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Ein Präsident verschwindet E-Book

Ralf Langroth

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Beschreibung

1954: Über Nacht verschwindet Verfassungsschutzpräsident Otto John – und taucht in Ost-Berlin wieder auf. Wurde er, wie er später behauptet, tatsächlich entführt? Auf Wunsch von Konrad Adenauer übernimmt Philipp Gerber von der Sicherungsgruppe Bonn die Ermittlungen. Gerber hat dem Bundeskanzler schon einmal geholfen, doch diesmal hat er auch ein persönliches Interesse: Seine Geliebte, die Journalistin Eva Herden, ist verschwunden, ein Foto zeigt sie an der Seite von Otto John. Als ein Barbesitzer aus dem Rotlichtmilieu ermordet wird, der viele Geheimnisse der Polit-Elite kannte, steht Eva unter doppeltem Verdacht: als Mörderin und kommunistische Agentin, die den Mann im Auftrag der Sowjets ausgeschaltet haben soll. Auf der Suche nach Eva und den Beweisen ihrer Unschuld gerät Gerber zwischen die Fronten der Geheimdienste.

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Ralf Langroth

Ein Präsident verschwindet

Thriller

 

 

 

Über dieses Buch

Er soll die junge BRD schützen. Er kennt ihre Geheimnisse. Dann verschwindet er.

 

Am 20. Juli 1954 verschwindet Verfassungsschutzpräsident Otto John – und taucht in Ost-Berlin wieder auf. Wurde er entführt oder ist er übergelaufen? Auf Wunsch von Konrad Adenauer übernimmt Philipp Gerber die Ermittlungen. Der Kriminalhauptkommissar hat ein persönliches Interesse an dem Fall: Auch seine Geliebte, die Journalistin Eva Herden, ist verschwunden. Ein Foto zeigt sie an der Seite von John. Als ein Barbesitzer aus dem Rotlichtmilieu ermordet wird, steht Eva unter doppeltem Verdacht: als Mörderin und kommunistische Agentin. Auf der Suche nach ihr gerät Gerber zwischen die Fronten der Geheimdienste. 

«Die Affäre Otto John»: Philipp Gerber ermittelt in einem der spektakulärsten Skandale der Nachkriegszeit.

Vita

Ralf Langroth ist das Pseudonym eines erfolgreichen Autors mit Übersetzungen in fünfzehn Sprachen. Mit seinem neuen historischen Thriller verbindet er zwei Leidenschaften: akribische Recherche und erzählerische Hochspannung. In der Reihe um den BKA-Kommissar Philipp Gerber stellt er die Meilensteine der deutschen Nachkriegsgeschichte und ihre bis heute ungeklärten Ereignisse in den Mittelpunkt. Der Autor lebt mit seiner Frau in Hannover.

www.ralflangroth.de

// Prolog //

Donnerstag, 29. Juli 1954

Neun Tage nach Otto Johns Verschwinden

Philipp Gerber kauerte zwischen den brüchigen Mauern der Ruine und beobachtete. Die Häuser auf der anderen Straßenseite hatten den Krieg einigermaßen glimpflich überstanden, und der leichte, warme Sommerregen, der seit Stunden auf Berlin niederging, beeindruckte den Strom der Passanten nicht im Geringsten. Vor einem der Grenzkinos, in denen die Ost-Berliner verbilligten Eintritt erhielten, hatte sich eine kleine Schlange gebildet, um einen schnell heruntergekurbelten Western oder einen alten Gruselstreifen mit Boris Karloff zu sehen. Das Wäschegeschäft daneben hatte bereits geschlossen. Es grenzte an das Haus, dem Gerbers Interesse galt. Ein schmales Gebäude, dessen Fensterfront so stark mit Werbung für einen Eierlikör bemalt war, dass er dahinter nur Schemen wahrnehmen konnte. Über dem Eingang stand in verschnörkelter Schrift «Strammer Otto». Ein hübscher und recht offensichtlicher Name für eine Schwulenkneipe, fand Gerber.

Angespannt hockte er auf seinem Posten, schon seit Stunden, und fragte sich immer wieder, ob es Zeitverschwendung war. WoWo sollte hier öfters mit dem Inhaber, einem Jo Ansbach, abgehangen haben, auch und gerade in den Tagen vor Otto Johns Verschwinden. Was Wolfgang Wohlgemuth, der seine Finger nicht von den Frauen lassen konnte, ausgerechnet in eine Schwulenbar zog, blieb sein Geheimnis. Vielleicht war es einfach die Koketterie mit einem halbseidenen Milieu, das Spiel mit dem Feuer.

Die Gesprächsfetzen der Flaneure vermischten sich mit dem Lärm von Automotoren und sporadischem Gehupe, und von fern erklang Hufgetrappel. Bestimmt die berittene Patrouille der US-Militärpolizei.

Nach den langen Tagen und Nächten der Suche fühlte Gerber sich erschöpft und musste gegen die aufsteigende Müdigkeit ankämpfen, obwohl der Sommerhimmel über Berlin noch hell war. Er rieb mit dem Handrücken über seine Augen – und da sah er sie plötzlich: Ihr kurzer Sommermantel stand offen, der hellrote Rock darunter endete knapp unter den Knien. Blondes Haar lugte unter einem blauen Kopftuch hervor. Auf der linken Wange, zum Teil verdeckt, die unverwechselbare Narbe. Sein Herz schlug bei ihrem Anblick schneller. Zielstrebig steuerte sie den Eingang der Kneipe an, und er drückte sich tiefer in den Schatten der Ruine.

Er musste sich dazu zwingen, schrie doch alles in ihm danach, zu ihr zu laufen. Er wollte sie festhalten und fragen, welches Spiel sie spielte. Aber würde sie ihm antworten? Noch vor wenigen Tagen hätte er sich diese Frage nicht gestellt. Sie war die Frau, die er liebte, und er hatte ihr bedingungslos vertraut. Jetzt war alles anders, und mit widerstreitenden Gefühlen beobachtete er, wie sie im Strammen Otto verschwand. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welche Aufmerksamkeit sie in dem Schwulentreff erregte.

Während Gerber noch darüber nachdachte, was er tun sollte, trat sie schon wieder auf den Gehweg. Unerwartet schnell. Sie wirkte aufgeregt, sah sich kurz nach allen Seiten um, wandte sich nach links und drängte sich durch die Wartenden vor dem Kino. Gerber eilte auf die andere Straßenseite, um ihr zu folgen, aber eine plötzlich aus dem Strammen Otto herausquellende Menschentraube hielt ihn auf. Die Männer waren aufgebracht und riefen laut durcheinander.

«Wo ist sie hin?», brüllte einer von ihnen, mit einem maßgeschneiderten Anzug sehr edel gekleidet und dabei gebaut wie ein Holzfäller.

«Wer?», fragte Gerber. «Wen meinen Sie?»

«Na, wen wohl? Die Mörderin», stieß der Stiernackige im Maßanzug fast atemlos hervor. «Die Frau mit dem Kopftuch. Sie ist gerade rausgerannt.»

«Mörderin?», wiederholte Gerber ungläubig, fast automatisch. «Wieso? Wer ist ermordet worden?»

«Jo, der Boss vom Strammen Max», sagte ein anderer, der neben dem Holzfäller wie ein Hänfling wirkte, und deutete hinter sich auf die Kneipe. «Gerade eben!»

Eva?

Gerber erschien die Anschuldigung unglaublich. Aber er hatte in seinen vielen Jahren als amerikanischer CIC-Agent und jetzt als Hauptkommissar des Bundeskriminalamtes gelernt, auch in aufregenden Situationen rational zu handeln. Er zückte seine Dienstmarke. «Polizei. Zeigen Sie mir den Toten!»

Die aufgeregten Männer zerrten ihn fast in die schummrige Kneipe, in einen Dunst aus Alkohol, Zigarettenrauch und Eau de Toilette, durchschnitten von Edith Piafs markanter Stimme: C’est la valse d’amour. Sie führten ihn an einen abgelegenen Ecktisch, halb versteckt hinter der Bar. Zwei Stühle waren unbesetzt. Auf dem dritten saß ein Mann im gestreiften Anzug, vornübergebeugt, der Kopf seitlich auf der Tischplatte abgelegt. Er wirkte wie ein Betrunkener, der seinen Rausch ausschlief.

Gerber fasste ihn vorsichtig an den Schultern und richtete ihn ein Stück auf, bis er das Blut sah. Ein roter Fleck auf der linken Seite des auffallend grünen Hemdes, direkt über dem Herzen. Die Augen in dem länglichen Gesicht des Mannes blickten starr. Mit einem geübten Griff an die Halsschlagader stellte Gerber fest: kein Puls. Langsam ließ er den Kopf des Toten wieder auf die Tischplatte sinken. Hermann Josef Ansbach, wie er ihn von einem Polizeifoto kannte.

Der Mann mit der Holzfällerstatur drängte sich neben Gerber und zeigte auf den Stuhl zur Linken des Wirts. «Sie hat hier gesessen, dicht neben Jo, die Frau mit dem Kopftuch. Und jetzt ist er tot.»

Gerber hatte genug gesehen, er musste hier raus. Er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, die stickige Atmosphäre erschwerte ihm das Atmen. Nur zurück an die frische Luft, solange er noch klar denken konnte!

«Wo wollen Sie denn hin?», blaffte der andere, als Gerber sich einen Weg zum Ausgang bahnte.

«Die Frau verfolgen», erwiderte er knapp.

Die war natürlich längst über alle Berge. Ein Teil von ihm war froh darüber. Es war nicht der Kommissar in ihm. Es war der Privatmann Philipp Gerber, der Mann, der die flüchtige Frau über alles liebte. Und der sich weigerte, das Offensichtliche zu glauben.

Eva Herden war eine eiskalte Mörderin?

// Kapitel 1 //

Sechs Tage zuvor. Freitag, 23. Juli 1954

Drei Tage nach Otto Johns Verschwinden

Für die Jahreszeit war das Wetter geradezu beschissen, aber es passte zu Gerbers Stimmung. Als er vor die Pension trat, in der er seit einem Jahr wohnte, schlug ihm aus dem nachtdunklen Bonner Himmel ein kräftiger Schauer entgegen. Er klappte den Kragen seines Trenchcoats hoch, drückte sich in den Schatten des Hauses und zündete sich mit dem alten Zippo aus seiner GI-Zeit eine Camel an. Fast war er dankbar für den nächtlichen Anruf, auch wenn er keine Ahnung hatte, was sein Vorgesetzter von ihm wollte. «Ich hole Sie in zwanzig Minuten vor Ihrer Pension ab, Gerber. Zu niemandem ein Wort.» Das war es gewesen, und jetzt stand er hier und starrte auf eine menschenleere Straße. Zu niemandem ein Wort – zu wem auch?

Gerber hatte schon im Bett gelegen und sich, wie in den Nächten zuvor, unruhig hin und her gewälzt. Seine Gedanken kreisten um Eva, natürlich, und der Anruf von Kriminaloberrat Arild Wesler hatte Hoffnung in ihm aufkeimen lassen. Gab es eine neue Spur? War Eva wieder aufgetaucht? Je länger er wartete und hastig an der Camel zog, desto größer wurde seine Hoffnung.

Motorengeräusch kam näher, Scheinwerfer blendeten ihn, und neben ihm hielt Weslers Borgward Hansa mit dem abgeschrägten Heck. Gerber schnippte seine Zigarettenkippe in den feuchten Rinnstein und nahm neben Wesler Platz. Eilig wendete der Leiter der Ermittlungsgruppe den Wagen und drückte das Gaspedal durch.

«Gut, dass Sie es so schnell einrichten konnten», sagte Wesler nur und widmete seine ganze Aufmerksamkeit dem eher spärlichen Verkehr, der zu dieser späten Stunde auf den Straßen der Bundeshauptstadt herrschte.

Gerber war genervt. Er hatte eine Erklärung für diesen Ausflug erwartet. Gab es Neuigkeiten über Eva? Irgendjemand musste etwas wissen, verdammt! Aber der Mann am Steuer war so schweigsam wie eine Sphinx. Also riss Gerber sich zusammen und übte sich in Geduld, während die Lichter der Stadt an ihm vorbeihuschten. Seit einer Woche war Eva wie vom Erdboden verschluckt.

Sie überquerten die Rheinbrücke, und in Gerbers Erinnerung flammte wie ein Blitzlicht jene wahnwitzige Nacht auf, als Weslers Amtsvorgänger hier den Freitod gewählt hatte. Auch Dr. Krey hatte einen Borgward gefahren, als er das Brückengeländer durchbrochen hatte und mit seinem Fahrzeug im Rhein versunken war. Für die Öffentlichkeit war es ein tragischer Unfall gewesen, aber Gerber kannte die Wahrheit. Er selbst hatte Krey zu der Tat aufgefordert.

Die kleine Stadt Beuel am anderen Rheinufer ließen sie schnell hinter sich, und Wesler lenkte den Borgward nach Süden. Links sah Gerber die Silhouetten bewaldeter Höhen, die sich gegen den Nachthimmel abzeichneten, rechts erahnte er den nahen Rhein. Irgendwo dort musste der Fähranleger sein, doch die Autofähre hatte ihren heutigen Betrieb längst eingestellt. Unter normalen Umständen benutzten seine Kollegen vom Kommando Adenauer sie, um den Bundeskanzler von Rhöndorf über den Rhein zu begleiten. Aber der Kanzler war gestern zu einem längeren Urlaub in den Schwarzwald aufgebrochen, die Affäre John schien ihn nicht weiter zu belasten.

Seltsamerweise war ebenjenes beschauliche Rhöndorf das Ziel ihrer Fahrt, und der Borgward hielt vor dem Haus am Hang, in dem der Bundeskanzler residierte. Ein paar weitere Fahrzeuge parkten in der Nähe, darunter ein dunkler Mercedes 300. Gerber konnte das Kennzeichen nicht erkennen, aber es musste sich um Adenauers Limousine handeln. Warum war sie nicht im Schwarzwald?

Verwundert begleitete er seinen Vorgesetzten die lange, schummrig beleuchtete Treppe hinauf. Oben standen inmitten von Rosenbüschen, die ihre Pracht in der Finsternis verbargen, ein paar Kollegen von der Sicherungsgruppe Bonn und rauchten, darunter der fast kahlköpfige Fritz Blaschke. Männer vom Kommando Adenauer, die eigentlich mit dem Kanzler im Schwarzwald sein sollten. Seine Leibwächter. Gerbers Kollegen grüßten knapp.

Adenauers Haushälterin war auch kein Ausbund an Fröhlichkeit. Sie nahm den beiden Besuchern die Mäntel ab und brummte: «Sie werden erwartet.»

Damit führte sie Wesler und Gerber ins Wohnzimmer, in dem drei Männer saßen und Kaffee tranken. Einer war der Bundeskanzler. Von den beiden anderen kannte Gerber nur den älteren, einen steif am Tisch sitzenden Mann jenseits der fünfzig mit stark zurückweichendem Haar und einem verkniffenen, fast sauertöpfischen Gesichtsausdruck. Ihn hätte Gerber auch nicht in Bonn vermutet, sondern in Bayern.

Reinhard Gehlen, ehemaliger Generalmajor der Wehrmacht, leitete eine nach ihm benannte Geheimorganisation, die ihren Sitz in Pullach bei München hatte. Die von den Amerikanern aufgebaute Organisation Gehlen setzte im Wesentlichen die Arbeit fort, die im Zweiten Weltkrieg von der Abteilung Fremde Heere Ost geleistet worden war – die Auslandsaufklärung im Osten. Gehlen hatte die Abteilung FHO vom April 1942 an geleitet und nach Kriegsende viele seiner Unterlagen und Mitarbeiter an die Amerikaner weitergereicht. Passend für einen Geheimdienstchef wirkte seine Miene undurchdringlich wie eine Maske.

Adenauer ließ beim Eintreten der beiden Neuankömmlinge ein geschäftsmäßiges Lächeln aufblitzen und wies auf die beiden leeren Sessel.

«Kriminaloberrat Wesler und Hauptkommissar Jerber, jut, dass Se da sind. Setzen Se sich und nehmen Se sich einen Kaffee. Zu so später Stunde das Mindeste, was ich für Se tun kann.» Als habe er Gerbers Gedanken gelesen, fuhr er fort: «Se wundern sich wohl, dass ich nicht beim Matratzenhorchdienst in meinem jemütlichen Hotelbett im Schwarzwald bin, nicht wahr? Das wäre ich sehr jern, und sobald hier alles besprochen ist, werde ich zurückfahren. Meine nächtliche Anwesenheit hier fällt unter die strengste Jeheimhaltung, aber die Lage erfordert es nun einmal.»

Gehlen nickte ihm zu. «Sie können sich auf unser aller Verschwiegenheit verlassen, Herr Bundeskanzler.»

Wesler pflichtete ihm bei und blickte Gerber an, aber der rührte sich nicht und blieb stumm. Noch war er einigermaßen verwirrt und entschlossen, sich mit Einlassungen jedweder Art zurückzuhalten. Dem drängenden Impuls, sich eine Zigarette anzustecken, widerstand er nach einem kurzen Blick auf Adenauer. Der Alte mochte die «Qualmerei», wie er es nannte, gar nicht.

«Der Anlass dieses Treffens ist, wie Se sich wohl denken können, die unerfreuliche Jeschichte mit dem Herrn John», sagte Adenauer mit einem Blick in die Runde. «Wenn der Leiter unseres Verfassungsschutzes plötzlich in Ost-Berlin auftaucht, das ist schon eine Katastrophe. Aber genau das darf es nicht sein, jedenfalls nicht nach außen hin. Je mehr wir die Sache herunterspielen, desto wenijer Kapital können die Sowjets und Ulbrichts Vasallen daraus schlagen. Wir müssen still und leise arbeiten, dürfen kein jroßes Jewese darum machen. Von daher jibt sich auch der Schröder janz jelassen und besucht zurzeit die Bayreuther Festspiele.»

Adenauer sprach von Gerhard Schröder, einem verhältnismäßig jungen CDU-Politiker, der Robert Lehr als Bundesinnenminister nachgefolgt war. Gerber dachte kurz an seine Zusammentreffen mit Lehr, konzentrierte sich aber schnell wieder auf die Gegenwart. Adenauer hatte zwar seine eigene Anwesenheit erklärt, aber was Gerber hier sollte, war ihm noch vollkommen unklar.

«Herr Jerber», wandte der Bundeskanzler sich jetzt an ihn, «Se sind doch befreundet mit einer Journalistin von diesem roten Hetzblatt.» Adenauer fokussierte ihn aus schmalen Augen.

«Wenn Sie von Eva Herden sprechen, Herr Bundeskanzler, ja, sie schreibt für den Brennpunkt Bonn.»

Der Kanzler hatte den Themenwechsel zu Eva und ihrem Magazin überraschend schnell vollzogen. Er wartete, bis die Haushälterin allen frischen Kaffee eingegossen und den Raum wieder verlassen hatte, dann nahm er Gerber erneut ins Visier. «Wann haben Se die junge Frau zuletzt jesehen?»

«Mit Verlaub, ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Herr Bundeskanzler.»

Der Kanzler hatte seinen Dolch mitten in Gerbers Wunde gestoßen, und seine lahme Antwort würde den Alten kaum zufriedenstellen.

Aber es war Reinhard Gehlen, der das Wort ergriff: «Keine Ausflüchte, Gerber. Antworten Sie dem Herrn Bundeskanzler gefälligst!»

Gerber hatte Gehlen noch nie ausstehen können, und einmal mehr bestätigte sich seine Abneigung. Seit geraumer Zeit war es das Ziel des ehemaligen Wehrmachtsgenerals, Adenauers wichtigster Einflüsterer zu werden. Er wollte, dass seine Organisation unabhängig von den Amerikanern wurde, und sie in einen Dienst umwandeln, der direkt der Bundesregierung unterstand. Was keine selbstlose Tat war, sondern Gehlens Versuch, ganz der Herr im eigenen Haus zu werden. Gerber, der früher zum amerikanischen Militärgeheimdienst CIC gehört und im Krieg auf amerikanischer Seite gekämpft hatte, fragte sich, ob es das war, wofür er seine Haut riskiert hatte: dass Gestalten wie Gehlen nach oben gespült wurden.

«Kriminalhauptkommissar Gerber untersteht meinem Befehl, nicht Ihrem, Herr Gehlen», sagte Kriminaloberrat Wesler und sprach dabei mit ruhiger, fast leiser Stimme, was seine Worte umso eindringlicher wirken ließ.

Adenauer hob beschwichtigend die Hände. «Meine Herren, bitte keinen Streit. Wir sollten alle an einem Strang ziehen und versuchen, eine Lösung für das Problem John zu finden.»

Gerber konnte sich zwar nicht vorstellen, was Eva mit dem Verschwinden oder gar Überlaufen Otto Johns zu tun haben könnte, aber er beschloss, Adenauers Frage zu beantworten. «Leider ist Fräulein Herden seit einer Woche unauffindbar. Auch in der Redaktion des Brennpunkt Bonn weiß man nichts über ihren Verbleib. Oder man gibt zumindest vor, nichts zu wissen.»

«Dann sollten Se sich mal die Fotos ansehen, die Herr Jehlen mir vorjelegt hat.»

Der Kanzler schob ein paar Fotografien über den Tisch. Auf allen Aufnahmen war ohne Zweifel Eva zu sehen. Auf dem ersten Bild stieg sie in ein Taxi, auf dem zweiten überquerte sie eine Straße, auf dem dritten stand sie vor dem Eingang einer U-Bahn-Station.

«Alles Aufnahmen vom 21., dem Tag nach Johns Verschwinden», erläuterte Gehlen. «Wie Sie an den Straßenschildern erkennen können, stammen sie aus Ost-Berlin.»

«Und?», fragte Gerber. «Es ist nicht verboten, sich in Ost-Berlin aufzuhalten. Fräulein Herden schreibt viel über den Ost-West-Konflikt. Vielleicht betreibt sie dort Recherchen.»

«Von denen sie Ihnen nichts erzählt hat? Und ihrem Chefredakteur auch nicht?»

«Es ist nicht Fräulein Herdens Art, ihre Geschichten an die große Glocke zu hängen, solange sie die Hintergründe nicht sauber recherchiert hat.»

Warum verteidigte er Eva so vehement? Weil er sie liebte natürlich, und weil der überhebliche Gehlen sie auf eine versteckte Art angriff. Dabei war er selbst von ihr enttäuscht, weil sie verschwunden war, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Jeden Zentimeter ihrer Wohnung hatte er nach einem Hinweis abgesucht, ohne Ergebnis.

Um den Mund des Mannes, der neben Gehlen saß und bislang geschwiegen hatte, zuckte ein spöttisches Lächeln. «Wenn Fräulein Herden auf Recherchereise in Ost-Berlin ist, kann man nur den Hut vor ihr ziehen. Sie scheint näher am aktuellen Geschehen dran zu sein als alle anderen.»

Der hochgewachsene Enddreißiger schob ein weiteres Foto in die Tischmitte. Darauf war Eva an der Seite eines Mannes mit streng gescheiteltem Haar zu sehen. Sie begrüßten sich im Eingangsbereich einer Villa mit Handschlag. Beide lächelten, und sie schienen sich lebhaft zu unterhalten. Der Mann war Otto John.

«Die Aufnahme stammt von gestern», fügte der Unbekannte hinzu. «Sie zeigt den abgängigen Verfassungsschutzpräsidenten John und Fräulein Herden vor dem Haus Nummer 67 in der Treskowallee, Berlin-Karlshorst. Das ist sowjetisches Sperrgebiet, und in dem Haus bringt der Iwan Personen unter, an deren Sicherheit ihm besonders gelegen ist. Nach meinem Dafürhalten hat Fräulein Herden mit ihrer journalistischen Erfahrung unserem Herrn John bei der Vorbereitung seiner Rede beratend zur Seite gestanden.»

Er spielte auf die Ansprache Johns an, die der ostdeutsche Rundfunk vor wenigen Stunden gesendet hatte. Darin hatte er sich «an alle Deutschen» gewandt mit dem Aufruf «zum Einsatz für die Wiedervereinigung». Verbunden hatte John das mit einer heftigen Kritik an Adenauers Deutschland-Politik, die in eine Sackgasse geraten sei. Der oberste Verfassungsschützer der Bundesrepublik war seinen eigenen Worten zufolge freiwillig in den Osten gegangen. Oder zum Feind übergelaufen – wie man es weniger freundlich ausdrücken konnte.

Gerber riss seinen Blick von der Aufnahme los und sah den Mann an. «Sie reden so, als wären Sie dabei gewesen. Ist das Foto überhaupt echt?»

«Das kann ich Ihnen versichern. Einer meiner zuverlässigsten Agenten hat es geschossen.»

«Wer sind Sie eigentlich?», fragte Gerber angriffslustig. Die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel ihm immer weniger.

Gehlen übernahm die Antwort. «Herr Zaunert leitet bei uns die Sektion Berlin. Er ist einer meiner besten Männer, schon seit Kriegstagen.»

Zweifellos hätte der Ex-General das über jeden seiner Leute gesagt, aber das war kein Argument gegen Zaunert. Immerhin wusste Gerber jetzt, wo Eva sich aufhielt. Er beschloss, das Beste daraus zu machen.

«Haben Sie Kontakt zu Fräulein Herden aufgenommen?», fragte er Zaunert.

Nach einem kurzen Blickwechsel mit Gehlen antwortete Zaunert: «Das gehörte bislang nicht zu meinen Aufgaben. Mein Auftrag lautete Beobachten und Dokumentieren.»

«Und was haben Sie beobachtet?»

«Ihre Pension in West-Berlin hat Fräulein Herden zuletzt am Abend des 20. Juli aufgesucht, ein oder zwei Stunden vor Johns Verschwinden. Spät am selben Abend hat sie sich ein Hotel im Ostsektor genommen, hat dort aber am folgenden Abend wieder ausgecheckt und ist seitdem nicht auffindbar. Die Fotos stammen vom 21.»

Ein vernehmliches Räuspern des Bundeskanzlers zog die Aufmerksamkeit auf sich, und Adenauer richtete seinen Blick auf Gehlen.

«Jute Arbeit, Herr Jehlen», sagte er zur sichtlichen Zufriedenheit des Gelobten. «Haben Se eine Theorie, welche Rolle das Fräulein Herden in dieser Affäre spielt?»

«Vielleicht war sie ein Lockvogel für John. Zumindest ist sie offenbar eine wichtige Kontaktperson. Ihre Veröffentlichungen liegen auf einer Linie mit den politischen Äußerungen in der Rundfunkansprache. Wie Zaunert schon sagte, vermutlich haben sie und John die Ansprache gemeinsam ausgearbeitet. Einen gewissen Einfluss der Sowjets dürfen wir dabei voraussetzen.»

«Vielleicht sogar einen recht bedeutenden Einfluss», fügte Wesler hinzu. «John könnte unter Druck gesetzt worden sein. Vielleicht handelte er sogar unter Zwang. Die Möglichkeit, dass er sich unfreiwillig in Ost-Berlin aufhält, sollten wir ernsthaft in Erwägung ziehen.»

«Wenn Sie damit eine gewaltsame Verschleppung Johns andeuten wollen», sagte Gehlen, «passt das nicht damit zusammen, wie ungezwungen er sich auf diesem Foto gibt.»

«Wir wissen nicht, womit er bedroht oder erpresst wird», erwiderte Wesler.

«Möglicherweise bedroht oder erpresst», präzisierte der Ex-General.

Gerber wollte dem sich entspinnenden Hickhack ein Ende setzen und fragte in die Runde: «Wann soll ich nach Berlin gehen und in welcher Eigenschaft?»

Ein dünnes Lächeln huschte über Adenauers Gesicht. «Bravo, Herr Jerber, Se haben es auf den Punkt jebracht. Eine direkte Kontaktaufnahme mit dem Herrn John dürfte schwierig werden und vielleicht auch jefährlich. Ihre persönliche Verbindung zu Fräulein Herden könnte daher sehr wertvoll für uns sein.»

«Also werde ich offiziell nur ihretwegen dort sein.»

«Selbstverständlich», schaltete sich Gehlen ein. «Und wenn Sie auffliegen, werden wir jedwede Kenntnis von Ihrer Aktion leugnen. Sie sind dann nichts weiter als ein verzweifelter Mann, der seine weggelaufene Geliebte sucht. Das Beste an der Geschichte ist, dass sie auch noch stimmt.»

«So gut es geht, werden wir natürlich unsere schützenden Hände über Sie halten, Herr Hauptkommissar», versprach Wesler. «Schließlich bin ich auch noch da und werde die Ermittlungen in der Affäre John koordinieren.»

Ein tiefer Seufzer kündigte Gehlens Protest an. «Das halte ich für keine gute Idee. Viele Köche verderben den Brei. Meine Organisation sollte in dieser Sache das Heft fest in der Hand halten.»

«Herr John ist der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz», sagte der Kriminaloberrat. «Seine Behörde verfügt über kein Exekutivorgan, das ist Aufgabe des BKA. Um präzise zu sein: Als Leiter der Ermittlungsabteilung in der Sicherungsgruppe ist es meine Aufgabe, sein Überlaufen nach Ost-Berlin zu untersuchen.»

Mit geballten Fäusten stieß Gehlen hervor: «Und meine Aufgabe ist es, subversive Übergriffe der Sowjets auf Westdeutschland abzuwehren.»

«Jenau deswejen sollen Se ja auch zusammenarbeiten», sagte der Bundeskanzler. «Jemeinsam mit der Leitung der West-Berliner Polizei werden Se die Aufklärung im Fall John koordinieren. Ich verlasse mich darauf. Und Sie beide» – er sah Gerber und Zaunert an – «werden sich in Ost-Berlin einträchtig auf die Spur von Fräulein Herden setzen und nicht zanken wie die Kesselflicker.»

Adenauer blickte in den Unterlagenstapel vor sich. Das Zeichen für alle Anwesenden, dass die Unterredung beendet war. Aber als Gerber sich ebenfalls erheben wollte, hob der Kanzler die Hand.

«Herr Jerber, Se bleiben bitte noch einen Moment.»

Gehlen warf Gerber einen skeptischen Blick zu, bevor er mit Zaunert das Zimmer verließ. Wesler hatte das mitbekommen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

«Ich warte unten auf Sie», sagte er halblaut zu Gerber.

Adenauer kümmerte sich nicht länger um seine Unterlagen, sondern trank in Ruhe seinen Kaffee aus. Mit einem Seufzer wanderte sein Blick an die Zimmerdecke.

«Wissen Se, was da oben ist?»

«Das Obergeschoss», lautete Gerbers Antwort, auch wenn sie ihm reichlich banal vorkam.

«Janz recht, Herr Jerber. Da oben ist mein Schlafzimmer, und da drin steht mein Bett. Ich hätte nicht übel Lust, hinaufzujehen und mich hinzulejen.» Er seufzte erneut. «Leider wird da nichts draus. Ich muss zurück in den Schwarzwald, als wäre ich nie hier jewesen. Einen juten Teil der Nacht werde ich auf der Autobahn verbringen.»

«Ich beneide Sie wirklich nicht, Herr Bundeskanzler.»

«Ich Sie auch nicht, Herr Gerber.» Adenauer hatte seinen rheinischen Singsang wie auf Knopfdruck abgeschaltet und sah ihn durchdringend an. «Sie sind in das Mädel richtiggehend verliebt, nicht wahr?»

«Ja», antwortete Gerber mit plötzlich rauer Stimme. «Aber Sie können gewiss sein, dass mich das nicht in der Erfüllung meiner Pflichten beeinträchtigt.»

«Das weiß ich. Sie können mir glauben, ich hätte Sie gern aus dem Spiel gelassen. Aber gerade wegen Ihrer Verbindung zu Fräulein Herden sind Sie der Beste für diese Aufgabe. Und ich weiß, dass ich Ihnen voll und ganz vertrauen kann. Sie haben mir schon einmal aus der Patsche geholfen, damals mit dieser Akte.»

Gerber blickte seinem Gegenüber in die Augen. «Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Herr Bundeskanzler.»

«Sehen Se, jenau das meine ich.» Adenauer zwinkerte ihm zu und war wieder in seine rheinische Mundart verfallen. Rasch erhob er sich mit einer Energie, die seinem hohen Alter und auch der späten Stunde Hohn sprach, und streckte seine Hand aus. «Herr Jerber, ich wünsche Ihnen viel Glück!»

--

Gerber ging die Freitreppe zur Straße hinunter, vergeblich bemüht, die in seinem Kopf herumschwirrenden Gedanken zu ordnen. Sie kreisten um zwei Menschen, die ein Jahr zuvor in sein Leben getreten waren: Eva Herden und Konrad Adenauer. Nicht mitgezählt das kurze, aber folgenschwere Zusammentreffen mit Adenauer im Frühjahr 45, damals, als Gerbers Freund Jim Anderson noch gelebt hatte.

Eva und der Bundeskanzler. Er musste trotz der ernsten Lage schmunzeln. Zwei Menschen, die vielleicht unterschiedlicher nicht sein konnten. Die junge Frau, die mit heißem Herzen und vielen klugen Artikeln im Brennpunkt Bonn dem Kommunismus huldigte, und der erfahrene, gewiefte Politiker, dem nichts so viel zu bedeuten schien wie die Bekämpfung der roten Gefahr. Die Wege der beiden schienen sich immer wieder zu kreuzen, was an Gerber liegen mochte.

Er wusste nun, wo Eva sich aufhielt, aber er konnte darüber keine Freude empfinden. Der erst verschwundene und jetzt überraschend wieder aufgetauchte Otto John. Ost-Berlin. Und Eva offenkundig mittendrin. An seine Theorie, die er eben der kleinen Versammlung aufgetischt hatte, konnte er selbst nicht glauben. Dahinter steckte mehr als eine Recherchereise, sonst wäre sie nicht so sang- und klanglos abgetaucht. Ohne ihm ein Wort zu sagen.

Immerhin, er hatte jetzt eine Spur. Was ihm daran gar nicht gefiel, war die Verstrickung der Organisation Gehlen in die Angelegenheit. Auf Gehlens Leute angewiesen zu sein, sie womöglich auf Schritt und Tritt am Hacken zu haben, war wie ein Klotz am Bein. In seinen Augen war Gehlen ein hemmungsloser Opportunist, zu allem bereit, um seinen Einfluss zu stärken. Mit dieser Einstellung war er unter den Nazis aufgestiegen, dann unter den Amerikanern, und jetzt, wo die junge Bundesrepublik Schritt für Schritt ihre Unabhängigkeit von den Siegermächten anstrebte, wollte er sich bei Adenauer unentbehrlich machen. Das Dumme an der Situation war, dass Gehlens Leute tatsächlich Evas Spur entdeckt hatten. Das hatte auch etwas Beängstigendes. Gerber wurde das Gefühl nicht los, dass er Eva vor Gehlen beschützen musste.

Als Gerber am Fuß der Treppe ankam, sah er die Rücklichter von Gehlens und Zaunerts Limousine in der Nacht verschwinden.

«Ich habe mich mit Zaunert für morgen Nachmittag zur Einsatzbesprechung verabredet», sagte Wesler, der neben seinem Borgward stand. «Sie werden auch dabei sein. In West-Berlin. Wir fliegen ab Frankfurt. Ich hole Sie morgen früh ab.»

«Ich bin alles andere als glücklich über die Zusammenarbeit mit der Org», sagte Gerber.

«Geht mir genauso», sagte Wesler missmutig. «Aber wir müssen für jede Unterstützung dankbar sein, und momentan hat die Organisation Gehlen nun mal die Nase vorn. Zumal eine Zusammenarbeit dem ausdrücklichen Wunsch des Kanzlers entspricht. Apropos, hat er noch etwas Wichtiges gesagt?»

«Nur ein paar persönliche Worte.»

Der Kriminaloberrat stieß ein trockenes Lachen aus. «Gehlen hat geguckt wie drei Tage Regenwetter, als wir hinausgingen. Um ein Haar wäre er grün vor Neid geworden.»

«Das gönne ich ihm von Herzen.»

«Nehmen Sie seine Aversion nicht auf die leichte Schulter, Gerber. Er ist ein mächtiger Mann. Übrigens, insgeheim kann er John nicht ausstehen.»

«Kein Wunder, John war im Widerstand gegen Hitler und Gehlen einer von Hitlers Generälen. Man munkelt sogar, Gehlen habe Johns Bruder Hans verhört, als die Nazis diesen nach dem Stauffenberg-Attentat inhaftiert hatten. John ist allein deshalb einer der schärfsten Widersacher Gehlens, mag er sich nach außen hin auch anders geben. Sollte mich nicht wundern, wenn Gehlen heimlich einen Freudentanz aufgeführt hat, als er von Johns Auftauchen in Ost-Berlin erfuhr. Es sei denn …»

«Was denn, Gerber?»

«Das möchte ich jetzt lieber nicht aussprechen, der Gedanke ist zu ungeheuerlich.»

«Anspielungen darauf, dass Gehlen bei der Affäre John seine Finger im Spiel haben könnte, würde ich tunlichst unterlassen.» Während er den Wagen zurück in Richtung Beuel lenkte, warf Wesler seinem Beifahrer einen kurzen Seitenblick zu und lächelte grimmig. «So verlockend solch eine Hypothese auch sein mag.»

// Kapitel 2 //

Samstag, 24. Juli 1954

Vier Tage nach Otto Johns Verschwinden

Die Hände in den Manteltaschen, stand Philipp Gerber unschlüssig am Straßenrand und blickte Weslers Borgward nach. Der Kriminaloberrat hatte ihn vor seiner Pension abgesetzt. Mitternacht war längst vorüber, und im Hinblick auf den bevorstehenden Flug nach Berlin hätte er versuchen sollen, möglichst viel zu schlafen. Aber genau da lag das Problem. Er sah sich in seinem Bett liegen und sich wieder unruhig hin und her wälzen, so wie vor dem Anruf seines Vorgesetzten. Ab morgen würde er in ein Team mit Wesler, Zaunert und anderen eingebunden sein. Aber diese Nacht gehörte noch ihm allein, und er beschloss, sie zu nutzen. Er ging nicht zurück in seine Pension, sondern steuerte den schwarzen Opel Kapitän an, der auf der anderen Straßenseite fast mit der Dunkelheit verschmolz. Anfangs hatte er den Wagen nur gemietet, inzwischen gehörte er ihm.

Der Nieselregen setzte erneut ein, als er in südliche Richtung fuhr. Zwar hatte der Aufstieg zur Bundeshauptstadt dem bis dahin beschaulichen Bonn einen gewaltigen Hunger nach Neubauten beschert, aber Teile des ländlich wirkenden Stadtteils Kessenich waren aufgrund des sumpfigen Bodens davon bisher verschont geblieben. Er bezweifelte, dass es noch lange so bleiben würde, die Nähe zum Regierungsviertel war einfach zu verlockend.

Im letzten Augenblick trat er auf die Bremse, hätte fast den schmalen Weg verpasst, der rechts vor ihm abbog. Vorsichtig lenkte er den Opel über die ruckelige Fahrbahn auf den Venusberg zu und starrte durch die Schlieren, die die Scheibenwischer hinterließen.

Hier leuchtete keine einzige Straßenlaterne. Ein paar alte Eichen am Wegesrand reckten ihre mächtigen Äste in den düsteren Himmel, wo dichte Wolken aufgezogen waren, wie um den letzten Rest Licht, den Mond und Sterne verbreiteten, zu verbergen.

Er fuhr noch langsamer. Hinter der nächsten Biegung lag das Fachwerkhaus, das einmal zu einem kleinen Gehöft gehört hatte. Gerber war am Ziel.

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Berthold Neuenhahn drehte sich im Bett um und tastete fahrig nach dem Wecker. Er fand ihn nach einigem Suchen, aber es war einfach zu dunkel, um etwas zu erkennen. Widerwillig schaltete er die Nachttischlampe ein. Noch nicht mal ein Uhr. Mit einem Seufzer stellte er den Wecker zurück und schaltete das Licht wieder aus. Aber es half nichts, er war jetzt wach.

Warum schlief er in letzter Zeit so schlecht? Hatte es etwas mit Eva zu tun? Sie war seine beste Journalistin, und sie war auch einmal seine Geliebte gewesen. Aber das war einige Zeit her, bevor dieser Mann vom BKA aufgetaucht war. Neuenhahn hätte Evas Vater sein können, und vielleicht war er für solche Geschichten einfach zu alt.

Seitdem er Otto Johns Rundfunkansprache gehört hatte, dachte er fast unentwegt an Eva.

Er hörte Motorengeräusche, ganz in der Nähe. Gähnend richtete er sich etwas auf, aber da erstarb das Brummen auch schon. Stattdessen nahm er ein anderes Geräusch wahr, das sein langsam auf Touren kommender Verstand als das Zuschlagen von Autotüren identifizierte. Besuch, um diese Uhrzeit?

Er wälzte sich aus dem Bett und ging barfuß über den dunklen Korridor im Obergeschoss bis zu dem kleinen Fenster. Er drückte sein Gesicht gegen die Scheibe und spähte nach draußen. Es regnete leicht, und die Nacht war finster. Am Wegesrand vor seinem Haus parkte, direkt hinter seinem Opel Olympia Rekord, ein Auto, das er beim besten Willen nicht erkennen konnte.

Eine dunkle Gestalt stand vor seiner Haustür. Ein Mann, aber er konnte das Gesicht nicht sehen. Das Geräusch des schweren Türklopfers hallte durch das Haus, wirkte durch die Stille der Nacht hundertfach verstärkt.

Die alte Treppe mit den hohen Stufen knarrte laut unter seinem beträchtlichen Gewicht, als Neuenhahn nach unten ging. Der Besucher betätigte den Klopfer wieder und wieder, als wolle er das Haus zum Einsturz bringen.

«Ja, was ist denn?», rief Neuenhahn.

«Dr. Neuenhahn?», tönte es dumpf zurück.

Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber er konnte sie nicht einordnen.

«Wer ist da?»

«Heinz Labisch.»

«Was wollen Sie um diese Zeit?», fragte Neuenhahn.

«Erst einmal reinkommen, wenn’s recht ist. Ich stehe hier nämlich im Regen.»

«Ja, einen Augenblick.»

Hastig drehte Neuenhahn den großen Schlüssel herum und zog mit einem Ruck die schwere Tür auf. Jetzt erkannte er umrisshaft Labischs grobes Gesicht unter dem tief in die Stirn gezogenen Hut. Dagegen war er selbst mit seinen nackten Füßen und in dem gestreiften Pyjama, der über dem Bauch ordentlich spannte, höchst informell gekleidet.

Seine Gedanken brachen jäh ab, als der Besucher vortrat und seine Faust mitten in seinem Gesicht explodieren ließ. Er taumelte zurück. Haltsuchend stieß er die alte Bauernvase von dem Tischchen neben der Tür, und sein schwerer Körper ging zu Boden. Er hatte noch nicht richtig begriffen, was vor sich ging, da hatte Labisch bereits nachgesetzt und holte zu einem heftigen Tritt gegen seinen Kopf aus.

Neuenhahn handelte rein instinktiv. Ein Reflex aus längst vergangenen Zeiten, in denen er viel besser in Form gewesen war. Noch im Liegen packte er mit beiden Händen den auf ihn zuschnellenden Fuß des Angreifers und drehte ihn herum. Labisch verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem Laut, der halb Fluch und halb unterdrückter Schrei war, auf den kleinen Tisch, der unter ihm zu Bruch ging.

Jetzt musste er schneller sein als der andere! Neuenhahn rappelte sich auf und griff eines der Tischbeine, die am Boden lagen. Das musste reichen.

Er holte zum Schlag aus, als eine scharfe Stimme rief: «Keine weitere Bewegung, Dicker, oder es knallt!»

Ungläubig blickte er zu der offenen Tür. Da stand ein ihm unbekannter Mann, ähnlich muskulös gebaut wie Labisch, in der Rechten eine Pistole. Auf die kurze Entfernung würde der andere ihn gewiss nicht verfehlen.

Ächzend rappelte sich Labisch auf und zog ebenfalls eine Pistole. «Mensch, Walter, du hast dir aber Zeit gelassen!»

Walter lachte auf. «Wer hat denn eben rumgetönt: ‹Mit dem alten Fettsack werd ich allein fertig?› Der hätte dich glatt zu Brei geschlagen, Heinz.»

«Was soll das alles?», fragte Neuenhahn atemlos. «Was habe ich euch getan?»

«Es ist nichts Persönliches», sagte Labisch kalt. «Du weißt einfach zu viel. Wir knipsen dich aus und fertig!»

Neuenhahn stand keine zwei Schritte vor ihm und fühlte sich wie gelähmt, während seine Gedanken sich überschlugen.

«Das ist doch dumm», krächzte er, und die Stimme wollte ihm kaum gehorchen. «Lebendig bin ich viel nützlicher für euch mit meinen Verbindungen.»

«Das sehen die Leute oben offenbar anders. Der Doktor hat seine Schuldigkeit getan, der Doktor kann gehen.»

«Arbeit», sagte Walter.

«Wie?», kam es irritiert von Labisch.

«Bei Schiller steht Arbeit, nicht Schuldigkeit.»

«Scheiß drauf», knurrte Labisch und drückte ab.

Neuenhahn hörte den Knall und spürte den Einschlag in der Brust. Gleichzeitig wankte Labisch nach vorn, fiel gegen ihn und riss ihn mit sich zu Boden. Neuenhahn stieß einen erstickten Schrei aus, der in einem Gurgeln verendete. Der neue Schmerz war noch viel schlimmer als der von eben, als Labisch ihm die Faust ins Gesicht gerammt hatte, und eine Welle der Übelkeit übermannte ihn.

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Als Gerber um die Kurve bog, war er irritiert. Gleich zwei Fahrzeuge parkten vor dem kleinen Fachwerkhaus, das Dr. Herbert Neuenhahn, Chefredakteur des Brennpunkt Bonn, zu seinem Refugium erkoren hatte. Der eine Wagen schien Neuenhahns neuer Opel zu sein. Vermutlich, genauso wie das Haus, mit Geld bezahlt, das aus Ost-Berlin oder direkt aus Moskau geflossen war. Rein persönlich hatte Gerber nichts gegen Neuenhahn, aber der starke Verdacht, dass er, wie auch sein ganzes Blatt, von den Kommunisten finanziert wurde, stand unleugbar im Raum.

Gerber hielt an, sodass man seinen Wagen vom Haus aus nicht sehen konnte, dann schaltete er die Scheinwerfer und den Motor aus. Das andere Fahrzeug schien ein Peugeot zu sein, genau konnte er es nicht erkennen. Nächtlicher Besuch bei Dr. Neuenhahn? Vielleicht eine neue Geliebte, die Eva in seinem Bett abgelöst hatte?

Er bemerkte die offene Haustür, und in ihm schrillten die Alarmglocken. Binnen Sekunden war er ausgestiegen und hatte die belgische FN Browning aus dem Schulterholster gezogen. Um unnötigen Lärm zu vermeiden, ließ er die Autotür offen. Er hastete, die Waffe in der Rechten, in geduckter Haltung über die Straße und auf das Haus zu, hielt sich dabei aber so, dass man ihn durch die offene Tür nicht sehen konnte.

Er hörte Stimmen und erspähte zwei Männer, die er nur von schräg hinten sah, und Berthold Neuenhahn im Pyjama, der geradewegs in die Mündung einer Pistole blickte.

«Scheiß drauf», sagte der Mann, der vor dem Chefredakteur stand.

Gerber schoss instinktiv. Zwei Schüsse fielen fast zeitgleich, und zwei Männer gingen, ineinander verkeilt, ebenfalls fast gleichzeitig zu Boden: Neuenhahn und der Mann vor ihm.

Der dritte Mann, der nahe der Tür stand, wirbelte augenblicklich herum, eine Pistole in der Hand.

In diesem Augenblick brach der sichelförmige Mond durch die Wolken und sandte ein fahles Licht auf ihn. Harte, wettergegerbte Züge, die Augen unter buschigen Brauen. Man sah ihm an, dass er ans Töten gewöhnt war. Nach einer kurzen Irritation hatte er seinen Plan offenbar geändert: Er stürzte zu einer Hintertür, entriegelte sie mit einem schnellen Griff und verschwand in der Nacht.

Gerber eilte ins Haus und hob die Waffe des Mannes auf, der reglos auf Neuenhahn lag. Es war ein tschechisches Fabrikat aus dem Krieg, eine Mars. Er ließ sie in der Manteltasche verschwinden und zog den Toten vorsichtig von Neuenhahn herunter.

Der korpulente Mann im Pyjama ließ ein gequältes Röcheln hören, aber immerhin war er am Leben. Die Kugel hatte ihn im rechten Brustbereich getroffen.

«Bleiben Sie einfach liegen, und pressen Sie die Hände auf die Wunde», sagte Gerber zu ihm. «Ich rufe Hilfe.»

«Gerber», keuchte der Verwundete. «Was … tun Sie hier? Sie haben … mein Leben … gerettet.»

«Später!»

Gerber sprang auf, hetzte durch den großen Raum und warf beide Türen zu, die er zusätzlich abschloss. Erst jetzt fühlte er sich einigermaßen sicher vor dem Entflohenen, der irgendwo da draußen auf der Lauer liegen mochte.

Er schaltete nur eine kleine Lampe auf einem Beistelltisch an, die einen schwachen Schein verbreitete.

Neben einem Bücherbord stand ein Telefon. Sein erster Anruf galt dem Universitätsklinikum auf dem nahen Venusberg. Anschließend rief er die Bonner Polizei an und schließlich Kriminaloberrat Wesler.

«Gerber?», knurrte er verschlafen in den Hörer. «Sie sollten längst im Bett liegen.»

«Das sagen Sie mal den beiden Kerlen, die gerade versucht haben, Dr. Neuenhahn umzubringen.»

«Was? Den Chef von Eva Herden?»

«Ich kam gerade noch rechtzeitig, aber er ist schwer verwundet.»

Nachdem Gerber seinem Vorgesetzten Bericht erstattet hatte, kümmerte er sich wieder um den Verletzten. Dem Mann stand der Schweiß in dicken Perlen auf der Stirn, zugleich zitterte er am ganzen Körper. Gerber holte ihm eine Wolldecke und bettete den Kopf auf ein kleines Kissen.

«Kannten Sie die Männer?»

«Heinz … Labisch. Der … hat auf mich geschossen.»

«Und der andere?»

«Walter.» Der Verwundete hustete. «So hat … Labisch ihn genannt.»

«Wer ist – oder war – dieser Heinz Labisch?»

«Freier Journalist. Offiziell. Habe Beiträge von ihm … veröffentlicht. Ich … glaube aber nicht, dass er … sie selbst geschrieben hat.»

«Und inoffiziell?»

Neuenhahn zögerte. Sein Atem ging schwer und stoßweise. Immer mehr Blut drang aus der Wunde. Jedes Wort bereitete ihm Schmerzen, und widerwillig beschloss Gerber, ihn in Ruhe zu lassen.

Warum hatten die Männer es auf ihn abgesehen? Und bedeutete es, Evas Leben war auch in Gefahr?

// Kapitel 3 //

Wesler telefonierte zum x-ten Mal mit dem Krankenhaus, und Gerber rieb seine müden Augen. Über Bonn ging allmählich die Sonne auf und sandte ihre Strahlen auch durch die Fenster von Weslers Büro in der Joachimstraße 15. Das hatte auf Gerber ebenso wenig eine belebende Wirkung wie die fünfte oder sechste Tasse des starken Kaffees. Er hätte genauso gut Wasser trinken können.

So lang die Nacht auch gewesen war, sie war weitgehend ergebnislos verlaufen. Immerhin war der Krankenwagen rasch gekommen und hatte Berthold Neuenhahn lebendig auf den Venusberg gebracht. Wesler hatte ständigen Polizeischutz für ihn angeordnet. Die Kugel saß tief in seiner Brust, und die Ärzte mussten all ihre Kunst aufwenden, um sie ohne weitere Schäden zu entfernen.

Die Suche nach dem mysteriösen Walter war ergebnislos verlaufen. Die Suchhunde hatten seine Spur im Wald verloren. Der Moment, als das Mondlicht auf das Gesicht des Mannes gefallen war, stand Gerber noch deutlich vor Augen, und er hatte mithilfe eines Zeichners der Bonner Kriminalpolizei ein Phantombild anfertigen lassen. Der Peugeot, mit dem die beiden Attentäter nach Kessenich gekommen waren, war von der Polizei sichergestellt worden. Die Überprüfung des Kennzeichens hatte ergeben, dass er auf Heinz Labisch zugelassen war.

Gerbers BKA-Kollegen Sattler und Müller durchsuchten Labischs Wohnung in der Bornheimer Straße. Die Adresse hatten sie in Neuenhahns Unterlagen gefunden. Die Kollegen Liepelt und Senft nahmen sich Neuenhahns Haus vor, um nach weiteren Hinweisen zu suchen, besonders im Hinblick auf Eva Herden und Otto John.

Den für heute geplanten Flug nach Berlin hatte Wesler verschoben, ohne der Org bislang mitzuteilen, dass es mit dem nachmittäglichen Treffen nichts werden würde. Oder wie der Kriminaloberrat es ausgedrückt hatte: «Wir sind zwar gezwungen, mit Gehlens Spürhunden zusammenzuarbeiten, wohl oder übel, aber wir müssen sie nicht über jeden unserer Schritte unterrichten. Je länger ihnen verborgen bleibt, was sich in Kessenich ereignet hat, desto länger haben wir freie Hand.»

Wesler hatte sein Telefonat beendet, lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, strich seine verrutschte Krawatte glatt und unterdrückte ein Gähnen. «Noch einen Kaffee?»

Gerber winkte ab. «Lieber nicht. Ich habe das Gefühl, er fließt schon durch meine Adern. Gibt es Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?»

«Die Ärzte hoffen, er kommt durch.»

«Sie hoffen es?»

«Er hat jede Menge Blut verloren, ist sehr geschwächt und schläft jetzt. Die nächsten Stunden werden entscheiden, ob er es schafft oder nicht.»

«Was bedeutet, dass wir Neuenhahn vorerst nicht vernehmen können.»

«Korrekt», sagte Wesler in demselben säuerlichen Ton wie Gerber.

«Vielleicht hätten wir doch nach Berlin fliegen sollen.» Gerber seufzte. «Ich komme mir hier nutzlos vor. Hätte ich nur letzte Nacht mehr aus Neuenhahn herausbekommen!»

Wesler machte eine beschwichtigende Handbewegung. «Sie haben alles richtig gemacht. Ohne Sie hätte Neuenhahn die Geschichte gar nicht überlebt.»

Gerber dachte an den Chefredakteur des Brennpunkt Bonn, der ideologisch auf der entgegengesetzten Seite stand. Während in Weslers Büro Porträts von Bundeskanzler Adenauer und Innenminister Schröder hingen, hatte er in Neuenhahns Redaktionsbüro eine Großaufnahme von Georgi Malenkow gesehen, der nach Stalins Tod im März letzten Jahres Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, und Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR geworden war. Allerdings war Malenkows Stern schon wieder am Sinken, und Nikita Chruschtschow, der ihn bereits als Ersten Sekretär des Zentralkomitees abgelöst hatte, galt längst als der kommende Mann. Ob Neuenhahn inzwischen auch Chruschtschow an der Wand hängen hatte? So wie bei der Sicherungsgruppe nach der letzten Bundestagswahl die Bilder von Robert Lehr durch die des neuen Innenministers ersetzt worden waren.

Die Erinnerung an den Wahlkampf vor einem Jahr ließ Gerber an die Affäre denken, die ihn überhaupt zur Sicherungsgruppe gebracht und in deren Verlauf er Eva kennengelernt hatte. Trotz gegensätzlicher politischer Überzeugungen hatte er nicht nur gut mit Eva, sondern auch mit Neuenhahn zusammengearbeitet. Er hatte den Eindruck gewonnen, dass auf Neuenhahns Wort Verlass war. Aber war der Mann tatsächlich so sehr von den Ideen des Kommunismus durchdrungen, oder lebte er einfach ganz gut von dem Geld, mit dem die Roten sein Blatt finanzierten? Das Bauernhaus in Kessenich, gar nicht weit entfernt von der Redaktion des Brennpunkt Bonn in der Markusstraße, konnte nicht ganz billig gewesen sein.

Neuenhahn hatte sich schon in jungen Jahren für den Kommunismus begeistert und war von den Nazis ins Konzentrationslager gesteckt worden. Was, fand Gerber, kein Hindernis war, sondern eher ein Grund, gut und gern zu leben. Nach dem Krieg hatte er sich in der Sowjetzone niedergelassen und als Journalist für mehrere linientreue Blätter gearbeitet. 1951 war er überraschend im Westen aufgetaucht und war zum Chefredakteur des frisch gegründeten Brennpunkt Bonn aufgestiegen.

Gerber klopfte zwei Zigaretten aus seiner Camel-Packung und reichte Wesler eine. «Herausgeber des Brennpunkt Bonn ist nominell eine gewisse Gesellschaft für Ost-West-Verständigung. Aber wer steckt dahinter?»

«Wenn man diverse Transfergesellschaften und angeblich gemeinnützige Vereine einmal außen vor lässt, dann natürlich die Moskauer Lubjanka.» Wesler sprach von der Zentrale des sowjetischen Auslandsgeheimdienstes, der seit einigen Monaten den Namen KGB trug, was abgekürzt so viel hieß wie Komitee für Staatssicherheit. «Aber das wissen Sie doch so gut wie ich, Gerber. Oder bereitet es Ihnen Sorgen, dass Ihre Freundin vom sowjetischen Geheimdienst bezahlt wird?»

«Wollen Sie andeuten, Eva sei eine KGB-Agentin?»

«Andeuten will ich gar nichts, aber die Möglichkeit besteht.»

«Sie meinen, ein direkter Draht zum KGB in den eigenen Reihen» – er tippte gegen seine Brust – «kann unter Umständen nützlich sein?»

«Ein direkter Draht kann immer nützlich sein, gerade in dieser vertrackten Angelegenheit. Aber warum fragen Sie das überhaupt? Uns allen ist klar, dass der Brennpunkt Bonn aus Ostgeldern gespeist wird. Ein finanzieller Gewinn lässt sich mit dem Blatt nicht erzielen, nur ein ideologischer.»

«Ich versuche, mir einen Reim auf den Mordanschlag zu machen. Wer hat ein Motiv, Neuenhahn umzubringen? Der Osten oder der Westen?»

«Wollen Sie jetzt versuchen, den Anschlag der Org unterzuschieben?»

«Wir sollten alles in Betracht ziehen», antwortete Gerber ausweichend. «Derzeit wissen wir nur, dass Neuenhahn diesen Heinz Labisch kannte. Gut genug offenbar, um ihn mitten in der Nacht ins Haus zu lassen. Neuenhahn sagte mir, Labisch sei ein freier Journalist, von dem er hin und wieder Beiträge veröffentlicht habe. Er meinte aber auch, Labisch habe sie nicht selbst geschrieben. Wer war Labisch in Wahrheit? Ein Agent der Sowjets?»

«Glauben Sie, Labisch hat ihn mit Propagandamaterial versorgt?»

«Möglich. Vielleicht floss der Informationsstrom auch in die andere Richtung.»

Wesler legte den Kopf in den Nacken und ließ einen Rauchkringel zur Decke schweben. «Das ergibt noch kein Mordmotiv.»

«Es sei denn, Neuenhahn hat doch mehr getan als Informationen zu verschieben.»

«Da denke ich wieder an Eva Herden und Otto John.»

«Ich leider auch», gestand Gerber.

«Kann es sein, dass Fräulein Herden irgendwie erpresst wird?» Wesler drückte die Camel im Aschenbecher aus und musterte sein Gegenüber aufmerksam. «War da nicht diese Sache mit ihrer Pervitin-Abhängigkeit?»

«Sie ist von dem Zeug vollkommen runter.»

«Sicher?»

«Absolut», antwortete Gerber, obwohl er seine Hand dafür nicht ins Feuer gelegt hätte. Er hatte das Gefühl, es Eva schuldig zu sein. Als sie sich kennengelernt hatten, war sie ohne diese verfluchte Nazidroge kaum ausgekommen. Er hatte ihr dabei geholfen, von dem Methamphetamin wegzukommen, aber Eva war für ihn noch immer eine Frau voller Geheimnisse. Vielleicht übte sie gerade deshalb eine so starke Anziehungskraft auf ihn aus.

Auch seine Camel landete im Aschenbecher, und ein Gähnen wollte ihn fast zerreißen.

«Fahren Sie mal in Ihre Pension», schlug Wesler vor. «Eine Dusche, eine Rasur und vor allem ein ordentliches Frühstück werden Ihnen guttun.»

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Zwei Stunden später fühlte sich Gerber zwar nicht wie ein neuer Mensch, aber ausreichend gestärkt. Eine ausgiebige Dusche, abwechselnd heiß und kalt, eine gründliche Rasur, Rührei mit Schinken und danach ein Brötchen mit Honig, das alles hatte ihm gutgetan. Und auch die frische Kleidung. Erst in der Pension hatte er bemerkt, dass sein Anzug und sein Mantel mit Blut besudelt waren. Mit Neuenhahns Blut, vielleicht auch mit dem von Labisch. Ob die Wäscherei, zu der seine Wirtin die Kleidung zu bringen pflegte, die Flecken herausbekam? Die unerschütterliche Frau Stenitzer, an derlei Dinge gewöhnt, seit Gerber bei ihr wohnte, hatte die verschmutzten Sachen mit äußerem Gleichmut und einem leichten Grinsen entgegengenommen.

Das Radio im Frühstücksraum widmete sich ausführlich dem Verschwinden Otto Johns. Seine öffentliche Ansprache am Vortag hatte die Berichterstattung kräftig angeheizt. Eine ebenfalls am Vortag veröffentlichte Erklärung der Bundesregierung, dass der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz allem Anschein nach entführt worden sei, wurde in Anbetracht von Johns Rede im Ost-Berliner Rundfunk in Zweifel gezogen. «Darf ein Entführter im Radio sprechen?», brachte es ein Reporter auf den Punkt.

Eine Erklärung der West-Berliner Polizei, wonach man an John in den Tagen vor seinem Verschwinden Anzeichen für «eine schwere seelische Depression» bemerkt haben wollte, wurde seit der Rundfunkrede in einem neuen Licht betrachtet. War er nicht Herr seiner Sinne gewesen, als er die Ansprache gehalten hatte?

Irgendwann hörte Gerber nicht mehr hin. Mit jeder neuen Theorie schien man sich nur weiter von den Fakten zu entfernen. Diese Fakten waren spärlich, aber deutlich.

Erstens: John war in Ost-Berlin.

Zweitens: Eva war in Ost-Berlin.