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BKA-Hauptkommissar Philipp Gerber ermittelt in einem der skandalumwobensten Kriminalfälle der jungen BRD. Frankfurt am Main, 1957: Die Ermordung der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt hält die BRD in Atem – und bringt den amerikanischen General Hiram Anderson in ernsthafte Schwierigkeiten. Philipp Gerbers früherer Chef gehörte zu deren Liebhabern und wurde zur fraglichen Zeit in der Nähe ihrer Wohnung gesehen. Nicht nur Andersons Tochter, Gerbers Ex-Verlobte June, bittet den BKA-Mann um Hilfe, auch von Adenauer persönlich erhält er den Auftrag, zu ermitteln. Denn General Anderson vermisst seit seinem letzten Besuch bei Rosemarie Nitribitt wichtige Unterlagen: Geheimdokumente über Atomverhandlungen zwischen Adenauer und US-Präsident Eisenhower, die unter keinen Umständen in die falschen Hände gelangen dürfen. Die Meilensteine der deutschen Nachkriegsgeschichte – erzählt als packende Thrillerreihe!
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Ralf Langroth
Historischer Thriller
Thriller
Eine besondere Frau.
Ein skandalträchtiger Mord.
Pikant. Persönlich. Politisch.
Frankfurt am Main, 1957: Die Ermordung der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt hält die BRD in Atem – und bringt den hochrangigen US-General Hiram Anderson in ernsthafte Schwierigkeiten: Der frühere Chef von Hauptkommissar Philipp Gerber gehörte zu deren Liebhabern und wurde zur Tatzeit in der Nähe ihrer Wohnung gesehen.
Nicht nur Andersons Tochter June, Philipps Ex-Verlobte, bittet ihn um Hilfe, auch von Adenauer persönlich erhält der BKA-Mann den Auftrag zu ermitteln. Denn General Anderson vermisst seit seinem letzten Besuch bei Rosemarie Nitribitt wichtige Unterlagen: Geheimdokumente über Atomverhandlungen zwischen Adenauer und US-Präsident Eisenhower, die unter keinen Umständen in die falschen Hände gelangen dürfen.
Ein Fall für BKA-Hauptkommissar Philipp Gerber.
Stimmen zur Philipp-Gerber-Reihe:
«Langroth verpackt wahre Begebenheiten der deutschen Nachkriegsgeschichte in packende Politthriller, denen man seine akribische Recherche anmerkt. So setzt er die fiktive Handlung bis ins Detail überzeugend in Szene und belebt damit eine Zeit, in der Spione eben nicht nur aus der Kälte kommen.» Kulturnews
«Bei der ‹Akte Adenauer› handelt es sich um einen zeithistorischen deutschen Thriller der Extraklasse, der sich vor seiner ausländischen Konkurrenz nicht verstecken muss. (…) Die Figur Gerber hat bereits ihre Fans gefunden.» ntv
«Zeitgeschichtliche Recherche plus Action und als Draufgabe der Fünfziger-Jahre-Sound der neuen deutschen Aufgeräumtheit.» Frankfurter Allgemeine Zeitung
«Ein Katz-und-Maus-Spiel, das durchgehend Spannung erzeugt. (…) Für alle ‹Babylon Berlin›-Fans.» Frankfurter Rundschau online
Ralf Langroth ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors mit Übersetzungen in fünfzehn Sprachen. Mit seinem neuen historischen Thriller verbindet er zwei Leidenschaften: akribische Recherche und erzählerische Hochspannung. In der Reihe um den BKA-Kommissar Philipp Gerber stellt er die Meilensteine der deutschen Nachkriegsgeschichte und ihre bis heute ungeklärten Ereignisse in den Mittelpunkt. Der Autor lebt mit seiner Frau in der Rattenfängerstadt Hameln.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023
Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
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Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg
Coverabbildung Archiv Hahn/Weissberg – ullstein bild
Karte Peter Palm, Berlin
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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ISBN 978-3-644-01512-8
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Lower East Side, New York. Sonntag, 7. Dezember 1941
Das Klopfen war hastig und doch irgendwie zaghaft. Lore. Jeder am Tisch wusste es, und Lieselotte Gerber ließ die Kuchengabel mit einem Stück der selbstgebackenen Schokoladen-Buttercremetorte auf ihren Teller fallen. Ihre Hand zitterte. Lore war fast eine ganze Stunde zu spät. Sie war sechzehn, neun Jahre jünger als Philipp, aber in den Augen der Mutter noch ein Kind. Philipps Mutter war seit jeher ängstlich; seit sie in den Vereinigten Staaten lebten, war es sogar noch schlimmer geworden. Die ganze Familie versuchte, sich an die neuen Verhältnisse anzupassen, doch Lieselotte tat sich schwer. Es lag einfach nicht in ihrem Wesen. Das neue Land war ihr ganz und gar fremd geblieben, und die Fremdheit verstärkte ihre Ängstlichkeit.
Wieder klopfte es, und Philipp schob den Stuhl zurück, um zur Tür zu gehen. Doch sein vier Jahre jüngerer Bruder war schneller, und die beiden roten Kerzen auf dem Adventskranz, die ihre Mutter angezündet hatte, flackerten hektisch, als Alfred davonschoss. Alle sahen ihm nach, und sein sechster Sinn sagte Philipp, dass die Sorge seiner Mutter berechtigt war. Sein Vater trank einen Schluck Kaffee, aber Philipp kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Gelassenheit nur Fassade war. Die steile Falte zwischen Theodor Gerbers Augen verriet seine Anspannung. Niemand sprach ein Wort, und von draußen drang der Straßenlärm der Lower East Side, der auch sonntags keine Ruhe gab, zu ihnen in den zweiten Stock herauf.
Sie hörten, wie Alfred die Tür öffnete, hörten seine Stimme und dann ein heftiges Schluchzen: Lore. Philipp war jetzt auch aufgesprungen und folgte seinem Bruder in das Halbdunkel des Flurs, der durch die Garderobe und den kleinen Schuhschrank noch enger wirkte. Lore stand wie ein Häufchen Elend im Türrahmen, das dunkelblonde Haar zerzaust, das Sonntagskleid in Unordnung, der Stoff schmutzig, an mehreren Stellen zerrissen. Tränen rannen aus ihren Augen, und ihr Blick war seltsam leer. Alfred zog sie herein und schloss die Tür hinter ihr.
Philipp fasste seine Schwester vorsichtig an den Schultern und fragte sanft: «Lore, was hast du? Was ist passiert?»
Sie hatte ihre Freundin besuchen wollen, Grete Meisinger, die mit ihrer Familie zwei Straßen weiter wohnte. Lore schien ihren Bruder gar nicht zu hören und bewegte sich erst, als Alfred sie zu dem alten Ofen schob. Sie hatten ihn mithilfe von Dutch Boersma erst kürzlich mühsam wieder zusammengeflickt, und jetzt verbreitete er eine heimelige Wärme. Trotzdem fröstelte Philipp beim Anblick von Lore, die sich unnatürlich steif bewegte. Als hätte sie jeden Lebenswillen verloren, schoss es ihm durch den Kopf.
Ihre Mutter, bei Lores Anblick kreidebleich geworden, fiel vor ihr auf die Knie und umschlang sie mit den Armen. Es wirkte wie eine übersteigerte Szene aus dem Melodram eines Laientheaters. Alle Bemühungen ihrer Mutter, alle Fragen und alles Bitten, konnten Lore kein Wort entlocken. Sie stand einfach nur da und starrte ins Nichts.
Bis Theodor Gerber aufstand und seiner Tochter eine schallende Ohrfeige gab. Die erstarrte Lore erwachte schluchzend zum Leben und ließ sich in die Arme ihrer Mutter sinken.
«Curt … war es», brachte sie stammelnd und unter Tränen hervor. «Er hat das … das getan.»
«Aber du warst doch bei den Meisingers», erwiderte ihre Mutter. «Bei Grete.»
Sie begriff es nicht, im Gegensatz zu Philipp, und er fragte: «Sprichst du von Curt Hansen?»
«Ja», schluchzte Lore. «Es war Curt.»
Jetzt brach es aus ihr heraus, und sie erzählte alles. Curt war der Sohn des in die Staaten emigrierten Eisenwarenhändlers Gustav Hansen und hatte Lore seit ein paar Wochen Avancen gemacht. An diesem Sonntag hatte sie seinem Drängen nachgegeben, sich ganz allein mit ihm zu treffen. Grete war auf Lores Kosten ins Kino gegangen, hatte ihren Eltern aber erzählt, sie würde zu den Gerbers gehen, um ihre Freundin zu besuchen. Im Lagerschuppen seines Vaters war Curt Hansen über Lore hergefallen und hatte sie vergewaltigt. Lore benutzte dieses Wort nicht, aber ihre Schilderung war eindeutig und so drastisch, dass ihre Mutter ebenfalls zu schluchzen begann.
Alfred ballte die Fäuste. «Dieses Dreckschwein! Wir müssen sofort zur Polizei!»
Lore schrie auf. «Nein, bitte, keine Polizei, Papa! Niemand darf es erfahren, niemand!»
Ihr Vater rang sichtlich mit sich, ging im Raum auf und ab. Schließlich sagte er: «Vielleicht – vielleicht ist es besser so. Ich meine, die deutsche Gemeinschaft hier in der Lower East Side ist klein, und jeder muss sich auf den anderen verlassen können. Aus meiner Zeit als Richter weiß ich leider nur zu gut, welchen Unfrieden eine Anzeige und ein Strafverfahren stiften können. Wenn Curt es abstreitet, wird Lore durch die Hölle gehen.»
Das ist sie schon, dachte Philipp voller Zorn und sagte laut: «Alfred und ich regeln das!»
«Jungs, ich bitte euch, tut nichts Unüberlegtes!»
Doch die mahnenden Worte ihres Vaters prallten an ihnen ab. Sie waren erwachsene Männer und wussten, was sie taten. Zumindest bildete sich Philipp das ein. Er war fünfundzwanzig und stand kurz vor seinem Abschluss in Jura. Alfred hatte sich auf die Naturwissenschaften verlegt, Physik und Chemie, und steckte mitten in seinem Studium. Nicht schlecht für die Söhne eines Immigranten, der mit seiner Familie erst vor zwei Jahren in die USA gekommen war.
Sie streiften die Mäntel über, griffen hastig nach ihren Schals, und kurz darauf standen sie auf der frostklirrenden Straße im Südosten Manhattans, dem eisigen Wind ausgesetzt, der vom East River herüberwehte. Das Hupen der Autos, die Rufe der Straßenhändler, der Lärm der herumtollenden Kinder, das alles nahmen sie kaum wahr. Die Luft war klar, und Philipp atmete tief durch. Er fühlte sich wie auf der Flucht. Geflohen aus der engen Wohnung, vor dem Schmerz der Schwester, der Verzweiflung der Mutter und auch dem stillen Ringen des Vaters um Fassung.
Schweigend eilten sie durch den Nachmittagsverkehr, vorbei an brummenden Autos und dick eingemummelten Menschen. Von vorweihnachtlicher Ruhe und Andacht war in diesem Teil der Stadt nichts zu spüren. Gerber dachte an Curt Hansen, der in seinem Alter war, fast zehn Jahre älter als Lore. Groß und schlank, mit einem etwas zu hübschen Gesicht und dichtem schwarzen Haar, musste er sich nicht anstrengen, um den Frauen zu gefallen. Sein Job als Stellvertreter seines Vaters ergänzte den romantischen Charme, den er überreichlich verströmte, um die Aura des Seriösen. Er wusste das und bildete sich etwas darauf ein, und was ihm dadurch nicht zufiel, das schien er sich einfach zu nehmen.
Die Gedanken seines Bruders gingen wohl in eine ähnliche Richtung, und Alfred sagte unvermittelt: «Wenn ich Curt in die Finger kriege, ist zum letzten Mal ein Mädchen auf sein charmantes Lächeln reingefallen! Sein hübsches Gesicht ist dann Vergangenheit!»
Aber sie bekamen ihn nicht in die Finger. Im Lagerschuppen der Eisenwarenhandlung war er nicht und auch nicht bei seiner Familie.
«Curt ist schon seit Stunden fort», sagte ihnen Gustav Hansen an der Wohnungstür, die jüngste Ausgabe der New Yorker Staats-Zeitung in der Hand, das Leib-und-Magen-Blatt vieler deutschsprachiger Amerikaner. «Ich dachte schon, er wäre bei euch, Jungs.»
Sie sagten Curts Vater nicht, was vorgefallen war. Hätte er ihnen überhaupt geglaubt? Sie setzten ihre Suche fort, klapperten Freunde und Bekannte von Curt ab. Bis sie zu Johnny Boersma kamen, den alle nur Dutch nannten. Der schlaksige Sohn niederländischer Einwanderer hockte auch am Sonntag in seinem zugigen Schuppen und reparierte alles, was er mit etwas Gewinn wiederverkaufen konnte. Der East River war so nah, dass die Sirenen der Ausflugsdampfer manchmal jedes gesprochene Wort verschluckten. Hinzu kam der nicht mehr ganz taufrische Silvertone-Empfänger, von Dutch wieder auf Vordermann gebracht, aus dem ein Song der Andrews Sisters dudelte: Boogie Woogie Bugle Boy.
«Curt? Ja, der war hier. Ist noch keine Stunde her. War ziemlich aufgelöst, der Gute. Faselte etwas davon, zur Armee zu gehen. Dort könne er ganz neu anfangen. Irgend so ’n Zeugs.»
«Hat er gesagt, warum er neu anfangen will?», fragte Philipp.
Überfordert breitete Dutch die Arme aus und stieß versehentlich mit dem klobigen Schraubendreher in der Rechten gegen ein Regal. «Keine Ahnung. Vielleicht hatte er zu tief ins Glas geguckt. Jedenfalls meinte er, die Armee würde jetzt jeden nehmen, ohne groß zu fragen. Dann ist er auch schon wieder weg.»
«Häh?», machte Alfred. «Wieso sollte die Armee das tun?»
«Wegen der Japsen natürlich», brummte Dutch und beugte sich wieder über die rostige Hoover-Waschmaschine.
«Das kapier ich nicht», entgegnete Alfred. «Was ist denn mit den Japsen?»
«Wie du mir, so ich dir», sagte Dutch mitten in das laute Tuut-Tuut eines Dampfers hinein. «Sie greifen uns an, also schlagen wir zurück. Ist doch wohl klar.»
Philipp beugte sich vor, um Dutch besser zu verstehen. «Die Japaner haben uns angegriffen?»
Dutch richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf und betrachtete die beiden Brüder wie die ersten Menschen. «Sagt mal, hört ihr kein Radio? Vor ein paar Stunden, auf Hawaii. Pearl Harbor brennt, und mehrere unserer Kriegsschiffe wurden schwer getroffen. Mensch, Kinder, ich schätze, wir haben Krieg!»
Bonn. Mittwoch, 6. November 1957
Philipp Gerber schlug die Decke weg und wälzte sich auf die andere Seite. Er schwitzte, obwohl es in seinem Schlafzimmer nicht sonderlich warm war. Wie so oft holte ihn die Vergangenheit in seinen Träumen ein, und er sah sie alle deutlich vor sich. Seine Schwester Lore, deren Leben von einem Moment auf den anderen zerstört worden war. Vater und Mutter, die mit Lore in den Vereinigten Staaten lebten und jeder auf seine Weise versuchten, in der neuen Heimat klarzukommen. Sein Bruder Alfred, der im Krieg bei den Marines gedient hatte und seit den Kämpfen auf Okinawa als vermisst galt. Was nach der langen Zeit nichts anderes hieß als tot. Den rotblonden Schlaks Dutch Boersma, den es, vielleicht beeinflusst durch das ständige Tuten der Dampfer vor seinem Schuppen, zur Navy verschlagen hatte und der bei den Kämpfen um Saipan mit seinem Versorgungsschiff untergegangen war. Und Curt Hansen? Ihn hatte Gerber niemals wiedergesehen. Seit dem schicksalhaften Sonntag im Dezember 1941, der die Vereinigten Staaten in den Krieg katapultiert hatte, war der schöne Curt verschwunden. Vermutlich hatte er seinen Plan umgesetzt und war unter falschem Namen Soldat geworden – und womöglich auch unter falschem Namen gefallen.
Draußen war es noch dunkel. Gerber rieb mit einer Hand über seinen verspannten Nacken. Er glaubte immer noch, Lores zaghaftes Klopfen an der Tür zu hören, wie als Nachhall seines Traums. Da war es wieder, das Klopfen, und es kam nicht von dem leichten Regen, der gegen das Fenster schlug. War da jemand an seiner Wohnungstür?
«Phil, bist du da?»
Die Stimme einer Frau. Nein, natürlich nicht Lore. Und Eva konnte es auch nicht sein. Sie war für eine mehrteilige Reportage nach Paris gefahren, wo gerade der Sozialist Félix Gaillard zum neuen Premierminister ernannt worden war. Außerdem nannte Eva ihn Philipp, nicht Phil. Und sie sprach nicht englisch mit ihm!
«Bist du da? Mach bitte auf, Phil!»
Im Dunkeln streckte er die Hand aus und nahm die FN Browning aus der Nachttischschublade. Nur mit seinem Pyjama bekleidet, die schussbereite Pistole in der Rechten, schlich er barfuß zur Wohnungstür. Die Eingangstür zu dem Mietshaus, in dem er seit seinem Auszug aus Frau Stenitzers Pension wohnte, schloss nicht richtig. Jeder konnte jederzeit das Haus betreten.
Neben der Wohnungstür drückte er sich mit dem Rücken an die Wand und hielt die Browning beidhändig in Schulterhöhe. «Wer ist da?», fragte er auf Englisch.
«Phil, Gott sei Dank!» Ein Stoßseufzer begleitete die Worte. «Lass mich rein, bitte. Ich … ich glaube, ich werde verfolgt!»
Endlich erkannte er die Stimme und öffnete die Tür.
«Oh Phil, endlich!»
June Anderson fiel fast in seine Wohnung, und er fing sie mit dem linken Arm auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Pistole in seiner Rechten sah.
«Nächtlicher Besuch muss nicht zwangsläufig aus schönen, jungen Damen bestehen.» Er blickte ins Treppenhaus, in dem dämmriges Licht brannte. Kein Mensch zu sehen. Mit dem Fuß schob er die Tür zu, bevor er das Licht im Flur einschaltete. «Wer verfolgt dich?»
«Ich weiß es nicht.» Sie schüttelte den Kopf. «Aber schon im Zug von Frankfurt nach Bonn hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Vielleicht konnte ich sie abschütteln, als ich ins Taxi gestiegen bin. Vielleicht …»
«Woher hast du meine neue Adresse?» Doch Gerber konnte sich die Antwort denken. «Dein Vater, natürlich. Wie geht es ihm?»
Junes Körper versteifte sich, und jetzt wirkte sie noch besorgter. «Schlecht geht es ihm, Phil, sehr schlecht. Ich glaube, sie haben ihn da in etwas verstrickt, aus dem er allein nicht mehr rauskommt. Er braucht deine Hilfe, Phil, deshalb bin ich hier.»
June sprach für ihn in Rätseln. Hiram C. Anderson war sein Vorgesetzter gewesen, als er noch dem CIC angehört hatte, dem Counter Intelligence Corps. Zuletzt hatte Gerber gehört, dass man ihn zum Brigadier General befördert und ihn vorübergehend von der Leitung der westdeutschen CIC-Abteilung freigestellt hatte, um irgendwelche Spezialaufgaben zu erfüllen. Um was es dabei ging, wusste er nicht, er gehörte dem amerikanischen Militärgeheimdienst schon seit vier Jahren nicht mehr an. Damals hatte Anderson selbst ihn zur Sicherungsgruppe nach Bonn geschickt, einer Unterabteilung des Bundeskriminalamts, um als Maulwurf für die Amerikaner zu fungieren. Aber Gerber war anschließend nicht zu den Amerikanern zurückgekehrt, hatte sich entschieden, sich für die junge und fragile westdeutsche Demokratie einzusetzen. Mehr als einmal hatte er für Bundeskanzler Konrad Adenauer ein heißes Eisen aus dem Feuer geholt. Sein Abschied vom CIC war auch sein Abschied von June gewesen, mit der er verlobt gewesen war.
«Setz dich erst mal und trink einen Schluck.»
Er schloss die Wohnungstür ab und führte June ins Wohnzimmer. Sie ließ sich in einen der beiden Cocktailsessel sinken und stellte ihre Handtasche neben sich ab. Gerber schaltete die Stehlampe an und ging zu der kleinen Bar, die nahtlos in eine Bücherwand überging, um zwei Gläser mit Bourbon und Wasser zu füllen.
Er stellte die Gläser auf den kleinen Tisch. «Ich verschwinde kurz, um einen ordentlichen Menschen aus mir zu machen.»
Gerber ging ins Bad und zog sich eilig an. Die Browning wanderte in das Lederholster unter seiner linken Schulter, bevor er das Jackett überstreifte.
Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte und die Camel-Packung aus der Tasche zog, sagte June: «Für mich auch eine, bitte.»
«Ich wusste nicht, dass du rauchst.»
Sie lächelte entschuldigend, und es stand ihr gut. «Nur zur Beruhigung.»
Er zündete mit seinem Zippo zwei Zigaretten an und reichte eine an June weiter, bevor er sich ebenfalls setzte. «Der Col… der General hat dir meine Adresse gegeben, also wird er wissen, dass du hier bist. Aber billigt er es auch?»
June hustete ein wenig beim ersten Zug und nickte. «Es ist seinetwegen. Er hätte es wohl nicht gewagt, dich um Hilfe zu bitten. Auch mir fällt es nicht leicht, das musst du mir glauben. Aber du bist der Einzige, den ich fragen kann.»
«Dann ist es wohl kaum ein juristisches Problem. Dafür hättest du deinen Verlobten, Barney …»
«Bartlett», korrigierte sie ihn. «Bartlett Beauville.»
«Das klingt wie aus einem Südstaaten-Roman.» Gerber konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, wurde aber schnell wieder ernst. «Entschuldige, June, das war nicht fair, ich kenne ihn ja gar nicht.»
Eigentlich war er froh, dass June sich wieder verlobt hatte. Als er ihr den Laufpass gegeben hatte, war er sich schäbig vorgekommen. Aber Eva, in die er sich Hals über Kopf verliebt hatte, war nicht der tiefere Grund dafür gewesen, allenfalls der Anlass. Schon vorher hatte er gespürt, dass er als Junes Mann vor allem Hiram Andersons Schwiegersohn sein würde, der Ersatz für Junes Bruder Jim, der im Krieg in Gerbers Armen gestorben war. Ein wenig seltsam an der Sache mit Junes neuem Verlobten fand er, dass Beauville als Jura-Dozent in Harvard arbeitete und genau jene Stelle bekleidete, die Gerber ausgeschlagen hatte, um in Deutschland zu bleiben. Als habe sich June einen zweiten Phil gesucht. Er ließ einen Schluck Bourbon durch seine Kehle rinnen und beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Es war ganz allein Junes Entscheidung, und die ging ihn nichts an.
«Was ist mit dem General? In welcher Klemme steckt er?»
June griff nach ihrer Tasche und entfaltete eine Zeitung, ein Frankfurter Blatt. Sie zeigte ihm einen Artikel mit dem Foto einer blonden Frau, die aufreizend in die Kamera lächelte, darunter die fette Schlagzeile Wer tötete die Nitribitt?
«Davon hast du wohl gehört.»
«Wer hat das nicht», seufzte Gerber. «Aber die ganze Aufregung ist mir nicht geheuer. In Frankreich wird endlich die Regierungskrise beendet, die Sowjets schießen ihren zweiten Sputnik ins Weltall, Adenauer stellt sein neues Kabinett vor, und für was interessieren sich die Blätter? Für dieses arme Mädchen aus Frankfurt.»
«Dieses arme Mädchen?», wiederholte June spitz. «Du hegst wohl Sympathien für sie, für eine … Prostituierte.»
«Immerhin wurde sie ermordet, da darf man wohl Mitgefühl haben. Zu ihren Kunden gehörte ich allerdings nicht. Bei bis zu fünfhundert Mark für einen Besuch, wie die Zeitungen schreiben, wäre das für einen Hauptkommissar auch kaum zu finanzieren.»
«Sie hat es auch für bedeutend weniger getan, wenn ihr der Gast sympathisch war.»
«Na, du bist ja gut informiert», spottete Gerber und nahm einen Schluck Bourbon.
«Mein Vater sagt das, und er muss es wissen. Er gehörte zu ihren Kunden.»
Fast hätte er sich an seinem Drink verschluckt. Der erfahrene, stocksteife Soldat Hiram Anderson und dieses äußerst lebenslustige Mädchen?
«Ich würde das für einen Scherz halten, June, aber ich glaube nicht, dass du mitten in der Nacht hier reingeschneit bist, um mich auf den Arm zu nehmen.»
June verzog ihr hübsches Gesicht zu einer Miene, die wohl Missbilligung, vielleicht sogar Unverständnis für das Verhalten ihres Vaters ausdrücken sollte. «Frag Dad selbst nach seinen Gründen für die Beziehung zu … diesem Mädchen. Vielleicht ist das etwas, das Männer besser verstehen. Jedenfalls gab es diese Bekanntschaft, und nun wird er verdächtigt, ihr Mörder zu sein.»
Jetzt, da es raus war, wirkte June einerseits erleichtert, andererseits kreuzunglücklich. Gerber konnte sie gut verstehen. Zu erfahren, dass der eigene Vater zu einer Lebedame ging, wäre schon schlimm genug gewesen. Aber ein Mörder? Gerber konnte sich Hiram Anderson in vielen Rollen vorstellen, aber nicht als Frauenmörder. Er unterdrückte den Impuls, June tröstend in den Arm zu nehmen.
«Warum soll ausgerechnet dein Vater das getan haben? Nach allem, was man hört, hatte sie einen großen Kundenkreis.»
«Ihm sind wichtige Papiere abhandengekommen, Geheimunterlagen. Möglicherweise hat diese Frau sie ihm gestohlen. Am Tag des Mordes hatte er offenbar einen heftigen Streit mit diesem Fräulein und hat ihre Wohnung dann ziemlich aufgebracht verlassen. Das haben zumindest Nachbarn ausgesagt.»
June hatte leise gesprochen, fast tonlos, den Blick zu Boden gerichtet, als glaube sie selbst nicht an die Unschuld ihres Vaters. Jetzt hob sie in einer kämpferischen Geste den Kopf und sah Gerber mit festem Blick an.
«Dad ist kein Mörder, aber gewisse Leute haben ein Interesse daran, ihn als den Schuldigen hinzustellen.»
«Von wem sprichst du?»
«Das weiß ich nicht. Ich schätze, es sind dieselben, die mich verfolgt haben.»
«Aber du hast niemanden gesehen?»
Sie zuckte ratlos mit den Schultern. «Nein. Ich weiß, wie das klingen muss, aber ich … ich habe sie gespürt.» Als Gerber nichts erwiderte, fügte sie hinzu: «Du glaubst mir nicht, das sehe ich dir an. Du denkst wohl, ich erfinde das alles, damit du dich für meinen Vater einsetzt.»
«Wäre das ein so abwegiger Gedanke? Geheimnisvolle Unterlagen, mysteriöse Verfolger … Was würdest du an meiner Stelle dazu sagen?»
June griff abrupt nach ihrer Tasche und stand auf. «Es war wohl ein Fehler, hierherzukommen und ausgerechnet dich um Hilfe zu bitten! Die kleine June reißt dich aus dem Schlaf und fällt dir auf die Nerven, tut mir leid. Ich werde dich nicht länger …»
Weiter kam sie nicht, denn in dem Moment zersplitterte die Fensterscheibe und den Bruchteil einer Sekunde später die Bourbonflasche in der Bar. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit lief an dem Teakholz herunter. Die Kugel, die zwischen June und Gerber eingeschlagen war, konnte nur von dem Haus auf der anderen Straßenseite gekommen sein, aus dem obersten Stockwerk oder vom Dach.
Gerber reagierte sofort, indem er aus seinem Sessel schnellte und June zu Boden riss, die einen Schrei ausstieß.
«Liegen bleiben!»
Er rollte sich über den Boden, um dem Schützen kein Ziel zu bieten, bis er die Stehlampe in der Ecke erreicht hatte. Er zog den Stecker aus der Dose, und das Licht im Raum erlosch. Dann robbte er zu dem kleinen Tisch mit dem Bakelittelefon.
June, im Augenblick nicht mehr als eine schemenhafte Gestalt, verharrte in Schockstarre.
Er wählte die Nummer des Kommissars vom Dienst in dem Neubau, den die unter Raumnot leidende Sicherungsgruppe vor knapp zwei Monaten in Bad Godesberg bezogen hatte. In dieser Woche stellte Gerbers Abteilung, der Ermittlungsdienst/Unterabteilung II, den KvD. Kriminalkommissar Rudolf Senft war an der Reihe. Gerber wartete ungeduldig, bis er endlich die ruhige, leise Stimme seines Kollegen hörte.
«Sicherungsgruppe beim Bundeskriminalamt, Kommissar Senft am Apparat. Wer spricht da?»
«Hauptkommissar Gerber, Code zwo-eins-vier. Ich wiederhole: Code zwo-eins-vier.»
Senft zögerte einen Moment, fasste sich dann aber. «Verstanden, Herr Hauptkommissar.»
Gerber legte den Hörer zurück auf die Gabel. Mit dem Code hatte er dem Kollegen mitgeteilt, dass seine Wohnung unter Beschuss stand und dass er dringend Hilfe benötigte. Er stellte sich vor, wie Senft kurz die hohe Stirn unter dem schütteren Haar runzelte, bevor er die Ortspolizei anrief, damit das Notfallkommando ausrückte. Dann würde Senft die Kollegen von der Sicherungsgruppe alarmieren, das volle Programm. Mit diesem beruhigenden Gedanken im Kopf kroch er in Richtung Flur.
«Phil, wo willst du hin?», raunte June ihm zu.
«Raus. Angriff ist die beste Verteidigung. Aber vorher hole ich etwas, damit du nicht schutzlos bist.»
Er huschte ins Schlafzimmer und nahm die Baby Browning, die er mit Klebeband an der Rückseite des Nachttisches befestigt hatte, an sich. Jeder Polizist besaß mindestens eine Zweitwaffe, die nirgendwo registriert war.
Zurück im Wohnzimmer, drückte er June die kleine halbautomatische Pistole in die Hand. «Kannst du damit umgehen?»
«Natürlich, ich bin die Tochter eines Berufssoldaten!»
«Gut. Du bleibst liegen, wo du bist. Lass niemanden rein, bis ich wieder da bin! Und wenn ungebetener Besuch auftaucht, mach kein Palaver. Einfach auf den Bauch zielen und abdrücken. Auf kurze Entfernung hat da auch eine Waffe vom Kaliber .25 eine verheerende Wirkung. Der Mann bestellt so schnell kein Steak mit Bohnen mehr.»
Gerber schaltete das Licht nicht ein, als er durch das enge Treppenhaus nach unten hastete, die schussbereite Browning in seiner Rechten. Der ungemütliche Herbstregen, der schon seit Tagen auf Bonn niederging, fiel mit dicken Tropfen aus dem nachtdunklen Himmel. Jetzt bedauerte er, nicht zur Fraktion der Hutträger zu gehören. Er hatte nicht mal daran gedacht, seinen Trenchcoat überzustreifen.
Die Straßenbeleuchtung erzeugte mehr Schatten als Licht. Es war zu spät für Nachtbummler und noch zu früh für die Ersten, die zur Arbeit mussten. Die beste Stunde für Killer und Agenten, wie es in seiner Ausbildung beim CIC geheißen hatte. Das schmutzig gelbe Laternenlicht spiegelte sich in den Scheiben der am Straßenrand geparkten Autos und in den zahlreichen Pfützen. Dieser Straßenzug hatte im Krieg schwere Bombentreffer erhalten, und die Häuser ringsum waren mehrstöckige Neubauten. Wie das Haus, in dem Gerber wohnte, und auch das Haus gegenüber, von dem aus man auf ihn geschossen hatte. Vier Stockwerke, und alle Fenster waren dunkel.
Geduckt lief er über die Straße und drückte sich auf der anderen Seite gegen die Hauswand. Unwillkürlich fiel sein Blick auf sein Wohnzimmerfenster, und erst bei genauerem Hinsehen fiel ihm die zersplitterte Scheibe auf, dunkel wie alle anderen. Dahinter lag June in Todesangst. Er huschte durch eine schmale Einfahrt auf den Hinterhof.
Ein dumpfes Geräusch ließ ihn für einen Sekundenbruchteil erstarren, bevor er hinter einer Mülltonne aus verzinktem Stahlblech in Deckung ging. Gerade noch rechtzeitig. Ein Geschoss traf die Tonne und surrte als Abpraller davon. Ein zweiter Schuss heulte durch die Nacht und riss dicht neben der Mülltonne den Boden auf. Vermutlich hatte der Schütze das dumpfe Geräusch, das Gerber gewarnt hatte, verursacht, als er über die schmale Feuerleiter vom Dach herabgeklettert war und das letzte Stück mit einem Sprung überwunden hatte.
Jetzt gingen im Hof die ersten Lichter an, gleichzeitig hörte er schnelle Schritte. Gerber wagte sich ein Stück aus der Deckung. Ein Schatten huschte über den Hof. Der Lichtschein aus einem Fenster fiel auf den fliehenden Schützen, und für einen Augenblick konnte Gerber dessen Gesicht sehen. Harte, wettergegerbte Züge. Augen, die unter buschigen Brauen lagen. Es war ein Gesicht aus seiner Vergangenheit.
Blaulicht und Sirenengeheul besiegelten das Ende der Nachtruhe, als Gerber zurück auf die Straße trat. Schweren Herzens hatte er sich gegen eine Verfolgung des Schützen über die finsteren Hinterhöfe entschieden. Das Risiko, dabei in einen Hinterhalt zu geraten, war zu groß. Hinter immer mehr Fenstern ging jetzt das Licht an, und die aus dem Schlaf gerissenen braven Bürger drückten sich an den Scheiben die Nasen platt. Aus einem der VW-Streifenwagen stieg ein untersetzter Polizist, den er beim Schießtraining kennengelernt hatte, Polizeiobermeister Graunke. Gerber gab ihm in knappen Worten eine Beschreibung des Flüchtigen, bevor er in seine Wohnung zurückeilte.
June kauerte wie zuvor auf dem Boden und starrte ihm ängstlich entgegen. Noch immer schaltete er aus Sicherheitsgründen kein Licht an. Als er vor ihr auf die Knie ging und sie behutsam in die Arme nahm, ging ein heftiges Zittern durch ihren Körper. Die Anspannung fiel von ihr ab. Er atmete ihren zarten Rosenduft ein, der ihn an die Zeit erinnerte, als sie noch ein Liebespaar gewesen waren.
«Das nenne ich mal einen Code zwo-eins-vier! Seit wann brauchst du für so etwas Hilfe, Philipp?»
In der Wohnzimmertür stand sein bester Freund und Kollege bei der Sicherungsgruppe, Kriminaloberkommissar Erwin Sattler. Der schob seinen Hut in den Nacken und wischte mit der anderen Hand über sein unrasiertes Bulldoggengesicht. Neben ihm erschien der immer jugendlich wirkende Kriminalobersekretär Peter Müller in einem zu großen, offenen Trenchcoat. Sattler grinste breit, während sein Blick auf Gerber und June ruhte.
«Blondinen bevorzugt, wie? Entschuldige die Störung, aber angesichts des Alarmcodes habe ich den Sicherheitsschlüssel für deine Wohnung verwendet, den du bei mir hinterlegt hast.»
«Darf ich vorstellen», sagte Gerber zu June, «die beiden Komiker aus meiner Abteilung, Oberkommissar Sattler und Obersekretär Müller, aber sag einfach Dick und Doof zu ihnen. Und das ist Miss June Anderson.»
«Oha», machte Sattler, dem der Name natürlich etwas sagte, und nahm seinen Hut ab. «Besuch aus den Staaten also.»
«Vor allem ein Besuch, der bis zu meiner Haustür verfolgt und dann vom Gebäude gegenüber beschossen wurde.» Gerber deutete zur zersplitterten Scheibe und berichtete knapp von seinem Ausflug. «Klärt ab, ob da noch jemand darauf lauert, auf Miss Anderson oder mich zu schießen. Und seid vorsichtig. Zumindest der Mann, dem ich begegnet bin, ist ein Vollprofi.»
«Weil er so gut gezielt hat?»
«Das auch, aber ich kenne ihn schon länger.»
Die aufgesetzte Heiterkeit fiel von Sattler ab. «Du hast den Mann erkannt?»
«Es war unser alter Freund, den es von der Fremdenlegion in die Ostzone verschlagen hat.»
«Walter Dorst?» Sattler stieß einen Pfiff aus, und seine Züge verhärteten sich. «Das ist ein Ding. Den Knaben müssen wir kriegen.»
«Wenn er nicht schon über sämtliche Erhebungen des Siebengebirges ist», dämpfte Gerber die Hoffnung.
Der schlug dem Kollegen im offenen Trenchcoat auf die Schulter. «Versuchen wir es, Herr Müller!»
Seitdem er Müller nicht mehr mit dessen Spitznamen «Fräulein» anreden durfte, verwendete Sattler ebenso konsequent wie leicht ironisch die Anrede «Herr», und es war ihm in Fleisch und Blut übergegangen.
Die beiden hatten die Wohnung kaum verlassen, als June fragte: «Wer ist dieser Walter Dorst?»
«Ein ehemaliger Fremdenlegionär, der für die ostdeutsche Staatssicherheit arbeitet oder für den sowjetischen KGB, was am Ende keinen Unterschied macht. Ein sehr gefährlicher Mann, der nicht aus Überzeugung tötet, sondern für Geld.»
«Aber das würde bedeuten …» June brachte den Satz nicht zu Ende, griff sich an die Stirn und dachte kurz nach. «Stecken die Kommunisten dahinter, dass man Dad als Mörder dieser Prostituierten beschuldigt?»
«Eine Vermutung, die nicht von der Hand zu weisen ist. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es auch nicht mehr als eine Vermutung.»
«Dein bulliger Freund, Sattler, ist offenbar auch nicht gut auf Dorst zu sprechen.»
«In Berlin, wo wir vor drei Jahren mit ihm zu tun hatten, hatte Dorst eine Freundin, die er zum Schweigen bringen wollte, endgültig. Wir konnten sie im letzten Augenblick retten.» Bilder jener dramatischen Nacht tauchten vor seinem inneren Auge auf. «Ich habe Lilly aus dem Landwehrkanal gezogen.»
«Phil, der Retter der Frauen.» June lächelte versonnen, wurde aber schnell wieder ernst. «Und was hat das mit deinem Kollegen zu tun?»
«Lilly lebt jetzt in Bonn und betreibt hier ein kleines Kurzwarengeschäft, in das Erwin seine Beamtenersparnisse investiert hat. Die beiden sind verlobt.»
«Jetzt verstehe ich. Dein Freund ist besorgt, weil Lillys Verflossener plötzlich hier in Bonn auftaucht. Hoffentlich kann Sattler ihn zur Strecke bringen.»
«Hm», brummte Gerber. «Wie ich Dorst einschätze, wird er es uns nicht so leicht machen.»
Gerber sollte mit seiner Einschätzung recht behalten. Als er Sattler eine Stunde später im neuen Hauptquartier der Sicherungsgruppe wiedersah, konnte der Oberkommissar nur vermelden, dass sich Dorst in Luft aufgelöst hatte. Vor dem Fenster von Arnold Weslers Büro verwandelte sich die Dunkelheit der aufregenden Nacht allmählich in ein trübes Grau, und aus der Wolkendecke über Bad Godesberg fiel beständiger Regen auf die kleine Stadt am Rhein, die mit der Bundeshauptstadt Bonn eng verwachsen war.
Kriminaloberrat Wesler, Leiter der Unterabteilung II und damit Gerbers direkter Vorgesetzter, saß hinter seinem mit Akten und sorgfältig voneinander getrennten Papierstapeln belegten Schreibtisch und zog an seiner Roth-Händle, während er Sattlers Bericht lauschte. An den Wänden hingen dieselben Porträts, die schon sein altes Büro in der Bonner Joachimstraße geschmückt hatten: Bundeskanzler Adenauer und Innenminister Schröder, der nach der für die CDU überaus erfolgreichen Bundestagswahl von Adenauer in seinem Amt bestätigt worden war. Sattler hatte es Gerber bei einem Feierabendbier vorhergesagt: «Gerhard Schröder ist ein Dickkopf. Den kriegst du nicht von seinem Stuhl, wenn er nicht will.»
Gerber, Sattler und Wesler waren allein. June Anderson lag in einem Ruheraum und hatte, nachdem man ihr ein leichtes Schlafmittel gegeben hatte, die Augen schließen können. Wesler, der sich vor Sattlers Erscheinen schon Gerbers ausführlichen Bericht angehört hatte, schwieg eine ganze Weile, nachdem Sattler geendet hatte. Die drei Männer rauchten, tranken Kaffee und sortierten ihre Gedanken. Endlich drückte der Kriminaloberrat den Rest seiner Zigarette in dem Porzellanaschenbecher mit dem Aufdruck einer Steinhägermarke aus, erhob sich und trat, den beiden anderen den Rücken zugewandt und die Hände dahinter verschränkt, ans Fenster. Dort gab es nichts anderes zu sehen als den wolkenverhangenen Himmel und die schmucklose Friedrich-Ebert-Straße mit ihren mehrstöckigen Wohnhäusern; die Bäume, vom Herbstwind ihrer Blätter beraubt, verstärkten den traurigen Eindruck noch.
«Was ist das für eine wilde Geschichte?», fragte Wesler, als er sich wieder zu seinen Mitarbeitern umdrehte. «Diese tote Prostituierte, Nitribitt, die Tochter von General Anderson und der Stasi-Killer Dorst. Das alles ist wie eine krude Mischung aus einem Albtraum, der einfach keinen Sinn ergeben will. Es wäre schon brisant genug ohne Walter Dorst. Aber dass dieser Legionär da mitmischt, gefällt mir überhaupt nicht.»
Gerber verstand sein Unbehagen sehr gut. Bei den Ermittlungen im Fall Otto John vor drei Jahren in Berlin war Wesler durch einen von Dorst abgefeuerten Schuss schwer verwundet worden. Wesler, Sattler und er selbst, sie alle hatten eine Rechnung mit Dorst offen, mindestens eine.
Sattler trank einen Schluck Kaffee. «Hätte Philipp ihn nicht erkannt, wüssten wir gar nicht, mit wem wir es zu tun haben.»
«Ich hätte ihn verfolgen sollen», knurrte Gerber. «Es war ein Fehler, zurück in die Wohnung zu gehen.»
Sattler legte beruhigend eine Hand auf Gerbers Schulter. «Das wissen wir nicht. Vielleicht war Dorst nicht allein, und seine Komplizen hätten sich sonst um deine Ver… um Miss Anderson gekümmert.»
«Sattler hat recht!», sagte Wesler nachdrücklich, während er sich wieder auf seinen Stuhl setzte und sich eine weitere Zigarette ansteckte. «Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte man Miss Anderson entführt oder in Ihrer Wohnung getötet, Gerber.»
«Denken Sie dabei an Junes Sicherheit oder an die Blamage für die Sicherungsgruppe?», fragte Gerber.
«An beides. Schließlich ist Miss Anderson nicht nur US-Bürgerin, sondern auch die Tochter eines einflussreichen amerikanischen Militärs.»
«Der zurzeit, mit Verlaub, mächtig in der Scheiße sitzt.» Sattler beugte sich zum Schreibtisch vor, stützte die Ellbogen auf die Platte und das Kinn auf die ineinander verschränkten Hände. «Jedenfalls dann, wenn die verrückte Geschichte stimmt, die das Fräulein aus den Staaten dir erzählt hat, Philipp.»
«Sonst wäre sie bestimmt nicht mitten in der Nacht bei mir aufgekreuzt.»
Wesler trommelte nervös mit den Fingern auf der Schreibtischplatte. «Je länger ich über die ganze Sache nachdenke, desto weniger gefällt sie mir. Durch Miss Andersons Besuch bei Ihnen, Gerber, könnte die Sicherungsgruppe in eine höchst unappetitliche Affäre hineingezogen werden. Ein Frankfurter Prostituiertenmord ist nicht das, womit wir uns beschäftigen sollten.»
«Verschwundene Geheimdokumente aber schon», wandte Sattler ein. «Zumal die Ostzone sich dafür interessiert.»
Der Kriminaloberrat trank den letzten Schluck seines Kaffees, der längst kalt sein musste. «Unappetitlich bleibt die Geschichte allemal. Wie alle Affären, in die Walter Dorst verwickelt ist.»
Sattler lächelte dünn. «Ein Grund mehr, seinem Treiben endlich ein Ende zu bereiten!»
«Hm», machte Wesler nur und setzte sein Getrommel fort.
Gerber teilte die Meinung seines Vorgesetzten. Zwar drängte es ihn, June und ihrem Vater beizustehen und Licht in die verworrene Geschichte zu bringen, wobei die Jagd auf Dorst mehr ein zusätzlicher Anreiz war als sein eigentlicher Antrieb. Aber im Spannungsfeld zwischen Amerikanern und Roten lief die Sicherungsgruppe Gefahr, aufgerieben zu werden.
«Ist es Ihnen lieber, Herr Kriminaloberrat, wenn ich in dieser Sache nicht aktiv werde?», fragte er und fügte mit einem bitteren Unterton hinzu: «June ist es gewohnt, von mir zurückgewiesen zu werden.»
Nach kurzem Überlegen antwortete Wesler: «Das muss Dr. Brückner entscheiden.»
Dr. Ernst Brückner, Leiter der Sicherungsgruppe, war nicht in seinem Büro, wie Wesler am Telefon von Renate Senft, Brückners Sekretärin, erfuhr. Sie war eine der ersten Frauen in den Reihen der Sicherungsgruppe und die Tochter von Kommissar Rudolf Senft.
«Ich habe ihn vorhin auf dem Flur gesehen», sagte Wesler irritiert in die Sprechmuschel.
«Jetzt ist er weg.» Fräulein Senfts Stimme war hell und so durchdringend, dass Gerber und Sattler jedes Wort mithören konnten.
«Das sagten Sie bereits, Renate. Aber wo ist er hin?»
«Ich bedaure, Herr Kriminaloberrat, ich bin nicht ermächtigt, darüber Auskunft zu erteilen.»
«Warum so förmlich?», versuchte es Wesler in einem vertrauten Ton. «Wir kennen uns schon, da waren Sie noch ein Kind. Erst im Sommer haben wir Federball miteinander gespielt. Apropos, Sie schulden mir noch eine Revanche.»
Sie lachte kurz auf. «Ja, sehr gern, aber nicht am Telefon.»
«Ich werde darauf zurückkommen, Renate.» Wesler legte den Hörer zurück auf die Gabel und bedachte die beiden anderen mit einem resignierten Blick. «Brückner muss ihr wirklich strengstes Stillschweigen eingeimpft haben, sonst hätte sie mir wenigstens einen Hinweis gegeben. Möchte wissen, was da noch auf uns zukommt. Wenn wir Pech haben, sitzen wir mitten zwischen den Amis und den Kommis.»
«Tun wir das nicht immer?» Gerber spürte den mangelnden Schlaf und unterdrückte ein Gähnen.
Wesler erhob sich und straffte die Schultern. «Ich glaube, wir alle sind gerade an einem toten Punkt angelangt. Meine Herren, ich lade Sie zu einem Frühstück ein.»
Sie holten ihre Mäntel und gingen eilig durch den Regen zu einer nahen Bäckerei, die schon vor Sonnenaufgang geöffnet hatte. Bei weiterem Kaffee und belegten Brötchen besprachen sie die Angelegenheit, und Wesler fragte: «Weiß General Anderson, dass seine Tochter hier ist? Ich meine, bei Ihnen, Gerber.»
«Der General hat ihr meine Adresse gegeben, da sollte er es wissen. June ist der Meinung, ich könnte ihren Vater von dem Verdacht befreien, der Mörder dieser … dieser …»
«Lebedame, schreiben die Zeitungen», half ihm Sattler grinsend aus.
«Dirne», brachte Wesler es auf den Punkt.
«Dieser Frau zu sein», beendete Gerber seinen Satz. «Ob der General sie dazu ermuntert hat, mich um Hilfe zu bitten, weiß ich nicht. Nachdem ich dem CIC den Rücken gekehrt habe, kann ich mir aber nicht so recht vorstellen, dass Hiram Anderson sie geschickt hat.» Er sah seinen Vorgesetzten an. «Wussten Sie etwas davon, dass er in den Fall Nitribitt verstrickt ist?»
«Nicht das Geringste. Es wäre auch keine Angelegenheit unserer Strafverfolgungsbehörden. US-Soldaten unterstehen der amerikanischen Militärgerichtsbarkeit.»
«Warum dann der ganze Aufriss?», fragte Sattler. «Die Amis werden kaum einen hochrangigen Offizier wie Anderson vor Gericht stellen.»
«Aber sein guter Ruf ist in Gefahr, und das könnte auf das deutsch-amerikanische Verhältnis abfärben», sagte Gerber. «Gerade jetzt, wo Adenauer bestrebt ist, Westdeutschland als zukünftige Atommacht ins Spiel zu bringen.»
Wesler seufzte schwer. «Genau das, mein lieber Herr Gerber, dürfte der Punkt sein.»
Zurück im Hauptquartier der Sicherungsgruppe, erhielt Kriminaloberrat Wesler erste Ergebnisse von der Kriminaltechnik, die er für Gerber und Sattler zusammenfasste: «Alle drei Projektile und auch die drei Patronenhülsen wurden von den Kollegen gefunden und lassen den Schluss zu, dass die Schüsse aus derselben Waffe abgefeuert wurden. Neun Millimeter Makarow, die Standard-Pistole der Sowjets, zuverlässig in der Handhabung, aber ungenau. Besonders nachts, wenn man von einem Hausdach in ein Fenster auf der anderen Straßenseite schießt. Jedenfalls ist das der Hergang, den die Techniker aufgrund des Schusswinkels rekonstruiert haben. Sie hatten also Glück im Unglück, Herr Gerber. Sie oder Ihre Verlobte.»
«Ehemalige Verlobte», berichtigte Gerber. «Gibt es weitere Spuren?»
«Ein Schuhsohlenabdruck, Größe vierundvierzig. Das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt alles – nicht viel, wie ich sagen muss. Die Fahndung nach Walter Dorst läuft, aber ich habe da keine großen Erwartungen.»
«Wer Dorst näher kennt, darf die auch nicht haben», brummte Sattler.
Gerber verspürte keine Lust auf weitere Mutmaßungen, die sie letztlich nicht weiterbrachten. Dorst war wie ein Fisch, den man mit bloßen Händen fangen wollte. Deshalb schob er seinen Schreibtischstuhl zurück und stand auf. «Ich werde mal nachsehen, wie es June geht.»
Er ging den leeren Gang hinunter und klopfte vorsichtig an, bevor er die Tür des Ruheraums öffnete. In dem schummrigen Licht, das durch die zugezogenen Vorhänge fiel, sah er, dass sich June unruhig in ihrem Bett hin und her wälzte. Er sollte die Frau, die er einst geliebt hatte – oder die zu lieben er sich eingebildet hatte –, besser nicht stören. Sie konnte den Schlaf gut gebrauchen.
Als er die Tür wieder schließen wollte, hörte er Junes zaghafte Stimme: «Bist du das, Phil?»
«Verzeih, ich wollte dich nicht wecken. Schlaf einfach schnell weiter.»
«Nein, bitte, komm doch rein.»
Zögernd betrat er den Raum, schloss die Tür hinter sich und trat an das Bett. Die weitere Einrichtung bestand aus einem kleinen, quadratischen Tisch, einem Stuhl und einem schmalen Schrank. Ein Gemälde der Loreley zierte eine Wand und wirkte im Halbdunkel noch düsterer als ohnehin schon.
June setzte sich auf und schien jetzt erst zu bemerken, dass sie nur ihre Unterwäsche trug. «Wer hat …»
Gerber hob abwehrend die Hände. «Ich war es nicht. Fräulein Senft hat dich zu Bett gebracht und dir ein Schlafmittel gegeben.»
«Habt ihr eine Spur von dem Mann, der auf uns geschossen hat?»
«Leider nicht. Was mir noch nicht ganz klar ist: Hat dein Vater dich hergeschickt, oder bist du aus eigenem Antrieb gekommen?»
«Ich habe ihm gesagt, dass ich dich um Hilfe bitten will. Es war Dad nicht recht, aber er hat es mir auch nicht direkt verboten.»
«Sein Wunsch war es also nicht.»
Sie lächelte hintersinnig. «Sagen wir einmal so: Ich bin einfach gefahren, bevor er dazu kommen konnte, diesen Wunsch zu äußern.»
«Und jetzt stecke ich knietief in der Sache drin», murmelte Gerber.
«Wohin fahren wir?», fragte Gerber zwei Stunden später den Mann, der neben ihm im Fond der schwarzen Mercedes-Limousine saß.
Dr. Ernst Brückner war ins Hauptquartier zurückgekehrt und hatte Gerber überraschend aufgefordert, ihn zu begleiten. Kriminalobersekretär Müller steuerte den Wagen aus Bad Godesberg heraus in Richtung Bonn. Die Scheibenwischer kratzten monoton über die Windschutzscheibe. Der Regen wurde stärker, trommelte unentwegt aufs Dach, und die Welt jenseits der Autofenster versank hinter einem Vorhang aus Schlieren.
«Ins Kanzleramt, alles Weitere erfahren Sie dort», sagte der Leiter der Sicherungsgruppe und fuhr darin fort, Gerber über die Ereignisse der Nacht, über General Anderson und über Gerbers Verhältnis zu June auszufragen.
Gerber antwortete einsilbig und ertappte sich dabei, dass seine Gedanken immer wieder um das Ziel ihrer Fahrt kreisten. Sie waren unterwegs zu Adenauer, so viel stand fest. Offenbar zog die Affäre, in die Hiram Anderson geschlittert war, so große Kreise, dass sie dem Alten die Freude über seinen glänzenden Wahlsieg vom September zu verderben drohte, den er mit 50,2 Prozent der Stimmen errungen hatte. Die absolute Mehrheit der Deutschen hatte für ihn gestimmt, den Bundeskanzler, der das Land seit acht Jahren führte. «Keine Experimente» war der Slogan gewesen, mit dem die CDU in den Wahlkampf gezogen war. Das Volk wollte beruhigt werden, was die SPD mit ihrem Motto «Es ist schon wieder fünf Minuten vor zwölf! Gegen Atomrüstung, für Frieden und Wiedervereinigung» nicht verstanden hatte. Die Menschen wollten die Atombomben nicht sehen, die ihnen von den Wahlplakaten der SPD geradewegs vor die Füße fielen. Viel zu bedrohlich, viel zu kompliziert, viel zu anstrengend. Nein, sie wollten eben keine Experimente, sondern dass alles weiter seinen Gang nahm mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der Aufnahme Westdeutschlands in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien. Sie wählten ihren Adenauer, und der würde schon alles für sie regeln. Die Wiederaufrüstung, mit oder ohne Atomwaffen, hielt doch immerhin die Russen auf Distanz. So einfach war das für die Wähler, und deshalb hatten sie dem SPD-Spitzenkandidaten Erich Ollenhauer fast zwanzig Prozent weniger Stimmen gegeben als Konrad Adenauer.
Auch Gerber hatte für Adenauer gestimmt, aber nicht aus Bequemlichkeit. Er hielt den konsequenten Westkurs des alten und neuen Kanzlers für den einzigen Weg, um die junge Bundesrepublik davor zu bewahren, von Moskau in die Phalanx der sowjetischen Vasallenstaaten eingereiht zu werden.
Längst waren sie in das Sperrgebiet der Bannmeile eingefahren, und Gerber nahm die verstärkte Präsenz der uniformierten Polizei wahr. Sie passierten den schmucklosen Neubau des Bundespresseamts, auf dessen Gelände Gerber am Anfang seiner Bonner Zeit noch Kühe hatte weiden sehen, und vor ihnen schälte sich das Palais Schaumburg aus dem regengrauen Einerlei. Die schlossähnliche Villa, einst von Prinzessin Viktoria bewohnt, einer Schwester Kaiser Wilhelms II., und jetzt Dienstsitz des Bundeskanzlers, konnte mit ihren weißen Mauern inmitten des grünen Parks märchenhaft anmuten, wie es sich für das Schlösschen einer Prinzessin geziemte, wenn die Sonne darauf herabschien. Jetzt war es nur ein trister, großer Kasten, in dem Gerber und Brückner nach Verlassen des Wagens eilig Zuflucht suchten.
«Kein Kanzlerwetter», machte Gerber einen verunglückten Scherz, als sie endlich ein Dach über den Köpfen hatten.
Brückner schlug seinen Mantelkragen wieder nach unten. «Wem sagen Sie das. Ich bin heute schon zum zweiten Mal hier.»
Womit seine geheimnisvolle Abwesenheit am Morgen erklärt war, dachte Gerber.
Überrascht war er, als Brückner ihn keineswegs zum Bundeskanzler führte. Sie betraten das große Büro eines bebrillten Endfünfzigers mit straff nach hinten gekämmtem Haar, der seelenruhig mit dem Füllfederhalter eine Notiz in eine rote Kladde schrieb, bevor er endlich geruhte, seine beiden Besucher anzusehen.
«Ah, da sind Sie ja», sagte ohne jede Wärme Dr. Hans Globke, Chef des Bundeskanzleramts und engster Vertrauter Adenauers. «Der Bundeskanzler erwartet – und ich schließe mich dieser Erwartung ausdrücklich an –, dass unser Gespräch höchst vertraulich behandelt wird.»
«Das habe ich Ihnen bei unserem ersten Termin heute bereits zugesichert, Herr Staatssekretär», erwiderte Brückner.
Globke klappte die Kladde zu und heftete seinen Blick auf Gerber. «Ich hoffe, auch Herr Gerber ist sich dessen bewusst. Das sage ich besonders in Anbetracht der Tatsache, dass er mit einer Journalistin befreundet ist, die, zurückhaltend ausgedrückt, unserer Politik nicht gerade wohlwollend gegenübersteht.» Er lächelte dünn, unecht. «Weniger zurückhaltend ausgedrückt: Dieses Fräulein Herden, so heißt sie wohl, gilt als ausgewiesene Kommunistin, nicht wahr? Ich hoffe, sie hat ihre Nase nicht schon in diese Sache gesteckt.»
«Davon dürfte sie nichts wissen», entgegnete Gerber. «Sie ist derzeit in Paris, um über den neuen Premier zu berichten.»
«Ach ja, Monsieur Gaillard.» Globke winkte ab. «Schon wieder so ein Radikalsozialist als Premierminister. Nun ja, die Franzosen müssen wissen, was sie tun. Wichtig für uns ist, dass Sie, Gerber, Ihrer eifrigen Freundin nichts über diesen Fall erzählen.»
«Also haben wir einen offiziellen Fall?», hakte Gerber augenblicklich nach.
«Einen Fall ja, aber keinen offiziellen», zeigte sich Globke so glatt wie sein nass gekämmtes Haar.
«Verzeihung, aber wir dürfen doch sicher Platz nehmen.»
Brückner deutete bei diesen Worten auf die Besucherstühle vor dem Schreibtisch und setzte sich, gefolgt von Gerber, ohne eine Antwort abzuwarten. Es gehörte zu Globkes Eigenarten, Besucher einfach stehen zu lassen, auch Frauen gegenüber machte er da keine Ausnahme. Wahrscheinlich glaubte er, andere dadurch leichter gefügig zu machen oder, wie er es genannt hätte, seinen Argumenten zugänglich.
Der Chef des Bundeskanzleramts schien alles dafür zu tun, bei anderen keine Sympathien zu erwecken. Als Mitverfasser und Kommentator der Nürnberger Rassegesetze stand er ohnehin in der Kritik, einer jener alten Nazis zu sein, die sich ohne größere Blessuren in die junge Bundesrepublik hinübergerettet hatten. An Adenauer prallte das alles ab. Der Kanzler brauchte fähige Leute in seinen Reihen, und die waren nun mal in der braunen Zeit ausgebildet worden. Gerber glaubte fest, dass Adenauer keinen anderen Beweggrund hatte, schon gar nicht jenen, Sympathien für die Nazis zu empfinden. Der Kanzler und seine Frau waren von ihnen verfolgt und zeitweilig inhaftiert worden, und der frühe Tod von Auguste Adenauer im Jahr 1948 war letztlich diesen Ereignissen geschuldet. Und doch beschlich Gerber in Globkes Anwesenheit stets ein unbehagliches Gefühl.
Der Staatssekretär legte angesichts der Eigenmächtigkeit seiner Besucher die Stirn über den buschigen Brauen in Falten, besann sich aber schnell und zwang sich sogar zu einem Lächeln, das ein geschulter Beobachter wie Gerber als einstudiert enttarnte.
«Die ganze Affäre um General Anderson und dieses Freudenmädchen ist höchst unerquicklich. Sie könnte uns weitgehend egal sein, hätte der General als ausgewiesener Deutschlandkenner in den vergangenen Wochen nicht die Rolle eines Sonderkuriers zwischen Washington und Bonn eingenommen. Es geht um wichtige Fragen unserer Wiederaufrüstung, wenn Sie verstehen.»
«Sie sprechen von Atomwaffen für die Bundeswehr», brachte Gerber die vorsichtige Ausdrucksweise ihres Gegenübers auf den Punkt.
War die Aufstellung einer westdeutschen Armee, Bundeswehr genannt, schon bei den eher links orientierten Teilen der Bevölkerung auf große Kritik gestoßen, traf dies auf Adenauers Bestreben, diese Armee mit atomaren Waffen aufzurüsten, noch mehr zu. Kampf dem Atomtod – so nannte sich eine Bewegung, die von linksgerichteten Intellektuellen und Studenten ausging und die zahlreiche Proteste hervorgebracht hatte. Eine Strömung, auf die im Wahlkampf auch die SPD gesetzt hatte, jedoch mit wenig Erfolg.
Bei Gerbers Worten erstarb das einstudierte Lächeln des Generalsekretärs. «Wenn Sie ohnehin wissen, worum es geht, Gerber, müssen wir nicht weiter darüber sprechen.»
«Aber wohl über die Unterlagen, die General Anderson seit seinem letzten Besuch bei Fräulein Nitribitt vermisst.»
«Ja», sagte Globke gedehnt. «Das ist ein Punkt, der uns zu schaffen macht. Und den Amerikanern. Wenn diese Unterlagen in die Hände der Roten fallen, könnten sie eine verheerende propagandistische Wirkung entfalten und damit die Bestrebungen unserer Regierung, eine Einigung mit den Amerikanern zu erzielen, torpedieren.»
Was weniger verklausuliert hieß: keine Atomwaffen für die Bundesrepublik.
Brückner beugte sich auf seinem Stuhl vor. «Heißt das, diese ermordete Dirne hat die Papiere im Auftrag der Kommunisten an sich gebracht?»
«Wir wissen nur, dass die Papiere verschwunden sind. Ob die Frau eine Agentin der Roten war, darüber liegen uns keine Erkenntnisse vor.»
Während der Staatssekretär sprach, blickte er wie zufällig an die hohe Decke seines Büros. Für Gerber war es kein Zufall, weil er wusste, dass im obersten Stock des Gebäudes, im engen und niedrigen Dachgeschoss, die Bonner Dependance des Bundesnachrichtendienstes untergebracht war. Die immer noch von Reinhard Gehlen geführte Nachfolgeorganisation der einst von den Amerikanern finanzierten Organisation Gehlen, jetzt der offizielle Auslandsnachrichtendienst der Bundesrepublik, hatte also nichts Definitives über die ermordete Prostituierte und deren mögliche Verbindungen zu den Kommunisten herausfinden können.
Gerber wollte die ganze Geschichte abkürzen und fragte rundheraus: «Wenn schon der BND in der Sache nicht weiterkommt, wozu brauchen Sie dann mich?»
Globke breitete seine Hände mit den Flächen nach oben aus. «Aber das liegt doch auf der Hand. Zu wem ist Miss Anderson denn gekommen, um Hilfe für ihren Vater zu suchen? Zu Ihnen, Herr Hauptkommissar. Sie sind ihr ehemaliger Verlobter, und jetzt, wo sich ihre Familie in Schwierigkeiten befindet, kommen Sie beide sich wieder näher.»
«Das kann man nicht sagen. Wir beide …»
«Doch, das kann man und das werden wir sagen», fiel Globke ihm ins Wort. «Wir können Sie nämlich nicht in offizieller Mission nach Frankfurt schicken, das würde nur unnötige Aufmerksamkeit erregen und die Frage aufwerfen, weshalb ein deutscher Polizist gegen einen amerikanischen General ermittelt. Aber als Andersons zukünftiger Schwiegersohn haben Sie eine Verbindung zu ihm, die nicht hinterfragt wird.»
«Die Sache hat einen kleinen Schönheitsfehler», warf Gerber ein. «June ist mit einem anderen verlobt.»
Mit einer knappen Geste gab Globke das Wort an Brückner weiter.
«Da sind die Kollegen vom CIC bereits dran», sagte der Leiter der Sicherungsgruppe. «Sie werden Miss Andersons Verlobten kontaktieren und ihn dahingehend informieren, dass seine Verbindung mit der Tochter des Generals als beendet gilt. Zumindest offiziell und für einen gewissen Zeitraum.»
«Aha», machte Gerber und gab sich keine Mühe, seinen Mangel an Begeisterung zu verbergen. «Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?»
«Sie sind der Grund», antwortete Brückner. «Miss Anderson hat die Verlobung gelöst, weil sie zu ihrer wahren Liebe zurückgefunden hat.»