Mauern und Lügen - Ralf Langroth - E-Book

Mauern und Lügen E-Book

Ralf Langroth

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Beschreibung

Mauerbau und Geheimnisverrat: Ein neuer Fall für BKA-Hauptkommissar Philipp Gerber August 1961. Auf dem Frankfurter Flughafen vereitelt BKA-Hauptkommissar Philipp Gerber in letzter Sekunde ein Attentat auf General Hiram Anderson, seinen ehemaligen Chef beim US-Militär-geheimdienst. Offiziell ist Anderson privat nach Deutschland zurückgekehrt, doch er verfolgt auch geheime politische Pläne. Er will Philipp vor einem gefährlichen Doppelagenten und Landesverräter warnen. Während Gerber fieberhaft versucht, die Drahtzieher des Anschlags ausfindig zu machen, gerät seine Freundin Eva Herden zwischen die Fronten: Sie erfährt, dass eine Mauer zwischen Ost- und West-Berlin gebaut werden soll. Wie soll die Journalistin mit dieser äußerst brisanten Information umgehen, die das Leben so vieler Menschen komplett verändern würde? Bestsellerautor Ralf Langroth erzählt die Meilensteine der deutschen Nachkriegsgeschichte als packende Thrillerreihe: Band 1: «Die Akte Adenauer» Band 2: «Ein Präsident verschwindet»  Band 3: «Das Mädchen und der General» Band 4: «Mauern und Lügen»   

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Ralf Langroth

Mauern und Lügen

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

«Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.» Walter Ulbricht

 

August 1961. Auf dem Frankfurter Flughafen vereitelt BKA-Hauptkommissar Philipp Gerber in letzter Sekunde ein Attentat auf General Hiram Anderson, seinen ehemaligen Chef beim US-Militärgeheimdienst. Offiziell ist Anderson privat nach Deutschland zurückgekehrt, doch er verfolgt auch geheime politische Pläne. Er will Philipp vor einem gefährlichen Doppelagenten und Landesverräter warnen. Während Gerber fieberhaft versucht, die Drahtzieher des Anschlags ausfindig zu machen, gerät seine Freundin Eva Herden zwischen die Fronten: Sie erfährt, dass eine Mauer zwischen Ost- und West-Berlin gebaut werden soll. Wie soll die Journalistin mit dieser äußerst brisanten Information umgehen, die das Leben so vieler Menschen komplett verändern würde?

 

Mauerbau und Geheimnisverrat: ein Fall für BKA-Hauptkommissar Philipp Gerber.

Vita

Ralf Langroth ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors mit Übersetzungen in fünfzehn Sprachen. Mit seinem neuen historischen Thriller verbindet er zwei Leidenschaften: akribische Recherche und erzählerische Hochspannung. In der Reihe um den BKA-Kommissar Philipp Gerber stellt er die Meilensteine der deutschen Nachkriegsgeschichte und ihre bis heute ungeklärten Ereignisse in den Mittelpunkt. Der Autor lebt mit seiner Frau in der Rattenfängerstadt Hameln.

 

 www.ralflangroth.de

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte © Peter Palm, Berlin

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Laurence Winram/Trevillion Images; Ludwig Ehlers/ullstein bild

ISBN 978-3-644-02039-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.»

Walter Ulbricht, Staatsratsvorsitzender der DDR, auf einer Pressekonferenz in Ost-Berlin am 15.06.1961

 

 

 

«Ich bin von zwei Dingen außerordentlich beeindruckt: Erstens von der ausgezeichneten Haltung der Berliner Bevölkerung, und zweitens bin ich sehr beeindruckt davon, dass man mitten durch diese große Stadt eine solche Zone – wie soll ich sie nennen – des Schweigens oder des Todes, wie man sie nennen will, gelegt hat.»

Konrad Adenauer, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, auf einer Pressekonferenz in West-Berlin am 22.08.1961

 

 

 

«Es ist keine sehr schöne Lösung, aber eine Mauer ist verdammt noch mal besser als ein Krieg.»

John F. Kennedy, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, zu seinem Berater Kenneth O’Donnell nach dem Bau der Berliner Mauer

// Prolog //

Berlin. Dienstag, 14. August 1945

Werwölfe! Wo mochten sie stecken?

Aus seinem Versteck, einer zerbombten Mietskaserne, glitt sein Blick über die Häuser zu beiden Seiten der Straße. Oder was von ihnen übrig war. Oft nur noch Ruinen, zerbombt, ausgebrannt, ausgeschlachtet von den Überlebenden in ihrem verzweifelten Kampf um die nackte Existenz.

Philipp Gerber schob den Stahlhelm in den Nacken und strich mit dem Ärmel seiner Uniform über seine schweißnasse Stirn. Nicht die Jagd auf die Werwölfe, die er seit Jims Tod mit Verbissenheit durchführte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn, sondern dieser verflucht heiße August.

Ganz Berlin stank nach Kadavern, nach erschossenen, erschlagenen, von Granaten zerrissenen Menschenleibern, die zu nichts weiter gut waren als dazu, den herrenlos gewordenen Hunden als Fraß zu dienen. Sie lagen offen herum in verödeten Gärten, auf verdorrten Wiesen, und sie verrotteten zuhauf unter den Trümmerbergen. Vielleicht, ging es Gerber durch den Kopf, gab es in der Stadt mehr Tote als Lebende.

Als gäbe es nicht schon genug Verwüstung, waren die Verblendeten, die sich Werwölfe nannten, in der Ruinenstadt unterwegs, die einmal das Herz von Hitlers Reich gewesen war. Allein der Gedanke an sie brachte Gerbers Blut in Wallung, und er musste sich zwingen, einen kühlen Kopf zu bewahren.

Vor vier Monaten hatten sie Jim erwischt. Zwei Eierhandgranaten hatten seinen Freund getötet, als sie einen Trupp Werwölfe gejagt hatten. Gerber hatte ihn noch aus dem unterirdischen Versteck der Nazibestien gezogen, um ihn ins nächste Lazarett zu bringen, aber einen Toten konnte man nicht mehr retten.

Manche bezeichneten die Werwölfe als Opfer, nicht als Täter. Opfer der Nazipropaganda, die den jungen Deutschen eingeimpft hatte, für ihren wahnsinnigen Traum vom arischen Weltreich bis zum Äußersten zu kämpfen. Nicht viele waren diesem Aufruf zu letzten Gräueltaten gefolgt, aber jeder Einzelne war eine Gefahr. Menschen, die glaubten, sie hätten nichts mehr zu verlieren, waren immer eine Gefahr. Terrorisieren und Töten, das war ihr Ziel. Sie wussten genau, was sie taten, und deshalb waren sie für Gerber Täter, keine Opfer.

Er durfte sich nicht beschweren, schließlich war er selbst bei Major Anderson vorstellig geworden und hatte seinen Vorgesetzten darum gebeten, ihn nach Berlin zu schicken. Der Hinweis eines Waffenschmugglers hatte das CIC auf die Spur der Berliner Werwölfe gebracht. Anderson, der mit Gerbers Kameraden Jim seinen Sohn verloren hatte, hatte ihm diesen Wunsch gern erfüllt. Der Major wusste, dass Gerber noch eine Rechnung offen hatte.

Die Einheit unter seinem Befehl bestand aus sechzehn Soldaten und einem blutjungen Second Lieutenant, Tom Novak, der ihm als Ersatz für Jim Anderson zugeteilt worden war. Natürlich konnte niemand Jim ersetzen, aber Gerber hatte beschlossen, Novak eine Chance zu geben.

Ein offener Jeep, auf dessen Motorhaube der weiße Stern im weißen Kreis prangte, brauste heran und umfuhr die Trümmer auf der Straße mit traumwandlerischer Sicherheit. Gerber griff nach der Thompson-Maschinenpistole, die vor ihm auf einer halb zersplitterten Kommode lag, und spähte durch eins der Fenster, in denen schon seit Monaten keine Scheiben mehr saßen, angestrengt auf die Straße. Wie er hielten auch seine Männer ihre Maschinenpistolen und Sturmgewehre schussbereit. Nicht weit vom Versteck der CIC-Einheit entfernt bremste der Fahrer ab, und seine Passagiere stiegen aus dem Wagen: drei amerikanische Offiziere. Sie riefen dem Mann am Steuer noch etwas zu und verschwanden zwischen den Trümmern auf der anderen Straßenseite, während der Jeep davonfuhr.

Nichts war geschehen, und die CIC-Männer entspannten sich wieder. Der vermeintliche Trümmerhaufen auf der anderen Straßenseite war der Eingang zur Flotten Ilse. So hieß das Kellerlokal, das sich bei den Amerikanern großer Beliebtheit erfreute. Für die Sieger war die Stadt der Trümmer und der Toten ein Paradies, in dem sie alles kriegen konnten, was das Herz begehrte. Für Dollars und Whiskey, für Zigaretten und Schokolade taten die überlebenden Deutschen alles, wirklich alles.

Lieutenant Novak huschte zu Gerber und ging neben ihm in Deckung, die Maschinenpistole in beiden Händen. «Fehlanzeige, Sir. Wie sicher ist es, dass die verfluchten Werwölfe bei der Flotten Ilse etwas vorhaben?»

«Das kann ich nicht sagen, Tom. Es ist der einzige Hinweis, den wir haben, also halten wir uns dran.»

«Ich meine ja nur, weil wir schon den vierten Abend hier auf der Lauer liegen. Die Männer werden allmählich unruhig und langweilen sich.»

«Was ihr gutes Recht ist, solange sie sich nicht dazu hinreißen lassen, aus Langeweile Mundharmonika zu spielen oder Songs von den Andrew Sisters zu singen. Dann wird sie ihre Langeweile vors Kriegsgericht bringen.»

«Gut, Sir, genau das werde ich ihnen sagen.»

Als Novak zurück zu seinem Trupp schlich, stieß der vierschrötige Sergeant McDuff, der neben Gerber lag, ein Grunzen aus. «Dem Ersten, der die Mundharmonika rausholt, breche ich die Finger, Sir.»

«Aber nicht die der Schusshand, Mac.»

Der Sergeant grinste. «Natürlich, Sir.»

Die Sonne tauchte hinter den Schutthaufen unter, als sei sie es leid, sich die Steinwüste zu betrachten. Die Straße vor ihnen lag bereits in tiefen Schatten. Ein dreiachsiger Lastwagen rumpelte die Straße entlang und hielt vor dem Kellerlokal.

Gerber sah die britische Kennung, und fünf Männer in britischen Uniformen sprangen heraus, bevor der Laster weiterfuhr. Sie verschwanden ebenso schnell im Eingang zur Flotten Ilse wie zuvor die Amerikaner.

«Der Schuppen ist bei allen beliebt, das muss man ihm lassen», flüsterte McDuff. «Bin gespannt, wann die ersten Froschfresser hier auftauchen.»

Der nächste Wagen, der das Lokal ansteuerte, war wieder ein amerikanischer Jeep. Nur zwei Männer saßen in dem offenen Wagen, und beide trugen Militärmützen. Der Mann auf dem Beifahrersitz kletterte etwas umständlich heraus.

Kaum stand er neben dem Wagen, da kam Bewegung in die Trümmerlandschaft. Dunkle Gestalten, bis gerade noch mit den Schatten verschmolzen, erhoben sich und streiften die Planen ab, mit denen sie sich so getarnt hatten, dass sie mit den Geröllhaufen eins geworden waren. Für Gerber sah es aus, als hätten sich die Toten aus dem Schutt erhoben.

Aber sie waren höchst lebendig, schwer bewaffnet und richteten ihre Waffen auf die beiden Neuankömmlinge. Denen blieb nichts anderes übrig, als überrascht die Hände zu heben.

Gerber zögerte keine Sekunde. Er brüllte den Angriffsbefehl, und die CIC-Männer stürmten aus ihrem Versteck.

Während er in geduckter Haltung auf die Straße lief, rief er den Werwölfen auf Deutsch zu: «Waffen fallen lassen und Hände hoch!»

Die Nazis, vier an der Zahl, hatten nicht vor, der Aufforderung zu folgen. Sie wirbelten herum und eröffneten das Feuer auf die CIC-Männer. Die waren schneller und in der Überzahl. Gerbers Feuerstoß traf einen jungen Mann in einer Tarnjacke, der gerade eine Stielhandgranate werfen wollte. Der Getroffene stolperte rückwärts, und die Granate in seiner Hand riss ihn in Stücke.

Die Explosion blendete Gerber für einen Moment, aber aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr: ein Schatten, der sich hastig entfernte, um mit der Ruinenlandschaft zu verschmelzen. Ein fünfter Werwolf!

Augenblicklich nahm Gerber die Verfolgung auf, und McDuff schloss sich ihm an.

«Was haben Sie gesehen, Sir?», fragte der Sergeant keuchend, als er Gerber einholte.

«Noch einen von der Bande.»

Sie hasteten, stolperten, kletterten durch die Trümmerlandschaft.

«Teilen wir uns auf», sagte Gerber im Flüsterton zu seinem Begleiter. «Sie nach links, ich nach rechts!»

«Ja, Sir. Seien Sie vorsichtig!»

Der Sergeant entfernte sich von Gerber, stapfte durch die Überreste eines turmartigen Gebäudes und verschwand aus seinem Blickfeld.

Auch Gerber arbeitete sich voran und wollte fast daran glauben, dass er sich den Schatten nur eingebildet hatte. Da nahm er wieder eine Bewegung wahr.

Er wischte sich mit dem Rücken der linken Hand über die Augen und nahm die Verfolgung auf, darum bemüht, möglichst leise zu sein. Vielleicht konnte er den Flüchtenden überraschen. Um ihn nicht zu warnen, unterließ Gerber es, nach McDuff zu rufen.

Ein kaum beschädigtes Haus, drei Stockwerke hoch, reckte sich vor ihm trotzig aus der Wüstenei. Der Schatten wollte es auf der linken Seite umrunden. Gerber wählte die rechte Seite und beschleunigte seine Schritte.

In geduckter Haltung lief er um das Haus, die Thompson feuerbereit in den Händen. Als er die Rückseite des Gebäudes erreichte, bog der Mann gerade um die Ecke: kaum älter als fünfzehn, spindeldürr, mit struppigen rotblonden Haaren und jeder Menge Sommersprossen in seinem sonst blassen Kindergesicht. Gerber las in seinen Zügen die nackte Panik. Den Wehrmachtskarabiner in seinen Händen schien er nur zu benutzen, um sich daran festzuhalten. Jedenfalls traf er keine Anstalten, die Waffe auf Gerber zu richten.

Der Junge blieb zitternd stehen, die weit aufgerissenen Augen auf Gerber gerichtet. Er rührte sich nicht und brachte keinen Ton heraus.

Gerber grinste ihn böse an und sagte auf Deutsch: «Klappe zu, Affe tot, wie man beim Zirkus sagt. Du hast gerade deine letzte Vorstellung gegeben.»

Die Lippen des anderen öffneten sich, und er stammelte mit leiser, unsicherer Stimme: «Sie … Sie sind … Deutscher?»

«Ich war Deutscher, bevor ihr Drecksnazis das Land übernommen habt. Solche wie du und die anderen Jäger. So nennt ihr euch doch stolz, oder? Und die Menschen, die ihr jagt, sind für euch nur Tiere, die man nach Belieben abknallen kann.»

Gerber hatte mit zunehmender Verbitterung gesprochen und dabei an Jim gedacht, dessen Tod ihn immer wieder in seinen Albträumen heimsuchte.

«Ich bin keiner von denen!», stieß der Junge hervor, und die zitternden Hände ließen den Karabiner los, der zu Boden fiel. «Ich habe nicht auf Sie geschossen. Als es losging, bin ich weggelaufen.»

«Dann hast du mit deinem Karabiner nur einen Abendspaziergang gemacht, hm?»

«Nein.» Der andere senkte den Blick und flüsterte. «Sie waren auf einmal da. Ich bin mit ihnen gegangen, weil ich mich rächen wollte. Und weil ich allein war. Ich hatte doch keinen mehr. Vor ein paar Tagen erst. Aber ich habe niemand etwas getan, das schwöre ich.»

«Rächen? Wofür?»

«Die Russen kamen in unser Versteck. Sie haben meine Mutter und meine beiden Schwestern …» Er sprach es nicht aus, Tränen rannen über sein Gesicht. «Ich musste dabei zusehen. Die ganze Nacht. Danach …»

«Was war danach?»

«Getötet», würgte der Junge hervor. «Alle drei. Vor meinen Augen.»

Jede Kraft wich aus seinem dünnen Leib. Er sackte vor Gerber auf die Knie und schluchzte hemmungslos.

Als der Junge den Kopf hob und ihn ansah, erkannte Gerber den Blick. Er hatte ihn im Krieg häufig gesehen. Der Junge hatte mit allem abgeschlossen.

«Töten Sie mich», wisperte er mit einer dünnen Stimme, die kaum noch hörbar war. «Bitte töten Sie mich …»

Gerber richtete die Mündung seiner Maschinenpistole auf den Knienden.

--

«Was war los, Sir?», fragte ein atemloser Sergeant McDuff, als Gerber ihm entgegenkam. «Ich habe einen Feuerstoß gehört.»

«Das war der fünfte Werwolf», antwortete Gerber grimmig. «Die Ratte liegt irgendwo zwischen den Trümmern. Ein Kadaver mehr. Lassen Sie uns zu den anderen gehen, bevor es so dunkel wird, dass wir uns hier die Knochen brechen.»

Als sie zum Ort des Überfalls zurückkehrten, gab Lieutenant Novak ihnen einen Lagebericht. Zwei Werwölfe waren getötet worden, die anderen beiden waren verwundet und würden ins Lazarett gebracht werden. Der CIC-Trupp hatte zwei Leichtverwundete zu beklagen, einen Streifschuss am Arm und einen Steckschuss im Oberschenkel.

«Nichts Dramatisches», fand Novak. «Alles in allem war die Aktion ein voller Erfolg.»

Gerber zündete sich eine Camel an. «Die Sache hätte auch anders ausgehen können, wenn ich den Mann mit der Handgranate nicht rechtzeitig erwischt hätte.» Er blickte zu dem Jeep mit den beiden Männern, denen der Überfall gegolten hatte. Beide hockten auf den Vordersitzen, rauchten und blickten eher gelangweilt drein, als gehe sie das Ganze nichts an. «Was sind das für Vögel?»

«Irgendwelche Filmfritzen, Sir. Ich hatte noch keine Zeit, mich weiter um sie zu kümmern. Zumindest ist ihnen nichts passiert.»

«Immerhin», knurrte Gerber und ging zu dem Sanitätstrupp, der seine Männer versorgte. «Meine Jungs kommen vor den Nazis ins Lazarett, klar?»

«Die Deutschen sind viel schwerer verwundet», entgegnete ein Sanitäter.

Gerber starrte ihn an. «Wen interessiert das, Sarge?»

Der Sergeant nickte und gab die Order weiter.

Gerber ging zu dem Jeep, wo der Fahrer gerade über eine Bemerkung des anderen lachte. Der Fahrer trug die Ärmelstreifen eines Corporal, aber sein Begleiter, ein kleiner Mann mit rundem Gesicht und Doppelkinn, trug zwar eine amerikanische Uniform, aber, wie auch die CIC-Männer, keinerlei Rangabzeichen.

«Die Stimmung ist ja bestens», sagte Gerber hart. «Es geht doch nichts über ein ordentliches Massaker vor dem abendlichen Umtrunk. Da hat man gleich was zu erzählen.»

«Wir haben das Feuerwerk nicht bestellt», sagte der kleine Mann ohne Rangabzeichen. «Die Sache hält uns allerdings nicht davon ab, einen Schluck zu uns zu nehmen. Corporal Donovan hat mich den ganzen Tag durch Berlin kutschiert und ist entsprechend durstig. Ich gebe zu, mir geht es ähnlich bei der Hitze und dem Staub.»

«Eine Spritztour durch Berlin? Wer sind Sie überhaupt?»

Corporal Donovan machte sich kerzengerade und sah Gerber empört an. «Na, hören Sie mal, Mr. Wilder ist einer der berühmtesten Filmregisseure von Hollywood!»

«Klar doch», erwiderte Gerber mit einem breiten Grinsen. «Und ich bin der Reichsgartenbeauftragte des Führers auf der Suche nach Setzlingen für die Blumenbeete der Reichskanzlei.»

Der kleine Mann auf dem Beifahrersitz kniff die Augen zusammen und prustete vor Lachen los. «Sie sind richtig komisch. Wir beide sollten unbedingt zusammen einen trinken!»

--

Zwei Stunden später herrschte in der Flotten Ilse Hochstimmung. Das Hämmern des Klaviers, irgendein deutscher Gassenhauer, war bis nach draußen zu hören, und ebenso die etwas zu schrille Frauenstimme, die dazu trällerte. Gerber hatte sich frisch gemacht und eine saubere Uniform angezogen. Der Filmfritze hatte ihn eingeladen und wollte hier auf ihn warten. Unter den Trümmern lachte, sang und trank Berlin – oder das, was davon übrig war.

Eine nicht ganz vertrauenerweckende Steintreppe, nur beleuchtet von einem Kerzenstummel an der Wand, führte in den Keller. Am Ende der Treppe saß ein hagerer Alter mit einem Triefauge, am Leib eine viel zu große Portierslivree.

«Ist alles voll heute Abend, Captain», sagte er in einem furchtbaren Englisch. Wahrscheinlich war jeder Amerikaner für ihn ein Captain.

«Ich werde erwartet.»

Nichts in dem zerfurchten Gesicht des Alten ließ erkennen, ob er ihn verstanden hatte. Vielleicht hätte Gerber Deutsch mit ihm sprechen sollen.

«Alles voll, Captain, alles voll», sagte der Portier monoton, während in dem Lokal die Musik erstarb und von johlendem Beifall abgelöst wurde.

Gerber nahm eine Packung Wrigley’s Spearmint aus der Tasche und zog einen Kaugummistreifen heraus, den er vor dem Alten auf den Tisch legte. Betont langsam fügte er einen zweiten Streifen hinzu. Kaugummi stand hoch im Kurs, nicht nur bei den Deutschen. In den Staaten hatte Wrigley’s den Vertrieb aufgrund kriegsbedingter Mangelwirtschaft eingestellt. Was noch produziert wurde, ging direkt an die kämpfende Truppe in Übersee.

Ein Zucken im Gesicht des Alten sollte wohl seine Freude bekunden. Er strich die beiden Spearmint-Streifen ein und sagte: «Bitte eintreten, Captain, ja? Bitte eintreten!»

Die Schiebetür war schwergängig, quietschte und ruckelte, als Gerber sie aufschob. Der Portier traf keine Anstalten, ihm zu helfen. Ein schwerer, muffiger Vorhang hing in Gerbers Gesicht, und er kämpfte sich durch den Stoff in das Lokal.

Eine wahrhaft atemberaubende Wolke umhüllte ihn. Der schwere Geruch von Tabak, Alkohol, Parfüm, Paraffin und erhitzten Leibern. Elektrisches Licht gab es nicht, nur Öllampen und Kerzen. Auf einer Bühne saß ein älterer Mann im zerschlissenen Frack am Klavier und nutzte die Musikpause, um ein Bierglas zu leeren. Die brünette Sängerin, die ein kurzes Glitzerkleid trug, stand am Bühnenrand und nahm den Beifall des uniformierten Publikums entgegen. Viele der Männer standen dicht vor ihr, reichten ihr Schokolade, Kekse oder Seidenstrümpfe, und dabei glitten etliche Hände über den schlanken Frauenkörper.

Der Filmfritze, Mr. Wilder, saß allein an einem Tisch, weit nach vorn gebeugt, und kritzelte etwas in ein Notizbuch. Als Gerber zu ihm trat, blickte er auf.

«Setzen Sie sich doch, Lieutenant, ich habe mir gerade eine Szene notiert. Gute Szenen kann man immer gebrauchen. Aufgepeitschte Soldaten umlagern eine Sängerin nach dem Auftritt und bejubeln sie stürmisch. Erst nach einer ganzen Weile bemerken sie, dass die Sängerin, die sie in ihrer Mitte wähnen, gar nicht mehr da ist. Schnitt, und wir sehen, dass sie längst in ihrer Garderobe sitzt und sich umzieht. Was halten Sie davon?»

Gerber nahm Platz und winkte einer Bedienung, deren Kleid nur unwesentlich länger ausfiel als das der Sängerin. «Sehr hübsch, wenn Sie die Dietrich dafür kriegen.»

«Marlene?» Wilder nickte, griff nach seinem Bleistift und schrieb ihren Vornamen unter die eben skizzierte Szene. «Eine gute Idee, Lieutenant. Muss ich Sie eigentlich den ganzen Abend so nennen? Das sind drei lange Silben.»

«Dann sagen Sie Phil, das ist nur eine.»

«Und ich bin Billy, das sind zwei kurze.» Als sie sich die Hände reichten, fuhr Wilder fort: «Danke für die Lebensrettung, Phil. Mit dem Schießen habe ich es im Gegensatz zu Ihnen nicht so, auch wenn ich nach einem Westernhelden benannt bin. Als Kind habe ich Wildwestgeschichten geliebt, und meine Mutter gab mir den Spitznamen nach Wild Bill Hickok.»

«Dann setzen Sie sich bloß nicht mit dem Rücken zur Tür», sagte Gerber in Anspielung auf den legendären Revolverhelden Hickok, der in einem Saloon durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet worden war.

Wilder lachte und steckte das Notizbuch ein.

Gerber ließ seinen Blick durch den verräucherten Keller schweifen. «Sind Sie öfter hier?»

«Fast jeden Abend. Hier ist eine Menge los, wie Sie sehen.»

«Die Werwölfe haben es auch gemerkt. Wenn die Ihre Vorliebe für den Laden kannten, ist mir klar, warum sie Ihnen hier aufgelauert haben.»

Die Kellnerin kam, und Gerber bestellte Bier. «Könnte ich auch etwas zu essen bekommen?»

Sie lächelte. «Ich empfehle die Bratkartoffeln.»

«Was haben Sie sonst noch anzubieten?»

«Bratkartoffeln und Bratkartoffeln.»

«Dann nehme ich die Bratkartoffeln», sagte Gerber, und Wilder schloss sich ihm an.

Der Klavierspieler hämmerte wieder auf die wehrlosen Tasten ein, und die Sängerin, die ihre eingesammelten Schätze in Sicherheit gebracht hatte, sang das Lied von der feschen Lola.

Wilder verzog das Gesicht. «Das kann Marlene wirklich besser.»

«Haben Sie sich in Hollywood kennengelernt, Sie und die Dietrich?»

«Nein, noch hier in Berlin. Bevor wir beide, unabhängig voneinander, beschlossen haben, dass wir nicht in einem Land leben wollen, in dem Schlägertrupps, die Wehrlose niederknüppeln, das höchste Kulturgut darstellen. Marlene war schon in Hollywood, als der größenwahnsinnigste Feldherr aller Zeiten in Deutschland an die Macht kam. Sie hat allen Lockangeboten von Goebbels widerstanden, heim ins Reich zu kommen. Obwohl sie mal sagte, vielleicht hätte sie den kleinen Adolf im Bett auf andere Gedanken bringen können.» Wilder trank einen Schluck. «Ich bin direkt nach der Machtübernahme weg, erst einmal 1933 nach Paris, weil mein Französisch besser war als gar kein Englisch, im Jahr darauf dann in die Staaten. Und Sie? Ihre Aussprache verrät die deutschen Wurzeln.»

«Ich bin dreiunddreißig mit meiner Familie in die Staaten gegangen.»

«Glück für Sie, Phil. Meine Eltern und andere aus meiner Familie haben es nicht geschafft. Hier in Berlin suche ich das Grab meines Vaters.»

«Mit Erfolg?»

Wilder schüttelte den Kopf. «Jede Menge Gräber und noch mehr Tote, aber meinen Vater habe ich noch nicht gefunden.»

«Und sonst? Wie nennt man Sie, wenn Sie im Dienst sind, Lieutenant Billy oder Captain Billy? Ich sehe keine Rangabzeichen an Ihrer Uniform.»

«Und ich keine an Ihrer.»

«Beim CIC ist das nicht üblich. Aber Sie gehören nicht zu unserem Verein.»

«Nein, ich bin noch nicht einmal Soldat, obwohl ich in den Diensten der U.S. Army stehe. Ich bin also einfach nur Mr. Wilder. Die Uniform trage ich, damit man mich nicht aus Versehen für einen übrig gebliebenen Nazi hält und abballert. Ich arbeite für Psychwar.»

«Psychologische Kriegsführung? Was psychologisieren Sie da?»

«Der Film ist wichtig für die Psyche der Menschen. Ich soll Konzepte für den deutschen Film der Nachkriegszeit entwickeln.» Wilder blickte sich in dem unzureichend beleuchteten Lokal um. «Obwohl Kinofilme wohl nicht das sind, was die hier am dringendsten brauchen. Erst einmal sollten Strom, Gas und Wasserleitungen wieder funktionieren.»

Die Kellnerin brachte das Bier, und Wilder hob sein Glas. «Auf die Scheißnazis, die uns hier zusammengeführt haben, Lieutenant Phil!»

Auch Gerber hob sein Glas. «Auf die Scheißnazis! Mögen sie unter den Trümmern verrotten!»

// Kapitel 1 //

Frankfurt. Dienstag, 1. August 1961

Die Luft roch nach Kerosin und Gummi.

In seinem Rücken das Vorfeld mit geparkten Flugzeugen, auf ihren Einsatz wartenden Bussen, Tankwagen, Gangways und weiteren Gerätschaften, stand Philipp Gerber vor den Flughafengebäuden, legte den Kopf in den Nacken und suchte mit zusammengekniffenen Augen die Front aus Beton und Glas ab. Obwohl es für einen Augusttag nicht besonders heiß war, schwitzte er wie nach einem Langstreckenlauf. Am liebsten hätte er sich das Jackett vom Leib gerissen. Er hatte keine Zeit mehr.

Über ihm war bereits die Transatlantik-Maschine der Pan Am, gleich einem Riesenvogel, am Himmel aufgetaucht und setzte zur Landung an. Wenn sich die Frau am Telefon keinen schlechten Scherz erlaubt hatte, lief gerade die Uhr für einen der Passagiere ab.

Fahren Sie schnell zum Flughafen! Nach der Landung wird ein Anschlag auf General Anderson verübt!

Eine Frau mit einer kehligen Stimme, eine knappe Nachricht, die keine Nachfrage erlaubte, und dann hatte sie auch schon wieder aufgelegt.

Gerber hatte bei der Sicherungsgruppe angerufen und Erwin Sattler in kurzen Worten unterrichtet. Er hatte Sattler gebeten, die Frankfurter Polizei zu alarmieren. Dann war er im Laufschritt aus dem Hotel an der Offenbacher Landstraße gestürmt, hatte sich in den Kapitän P 2,6 geworfen, den er erst vor Kurzem gebraucht gekauft hatte, und war unter Missachtung jeglicher Verkehrsregeln zum Flughafen gerast.

Er hatte nur wenige Worte mit dem Leiter der kleinen Flughafenwache gewechselt, deren Beamte jetzt am Rand der Landebahn bereitstanden. Sie sollten den Super-Clipper abschirmen. Die Besatzung hatte über Funk Anweisung erhalten, niemanden herauszulassen, bis Entwarnung gegeben wurde.

Hätten sie nur mehr Zeit gehabt! Ausgerechnet heute kam der Nonstop-Flug aus New York dank günstiger Windverhältnisse nach weniger als acht Flugstunden an, früher als erwartet.

Gerber ließ seinen Blick unentwegt über die Mauern, Tore und Fenster des großen, ständig wachsenden Airports schweifen. Die Sonne brach durch die Wolken und wurde von Hunderten Fensterscheiben reflektiert. Er beschattete die Augen und verfluchte sich dafür, dass er die Sonnenbrille im Wagen gelassen hatte.

Den Blick auf die vielen noch fensterlosen Rohbauten zu richten, die auf Deutschlands größtem Flughafen sprossen wie Blumen auf einer Frühlingswiese, war dagegen eine Wohltat. Keine Fenster, die ihn blendeten. Nicht überall wurde gearbeitet, als gäbe es mehr Baustellen als Bauarbeiter. Tatsächlich wurde das westdeutsche Wirtschaftswunder von einem Mangel an Arbeitskräften geplagt, und man hatte Arbeiter aus Italien, Spanien und jüngst auch aus Griechenland ins Land geholt. Gastarbeiter, wie der Volksmund sie nannte, aus anderen Ländern sollten folgen.

Die Douglas DC-7 der Pan American World Airways setzte hinter Gerber unter ohrenbetäubendem Lärm auf, aber seine ganze Aufmerksamkeit gehörte einem Rohbau mit freiem Blick auf die Landebahn. Eine der Baustellen, auf der heute offenbar nicht gearbeitet wurde. Und trotzdem hatte er dort etwas aufblitzen sehen. Kurz nur, dann war es wieder verschwunden. Konzentriert richtete er seinen Blick auf die betreffende Stelle. Da war es wieder, im obersten Stock des sechsgeschossigen Gebäudes. Ein kaum wahrnehmbarer Lichtreflex. Es musste ein kleiner Gegenstand sein, ein Feuerzeug – oder ein Zielfernrohr. Gerber rannte los.

Der Pilot des Super-Clippers hatte eine saubere Landung hingelegt, und die viermotorige Douglas rollte aus, während Gerber in den Schatten des Rohbaus eintauchte. Unwillkürlich musste er an das Telegramm denken, das Hiram C. Anderson ihm vor einer Woche geschickt hatte.

BESUCHE DEUTSCHLAND MIT JUNE UND BART. ANKUNFT FFM 1. AUGUST. KOMM BITTE. WICHTIGE NACHRICHT FÜR DICH. ANDERSON.

Gerber hatte sich ein paar Tage freigenommen und war schon gestern nach Frankfurt gefahren, um seinen ehemaligen Vorgesetzten samt Tochter und Schwiegersohn vom Flughafen abzuholen. Ein Zusammentreffen, das nicht einer gewissen Ironie entbehrte. War June doch einmal seine Verlobte gewesen, und Bart alias Bartlett Beauville nahm jetzt den Platz ein, der einmal ihm zugedacht gewesen war.

Auf der Betontreppe nahm er mit jedem Schritt zwei Stufen, und die Gedanken an den schneidigen General, seine schöne Tochter und den ihm persönlich unbekannten Schwiegersohn lösten sich auf, je näher er seinem Ziel kam. Er trat so leise wie möglich auf, zog die FN Browning aus dem Schulterholster, lud die Waffe durch und entsicherte sie.

Ein Stockwerk trennte ihn noch von seinem Ziel. Die Luft war trocken und staubig, roch schwer nach Beton, Mörtel und Zement. Er unterdrückte den starken Hustenreiz in seiner Kehle. Auf den letzten Stufen trat er so leise auf wie ein von seiner Frau auf Diät Gesetzter, der nachts heimlich zum Kühlschrank schleicht. Der Baustaub, der unter seinen Sohlen knirschte, wollte ihn bei jedem Schritt verhöhnen.

Als er, die Dienstpistole in der Rechten, das oberste Stockwerk betrat, bestätigte sich sein Verdacht. Eine Gestalt im dunklen Overall, auf dem Kopf eine ebenfalls dunkle Ballonmütze, lag bäuchlings auf dem Boden und hatte den langen Lauf eines Gewehrs durch eine der unverglasten Fensteröffnungen auf die Landebahn gerichtet. Auf der Waffe saß ein Zielfernrohr, er hatte sich vorhin also nicht getäuscht.

«Die Hände von der Waffe und ganz langsam umdrehen!»

Die Gestalt am Fenster nahm vorsichtig die Hände von der Waffe und drehte sich bedächtig um, die behandschuhten Hände mit den Handflächen nach vorn zu ihm gestreckt. Das ovale Gesicht, aus dem ihn große, dunkle Augen anstarrten, kam ihm bekannt vor, auch wenn er es nicht einordnen konnte. Es war ein schönes Gesicht, das Gesicht einer Frau Anfang vierzig. Eine leicht gebogene Nase, ein sinnlich geschwungener Mund. Dunkle Locken lugten unter der Mütze hervor. In ihrem Blick lag Überraschung, aber keine Furcht.

Als er das Aufblitzen in ihren Augen sah, war er sofort gewarnt. Instinktiv ließ er sich fallen, und keine Sekunde später flog eine Kugel über ihn hinweg, um weit hinter ihm an einer unverputzten Mauer abzuprallen. Dann erst hörte er den Schuss.

Ein Komplize!

Gerber war so unvorsichtig gewesen, ihm direkt vor die Mündung zu laufen.

Der Schütze stand zehn oder zwölf Meter vor ihm. Ein junger Mann mit sehr kurzen Haaren und einem ausdruckslosen Gesicht. Er trug eine dunkle Jacke und hielt in der rechten Hand eine Selbstladepistole. Die Hand senkte sich, um einen weiteren Schuss auf den jetzt bäuchlings am Boden liegenden Gerber abzugeben.

Gerber war schneller und traf den anderen in die Brust. Der schoss ebenfalls, war aber schon getroffen und verfehlte sein Ziel um einen halben Meter. Er taumelte rückwärts und stürzte durch eine Fensteröffnung ins Nichts. Gerber hörte keinen Schrei, als der Mann vom sechsten Stock in die Tiefe fiel.

Augenblicklich wirbelte Gerber zu der Frau im Overall herum, bereit, erneut zu schießen. Aber sie hockte in unveränderter Position am Boden und blickte ihn abwartend an. Ihre Hände hatte sie noch immer ausgestreckt, um ihm zu zeigen, dass keine Gefahr von ihr ausging.

Unvermittelt begann sie zu lächeln. «Danke, Sie haben mir wohl das Leben gerettet. Vielen Dank!»

Sie sprach Deutsch mit einem starken russischen Akzent, und Gerber begann zu dämmern, woher er das Gesicht kannte. Er hatte es vor vielen Jahren gesehen, im Krieg. Es war ein Foto in einem Dossier über sowjetische Scharfschützinnen gewesen. «Die Furie von Stalingrad», schoss es ihm durch den Kopf, und noch ein anderer Name tauchte aus dem Archiv seiner Erinnerungen auf: «Stalins schöne Henkerin».

Sein Blick glitt zu der Waffe, einem Mosin-Nagant-Repetiergewehr, wie es die Russen schon seit siebzig Jahren bauten. Mit einem ähnlichen Modell hatte diese Frau schon bei der Schlacht um Stalingrad auf deutsche und rumänische Soldaten geschossen. Er durfte die Russin nicht unterschätzen.

Fünf Patronen passten ins Magazin. Fünf Schüsse. Dieser Frau würde ein einziger Schuss genügen, um Gerber ins Jenseits zu befördern.

Er hielt seine Browning weiterhin auf sie gerichtet. «Ich glaube zwar, dass ich eben ein Leben gerettet habe, aber nicht das Ihre.»

«Der Mann, den Sie getötet haben … er hätte sonst mich erschossen!»

«Ihr Komplize hätte kaum auf Sie geschossen, schließlich sind Sie als ‹Heldin der Sowjetunion› ausgezeichnet worden.»

«Oh, Sie kennen mich?»

Gerber nickte. «Major Galina Walentina Markowa, geboren 1918 in Swerdlowsk, das damals noch Jekaterinburg hieß. Früher in der Roten Armee, jetzt beim KGB.»

«Sie sind gut unterrichtet.»

Die Frau lächelte und deutete eine Verbeugung an. Dabei bewegte sie sich ein kleines Stück in Richtung der Waffe.

«Bleiben Sie genau da, wo Sie sind, Major!», fuhr Gerber sie an. «Ich weiß, wie flink Sie mit dem Mosin-Nagant sind.»

«Warum sollte ich Sie töten wollen? Sie sind schließlich mein Retter! Darf ich erfahren, mit wem ich es zu tun habe?»

«Hauptkommissar Philipp Gerber vom Bundeskriminalamt.»

«Ich habe schon von Ihnen gehört, Herr Gerber. Im Krieg haben Sie für die Amerikaner gekämpft. Da waren wir Verbündete.»

«Das ist lange her. Sprechen wir lieber über die Gegenwart. Ich nehme Sie wegen versuchten Mordes vorläufig fest.»

«Wohl kaum», sagte die Russin ruhig. «Ich genieße nämlich diplomatische Immunität.»

Auf der Treppe näherten sich Schritte, und als die ersten uniformierten Polizisten im sechsten Stock des Rohbaus erschienen, hatte sich Gerber von dieser Eröffnung noch nicht ganz erholt.

Er schob die Browning zurück ins Holster, eilte die Treppe nach unten und ließ die Scharfschützin, diplomatische Immunität hin oder her, in der Obhut der Uniformierten zurück. Vergeblich versuchte er, in seinem Kopf Ordnung zu schaffen, die Fakten in einen Zusammenhang zu bringen. Hiram C. Anderson hatte seine Karriere beim Militär und damit auch beim CIC nach der unseligen Nitribitt-Affäre vor vier Jahren beendet. Warum sollte der KGB ausgerechnet jetzt auf die Idee kommen, ihn zu beseitigen?

Die Sonne hatte sich vollends durchgesetzt und blendete Gerber, als er aus dem Halbdunkel des Rohbaus ins Freie trat. Gerade wurde die Gangway zu der Douglas DC-7 geschoben. Der erste Vorfeldbus, der an einen amerikanischen Truck mit Auflieger erinnerte, rollte heran.

In Gerbers unmittelbarer Nähe scharten sich Uniformierte und Männer in Zivil um den Mann, der sechs Stockwerke in die Tiefe gestürzt war. Er lag in seltsam verrenkter Haltung, halb auf dem Rücken und halb auf der rechten Seite. Eine Armlänge neben ihm lag seine Waffe, eine sowjetische Makarow. Das Gesicht sagte Gerber auch bei eingehender Betrachtung nichts.

Er zeigte den Polizisten seine Dienstmarke, und sie stellten ihm einen feingliedrigen Mittvierziger, der sich über den reglosen Mann beugte, als Dr. Körber vor, Flughafenarzt.

«Ja, ich bin der zuständige Arzt», sagte Körber, als er sich aufrichtete und Gerber anblickte. «Aber für diesen Unglücklichen hier bin ich nicht zuständig. Der ist ein Fall für den Bestatter.»

«Des einen Unglück ist des anderen Glück», sagte Gerber frostig. «Wer auf Menschen schießt, darf sich nicht beklagen, wenn es ihn selbst erwischt.»

Gerber wandte sich an die Beamten vom zehnten Frankfurter Polizeirevier, das am Flughafen eine Außenstelle betrieb. «Konnten Sie die Identität des Toten feststellen?»

Ein Polizist reichte ihm zwei Dokumente. «Führerschein und Personalausweis lauten auf einen Horst Rechlin, 1935 in Breslau geboren, wohnhaft in West-Berlin.»

Es sah nach einem echten West-Berliner Personalausweis aus. Er war grün und nicht grau wie die westdeutschen, auch fehlte der Bundesadler auf dem Umschlag. Ausgestellt hatte ihn laut Vermerk «Der Polizeipräsident in Berlin». In beiden Dokumenten prangte das gleiche Foto, das recht eindeutig den Mann am Boden zeigte, nur ein paar Jahre jünger.

«Auf den ersten Blick wirken die Papiere echt», sagte Gerber und gab sie dem Polizisten zurück.

«Haben Sie Zweifel daran?», fragte der uniformierte Kollege.

«Ich würde mich nicht wundern, wenn der KGB oder das Ministerium für Staatssicherheit dahinterstecken. Die kriegen unsere Pässe genauso gut hin wie wir selbst.»

Ein vierschrötiger Mann bahnte sich einen Weg durch die Umstehenden und ließ sich auch von den Polizeibeamten nicht aufhalten. «Lassen Sie mich durch!», verlangte er in einem Deutsch, in dem ein starker amerikanischer Akzent mitschwang. Gerber musste zweimal hinschauen, um ihn zu erkennen. Was hauptsächlich an dem hellen Sommeranzug lag, trug er sonst doch stets eine tadellos sitzende Uniform.

«Staff Sergeant Brodie», entfuhr es Gerber, als der Mann vor ihm stand, der General Anderson loyal als Chauffeur, Koch, Butler, Gärtner und Leibwächter gedient hatte.

«Einfach nur Brodie, Captain Gerber, ich bin kein Soldat mehr. Trotzdem wollte ich es mir nicht nehmen lassen, den General und Miss June abzuholen. Man hat mich gebeten, mich während seines Aufenthalts in Frankfurt um den General zu kümmern. Aber was ist hier los?» Der Mann, der Gerber unverzagt mit seinem ehemaligen CIC-Dienstrang ansprach, sah zu dem Super-Clipper hinüber, auf dessen Gangway die ersten Passagiere erschienen.

«Ein Anschlag auf den General, wie es aussieht», sagte Gerber und deutete auf den Toten. «Ich konnte das Schlimmste gerade noch verhindern.»

Brodie grinste breit. «Wenn John Wayne mit der Kavallerie nicht rechtzeitig kommt, dann aber Captain Gerber. Danke, dass Sie zur Stelle waren!»

«Es war verdammt knapp. Kümmern Sie sich jetzt lieber um den General und seine Familie. Ich komme zu Ihnen, sobald ich kann. Wo kommt Anderson unter?»

«In seiner ehemaligen Villa am Mozartplatz natürlich. Unser alter Verein nutzt sie noch als Gästehaus.»

Er nickte Gerber zu und ging hinüber zur gelandeten Maschine. In dem Moment führten zwei Polizisten die Scharfschützin nach draußen. Einer der Männer trug das Mosin-Nagant-Repetiergewehr, das er mit einem Taschentuch am Lauf festhielt.

Gerber ging zu ihnen und sagte: «Die Waffe soll auf Fingerabdrücke untersucht werden. Wo bringen Sie die Frau hin?»

«Erst mal aufs zehnte Revier, zur erkennungsdienstlichen Behandlung», erklärte einer der beiden. «Auch wenn sie behauptet, eine Diplomatin zu sein. Sie hatte jedenfalls das hier bei sich.»

Er zog einen sowjetischen Diplomatenpass aus seiner Uniformjacke, den er Gerber reichte. Das Dokument war auf Galina Walentina Markowa ausgestellt.

Die Gleichgültigkeit in dem schönen Gesicht der Russin wandelte sich zu einem Ausdruck des Unmuts.

«Ich will den Pass wiederhaben, sofort!»

«Sofort ist nicht», erwiderte Gerber und gab den Pass dem Polizisten zurück. «Sie sind hier in Deutschland, da müssen die Behörden alles sehr sorgfältig prüfen.»

// Kapitel 2 //

Gerber hatte das Gefühl, jemand hätte die Zeit um Jahre zurückgedreht, als Kyle Brodie ihm die Eingangstür zur Villa am Mozartplatz öffnete. Beim Läuten hatte sogar Andersons schrille Türglocke mit der Battle Hymn of the Republic das Haus erschüttert. Hätte Brodie Uniform getragen, wäre die Illusion einer Zeitreise perfekt gewesen.

«Sie kommen spät, Sir.»

Brodie bediente sich jetzt seiner Muttersprache, in der er sich eindeutig wohler fühlte.

«Auf dem Flughafen gab es noch einiges zu regeln.» Auch Gerber sprach Englisch, fügte aber auf Deutsch hinzu: «Papierkram.»

Brodie lächelte verstehend und zeigte zu Gerbers Wagen, den er vor dem Haus geparkt hatte. «Immer noch ein schwarzer Opel Kapitän, wie ich sehe.»

«Nur ein neueres Modell. Dafür haben Sie Ihre schmucke Uniform gegen einen schicken Anzug eingetauscht.»

«Ich bin jetzt Geschäftsmann. Mir gehört hier in Frankfurt ein Jazz-Club. Na ja, ich bin Teilhaber, um ehrlich zu sein.»

«Doch nicht etwa …»

«Ja, das Fun Spot am Opernplatz.» Brodie, ein begnadeter Jazz-Trompeter, lächelte etwas verlegen. «Jazz ist nun mal mein Ding. Und in all den Jahren habe ich mich so an Frankfurt gewöhnt, dass es für mich eine zweite Heimat geworden ist. Aber es ist auch schön, noch einmal in diesem Haus General Anderson und Miss June zu beherbergen. Die Umstände könnten allerdings etwas erfreulicher sein.»

Bei den letzten Worten blickte er zu den beiden Uniformierten, die aufgrund des Vorfalls am Flughafen vor der Villa Wache hielten. Der Sergeant und der Private First Class der US-Militärpolizei hatten auch Gerber überprüft, als er das Grundstück betreten hatte. Ihr grün-weißer Ford Taunus 17M, wegen seiner rundlichen Form allgemein Badewannen-Taunus genannt, parkte vor Gerbers Kapitän.

Im Hausflur blieb Brodie stehen und blickte sich suchend um. «Zu meiner Zeit lag hier immer eine Kleiderbürste griffbereit. Wenn Sie verzeihen, Captain, aber man sieht Ihrem Anzug die Aufregungen dieses Tages an.»

Gerber sah an sich hinunter und bemerkte erst jetzt die vielen Flecken auf seinem anthrazitfarbenen Anzug.

«Das mit der Bürste ist eine gute Idee, Brodie. Ich werde daran denken, wenn ich das nächste Mal auf eine Baustelle laufe, um ein Attentat zu verhindern.»

Brodie fand die gesuchte Kleiderbürste und sogar eine Schuhbürste, und Gerber brachte mithilfe des ehemaligen Staff Sergeant seine äußere Erscheinung in eine einigermaßen vorzeigbare Form.

Im Salon saßen General Anderson, seine Tochter und sein Schwiegersohn bei Bourbon und Kaffee. Gerber entschied sich für einen Bourbon, der ihm nach der Aufregung guttun würde.

Hiram C. Anderson wuchtete seinen kräftigen Körper aus dem Sessel, reichte Gerber eine Hand und klopfte ihm mit der anderen auf die Schulter.

«Gut, dich zu sehen, Phil. Ich kenne zwar weder die Hintergründe noch die Einzelheiten, aber es sieht ganz so aus, als hättest du mir am Airport die Haut gerettet. Ich danke dir!»

Er trug einen leichten, taubenblauen Dreiteiler, und das wirkte an ihm ebenso falsch wie der helle Sommeranzug an Kyle Brodie. Gerber kannte den ehemaligen CIC-Offizier fast nur in Uniform. Der General hatte noch seinen militärisch wirkenden Bürstenhaarschnitt, und das Schnarren seiner Reibeisenstimme verriet, wie sehr er das Befehlen gewöhnt war. Die Vorstellung, dass alles, was Andersons Leben in den vergangenen Jahrzehnten ausgemacht hatte, für ihn bedeutungslos geworden war, erschien Gerber befremdlich. Ein Hiram C. Anderson, der seine Zeit im Schaukelstuhl verbrachte und John Steinbeck las, war ein surreales Bild.

«Philipp ist immer wieder unser rettender Engel, vor vier Jahren schon und jetzt wieder», sagte June, die neben ihrem Mann auf einem Sofa saß, das bei Gerbers letztem Besuch in der Villa noch nicht hier gestanden hatte. In ihrem ärmellosen, gepunkteten Bleistiftkleid, das ihren schlanken Leib in fast verbotener Perfektion eng umhüllte, strahlte sie eine lässige Eleganz aus, die dem ernsten Anlass nicht recht angemessen erschien. Aber bei der Wahl ihrer Reisekleidung hatte sie gewiss nicht daran gedacht, in einen Anschlag auf das Leben ihres Vaters verwickelt zu werden.

Bartlett William Beauville erhob sich und reichte Gerber auch die Hand. «Ich schließe mich dem Dank meines Schwiegervaters an, Mr. Gerber, wenn ich in der ganzen Angelegenheit auch noch viel unwissender bin als er. Diese ganze Geheimdienstwelt ist mir so unverständlich wie einem Texas-Cowboy die Schafzucht.» Er war schlank, aber nicht hager, und einen halben Kopf kleiner als Gerber. Die randlose Brille und der dunkle Anzug ließen ihn seriös wirken, aber sein offenes Gesicht verhinderte, dass die Seriosität in Strenge umschlug.

«Und so soll es auch bleiben», fügte June hinzu, als sie aufstand und seinen linken Ellbogen mit beiden Armen umklammerte. «Schließlich habe ich einen Harvard-Dozenten geheiratet und keinen Haudrauf.»

Das belustigte Funkeln ihrer Augen verriet, dass sie Gerber mit der Bezeichnung als Haudrauf nicht beleidigen wollte. Es war ihre eigene Art, mit der ungewöhnlichen Situation umzugehen, dass sich ihr Ehemann und ihr Ex-Verlobter gegenüberstanden.

Gerber winkte ab und ließ sich in einem Sessel nieder. «Genug der Dankesreden. Ich hatte einfach das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Und das auch nur, weil ich kurz vorher einen Hinweis erhalten hatte. Sonst wäre die Sache ganz anders ausgegangen.»

Er nippte an seinem Bourbon und genoss den Geschmack, weich und würzig zugleich. Es sollte bei dem einen Glas bleiben, wenn er einen klaren Kopf behalten wollte.

Während sich June und ihr Mann wieder setzten, fragte der General: «Was für ein Hinweis, Phil?»

Gerber erzählte von dem Anruf in seinem Hotel.

Anderson fuhr mit der Hand über seine kurzen Haare, wie um die Gedanken in seinem Kopf zu ordnen. «Eine Frau, sagst du. Wer …»

«Sie hat sich nicht vorgestellt. Von der Stimme her, die sehr kehlig klang, würde ich sie eher jünger als älter einschätzen. Sie sprach Hochdeutsch ohne Akzent. Und das ist auch schon alles, was ich sagen kann.»

«Soweit ich gehört habe, soll es sich um zwei Attentäter handeln. Was weißt du über sie?»

Gerber räusperte sich und sah zu June und Bartlett Beauville hinüber.

June beugte sich zu ihrem Mann hinüber und sagte im verschwörerischen Ton: «Ich glaube, jetzt wird es dienstlich. Nichts, was für die Ohren von Normalsterblichen bestimmt ist. Was hältst du von einem Spaziergang durch den lauen Sommerabend, Liebling? Ganz in der Nähe ist ein hübscher Park.»

«Eine gute Idee», fand Anderson. «Aber nehmt einen der beiden MPs mit, nur zur Sicherheit.»

June machte ein unglückliches Gesicht. «Die beiden sollen dich bewachen, Dad, nicht uns.»

«Ich habe ja noch Phil und Brodie, die auf mich aufpassen.»

«Aber mit einem MP im Genick wird der Spaziergang nicht besonders romantisch werden.»

«Dafür aber besonders sicher. Also tut mir den Gefallen. Und nehmt euch Zeit. Geht unterwegs ruhig etwas essen.»

June stand auf und zog Beauville mit sich vom Sofa. «Komm, Bart, das nennt man einen Rauswurf erster Klasse.» Sie grinste ihren Vater an. «Wir werden uns ein teures Lokal aussuchen und dir die Rechnung präsentieren, Dad.»

Er grinste zurück. «Einverstanden, June. Es geht ohnehin von deinem Erbe ab.»

Als die beiden den Salon verlassen hatten, zog Anderson ein schmales Zigarrenetui aus braunem Leder hervor. «Möchtest du, Phil?»

Gerber hob abwehrend die Hand und griff nach seiner Camel-Packung. «Danke, General, ich bleibe bei meinen eigenen. Ich bin halt eine treue Seele.»

«Das bist du in der Tat. Ohne dich würde ich jetzt vielleicht die Englein singen hören.» Der General kappte das Mundstück seiner Zigarre mit dem Cutter, der in einem Extrafach des Etuis gesteckt hatte. «Oder die Teuflein, auch gut möglich. Wir beide haben nicht nur Dinge getan, die Petrus in sein goldenes Buch der guten Taten eintragen würde, stimmt’s?»

Gerber griff nach seinem Zippo aus schwarzem Stahl und gab dem General Feuer. «Im Krieg herrschen andere Gesetze, und genau genommen hat der Krieg für Menschen wie uns nie wirklich aufgehört.»

Anderson nahm die glimmende Zigarre aus dem Mund, stieß den Rauch aus und lachte rau. «Das stimmt, dafür hat Onkel Joe schon gesorgt.»

«Sogar bis über den Tod hinaus», sagte Gerber, nachdem er sich eine Camel angezündet hatte. «Und wenn nicht er selbst, dann seine schöne Henkerin.»

Sein Gegenüber wirkte irritiert. «Was willst du damit sagen, Phil?»

«Stalins schöne Henkerin, so hat man sie genannt. Oder auch die Furie von Stalingrad. Im Krieg war sie eine Heldin, ein richtiges Aushängeschild der Roten Armee. Sie erinnern sich bestimmt an die vermutlich beste Scharfschützin der Sowjets, Galina Walentina Markowa, nach dem Krieg erst für das MGB und dann für den Nachfolger KGB als Ausbilderin tätig. Nicht nur als Ausbilderin, wie manche Quellen behaupten, sondern auch im Feld. Wie dem auch sei, jedenfalls hielt Major Markowa ihre bevorzugte Waffe, das Mosin-Nagant, in den Händen, als ich sie heute auf dem Airport überrascht habe.»

Anderson war ein Mann, den nichts so leicht aus der Fassung bringen konnte, aber während Gerber gesprochen hatte, war der Ausdruck des Erstaunens auf dem Gesicht des Generals immer größer geworden. Um ein Haar hätte er seine Zigarre ausgehen lassen.

«Du schaffst es immer wieder, mich zu überraschen, Phil. Und Onkel Joe auch, falls er mir seine Henkerin aus dem Grab auf den Leib gehetzt hat. Du hast ihr also gegenübergestanden. Ist sie wirklich so schön, wie man sagt?»

«Schön, gefährlich und eiskalt», erwiderte Gerber und berichtete die Einzelheiten seines Zusammentreffens mit der Scharfschützin.

Der General hörte ihm schweigend zu, zog hin und wieder an der Zigarre und streifte die Asche nur selten an einem Aschenbecher aus schwerem, grünem Glas ab. Auch als Gerber geendet hatte, blieb er noch eine Weile in sein Schweigen versunken. Seine sonst so wachen Augen waren halb geschlossen, und sein Blick schien durch Gerber hindurchzugehen.

«Heldin der Sowjetunion, das ist sie doch, nicht wahr?», fragte er schließlich leise, während er weiterhin in sich hineinzuhorchen schien.

«Ja, im Krieg hat man ihr diese Auszeichnung verliehen. Eine von vielen.»

«Weit über dreihundert Tötungen, meine ich mich zu erinnern.»

«Dreihundertsechsundsechzig bestätigte.» Gerber beugte sich vor und drückte den Stummel seiner Camel im Aschenbecher aus. «Zählt man die hinzu, für die es keine Zeugen gibt, dürften es noch ein paar Hundert mehr sein. Welcher Scharfschütze hat schon immer einen Augenzeugen zur Hand, wenn er auf der Lauer liegt? Zweitausend sowjetische Frauen haben im Krieg den Job gemacht, und Galina Markowa war von allen die erfolgreichste. So mancher Offizier von Wehrmacht und Waffen-SS geht auf ihr Konto. Ein Militärhistoriker hat mal geschrieben, ohne sie wäre die Schlacht um Stalingrad vielleicht anders ausgegangen.»

«Ein hübsches Bonmot», sagte der General mit versteinertem Gesicht. «Aber nach Stalingrad hat sie im Krieg keine Rolle mehr gespielt, wenn ich mich nicht irre.»

«Sie wurde schwer verwundet, kurz bevor Paulus mit seiner sechsten Armee kapitulierte. Nach ihrer Genesung ist sie zwar befördert und mit Ehrungen überhäuft worden, aber an die Front durfte sie nicht mehr zurück, obwohl sie danach verlangte. Sie war für die Sowjets zu wertvoll geworden und wurde nur noch hinter der Front eingesetzt, als Propagandawaffe und zur Ausbildung neuer Scharfschützen. Ein Job, den sie nach Kriegsende nahtlos fortgeführt hat. Als sie nach ihrer Verwundung nicht an die Front zurückkehrte, schickte man sie sogar auf eine Propagandatournee durch die Vereinigten Staaten. In den Zeitungen stand damals, sie habe Freundschaft mit Eleanor Roosevelt geschlossen. Die Scharfschützin und die First Lady oder so ähnlich lautete die Schlagzeile.»

«Du bist gut über sie unterrichtet, Phil.»

«Die Geschichte hat mich schon damals fasziniert.»

Gerber zündete sich noch eine Zigarette an und verfiel, als Anderson nichts weiter sagte, seinerseits in tiefes Schweigen. Im Geiste machte er eine Zeitreise, sieben Jahre in die Vergangenheit. Im Sommer 1954 war er wegen der Affäre Otto John in Berlin gewesen, und er war im berüchtigten Stasi-Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen gelandet. Damals hatte man ihm eine Zigarette angeboten, die ganz anders schmeckte als die würzige, aber nicht zu kräftige Camel: eine Papirossa. Der Machorka, der grobe Bauerntabak, verlieh der Papirossa ihre eigentümliche Wirkung. Kein Glimmstängel für Feingeister, aber Gerber hatte die Papirossa genossen. Im U-Boot, wie man das unterirdische Gefängnis auch nannte, das die Sowjets gebaut und dann der ostdeutschen Staatssicherheit überlassen hatten, war eine Zigarette für einen Häftling wie ein Lotteriegewinn. Auch wenn sie einem von Pjotr Nikolajewitsch Semjonow angeboten wurde, damals Oberst in der ersten Hauptabteilung des KGB, der Auslandsaufklärung. Gerber sah den großen, drahtigen Oberst vor sich sitzen, als wäre es gestern gewesen, und hörte ihn in seinem gebrochenen Deutsch sagen: «Schafott immer ist gutes Ende.»

«Semjonow ist ein gefährlicher Mann.» Andersons Worte holten Gerber in die Gegenwart zurück, und er blickte den General erstaunt an. Der lachte kurz auf. «Komm schon, Phil, es war nicht schwer, deine Gedanken zu lesen. Ich war immerhin dein Vorgesetzter. Natürlich hast du an Pjotr Semjonow gedacht. Er kam mir gleich in den Sinn, als du die Markowa erwähnt hast. Sie ist oder war seine Geliebte.»

«Ich habe so etwas läuten hören. Daher musste ich an meine Begegnung mit Semjonow denken.»

«Dass er befördert wurde, wirst du wissen.»

«Natürlich. Zum Generalmajor und zum Chefresidenten des KGB in Ostdeutschland.»

«Dann wirst du dir denken können, welche Frage mich bewegt.»

«Ja, Sir. Weshalb setzt der KGB die Furie von Stalingrad auf Sie an? Geheimdienstleiter bringen sich in der Regel nicht gegenseitig um, sie haben Wichtigeres zu tun. Außerdem befinden Sie sich seit fast vier Jahren im Ruhestand.»

«Korrekt. Mein Tod wäre für die Sowjets ohne jeden Nutzen.»

Gerber beugte sich in seinem Sessel vor und starrte den General durchdringend an. «Wäre er das wirklich? Oder hätte Ihr Tod in der aktuellen Situation sehr wohl einen Nutzen für die Roten?»

«Wie sollte er? Ich verstehe deine Anspielung nicht.»

«Berlin», sagte Gerber gedehnt, während er sich wieder zurücklehnte. «Seit Monaten geht es um Berlin. Chruschtschow setzt die westlichen Regierungen mit seinen Forderungen und Drohungen unter Druck. Er will den Status West-Berlins ändern, will es zur Freien Stadt erklären. Die vier Siegermächte sollen, wenn es nach ihm geht, möglichst bald einen Friedensvertrag mit Deutschland schließen.»

Ein grimmiges Lächeln zeigte sich auf Andersons Miene. «Was dein alter Freund Adenauer mit allen Mitteln verhindern will.»

«Er ist nicht mein Freund.»

«Aber du verhältst dich so.» Anderson wischte mit einer unwilligen Handbewegung den Rauch der Zigarre beiseite, der vor seinem Gesicht aufstieg. «Wie auch immer, Adenauer scheut den Friedensvertrag wie der Teufel das Weihwasser.»

«Weil er die westlichen Siegermächte nicht aus ihrer Verantwortung für Berlin entlassen will. Wenn sich Großbritannien, Frankreich und die Vereinigten Staaten auf Chruschtschows Spiel einlassen, erhält letztlich Ostdeutschland die Kontrolle über ganz Berlin. Und was Ostdeutschland tut oder lässt, das bestimmt der große Bruder Chruschtschow.» Gerbers Kehle war vom vielen Reden rau geworden, und er trank noch einen Schluck Bourbon. «Der Streit um Berlin spitzt sich zu, und immer mehr Ostdeutsche suchen Zuflucht in West-Berlin. Mit Wirkung vom heutigen Tag hat General Clarke die Ausgangs- und Urlaubsregeln für die in Deutschland stationierten US-Truppen verschärft. Wie hat er es doch so hübsch formuliert?»

«Wenn wir eines frühen Morgens Krieg haben, können wir nicht in jedem deutschen Wirtshaus unseren Soldaten hinterhertelefonieren», sagte Anderson. «So oder ähnlich hat der gute Bruce es ausgedrückt.»

«Eine erstaunlich offenherzige Formulierung für den Oberbefehlshaber in Europa. Er gibt damit zu, jederzeit mit einem Krieg gegen die Sowjets zu rechnen.»

«Genau das ist seine Aufgabe. Er wäre ein schlechter Oberkommandierender, wenn er das nicht täte.»

«Es ist wohl kaum seine Aufgabe, sein Herz auf der Zunge zu tragen. Wenn er das so deutlich sagt, hat er auf jeden Fall mit McNamara Rücksprache gehalten.»

Der General deutete mit dem glühenden Ende der Zigarre auf Gerber. «Vorsicht, Phil, leg unserem Verteidigungsminister nichts in den Mund!»

«Vor ziemlich genau einem Monat hat Chruschtschow dem britischen Botschafter in Moskau mit der atomaren Vernichtung Großbritanniens gedroht. Fast zeitgleich hat der US-Luftwaffengeneral White im Fernsehen ganz offen seine Befürchtung geäußert, dass der Streit um Berlin Auslöser eines Atomkriegs werden könnte.»

«Der kurz zuvor in den Ruhestand getretene General White», korrigierte Anderson.

«Meinetwegen. Jedenfalls standen Ost und West noch nie so nahe am Abgrund eines Krieges wie jetzt. Genau zu diesem Zeitpunkt kommen Sie, ein weiterer General im Ruhestand, zurück auf Ihr altes Wirkungsfeld, zurück nach Westdeutschland, Sir. Sie erwarten doch nicht ernsthaft, dass ich das für einen Zufall halte.»

«June hat mich wirklich gebeten, ihr und Bart Frankfurt und noch ein wenig mehr von Deutschland zu zeigen.»

«Ich will Ihnen gern glauben, dass Sie das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden, Sir. Aber vergessen Sie nicht Ihr eigenes Telegramm, in dem Sie von einer wichtigen Nachricht für mich sprechen!»

«Ich wollte, dass du auch wirklich nach Frankfurt kommst, Phil.»

«Jetzt bin ich da, und ich frage mich, ob diese Nachricht etwas mit dem Anschlag zu tun hat. Vielleicht wollte jemand verhindern, dass ich diese Nachricht erhalte. Oder geht es darin nicht um den KGB?»

«Doch, das tut es. Es ist eine unangenehme Geschichte, die viele Interessen berührt. Deshalb erzähle ich dir alles ganz unter uns. Nichts von dem ist eine offizielle Mitteilung an dich oder das BKA. Klar?»

«Klar.»

«Nun gut, dann …»

Weiter kam Anderson nicht, weil die Türglocke die Battle Hymn of the Republic durchs Haus schmetterte.

// Kapitel 3 //

Berlin war eine Stadt, die einfach nicht zur Ruhe kam, dachte Eva, als sie die Hotelpension am Kurfürstendamm verließ. Damit meinte sie nicht die vielen Geschäftsreisenden und Touristen, die in einer Unbeschwertheit über den Kudamm flanierten, als sei dieser zwar etwas zu kühle, aber sonnige Sommernachmittag für die Ewigkeit und als gäbe es keine Berlin-Krise, keinen neuen drohenden Krieg zwischen den Siegermächten, die vor mehr als fünfzehn Jahren gemeinsam gegen Nazi-Deutschland gekämpft hatten.