklotz davor.
Hinter den grünen Mückennetzen am Fenster nahm sie eine Bewegung wahr. Er war zu Hause.
Sie legte das Fernglas beiseite, steckte die Hand erneut in den Rucksack, holte die Beretta hervor und montierte mit schnellen, routinierten Bewegungen den Schalldämpfer. Dann stand sie auf, schob die Waffe in die eigens dafür angefertigte Tasche in ihrer Jacke, hängte sich den Rucksack wieder um und ging weiter. Hin und wieder warf sie einen Blick zurück, konnte aber nirgendwo eine Regung ausmachen. Die Hütte lag ein gutes Stück von dem markierten Weg entfernt, und jetzt, Ende Oktober, wimmelte es in dieser Gegend nicht gerade von Wanderern. Seit sie das Auto verlassen hatte, war sie erst zweien begegnet.
Knapp fünfzig Meter vor dem Ziel zog sie die Pistole aus der Tasche. Sie wägte die Möglichkeiten ab. Anklopfen und schießen, sobald er öffnete, oder darauf vertrauen, dass das Haus unverschlossen war, hineinschleichen und ihn überraschen. Sie hatte sich gerade für die erste Variante entschieden, als die Tür des Hauses geöffnet wurde. Die Frau erstarrte für den Bruchteil einer Sekunde, ging dann aber blitzschnell in die Hocke. Ein Mann in den Vierzigern trat auf die kleine Treppe. Es war ein offenes Gelände, das keinerlei Verstecke bot. Das Einzige, was sie tun konnte, war, so still wie möglich in der Hocke zu bleiben. Jede Bewegung konnte seine Aufmerksamkeit erregen. Ihr Griff um die Pistole wurde fester. Selbst wenn er sie sähe, bliebe ihr noch genügend Zeit, um aufzuspringen und auf ihn zu schießen, ehe er entkommen konnte. Knapp vierzig Meter. Sie würde definitiv treffen, ihn vermutlich auch töten, aber optimal wäre dieser Ablauf nicht. Im schlimmsten Fall konnte er sich verletzt in die Hütte schleppen und dort eine Waffe holen. Wenn er sie jetzt entdeckte, wäre alles viel riskanter.
Doch er bemerkte sie nicht. Er schloss die Tür, ging die zwei Stufen hinab, dann nach rechts und steuerte auf den Schuppen zu. Sie beobachtete, wie er die Axt nahm, die im Hackklotz steckte, und Holz zu hacken begann.
Langsam stand sie auf, zog sich ein wenig nach rechts zurück, damit sie vom Haus verdeckt war, falls der Mann eine Pause machen, den Rücken strecken und in die schöne Landschaft hinausschauen würde.
Die Axt. Konnte sie zum Problem werden? Vermutlich nicht. Wenn alles nach Plan lief, würde er sie gar nicht rechtzeitig als Bedrohung wahrnehmen und ihr daher auch nicht mit einer solchen Nahkampfwaffe gefährlich werden können.
Sie blieb direkt hinter dem Haus stehen, atmete durch, sammelte sich einige Sekunden lang und schlich dann um den Hausgiebel.
Der Mann wirkte mehr als überrascht, sie zu sehen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, vermutlich wollte er fragen, wer sie war, vielleicht auch, was sie hier zu suchen hatte, mitten in der Gebirgslandschaft Jämtlands, und ob er ihr weiterhelfen könnte. Es spielte keine Rolle.
Sie verstand kein Schwedisch, und er würde nie eine Antwort bekommen.
Die schallgedämpfte Pistole hustete leise, und alle Bewegungen des Mannes froren unmittelbar ein, als hätte jemand in einem Film auf die Pause-Taste gedrückt. Dann glitt die Axt aus seiner Hand, die Knie sackten nach links, der Körper fiel nach rechts. Ein dumpfer Rums, als seine achtzig Kilo Gewicht auf dem Boden aufschlugen. Er war bereits tot, sein Herz von der Kugel punktiert, als er aufkam. Ganz so, als hätte ihn eine unsichtbare Hand brutal in die stabile Seitenlage geworfen.
Sie steckte die Beretta wieder in die Tasche und überlegte, ob sie sich um das Blut auf dem Boden kümmern oder diese Aufgabe der Natur überlassen sollte. Selbst wenn man den Toten vermisste – und das würde, wie sie bereits wusste, der Fall sein – und jemand zu der kleinen Hütte kommen und ihn suchen würde, würde man seine Leiche nie finden. Das Blut verriet, dass ihm etwas zugestoßen war, mehr aber auch nicht. Und niemand würde je einen Beweis entdecken, auch wenn er das Schlimmste befürchtete. Der Mann würde für immer verschwunden sein.
«Papa?»
Die Frau zog erneut ihre Waffe und drehte sich blitzschnell um. Ein einziger Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
Kinder. Es sollte hier keine Kinder geben.
Er zitterte leicht an den Schultern, und sein Kopf wackelte ein wenig. Merkwürdig. Diese Bewegung konnte er nicht mit seinem Traum in Verbindung bringen. Träumte er denn überhaupt? Wenn, dann jedenfalls nicht das Übliche. Nicht von einer kleinen Hand in der seinen. Es gab kein brausendes Donnern, das sich unerbittlich näherte. Kein wirbelndes Chaos. Doch, er musste träumen, denn jemand sagte seinen Namen.
Sebastian.
Aber wenn er nun tatsächlich träumte, er war sich da ganz und gar nicht sicher, so war er auf jeden Fall allein in diesem Traum. Allein in der Finsternis.
Er schlug die Augen auf und sah direkt in ein anderes Augenpaar. Blau. Darüber schwarze Haare, kurzgeschnitten, zerzaust. Darunter eine gerade, kleine Nase und ein lachender Mund.
«Guten Morgen. Entschuldige bitte, aber ich wollte dich gern wecken, bevor ich gehe.»
Mühsam stemmte Sebastian sich auf die Ellbogen. Die Frau, die ihn geweckt hatte, schien mit seiner Anstrengung zufrieden, ging wieder zum Fußende des Bettes, blieb vor einem Ganzkörperspiegel stehen und zog ein Paar Ohrringe an, die sie zuvor aus einem kleinen Regal an der Wand genommen hatte.
Kurz darauf war Sebastians Schlaftrunkenheit wie weggeblasen, und die Erinnerungen an den gestrigen Tag tauchten wieder auf.
Gunilla, siebenundvierzig Jahre, Krankenschwester. Sie waren sich einige Male im Karolinska-Krankenhaus begegnet, jener Uniklinik, in der Sebastian mit seiner schweren Verletzung behandelt worden war. Gestern hatte er seinen letzten Termin zur Nachsorge gehabt, und im Anschluss hatte sie ihn begleitet. Erst waren sie in der Stadt ausgegangen, dann zu ihr. Erstaunlich guter Sex.
«Du bist schon aufgestanden.»
Er begriff, dass seine Feststellung nicht gerade genial war. Dies war eine Situation, in der er sich unwohl fühlte: nackt im Bett zu liegen, während die Frau, mit der er die Nacht verbracht hatte, bereits angezogen und bereit für den Tag vor ihm stand. In der Regel war er derjenige, der zuerst aufstand. Meist und am liebsten, ohne seine jeweiligen Partnerinnen dabei zu wecken. So wollte er es. Je weniger er reden musste, ehe er ging, desto besser.
«Ich muss zur Arbeit», informierte sie ihn und warf ihm im Spiegel einen schnellen Blick zu.
«Was denn? Jetzt?»
«Ja. Jetzt. Eigentlich bin ich sogar etwas spät dran.»
Sebastian streckte sich nach rechts und angelte seine Armbanduhr vom Nachttisch. Kurz vor halb neun. Gunilla war mit dem Ohrschmuck fertig und schloss eine schmale Silberkette im Nacken. Sebastian sah sie ungläubig an. Diese Frau war siebenundvierzig Jahre alt und wohnte mitten in Stockholm. Wie konnte ein Mensch trotzdem so naiv und gutgläubig sein?
«Bist du nicht ganz bei Trost?», fragte er und setzte sich auf. «Du hast mich gestern erst kennengelernt. Ich könnte deine halbe Wohnung ausräumen.»
Gunilla sah ihn erneut im Spiegel an und lächelte verschmitzt.
«Hast du denn vor, meine halbe Wohnung auszuräumen?»
«Nein. Aber das würde ich wohl auch antworten, wenn es so wäre.»
Inzwischen hatte Gunilla all ihren Schmuck angelegt, und nach einem letzten, prüfenden Blick in den Spiegel kehrte sie zu seiner Betthälfte zurück. Sie setzte sich auf die Kante und legte eine Hand auf seinen Brustkorb.
«Erstens kenne ich dich nicht erst seit gestern. Gestern bin ich zum ersten Mal mit dir ausgegangen. Aber in der Arbeit habe ich all deine Kontaktdaten. Solltest du also den Fernseher mitnehmen, weiß ich, wo ich dich finden kann …»
Für einen kurzen Moment schwirrte Sebastian der Gedanke an Ellinor durch den Kopf, doch er verdrängte ihn sofort wieder. Er würde gezwungenermaßen sowieso bald ziemlich viel Zeit und Energie für sie aufbringen müssen. Aber nicht jetzt. Gunilla lächelte ihn erneut an. Sie scherzte mit ihm. Sebastian erinnerte sich an das gestrige Rendezvous.
Ja, sie lachte viel.
War ein fröhlicher Mensch.
Es war ein netter Abend gewesen.
Jetzt beugte Gunilla sich kurz vor und küsste ihn so schnell auf den Mund, dass er sich nicht rechtzeitig wehren konnte. Dann stand sie auf. Auf dem Weg zur Schlafzimmertür sagte sie: «Außerdem wird Jocke dich schon im Auge behalten.»
«Jocke?» Sebastian wühlte in seinem Gedächtnis nach irgendeinem Jocke, den er mit ihr in Verbindung bringen konnte. Fehlanzeige.
«Joakim. Mein Sohn. Du kannst mit ihm zusammen frühstücken, wenn du willst.»
Sebastian starrte sie an. Er brachte kein Wort heraus. War das ihr Ernst? Ein Sohn? In dieser Wohnung? Wie alt mochte er sein? Und wie lange war er schon hier? Etwa die ganze Nacht? Sebastian erinnerte sich, dass sie nicht gerade diskret gewesen waren.
«Aber jetzt muss ich wirklich los. Danke für den schönen Abend.»
«Danke gleichfalls», stammelte Sebastian, ehe Gunilla das Schlafzimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog. Er sank mit dem Kopf auf das Kissen zurück und hörte, wie sie sich von jemandem verabschiedete – vermutlich dem Sohn –, woraufhin eine weitere Tür ins Schloss fiel. Dann wurde es still in der Wohnung.
Sebastian räkelte sich, ohne dass es weh tat.
Eigentlich hatte er schon seit einigen Wochen keine Schmerzen mehr, doch er genoss das Gefühl, sich wieder ohne Qualen bewegen zu können, noch immer.
Vor etwas mehr als zwei Monaten war er von Edward Hinde, Psychopath und Serienmörder, mit dem Messer attackiert worden, an den Waden und am Bauch. Sebastian war sofort operiert worden, und zunächst hatten seine Heilungschancen sehr gut gestanden, doch dann gab es Komplikationen. Über eine Woche hatte er eine Drainage getragen, da seine Lunge punktiert gewesen war. Wenn man den Schlauch entfernt habe, sei es nur noch eine Frage der Zeit, ehe er wieder der Alte wäre, hatte man ihm gesagt. Doch er bekam eine Entzündung, bei der sich Flüssigkeit bildete, und sie stachen ein neues Loch in ihn hinein, saugten das Wasser in der Lunge ab und nähten ihn wieder zusammen. Er bekam allerlei Aufgaben und Verhaltensregeln mit nach Hause. Viel zu umfangreich, zu anstrengend und zu langweilig, um sie zu befolgen. Vielleicht erkrankte er deshalb anschließend an einer Lungenentzündung, vielleicht hätte er sie auch so bekommen. Aber nun war er endgültig geheilt. Seit gestern auch offiziell.
Doch auch wenn sein Körper wieder gesund war, ging ihm der Fall Hinde nicht aus dem Kopf.
Das lag zum einen daran, dass Hinde sich an ihm gerächt hatte, indem er mehrere Frauen ermorden ließ, mit denen Sebastian einmal eine sexuelle Beziehung gehabt hatte. Da er seit dem Jahr 1996, als Sebastian für Hindes Verhaftung gesorgt hatte, im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Lövhaga gesessen hatte, war er natürlich nicht in der Lage gewesen, die Morde selbst auszuführen, aber mit Hilfe eines dort angestellten Putzmannes war es ihm trotzdem gelungen, seinen Rachefeldzug teilweise in die Tat umzusetzen.
Vier Frauen hatten ihr Leben gelassen.
Frauen, die nur einen gemeinsamen Nenner hatten: Sebastian Bergman.
Das Gefühl, dass er am Tod der vier Frauen Schuld hatte, war irrational, aber ganz abschütteln konnte er es trotzdem nicht.
Nachdem die Reichsmordkommission den Putzmann gefasst hatte, war Hinde aus dem Gefängnis geflohen und hatte Vanja Lithner gekidnappt, und auch das keineswegs zufällig. Aber nicht deswegen, weil sie mit Sebastian gemeinsam in der Reichsmordkommission arbeitete. Nein, Hinde hatte irgendwie herausgefunden, dass sie Sebastians Tochter war.
Nun war Edward Hinde tot, doch mitunter plagte Sebastian die Frage, ob – wenn schon Hinde es herausgefunden hatte – nicht auch andere Menschen diesen Schluss ziehen konnten. Das wollte er auf keinen Fall. Vanja und er hatten inzwischen ein gutes Verhältnis zueinander. Ein besseres denn je.
Er hatte Vanja das Leben gerettet, dort draußen in dem einsamen Haus, wohin Hinde sie verschleppt hatte. Das war natürlich ein wichtiger Grund. Doch Sebastian war es egal, ob sie es nur aus Dankbarkeit mit ihm aushielt. Hauptsache, sie tat es. Und sogar mehr als das. Seit dem dramatischen Ereignis hatte sie seine Nähe sogar ganze zwei Mal freiwillig gesucht. Erst war sie zu ihm ins Krankenhaus gekommen, und als er schließlich wieder entlassen worden war, vor seiner Lungenentzündung, hatte sie sogar vorgeschlagen, sich auf einen Kaffee zu treffen.
Sebastian erinnerte sich noch gut daran, was für ein Gefühl das gewesen war, ihre Frage zu hören.
Seine Tochter rief ihn an und wollte ihn sehen.
Er wusste kaum mehr, worüber sie sich bei dem Treffen unterhalten hatten. Eigentlich wollte er sich an jedes Detail, an jede Nuance erinnern, aber der Augenblick war zu überwältigend gewesen. Die Situation zu groß. Eineinhalb Stunden hatten sie im Café gesessen, nur sie und er. Auf ihre Initiative hin. Keine harten Worte. Kein Kampf. Seit dem zweiten Weihnachtstag 2004 hatte er sich nicht mehr so lebendig, so gegenwärtig gefühlt. Immer wieder kehrte er in Gedanken zu den neunzig Minuten zurück, die sie miteinander verbracht hatten.
Und es konnte mehr Zeit werden. Musste mehr werden. Denn er durfte wieder arbeiten und wollte es auch. Manchmal ertappte er sich sogar dabei, sich nach dem Job zu sehnen. Eingebunden zu sein, das war auch wichtig. Aber am wichtigsten war es ihm, in Vanjas Nähe zu sein. Er hatte sich damit ausgesöhnt, dass er nie ihr Vater werden konnte. Jeder Versuch, Valdemar Lithner diese Rolle abzuluchsen, würde alles zerstören. Obwohl er bisher ohnehin nicht viel hatte aufbauen können, was sich zerstören ließ. Ein Krankenbesuch und neunzig Minuten Kaffeetrinken, immerhin.
Akzeptanz.
Eine gewisse Fürsorge.
Vielleicht sogar eine beginnende Freundschaft.
Sebastian schlug die Decke beiseite und verließ das Bett. Er fand seine Boxershorts auf dem Boden und die übrigen Kleidungsstücke auf der Stuhllehne, über die er sie neun Stunden zuvor geworfen hatte. Nach einem abschließenden Blick in den Spiegel fuhr er sich durch das Haar, öffnete die Schlafzimmertür und schlich ins Wohnzimmer hinaus. Einen Moment blieb er in der Tür stehen und lauschte. Aus der Küche am anderen Ende der Wohnung drangen Geräusche. Musik. Ein Löffel, der gegen Porzellan klirrte. Offenbar frühstückte Jocke bereits ohne ihn. Sebastian ging die letzten Schritte zur Toilette, schlüpfte hinein und schloss hinter sich ab. Er hatte das starke Bedürfnis nach einer Dusche, aber der Gedanke, sich ein weiteres Mal Wand an Wand mit Gunillas Sohn auszuziehen, sorgte dafür, dass dies ein unerfülltes Bedürfnis blieb. Er betätigte die Spülung, wusch sich Hände und Gesicht und ging wieder hinaus.
Auf dem Weg zur Haustür begriff er mit Schrecken, dass er gezwungen war, an der Küche vorbeizugehen. Genau dabei wollte er es auch belassen. Beim Vorbeigehen. Der Sohn, der dort saß, sollte höchstens einen Rücken zu Gesicht bekommen, wenn er von seinem Teller aufblickte. Sebastian eilte an der Küche vorüber, fand im Flur seine Schuhe, zog sie an und suchte die Garderobenhaken an der Wand nach seiner Jacke ab. Sie war nirgends zu sehen.
«Deine Jacke ist hier», sagte eine tiefe Stimme aus der Küche. Sebastian kniff die Augen zusammen und fluchte still vor sich hin. Genau so war es. Er hatte an der Haustür die Schuhe ausgezogen, nicht aber die Jacke. Hatte den Eindruck vermitteln wollen, ein wenig auf dem Sprung zu sein, ganz so, als hätte er vielleicht nicht genügend Zeit, um zu bleiben, obwohl sie beide wussten, dass es genau darauf hinauslief. Erst in der Küche dann hatte er die Jacke abgestreift, während sie eine Flasche Wein für sich öffnete.
Sebastian seufzte schwer und stapfte in die Küche. Am Tisch saß ein junger Mann, schätzungsweise zwanzig, mit einem Teller Joghurt und einem eReader vor sich. Er deutete mit dem Kopf auf den Stuhl an der anderen Seite des Tischs, ohne von seiner Lektüre aufzusehen.
«Da drüben.»
Sebastian ging hin und nahm die Jacke von der Lehne.
«Danke.»
«Keine Ursache. Willst du was essen?»
«Nein danke.»
«Und, alles gekriegt, wofür du gekommen bist?»
Der junge Mann konzentrierte sich noch immer auf das Gerät vor ihm auf dem Tisch. Sebastian blickte zu ihm hinüber. Wahrscheinlich wäre es am einfachsten gewesen, den Kommentar zu überhören und einfach zu gehen, aber warum sollte er es sich leichtmachen?
«Hast du einen Kaffee für mich?», fragte Sebastian, während er sich in die Jacke zwängte. Wenn Gunillas Sohn ihn nicht hierhaben wollte, blieb er gern noch ein Weilchen. Ihn kostete es jedenfalls nichts. Verwundert sah der Jüngling von seiner Lektüre auf.
«Neben der Spüle», sagte er mit einer erneuten Kopfbewegung in Sebastians Richtung, die ihn vermuten ließ, dass der Kaffee hinter ihm stand. Er drehte sich um, sah aber weder eine Kaffee- noch eine Thermoskanne oder was auch immer er erwartet hatte. Dann erblickte er ein schwarzes, halbkreisförmiges Ungetüm, das eher an einen futuristischen Motorradhelm erinnerte. Aber es ragte ein kleiner Metallhahn daraus hervor, unter dem ein Auffanggitter angebracht war, und an der Seite gab es Knöpfe. Oben noch mehr Metall. Daneben standen drei kleine Glastassen, die Sebastian endgültig davon überzeugten, dass die Maschine wohl irgendeine Form von Getränk ausspuckte.
«Weißt du, wie sie funktioniert?», fragte der Sohn, als Sebastian keine Anstalten machte, sich dem Gerät zu nähern.
«Nein.»
Jocke schob den Stuhl zurück und ging an Sebastian vorbei zur Arbeitsfläche.
«Was möchtest du denn haben?»
«Irgendwas Starkes. War spät gestern.»
Jocke warf ihm nur einen müden Blick zu, nahm eine Kapsel aus einem Gestell neben der Maschine, das Sebastian noch gar nicht bemerkt hatte, legte sie in die Maschine, stellte eine der Glastassen auf das Gitter und drückte einen Knopf.
«Aha. Und wer bist du, wenn ich fragen darf?», brummte er mit einem desinteressierten Blick in Sebastians Richtung.
«Dein neuer Papa.»
«Cool. Humor. Sie sollte dich behalten …»
Dann drehte er sich um und setzte sich wieder an den Tisch. Sebastian dämmerte, dass Joakim schon zu viele Vormittage mit zu vielen unbekannten Männern in seiner Küche erlebt hatte. Schweigend nahm er das Tässchen vom Gitter. Der Kaffee war wirklich stark. Und heiß. Er verbrannte sich die Zunge, leerte die Tasse aber dennoch unter Schweigen.
Zwei Minuten später war er draußen im grauen Septembermorgen.
Auf der Straße angekommen, musste er sich zunächst kurz orientieren, ehe er wusste, wie er am schnellsten nach Hause kam. Zu der Wohnung in der Grev Magnigatan.
Zu Ellinor Bergkvist. Seiner Untermieterin, oder als was auch immer er sie bezeichnen sollte. Wie sie dazu geworden war und wieso sie ausgerechnet bei ihm gelandet war – all das war Sebastian noch immer ein Rätsel.
Sie hatten sich zu der Zeit kennengelernt, als Hinde begonnen hatte, Sebastians Sexpartnerinnen zu ermorden, woraufhin er zu Ellinor gefahren war, um sie zu warnen. Das hatte schließlich dazu geführt, dass sie bei ihm einzog. Er hätte sie schon damals sofort vor die Tür setzen müssen. Aber sie war immer noch da.
Sebastian hatte viel Zeit damit verbracht, über seine Beziehung zu Ellinor zu grübeln. Manche Dinge wusste er mit Sicherheit.
Er liebte sie definitiv nicht.
Mochte er sie? Nein, nicht einmal das. Aber er hatte in gewisser Weise zu schätzen gelernt, was sie mit seinem Leben angestellt hatte, seit sie sein ungebetener Gast geworden war. Sie verlieh seinem Dasein eine Form der Normalität. Gegen alle Widerstände erwischte Sebastian sich dabei, wie er sich in ihrer Gesellschaft wohl fühlte. Sie kochten gemeinsam. Lagen im Bett und sahen fern. Schliefen miteinander. Oft. Sie pfiff fröhlich vor sich hin, sie kicherte vergnügt. Wenn er nach Hause kam, sagte sie, dass sie ihn vermisst habe. Am liebsten hätte er sich das nicht eingestanden, denn so sollte es eigentlich nicht sein, nicht mit Ellinor – doch ihre Nähe hatte tatsächlich dafür gesorgt, dass er seine Wohnung zum ersten Mal seit vielen Jahren als eine Art Zuhause betrachtete.
Ein dysfunktionales, aber dennoch ein Zuhause.
Ob er sie ausnutzte? Unbestritten. Eigentlich scherte er sich einen feuchten Kehricht um sie. Alles, was sie plapperte, ging bei ihm zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus. Sie war wie eine Geräuschkulisse. Aber während seiner Reha-Zeit war sie ihm tatsächlich eine unentbehrliche Hilfe gewesen. Wenn er ehrlich war, wusste er nicht, wie er die Wochen seiner Lungenentzündung ohne sie durchgestanden hätte. Sie hatte sich von ihrer Arbeit im Kaufhaus freigenommen und war nicht von seiner Seite gewichen. Doch so dankbar er auch war, das allein reichte nicht.
Ellinor war eine Haushaltshilfe, mit der er auch Sex hatte, sie war aufopferungsvoll bis zur Selbstaufgabe, grenzenlos in ihrer Bewunderung und nicht ganz normal im Kopf. Und obwohl sein Leben durch sie in jeglicher Hinsicht einfacher und bequemer geworden war, würde er es auf Dauer nicht mit ihr aushalten. Die Alltäglichkeit und Gewöhnlichkeit, die sie mitgebracht hatte, war nur eine Chimäre. Ein Konstrukt, das er eine Zeitlang geschätzt, ja sogar gestützt hatte, jetzt aber nicht länger aufrechterhalten konnte.
Er war wieder gesund, er hatte vorsichtig begonnen, sich Vanja anzunähern, er hatte aller Voraussicht nach wieder einen Job. Alles in allem der Beginn von etwas, das ein neues Leben werden konnte.
Er brauchte Ellinor nicht länger.
Sie musste weg.
Aber sie loszuwerden würde alles andere als einfach, das wusste er.
Shibeka Khan wartete. Wie üblich. Sie saß am Küchenfenster im dritten Stock des heruntergekommenen Hochhauses in Rinkeby. Draußen färbte sich das Laub der Bäume allmählich gelb und rot, auf den freien Flächen zwischen den Blöcken lärmten Kinder. Shibeka wusste nicht mehr genau, wie viele Jahre sie schon hier saß und den Kindern beim Spielen zusah. Dieselben Fenster, dieselbe Wohnung, neue Kinder. Außerhalb dieser vier Wände verging die Zeit so schnell. Und drinnen schien sie stehengeblieben zu sein.
Sie genoss die Stunden, nachdem die Kinder zur Schule aufgebrochen waren und bevor der Tag richtig begann. Sie war sehr aktiv, hatte viele Freunde, arbeitete als Pflegehelferin, besuchte einen Fortgeschrittenenkurs in Schwedisch und machte seit letztem Jahr eine Ausbildung zur Krankenschwester. Doch an jenen Tagen, an denen sie morgens freihatte, saß sie am Fenster und beobachtete das Leben dort draußen. Es war gewissermaßen ihr anderes Leben. Eine Zeit, in der sie Hamid ihre Liebe und ihren Respekt erwies.
Wenn sie zurückrechnete, würde sie sich wieder genau daran erinnern, seit wie vielen Jahren sie hier schon saß, das wusste sie. Aber in diesem Moment brachte sie es nicht über sich. Sie ertrug es nicht, sich zu erinnern. Ihre Jungen waren das deutlichste Zeichen für die verronnene Zeit. Mehran ging schon in die neunte Klasse. Eyer mühte sich in der siebten ab, ihm fiel das Lernen nicht so leicht wie seinem großen Bruder. Als Hamid verschwand, war Eyer vier gewesen und Mehran gerade sechs geworden. Shibeka erinnerte sich noch, wie ihr Ältester gestrahlt hatte, als sein Vater ihm seinen ersten Schulranzen schenkte – schwarz mit zwei blauen Streifen –, den Mehran zum Schulbeginn im Herbst tragen sollte. Seine dunklen, fröhlichen Augen, die vor Stolz glänzten, weil er jetzt groß war. Die Umarmung von Vater und Sohn. Eine Woche später war Hamid weg gewesen. Wie vom Erdboden verschluckt. Es war ein Donnerstag. Ein Donnerstag vor sehr langer Zeit.
Merkwürdigerweise hatte sie fast das Gefühl, ihn mit jedem Jahr mehr zu vermissen. Nicht auf dieselbe, intensive Weise, wie sie es anfangs getan hatte, sondern … irgendwie trauriger, schmerzvoller.
Plötzlich wurde Shibeka wütend auf sich selbst. Jetzt war sie wieder an demselben Punkt angelangt in ihren Erinnerungen. Die sie kaum aushielt. Aber ihren Gedanken war es egal, was sie wollte. Leichtfüßig glitten sie an Shibekas Kontrollversuchen vorbei und fanden immer einen neuen Weg zurück in die Vergangenheit. Zu den Freunden, die ihr damals bei der Suche halfen. Zu den Fragen und der Verzweiflung der Kinder. Zu Hamids bestem Anzug, den sie von der Reinigung abgeholt hatte und der seither vergebens auf ihn wartete. Es war ein Karussell aus Bildern und Augenblicken. Getrieben von der Hoffnung, die Gedanken könnten etwas preisgeben, was sie übersehen hatte, etwas, das alles erklären würde. Aber sie wurde stets aufs Neue enttäuscht. Jedes Detail hatte sie schon tausendmal durchdacht, jedes Gesicht war ihr bekannt. Es war sinnlos.
Um diesem ewigen Kreislauf zu entrinnen, musste Shibeka an etwas anderes denken. Es war Freitag, und sie wusste, dass er bald kommen würde. Anschließend würde er zwei Tage nicht mehr auftauchen. Eigentlich glaubte sie nicht mehr daran, dass sie eine Antwort erhalten würde, aber sie weigerte sich aufzugeben, und hatte ihnen weiterhin geschrieben. Ihr Schwedisch verbessert, an ihrer Handschrift gearbeitet und sich die bürokratische Sprache angeeignet. Inzwischen war sie so versiert darin, an die Behörden zu schreiben, dass viele ihrer Freunde sie um Hilfe baten.
Dann sah sie ihn. Den Briefträger. Wie immer radelte er den Fußweg entlang und begann seine Runde bei Aufgang 2, fuhr dann zu 4 und 6, bis er schließlich die 8 erreichte. Ihre Hausnummer.
Sie wartete so lange, bis sie ihn aus der Nummer 6 gehen sah, ehe sie langsam aufstand und in den Flur trat. Sie versuchte, so leise wie möglich zu sein, nicht weil es nötig war, sondern weil sie sich einbildete, dass die Stille ihre Chancen in irgendeiner Weise erhöhte.
Bisher hatte es nicht viel geholfen.
Sie stellte sich an die Tür und lauschte. Nach einer Weile hörte sie das träge, metallische Klicken der Haustür, die dort unten aufgezogen wurde. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie er zum Aufzug ging und den Knopf drückte. Er fuhr immer erst ganz hinauf, um sich anschließend Stockwerk für Stockwerk nach unten zu arbeiten. Das war seine Routine. Ihre bestand darin, im Flur zu stehen, ohne einen Mucks von sich zu geben.
Sie drückte sich gegen die Tür und lauschte. Zwei Arten von Geräuschen. Zum einen draußen, in weiter Ferne, zum anderen ihr eigener Atem und das Surren des Kühlschranks in der Küche. Zwei verschiedene Welten, voneinander getrennt durch die Tür und einen stählernen Briefschlitz. Jetzt näherten sich Schritte, und sie presste sich noch dichter an die Tür. Dies war ein geradezu heiliger Moment für sie.
Entweder, es war Allahs Wille oder nicht.
So einfach war das.
Mit einem für Shibeka fast ohrenbetäubenden Schlag wurde die Klappe des Briefschlitzes nach innen gedrückt, und eine Reihe bunter Werbekataloge fiel vor ihr auf den Boden. Die Geräusche und die Welt dort draußen verschwanden, als Shibeka sich konzentriert über den Haufen beugte, der nun auf dem Teppich im Flur lag. Unter dem Wochenangebot des Supermarkts lag ein weißer Umschlag.
Vom Schwedischen Fernsehen.
Diesmal war es Allahs Wille gewesen.
Es war nicht ihre Schuld.
Oder doch, eigentlich schon, aber es war ein Irrtum gewesen. Jeder konnte sich ja wohl mal irren. Marias Wut war nicht angemessen. Natürlich war sie müde, aber wer war das nicht? Und Karin hatte diesen Umweg schließlich nicht absichtlich verursacht.
Es war ein Irrtum.
Und das, obwohl noch vor wenigen Stunden alles so schön gewesen war. Trotz des Regens.
Im Juli war Maria fünfzig geworden, und Karin hatte ihr eine Fjäll-Wanderung geschenkt. Auf dem sogenannten Jämtlands-Dreieck, das die Bergstationen Storulvån, Blåhammaren und Sylarna miteinander verband.
Ihrer Meinung nach sorgte schon das dafür, dass die Reise luxuriöser wirkte, als sie es eigentlich war. Die Namen klangen wie exotische Orte. Eine Gebirgstour, aber mit einfachen Wanderungen; so hatte sie es sich vorgestellt. Keine Strapazen. Kurze, leicht zu bewältigende Tagestouren und im Anschluss eine Dusche, Sauna, Essen und Wein, wenn man an der jeweiligen Fjäll-Station ankam. Karin war vor vielen Jahren schon einmal da gewesen und hatte diese Mischung als genau richtig empfunden. Ein stärkendes Naturerlebnis, aber auch ein bisschen Luxus.
Genügend Zeit, um miteinander zu reden.
Es war ein schönes Geschenk. Und ein teures. Inklusive Anreise, vier Übernachtungen und Abendessen für sie beide lagen die Kosten im fünfstelligen Bereich, aber das war Maria ihr wert. Sie war seit vielen Jahren Karins beste Freundin und immer für sie da, auch in Zeiten, in denen andere sich zurückgezogen hatten. Als sie an Brustkrebs erkrankte, sich scheiden ließ, ihre Mutter starb. Sie hatten schon einiges miteinander durchgemacht. Natürlich hatten sie auch viel Schönes erlebt, aber im Fjäll waren sie noch nie zusammen gewandert. Überhaupt war Maria noch nie nördlicher gekommen als bis Karlstad. Also wurde es höchste Zeit.
Karin hatte das letzte Wochenende gewählt, an dem die Fjäll-Stationen noch geöffnet hatten. So entgingen sie dem relativ großen Trubel im Sommer, und außerdem sollte Maria auch ein wenig Zeit für die Planung haben und sich rechtzeitig freinehmen können. Gleichzeitig hatte Karin gehofft, der Herbst wäre bis dahin schon so weit fortgeschritten, dass sie einen hohen, klaren Himmel und eine farbenfrohe Natur erleben würden und das Gebirge sich für ihre geliebte Freundin von seiner allerbesten Seite zeigte.
Mit der Möglichkeit, dass es seit ihrer Ankunft in Enafors ununterbrochen in Strömen gießen würde, hatte sie zu keiner Zeit gerechnet.
Doch genau so war es.
«Nächste Woche soll es besser werden, sagen sie», antwortete der Busfahrer, der sie vom Bahnhof zur Station Storulvån brachte, auf ihre Frage nach dem Wetter.
«Soll es etwa das ganze Wochenende über regnen?», fragte Maria mit einer leichten Resignation in der Stimme.
«Ja, das sagen sie», bestätigte der Busfahrer nickend.
«Hier im Fjäll kann sich das schnell ändern», meinte Karin aufmunternd, als sie in den Bus stiegen. «Es wird bestimmt schön, warte mal ab.»
Und es fing auch richtig schön an. Sie erreichten die Bergstation, bezogen ihr Zimmer, das einfach, aber gemütlich war, machten einen Spaziergang in der näheren Umgebung und anschließend einen kleinen Mittagsschlaf, gingen in die Sauna und badeten in einer Kaltwasserquelle, und am Abend aßen sie gut im Restaurant der Station. Sie gönnten sich einen Wein zum Essen und einen Likör zum Kaffee.
Heute waren sie um sieben Uhr morgens aufgestanden. Nach dem Frühstück hatten sie sich Proviant für die Wanderung eingepackt und eine Thermoskanne mit Kaffee. Um kurz vor halb neun waren sie unterwegs. Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet, doch das störte sie nicht weiter, beide trugen ordentliche Regenkleidung und Stiefel und hatten warme Sachen zum Wechseln mitgenommen.
Sie überquerten den Storulvån und begannen, durch das grüne Tal zu wandern, das nach der Karte im Hotel Parken hieß. Sie ließen es gemächlich angehen. Schwatzten, blieben stehen, um Fotos zu machen oder einfach nur, um die Umgebung zu genießen. Sie hatten keine Eile. Zwischen der Station Storulvån und dem nächsten Halt Blåhammaren lagen nur zwölf Kilometer. Nach drei Kilometern verließen sie den Birkenwald und setzten ihren Weg auf einem Bergplateau bis zum Unterstand von Ulvåtjärn fort. Als sie dort ankamen, hatten sie beinahe vergessen, dass es immer noch regnete. Sie sahen, dass es nach ihrer Rast ein langes Stück bergauf gehen würde, und nahmen sich viel Zeit, um ihren Proviant zu essen und Kaffee zu trinken. Sie waren sich einig, dass sie Jahre später lachend an dieses geradezu absurd schlechte Wetter zurückdenken würden. Vermutlich viel, viel später, aber eines Tages …
Nach der Kaffeepause wanderten sie weiter, mal schweigend, mal eifrig redend. Nach einer weiteren Stunde erblickten sie die Fjäll-Station Blåhammaren weit oben auf dem Gebirgskamm. Sie beschlossen, dass die Dusche und die Sauna nun höchste Priorität hatten. Mit neuen Kräften stapften sie weiter oberhalb der Baumgrenze über das karge und ziemlich matschige Gebirge.
Als sie nur noch wenige Kilometer vor sich hatten, nahmen sie ihre Campingbecher und tranken an einem Hang aus einem rauschenden Bach. Später konnte Karin sich nicht mehr erinnern, warum sie die Plastikhülle mit der Buchungsbestätigung eigentlich aus dem Rucksack genommen hatte. Sie hatte ihn geöffnet, um die Tüte mit dem Studentenfutter herauszuholen, und dabei aus irgendeinem Grund einen Blick in ihre Papiere geworfen.
Erst konnte sie nicht fassen, was sie sah. Ganz und gar nicht. Sie blickte erneut auf das Blatt, begriff, was passiert war, und ließ die Hülle wieder in den Rucksack gleiten, während sie grübelte, wie sie Maria am besten von ihrer Entdeckung erzählte. Es gab einfach keine gute Erklärung, nicht einmal eine schlechte. Blieb also nur die Wahrheit.
«Verdammter Mist», presste sie hervor, um deutlich zu machen, dass sie selbst auch nicht unberührt war von dem, was sie gerade festgestellt hatte.
«Was ist denn?», fragte Maria, den Mund voller Cashewkerne. «Wenn du was vergessen hast, musst du allein zurückgehen. Ich sitze in Gedanken schon mit einem Bier in der Sauna.»
«Nein, ich habe mir nur gerade noch mal die Buchung angesehen …»
«Und?» Maria tauchte ihre gelbe Plastiktasse ins Wasser, trank einen letzten Schluck und kippte den Rest weg.
«Wir … sind leider ein bisschen falsch gelaufen.»
«Wieso, die Station liegt doch da oben. Haben wir unterwegs was verpasst?»
Maria befestigte ihre Tasse am Rucksack und machte sich für den Aufbruch bereit. Karin nahm sich zusammen.
«Ja, Blåhammaren liegt da oben. Wir müssen aber heute nach Sylarna.»
Maria blieb stehen und sah sie verständnislos an.
«Aber du hast doch die ganze Zeit von Blåhammaren geredet. Von Storulvån nach Blåhammaren und dann nach Sylarna. Das hast du die ganze Zeit gesagt.»
«Ja, ich weiß, das hatte ich auch die ganze Zeit so im Kopf, aber in meinem Ausdruck steht, dass wir heute Abend in Sylarna reserviert haben und erst morgen in Blåhammaren.»
Maria war immer noch fassungslos. Nicht jetzt. Nicht, wo sie schon so kurz davor waren. Karin machte einen Scherz. Anders konnte es gar nicht sein.
«Entschuldige!»
Als Maria Karins Blick sah, begriff sie sofort, dass ihre Freundin nicht scherzte. Aber vielleicht war es gar nicht so schlimm? Sie waren ein Stück in die falsche Richtung gelaufen. Hoffentlich mussten sie nur ein paar Kilometer zurückwandern.
«Wie weit ist es denn von hier bis Sylarna?»
Karin zögerte. Sie hörte Marias Stimme an, dass sie gereizt war. Aber jetzt «eine kurze Strecke» oder «nicht weit» zu antworten, wäre keine Lösung. Wieder blieb nur die Wahrheit.
«Neunzehn Kilometer.»
«Neunzehn Kilometer! Machst du Witze?»
«Zwischen Blåhammaren und Sylarna sind es neunzehn Kilometer. Aber wir sind ja noch nicht ganz da, also wahrscheinlich achtzehn. Vielleicht auch nur siebzehn.»
«Das sind ja noch mindestens vier Stunden!»
«Es tut mir leid.»
«Wie lange ist es hell?»
«Ich weiß es nicht.»
«So ein Mist! Das geht doch nicht! Aber können wir nicht heute Nacht trotzdem hierbleiben und erst morgen nach Sylarna wandern? Wir buchen um. Das muss doch wohl möglich sein?»
Für einen Augenblick verspürte Karin eine große Erleichterung. Natürlich. Das war die Idee. Die kluge Maria. Mit der Gewissheit, dass die Lösung des Problems kurz bevorstand, holte sie erneut die Buchungsbestätigung aus dem Rucksack, außerdem ihr Handy.
Wie sich herausstellte, war eine Umbuchung jedoch nicht möglich. Alle Betten waren bereits belegt, denn das letzte Wochenende in der Saison war besonders beliebt. Wenn sie eine Luftmatratze oder eine Isomatte dabeihätten, könnten sie draußen im Schuppen schlafen. Und nach 21.30 Uhr wären noch zwei Plätze im Restaurant frei. Karin und Maria wägten die Alternativen ab, doch dann sagte Maria ruppig, dass sie keine Lust habe, in irgendeinem beschissenen Schuppen zu schlafen, zog ihren Rucksack wieder auf die Schultern und marschierte los.
Anfangs wollte Maria nicht mehr mit Karin sprechen, dann konnte sie es anscheinend nicht mehr. Obwohl es weiter regnete und ihnen der Gegenwind ins Gesicht peitschte, hatte Marias Teint einen grauweißen Ton angenommen, und ihre Haut hing schlaff nach unten, als hätten alle Gesichtsmuskeln auf einmal versagt. Sie schien völlig am Ende und reagierte kaum noch auf Ansprache. Karin versuchte, bei Laune zu bleiben, doch auch ihr fiel es zunehmend schwer.
Es war nicht ihre Schuld.
Oder doch, eigentlich schon, aber es war ein Irrtum gewesen.
«Warte, lass uns eine kleine Pause machen», schlug Karin vor, nachdem sie weitere eineinhalb Stunden gelaufen waren.
«Das hat doch keinen Sinn, verdammt noch mal. Es ist ja wohl besser, wenn wir weitergehen, damit wir irgendwann auch ankommen.»
«Nimm ein paar Nüsse, tank ein bisschen Energie. Ich muss meine Wasserflasche auffüllen.»
Karin machte eine Kopfbewegung zu dem Wasserlauf hinüber, der einige Meter unterhalb der Ebene verlief, auf der sie gerade gingen.
«Da kommst du doch gar nicht runter.»
«Doch, klar.»
Karin klang überzeugter, als sie in Wirklichkeit war, um positiv zu wirken und nicht in Marias Gemecker einzustimmen. Während sie ein paar Schritte auf die Böschung zuging, hoffte sie, dass die Freundin nach einem schönen Essen und einer ruhigen Nacht wieder besser gestimmt und der Urlaub nicht ganz im Eimer wäre.
Maria hatte recht, es würde nicht leicht sein, nach unten zu gelangen, der Hang war ziemlich steil. Es war schwer, aber nicht unmöglich.
Als Karin sich noch weiter vorwagte, brach der Boden unter ihren Füßen weg. Sie stürzte hinab, schrie auf und suchte verzweifelt nach Halt. Ihre linke Hand bekam auf dem Weg nach unten etwas zu fassen, das jedoch abriss, und so rollte sie zusammen mit Erde, Lehm und Steinen den Abhang hinab. Sie stieß sich das rechte Knie und dachte gerade noch, dass auch das sie nicht daran hindern würde, bis Sylarna zu kommen, ehe sie einige Meter von dem rauschenden Fluss entfernt liegen blieb. Vereinzelte Steinchen rollten ihr nach, bis auch sie im Matsch zum Liegen kamen.
«Herrgott! Ist alles in Ordnung mit dir?! Bist du verletzt?», hörte sie Marias besorgte Stimme von oben.
Mühsam richtete Karin sich auf und bewegte vorsichtig ihre Glieder. Ihre helle Regenkleidung sah aus, als hätte sie zehn Runden Schlammringen hinter sich, ihr Körper schien jedoch unversehrt. Das Knie schmerzte ein wenig, aber das war alles.
«Alles in Ordnung, nichts passiert!»
«Was hast du denn da für Stöckchen in der Hand?»
Hatte sie etwas in der Hand? Karin schaute hin und schleuderte das Ding dann mit einem erschrockenen Aufschrei von sich.
Eine Hand.
Eine Skeletthand.
Die Stöckchen waren die Unterarmknochen, die am Ellbogen abgerissen waren. Sie sah zu der Böschung hinauf, die sie soeben hinabgerollt war. Einige Meter oberhalb der Stelle, an der Maria stand, ragte der Rest des Armes hervor, daneben lag ein Schädel in den Lehm eingebettet.
Jetzt war Karin sich ziemlich sicher, dass dieser Urlaub im Eimer war.
Ellinor Bergkvist.
Valdemar Lithner seufzte laut. Zum ersten Mal war sie vor etwa zwei Monaten bei ihm aufgetaucht, hatte in seiner Firma angerufen und einen Termin vereinbart. Offenbar hatte sie darauf bestanden, genau ihn zu treffen. Der Anlass ihres Besuches war jedoch ein wenig unklar gewesen, und daran hatte sich auch bei den folgenden Begegnungen mit ihr nicht grundlegend etwas geändert. Es ging um irgendein Geschäft, das sie gründen wollte, und dabei brauchte sie Hilfe. Doch obwohl er sie beraten hatte, so gut er konnte, war nichts passiert. Ellinor schien noch genauso weit von der Gründung eines eigenen Unternehmens entfernt zu sein wie bei ihrem ersten Gespräch. Daher hatte er sich erkundigt, warum sie ausgerechnet zu ihm käme. Er sei ihr von einem Bekannten empfohlen worden, hatte sie geantwortet. Als Valdemar gefragt hatte, wer ihn empfohlen habe, war sie ihm ausgewichen und vage geblieben. Und das nicht zum ersten Mal. Wie sich herausstellte, gab es unzählige Fragen, auf die sie keine richtige Antwort wusste. Beispielsweise, was für eine Firma sie eigentlich gründen wollte.
Doch heute würden sie sich zum letzten Mal sehen, und danach würde er Ellinor Bergkvist für immer vergessen. Auf dem Weg zur Tür stemmte er die Hände gegen seinen schmerzenden Rücken und streckte sich, so gut es ging. Er öffnete die Tür zu der kleinen Rezeption. Als sie ihn sah, sprang sie eifrig von dem schwarzen Sofa auf.
«Hallo, Frau Bergkvist. Kommen Sie herein.»
«Danke.»
Sie lächelte ihn an, als sie sich die Hand gaben. Er bat sie in sein Büro, und sie zog ihren roten Mantel aus, ehe sie sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs setzte und ihre große Handtasche auf den Schoß nahm.
«Ich habe die Formulare dabei, die Sie mir gegeben haben …», begann sie und wühlte in ihrer Tasche.
«Frau Bergkvist», fiel Valdemar ihr ins Wort, und etwas an seinem Tonfall brachte sie dazu, sofort innezuhalten und aufzusehen. «Ich glaube nicht, dass Sie weiterhin bei uns Kundin sein sollten.»
Ellinor erstarrte. Hatte er Verdacht geschöpft? Hatte sie einen Fehler begangen? War er irgendwie darauf gekommen, dass sie keinesfalls hier war, um sich beraten zu lassen, sondern um … tja, warum war sie eigentlich da? Sie hatte lediglich sehen wollen, wer er war. Was er war. Es war aufregend gewesen, dort zu sitzen, einem Verbrecher gegenüber, der ihren Mann bedroht hatte, in Wirtschaftskriminalität verwickelt war und vielleicht sogar in einen Mord.
Als sie bei ihrem geliebten Sebastian eingezogen war, hatte sie durch Zufall eine Plastiktüte mit Papieren gefunden. Sebastian war daraufhin sehr nervös geworden und hatte sie gebeten, die Dokumente wegzuwerfen. Ja, sie zu vernichten.
Was sie nicht getan hatte.
Sie hatte sie gelesen. Gelesen, einen Namen wiedererkannt – Daktea Invest – und verstanden, dass Valdemar Lithner definitiv kriminell war. Niemand, der in den verworrenen Fall um Daktea involviert war, über den die Zeitungen vor einigen Jahren ausführlich berichtet hatten, konnte unschuldig sein. Davon war Ellinor überzeugt.
Einmal, als Sebastian mit Lungenentzündung zu Hause im Bett gelegen hatte, hatte sie sich nach Valdemar erkundigt. Nur gefragt, wer er war, nichts weiter. Sebastian war außer sich gewesen. Hatte nachgebohrt, wo sie den Namen gehört hatte, was sie wusste. Sie hatte die Wahrheit gesagt, dass sie einen Blick in die Tüte geworfen hatte, die zu entsorgen er sie gebeten hatte. Und anschließend lügen müssen.
Auf seine Folgefrage. Gesagt, dass sie die Tüte in den Müll geworfen habe.
Gleichzeitig war sie froh gewesen, denn Sebastians heftige Reaktion hatte ihr bestätigt, dass sie auf der richtigen Spur war. Sebastian schien Angst vor diesem Lithner zu haben. Also half sie Sebastian wirklich, wenn sie auf eigene Faust Nachforschungen über Lithner anstellte, um ihn so zu überführen. Aber jetzt schien die Detektivarbeit offenbar ein Ende zu haben.
«Warum sollte ich denn nicht Ihre Kundin sein?», fragte Ellinor und rutschte ein wenig auf ihrem Stuhl vor, zur Flucht bereit, falls Valdemar gewalttätig würde.
«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann. Wir sehen uns nun schon zum vierten Mal, und Sie haben Ihre Firma noch nicht einmal gegründet!»
«Mir sind ein paar Sachen dazwischengekommen …»
«Wissen Sie, was ich vorschlagen würde? Sie gründen Ihre Firma, und wenn Sie so weit sind und alle Formalitäten erledigt haben, kommen Sie wieder, und wir sehen, was wir für Sie tun können.»
Zu seiner großen Verwunderung nickte Ellinor und stand auf.
«Ja, das ist vielleicht das Beste.»
Valdemar erhob sich ebenfalls. Aus irgendeinem Grund hatte er mit einem größeren Widerstand gerechnet. Immerhin hatte sie mehr als sechs Stunden in seinem Büro verbracht, dafür gezahlt und keinen Nutzen daraus gezogen. Er hatte erwartet, dass sie sich noch ein wenig festbeißen würde. Warum, wusste er nicht genau, irgendwie hätte es zu ihr gepasst.
Doch jetzt beobachtete er, wie sie ihren Mantel von der Stuhllehne nahm und auf die Tür zusteuerte.
«Vielen Dank jedenfalls. Es war trotzdem sehr aufschlussreich», sagte sie und drückte die Klinke.
«Danke, freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.»
Ellinor lächelte ihm noch einmal zu, ging hinaus und schloss die Tür. An der Rezeption zog sie ihren Mantel über und dachte fieberhaft nach. Hatte er sie durchschaut?
Sie atmete tief durch. Beruhigte sich und unterzog die Situation einer nüchternen Betrachtung. Sie war immer noch unter ihrer alten Adresse gemeldet, eine Verbindung zwischen Sebastian und ihr ließ sich also nicht herstellen, es sei denn, Lithner hatte sie beschattet. Aber das schien eher unwahrscheinlich. Es stimmte wohl, was er sagte – er hatte das Gefühl, ihr nicht helfen zu können. Und nun kam sie nicht weiter. Es war an der Zeit, dass ein Profi den Fall übernahm. Sebastian brauchte nie zu erfahren, dass sie für Valdemar Lithners Verschwinden gesorgt haben würde. Es wäre ihr heimliches Geschenk an ihn. Ihr Liebesbeweis.
Und anschließend sollte nichts mehr ihre Liebe in Gefahr bringen.
Shibeka ging in der Wohnung auf und ab. Sie war freudig erregt, aber gleichzeitig hatte sie so lange auf dieses Ereignis gewartet, dass es sie jetzt, wo es endlich eingetroffen war, geradezu ängstigte. Sie setzte sich und betrachtete erneut den Brief, den sie vorsichtig auf dem Tisch abgelegt hatte. Der Text füllte nicht einmal die Hälfte der Seite. Wie merkwürdig, dass etwas so Wichtiges so kurz sein konnte.
Hallo, Frau Khan,
vielen Dank für Ihren Brief. Bitte entschuldigen Sie meine späte Antwort. Wir haben uns in der Redaktion mit den Informationen beschäftigt, die Sie uns gegeben haben, und würden gern mit Ihnen in Kontakt treten.
Am besten wäre ein unverbindliches Treffen, damit wir die Möglichkeit haben, Ihre Geschichte besser einzuschätzen und zu überlegen, wie wir dem Verschwinden Ihres Mannes nachgehen könnten.
Bitte melden Sie sich noch einmal bei mir.
Mit freundlichen Grüßen
Lennart Stridh
Reporter
Redaktion Nachgeforscht
Weiter unten standen eine Adresse und mehrere Telefonnummern, vermutlich die Durchwahlen der Redaktion. Behutsam legte sie den Brief wieder auf den Tisch. Ob sie ihren Söhnen davon erzählen sollte? Besser nicht. Sie war es bereits gewohnt, dass die Hoffnung aufflammte und wieder erlosch, weil sie es in den letzten Jahren schon so oft erlebt hatte. Doch ihre Kinder brauchten Schutz. Es war schmerzlich genug für sie, ohne den Vater aufzuwachsen. Dennoch war sie unsicher. Würde sie das tatsächlich allein bewältigen können? Sie las den Brief erneut, als könnte er ihr die Frage beantworten, aber er warf nur noch mehr Fragen auf. Was bedeutete «unverbindlich»? War es nur eine Floskel dafür, keine Verantwortung übernehmen zu wollen? Wie wollte die Redaktion ihre Geschichte beurteilen? Sie war wahr, aber würde das reichen? Sollte sie sich wirklich allein mit diesem Mann treffen? Ihren Verwandten und Bekannten würde das nicht gefallen. Womit sie ja auch recht hatten. Andererseits wollte sie keinen von ihnen mitnehmen. Sie würden sie nur hemmen, an ihrer Stelle das Wort ergreifen und dafür sorgen, dass sie stumm blieb. Und dann wäre alles vergebens gewesen. Das wollte sie nicht. Sie wollte mit ihrer eigenen Stimme erzählen, vom Anfang bis zum Ende. Ihre Freunde wussten bereits, wie sie kämpfte und nie aufgab. Aber würden sie wirklich verstehen, dass sich Frauen in Schweden allein mit einem Mann treffen konnten, ohne Anstandswauwau? Sie bezweifelte es.
Also durfte es niemand erfahren. Sie ging in den Flur und setzte sich neben das schwarze, drahtlose Telefon. Es stand auf einem Beistelltisch, und sie musste daran denken, wie Hamid und sie es gekauft hatten. Ein Telefon, erstanden in dem großen Kaufhaus, das mittlerweile Bromma Blocks hieß und so viele unterschiedliche Elektrogeräte im Angebot hatte, dass sie es erst gar nicht glauben konnten. Fernseher, eine ganze Wand voll mit bewegten Bildern. Reihe um Reihe, darunter Kartons, die alles enthielten, vom Kopfhörer bis zum DVD-Spieler. Hamid und sie hatten sich angesehen und nur darüber gelacht, dass sie beide, die glaubten, inzwischen zu Geld gekommen zu sein, offenbar doch so wenig besaßen.
Sie hatten ein Telefon gekauft und den billigsten Fernseher, den sie finden konnten. Said hatte sie mit den neuen Errungenschaften nach Hause gefahren. Sie erinnerte sich noch, wie sie auf der Rückbank gesessen und voll Vorfreude die weiße Verpackung mit dem Bild des Telefons befingert hatte. Es kaum hatte abwarten können, sie zu öffnen. Das Gerät in der Hand zu halten.
Viele Abende lang hatten sie versucht, ihre Verwandten und Freunde in Kandahar in Afghanistan zu erreichen. Doch es war immer schwer gewesen. Die Handys der anderen funktionierten nur selten, und wenn man einmal durchkam, konnte die Verbindung jeden Moment wieder unterbrochen werden. Dennoch wurde ihr warm ums Herz, wenn sie an diese Stunden zurückdachte.
Die Verbindung nach Hause.
Die fröhlichen Stimmen im Hintergrund.
Sie hatten dort zusammen gesessen, nah beieinander, Hamid und sie. Sie hatte Tee gekocht, er die unterschiedlichen Telefonnummern gewählt, und gemeinsam hatten sie gehofft. Oft war es ihnen nicht gelungen, jemanden zu erreichen, aber wenn doch, hatten sie beide vor Freude aufgeschrien, und sie hatte sich näher an den Hörer gedrückt, um jedes Wort aus der alten Heimat mitzubekommen. Und er hatte es zugelassen. Dass sie zuhörte. Sie angelächelt. Ihre Hand gestreichelt, während sie still neben ihm gesessen und einfach nur gelauscht hatte.
Hamid. Ihr Mann.
Jetzt nahm sie das Telefon in die Hand und starrte es an. Inzwischen war es nicht mehr oft in Gebrauch. Wenn sie, was selten vorkam, etwas aus ihrer alten Heimat erfuhr, dann meistens bei Freunden, wo sie mit den Frauen in der Küche saß, während die Männer draußen redeten. Aber es war nicht dasselbe. Ganz und gar nicht. Doch sie selbst konnte nicht anrufen, denn die Leute wollten mit einem Mann sprechen, nicht mit ihr. So war es eben.
Sie wählte eine der Nummern aus dem Brief. Eine Handynummer. Die Schweden gingen fast immer an ihr Handy, das wusste sie, also versuchte sie es zuerst dort. Nach dem zweiten Tuten meldete sich eine Männerstimme.
«Ja, Lennart Stridh?»
Zunächst wagte sie es nicht, etwas zu sagen. Sie hatte wohl gehofft, dass er sich nicht melden würde, damit sie sich weiter in Gedanken auf das Gespräch vorbereiten konnte, anstatt es tatsächlich zu führen. Doch der Mann am Handy erwartete eine Antwort.
«Hallo? Hallo, hier ist Lennart!»
Sie fühlte sich gezwungen, zu reagieren, doch ihre Stimme versagte beinahe.
«Hallo, mein Name ist Shibeka Khan, Sie haben mir einen Brief geschickt.»
«Entschuldigung, ich habe Sie nicht richtig verstanden.»
Sie nahm einen neuen Anlauf, denn sonst verlor der Mann wahrscheinlich bald die Geduld mit ihr.
«Einen Brief. Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen. Shibeka Khan ist mein Name.»
Sie hörte, wie seine Neugier geweckt wurde.
«Ja, hallo, wie schön, dass Sie anrufen», sagte er mit neuer Energie in der Stimme. «Wie ich Ihnen ja geschrieben habe, interessieren wir uns für das Verschwinden Ihres Mannes. Ich kann nichts versprechen, aber wir finden, die Sache wäre es wert, näher untersucht zu werden.»
Der Mann redete so schnell, dass sie nicht alles verstand. Aber