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Die dunklen Geheimnisse einer jungen Demokratie. Die Entstehung des BKA. Das biedere Rheinland als Hitzekessel der Mächte, auf das der Schatten des Kalten Krieges fällt. Mitten im Wahlkampf wird Philipp Gerber Kriminalhauptkommissar beim BKA. Seine Aufgabe: den Mord an seinem Vorgänger aufzuklären. Sein Geheimnis: Wie der Ermordete ist Gerber Agent der Amerikaner. Gemeinsam mit der Journalistin Eva Herden findet er heraus, dass die rechtsgerichteten "Wölfe Deutschlands" noch aktiv sind. Mitten im Wahlkampf wollen sie ein Zeichen gegen den Kommunismus setzen und einen der führenden linken Politiker töten. Bundeskanzler Adenauer persönlich betraut Gerber mit der Aufgabe, seinen Kontrahenten zu beschützen …
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Seitenzahl: 428
Ralf Langroth
Thriller
Die dunklen Geheimnisse einer jungen Demokratie. Die Entstehung des BKA. Das biedere Rheinland als Hitzekessel der Mächte, auf das der Schatten des Kalten Krieges fällt.
Mitten im Wahlkampf wird Philipp Gerber Kriminalhauptkommissar beim BKA. Seine Aufgabe: den Mord an seinem Vorgänger aufklären. Sein Geheimnis: Wie der Ermordete ist Gerber Agent der Amerikaner. Gemeinsam mit der Journalistin Eva Herden findet er heraus, dass die rechtsgerichteten «Wölfe Deutschlands» noch aktiv sind. Mitten im Wahlkampf wollen sie ein Zeichen gegen den Kommunismus setzen und einen der führenden linken Politiker töten. Bundeskanzler Adenauer persönlich betraut Gerber mit der Aufgabe, seinen Kontrahenten zu beschützen …
Ralf Langroth ist das Pseudonym eines Autors mit Übersetzungen in fünfzehn Sprachen. Vier Bücher des Autors sind derzeit von einer hochkarätigen Produktionsfirma der ersten Reihe für eine Verfilmung optioniert. In den Romanen um den BKA-Mann Philipp Gerber und die Journalistin Eva Herden verbindet Ralf Langroth seine beiden Stärken: die genaue Recherche und das Erzeugen hoher Spannung. Mit dem Auserzählen historischer Leerstellen präsentiert der Autor atmosphärische und packende zeitgeschichtliche Spionagethriller aus den jungen Jahren der BRD.
Freitag, 16. März 1945
Philipp Gerber pfiff Warum ist es am Rhein so schön?, während der kleine Konvoi durch die idyllische Landschaft rollte. Links lag der Rhein, rechts das Siebengebirge mit dem hoch vor ihnen aufragenden Drachenfels, darüber der blaue Himmel. Bilder aus Kindertagen stiegen in ihm auf. Ein Familienausflug auf einem Rheindampfer, seine Schwester Lore, die beim Herumtollen fast über Bord gefallen wäre. Gerber hatte sie gerade noch packen können. Ihre Eltern hatten es gar nicht mitbekommen, und beide hatten laut gelacht.
Doch die Idylle war trügerisch. Denn das Grollen, das unentwegt an seine Ohren drang, war kein Vorbote eines Gewitters, das, so heftig es auch sein mochte, letztlich immer vorüberging. Dieser verfluchte Krieg aber schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Die Alliierten waren schon weit gekommen. Sie hatten den Rhein überquert, den die Deutschen zur unüberwindbaren Verteidigungslinie erklärt hatten, aber auch das hatte den Fanatismus und den Kampfeswillen von Wehrmacht und Waffen-SS nicht gebrochen. Jetzt schossen die deutschen Kampfverbände vom rechten Flussufer auf die vorrückenden Alliierten. Das Dritte Reich lag längst in Trümmern, im Osten wälzten sich Stalins Heerscharen immer näher an Berlin heran, amerikanische und britische Bomberflotten ebneten ein Industriegebiet nach dem anderen ein, und doch schienen den Nazis Waffen und Munition nicht auszugehen.
Sie passierten ein zerbombtes Gasthaus. Ein Dach gab es nicht mehr, auch keine Fensterscheiben. Das Schild mit der Aufschrift «Zum fröhlichen Rheinwirt» hing schief über der Türöffnung. Der kleine Parkplatz davor war eine Trümmerwüste. Schon lange hatte hier niemand mehr gesessen und Bier oder Rheinwein getrunken. Der fröhliche Rheinwirt hungerte und fror vielleicht schon längst in einem sibirischen Gefangenenlager. Die fröhliche Melodie auf Gerbers Lippen erstarb.
James H. Anderson, der neben ihm auf dem Fahrersitz des Jeeps saß, sah ihn mit seinen klaren, blauen Augen an. «Warum pfeifst du nicht weiter, Phil? Das Lied klang lustig.»
«Eben darum.»
Jim lachte auf. «In dir steckt wohl noch irgendwo ein Deutscher, Lieutenant Gerber.»
«Vermutlich hast du recht, Lieutenant Anderson.» Jim war eine echte Frohnatur, und das war vielleicht die beste Voraussetzung, um einen Krieg wie diesen seelisch unbeschadet zu überstehen.
Ständig blickte Gerber sich um, hielt nach einem Scharfschützen im Hinterhalt oder dem eiförmigen Ende einer Panzerfaust Ausschau. In jedem Erdloch, hinter jedem Busch konnte ein versprengter Landser hocken.
Gerber war froh, dass auf jeden der beiden Jeeps hinter ihnen ein Browning-Maschinengewehr montiert war.
Jim Anderson nahm eine Hand vom Lenkrad und kratzte sich am Hinterkopf, direkt unter dem Rand des Stahlhelms. «Wie weit noch?»
Gerbers Blick wanderte zu der Landkarte auf seinem Schoß. «Wir sind gleich da, Jim, noch etwa zehn Minuten. Ist dir der Krieg etwa zu langweilig?»
«Sagen wir, ich hab mich schon mehr amüsiert.»
Sie waren vor einigen Stunden in Köln losgefahren. Major Hiram C. Anderson, Jims Vater und ihrer beider Vorgesetzter, hatte ihnen ihren Auftrag erklärt. Dafür mussten sie zunächst auf die andere Rheinseite, aber das war nicht so leicht. Fast alle Brücken waren zerstört, die meisten von den Deutschen gesprengt, um dem Feind das Vorrücken zu erschweren.
Selbst die Brücke von Remagen, die trotz versuchter Sprengung erobert werden konnte, war nicht mehr passierbar. Die erlittenen Kriegsschäden und die Last amerikanischer Panzer, Transportfahrzeuge und Geschütze waren einfach zu viel gewesen. Ihr Konvoi war über eine Pontonbrücke gerollt, die amerikanische Pioniere in Windeseile neben der alten Brücke errichtet hatten. Nun mussten sie am anderen Ufer wieder ein gutes Stück nach Norden fahren.
Jim drückte das Gaspedal durch, trat aber nach der nächsten Kurve wieder auf die Bremse. Eine Straßensperre in Gestalt eines schweren M3-Truppentransporters, der quer auf der Fahrbahn stand. Daneben ein Jeep mit Browning-MG. Der Schütze zielte auf den zum Stillstand kommenden Konvoi. Soldaten mit Sturmgewehren lagen in Deckung und hatten ebenfalls auf Gerber und seine Kameraden angelegt. Ein bulliger Sergeant erhob sich, das Gewehr in beiden Händen nach unten gesenkt, und ging auf den Konvoi zu.
«Kameraden, hm?»
«So ist es», antwortete Gerber, während er den Männern in den hinteren Jeeps ein Handzeichen gab, die Ruhe zu bewahren.
Der Sergeant blieb ein paar Schritte vor Gerbers Jeep stehen und musterte ihn argwöhnisch. «Ihr tragt unsere Uniformen, aber keine Rangabzeichen. Was seid ihr für Vögel?»
Gerber zog seinen Ausweis aus der Brusttasche und hielt ihn dem Sergeant hin. «Können Sie lesen?»
«Ja, am liebsten Popeye und Flash Gordon.» Der Sergeant trat näher, warf einen Blick auf das braune Papier, auf dem Gerbers Name neben seinem Foto stand, darüber die Bestätigung, dass er ein Special Agent des Counter Intelligence Corps war, des amerikanischen Militärgeheimdienstes. «CIC, so, so», brummte der Sergeant und studierte den Ausweis. Geburtsdatum: 12. Juni 1916. Größe: fünf Fuß elf Zoll. Gewicht: 165 Pfund. Haarfarbe: Braun. Augenfarbe: Grün. Weitere Merkmale: dreieinhalb Zoll lange Narbe an der Hinterseite des rechten Oberschenkels. Daneben sein linker und sein rechter Daumenabdruck.
«Ich verzichte mal darauf, mir Ihre rechte Hinterseite anzusehen.» Der Sergeant griente und reichte Gerber das Dokument zurück. «Was für einen Spezialauftrag gibt es in dieser gottverlassenen Gegend zu erledigen? Hält sich etwa Onkel Adolf hier versteckt?»
«Es handelt sich um einen geheimen Spezialauftrag, Sergeant.» Gerber steckte seinen Ausweis wieder ein.
«Verstehe, Sir, nichts, das uns einfaches Fußvolk was angeht.» Der Sergeant stieß einen gottergebenen Seufzer aus und wandte sich zu seinen Leuten um. «Macht die Straße frei, Männer! Wird’s bald? Hopp, hopp, hopp!»
Sobald das schwere Halbkettenfahrzeug, eine beißende Abgaswolke ausstoßend, von der Fahrbahn gerumpelt war, fuhr der Konvoi weiter. Fünf Minuten später erreichte er die kleine Stadt Honnef und verlangsamte seine Geschwindigkeit. Auch hier gab es überall Kriegsschäden, aber es war nicht so schlimm wie in den größeren Städten. Aus fast allen Gebäuden hingen weiße Fahnen: Hemden, Kissenbezüge oder in Streifen geschnittene Bettlaken. Vor nicht allzu langer Zeit hatten hier überall Hakenkreuzfahnen geflattert. Die wenigen Menschen auf den Straßen hielten sicheren Abstand zu den drei Jeeps. Noch war Krieg, und im Krieg hatten Zivilisten selten etwas Gutes vom Militär zu erwarten.
Ein kleiner, dürrer Junge stolperte hinter einer Hecke hervor und starrte den amerikanischen Konvoi mit großen Augen an. Ihm folgte eine junge Frau in einem löchrigen Wollkleid – Mutter oder Schwester? –, legte ihre Arme um das Kind und drückte es fest an sich. In ihren Augen stand nicht die Neugier des Jungen, sondern nackte Angst. Hastig friemelte Gerber eine angebrochene Tafel Schokolade aus einer seiner Taschen und warf sie den beiden vor die Füße. Die junge Frau bückte sich und hob die Schokolade auf. Hatte sich der Ausdruck ihrer Augen verändert? Er konnte es nicht mehr erkennen, als der Jeep um eine Kurve bog.
«Du hast ein weiches Herz, Phil», sagte Jim Anderson schmunzelnd. «Aber du kannst mit deiner Schokoladenration nicht ein ganzes Volk ernähren.»
«Weiß ich», brummte Gerber. «Aber ich fürchte, genau das kommt auf uns zu.»
Die Bebauung wurde spärlicher, und Honnef blieb hinter ihnen zurück. Nicht lange, und ein malerisch am Hang des Siebengebirges gelegenes Örtchen tauchte vor ihnen auf.
Anderson sagte in seinem stark akzentbehafteten Deutsch: «Ronndorf.»
«Rhöndorf.» Gerber grinste seinen besten Freund an. «Umlaut, Jim, Umlaut.»
«Steck dir deinen Umlaut sonst wohin!»
Andersons Deutsch war bei weitem nicht perfekt, aber es war besser als das der meisten Amerikaner. Er hatte deutsche Literatur studiert, und seine Kenntnisse waren ausreichend gewesen, um ausgerechnet in der CIC-Einheit zu landen, die von seinem eigenen Vater kommandiert wurde. Wahrscheinlich hatte der Major dabei seine Hand im Spiel gehabt. Einsatzgebiet: Deutschland. Gerber als gebürtigen Deutschen hatte man derselben Einheit zugeteilt. Die beiden hatten inzwischen viel gemeinsam durchgemacht, und jeder konnte sich auf den anderen blind verlassen.
Noch immer grinsend, nahm Gerber eine Karte im größeren Maßstab zur Hand. Ein Haus in Rhöndorf war rot umkringelt. Er dirigierte Jim durch die schmalen Straßen nach rechts, weg vom nahen Rhein zu dem bewaldeten Hang hin. Viele Gebäude wiesen Spuren von Granateinschlägen auf.
«Dahin!» Gerber zeigte auf ein Haus am Hang, das mit einem grünen Tarnanstrich versehen war. Mehrere Dutzend Stufen führten zu dem Anwesen hinauf. «Das muss es sein.»
Zu dem Haus gehörte ein Terrassengarten, in dem ein paar Männer und Frauen offenbar nach Essbarem suchten. Auf Gerbers Befehl hielten die Jeeps an, und die beiden MG-Schützen sicherten das Gelände. Die übrigen CIC-Männer aus den hinteren Jeeps stiegen aus, hielten ihre Garand-Sturmgewehre schussbereit und folgten den beiden jungen Offizieren. Gerber und Anderson zogen die schweren Revolver aus den Seitentaschen und erklommen die Stufen. Die Menschen, die eben noch im Garten gewühlt hatten, waren verschwunden.
Oben angekommen, wartete Gerber, während Jim mit zwei Männern das Haus betrat. Er kam schnell zurück. «Leer. Da ist keine Maus drin.»
«Sie stecken da drin.» Gerber deutete mit dem Revolver auf eine massiv wirkende Tür, die offenbar zu einem in den Hang gebauten Keller führte. «Bestimmt ein Weinkeller, typisch für diese Gegend.»
«Jetzt wohl eher ein Luftschutzbunker Marke Eigenbau.»
Anderson hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Als nichts geschah, trat er mehrmals dagegen.
Dann rief eine ältliche Männerstimme in rheinischem Dialekt: «Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Polizei!»
In seinem amerikanisch gefärbten Deutsch erwiderte Jim: «Für Sie sind wir die Polizei. Öffnen Sie! Amerikanischer Sicherheitsdienst!»
Gerber hörte, wie mehrere Stimmen jenseits der Tür erhitzt diskutierten, aber verstand kein Wort. Schließlich ertönte das Geräusch eines Riegels, der langsam zurückgezogen wurde, und ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Mit einem langgezogenen Quietschen öffnete sich die Tür. Staunend erkannte Gerber, dass sich im hinteren Teil des schwach beleuchteten Kellers an die zwanzig Menschen zusammendrängten, Männer, Frauen und Kinder. Vor ihnen stand ein Mann um die siebzig. Er trug einen unpassend wirkenden Anzug, der für den ausgemergelten Körper viel zu weit war. Das misstrauisch dreinblickende Gesicht des Alten wirkte auf Gerber beinah asiatisch.
Jim zog ein kleines Foto aus der Brusttasche, sah es kurz an und wandte sich zu Gerber um. «Das ist er, Phil.»
Er hatte recht. Das war eindeutig der Mann, den sie suchten. Der als für den Wiederaufbau Deutschlands wichtige Person auf der Weißen Liste stand. Als sich die Hinweise auf seinen derzeitigen Aufenthaltsort verdichtet hatten, hatte Major Anderson den CIC-Trupp losgeschickt. «Bringt ihn hierher, nach Köln, unter allen Umständen!»
Die Nazis hatten den Gesuchten aus allen Ämtern entfernt und ihn und seine Frau sogar zeitweilig ins Gefängnis gesteckt. Man sah seinen strengen Zügen die erlittenen Strapazen an, und dennoch wirkte er nicht wie ein gebrochener Mann. Die Blicke der anderen Kellerbewohner hingen an ihm, als wären sie es gewohnt, ihm zu gehorchen. Sein Blick drückte keine Furcht vor den Amerikanern aus, sondern jene gesunde Skepsis, die jeder Mensch gegenüber bewaffneten Fremden empfinden muss. Gerber schob den Revolver zurück in die Ledertasche, und sein Freund tat es ihm nach.
Der Alte schien verwirrt über das Erscheinen der Uniformierten. Seine Stirn lag in Falten, unter den Augen hingen schwere Tränensäcke. Unsicher sprang sein Blick zwischen Gerber und Anderson hin und her.
«Wir sind gekommen, um Sie mitzunehmen», sagte Jim auf Deutsch, was den alten Mann nur noch mehr verunsicherte.
«Bin ich verhaftet?»
«Nein, das nicht. Sie waren doch früher Oberbürgermeister von Köln, stimmt’s?»
«Das ist lange her. Das war vor den Nazis.»
«Jetzt ist nach den Nazis, und wir brauchen Ihre Hilfe.»
Der Mann hob abwehrend die Hände. «Das kann ich nicht machen, auf keinen Fall!»
«Warum nicht?»
«Meine Söhne! Drei von ihnen sind beim Militär. Wenn ich für die Alliierten arbeite, werden sich die Nazis an ihnen rächen.»
Anderson sah Gerber hilfesuchend an.
«Ich bin Lieutenant Gerber vom Counter Intelligence Corps der US Army», sagte er und trat einen Schritt vor. «Lieutenant Anderson und ich haben den Auftrag, Sie mitzunehmen, aber wir wollen Sie nicht zwingen.»
«Dann lassen Sie es!», kam es hart über die schmalen Lippen des Alten.
Gerber sah ihm fest in die Augen. «So leicht können Sie sich Ihrer Pflicht nicht entziehen. Hier geht es um viel mehr als drei Menschenleben. Deutschland braucht Sie in dieser schweren Stunde, Herr Dr. Adenauer!»
Montag, 17. August 1953
Der schrille Klingelton erlöste Philipp Gerber von seinem Albtraum, doch die Bilder ließen ihn noch nicht los. Während er sich mit der Disziplin des langjährigen Soldaten in seinem Bett aufsetzte, sich zur Seite drehte und die Füße auf den Boden stellte, sammelte er seine Gedanken. Der Traum war immer gleich: er und Jim in der nur vom Licht einer Taschenlampe erhellten Höhle. Gerber schüttelte heftig den Kopf und zwang sich, ins Hier und Jetzt zurückzukehren.
Die Traumbilder verblassten, verdrängt durch die frühen Sonnenstrahlen, die durch die beigen Vorhänge tasteten und sein Schlafzimmer in unwirkliches Licht tauchten. Die Zeiger des Weckers standen auf sechs Uhr zwanzig. Er schlug kräftig mit der flachen Hand auf den Ausschalter, aber das Schrillen hörte nicht auf. Dann begriff er, dass es das Telefon war. Das verfluchte Ding war erst vor kurzem in seiner Wohnung installiert worden. In Deutschland einen Telefonanschluss zu erhalten, war ein langwieriges Unterfangen, selbst für einen amerikanischen Offizier. Gerber hätte den Stecker aus der Buchse ziehen sollen, schließlich war heute sein erster dienstfreier Tag. Zu spät. Widerwillig nahm er den Hörer von der Gabel und knurrte ein unfreundliches «Hallo» in die Sprechmuschel.
«Guten Morgen, Captain Gerber, Sir», antwortete eine hohe, unangenehme Stimme. «Der Colonel möchte Sie umgehend in seinem Büro sehen.»
Ein schmales, bleiches Gesicht erschien vor seinem inneren Auge, Lieutenant William B. Snyder.
«Ich habe Urlaub, schon vergessen?», fuhr er Hiram Andersons Ordonnanz an.
«Der ist verschoben», erwiderte Snyder nüchtern.
«Da gibt es nichts zu verschieben, Lieutenant. Es ist mein Resturlaub, und danach bin ich raus. Meine Uniform wird eingemottet, sehen Sie mal in meine Personalakte!»
Für Gerber wurde es Zeit heimzukehren. Der Krieg lag lang zurück, und sein Soldatendasein erschien ihm zunehmend sinnlos. Acht Jahre lang hatte er in den entlegensten Winkeln des besiegten Deutschlands erst untergetauchte Nazis gejagt, dann Kommunisten. Immer öfter musste sich Gerber vergegenwärtigen, warum er das tat, was er tat. Seine Verlobte June, seine Eltern und seine Schwester hatten recht: Es war an der Zeit, nach Hause zu kommen.
«Bitte erscheinen Sie schnellstmöglich zum Dienst, Sir, Frühstück erhalten Sie hier.»
Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Snyder auf, und Gerber widerstand mit Mühe der Versuchung, den Telefonhörer mit einem kräftigen Schlag gegen die Nachttischkante zu zertrümmern.
Fünfzehn Minuten und eine heiß-kalte Dusche mit anschließender Rasur später verließ er das neu errichtete, schmucklose Haus mit den Offizierswohnungen. Trotz der frühen Stunde lastete bereits eine drückende Hitze auf Frankfurt. Er bedauerte die Arbeiter auf den zahllosen Baustellen, die mit der Beseitigung der Trümmer und dem Wiederaufbau der Stadt beschäftigt waren. Bei diesen Temperaturen war die Arbeit mörderisch, aber sie musste getan werden. Fünfundsiebzig Luftangriffe hatten in vielen Stadtteilen kaum einen Stein auf dem anderen gelassen.
Eine dicke Staubwolke hüllte Gerber ein, als ein mit Trümmern beladener Lastwagen an ihm vorbeirumpelte. Er fiel nicht weiter auf, da er Zivilkleidung trug. Agenten, die man auf Schritt und Tritt anstarrte, waren nicht sonderlich effektiv.
Ein kurzes Stück mit der Straßenbahn, und er stand am Rand des großen, parkartig angelegten Geländes, das sich rund um das Farben-Building erstreckte. So nannten die Amerikaner den wuchtigen Gebäudekomplex, in dem die I. G. Farben in der Nazi-Zeit residiert hatte. Wie durch ein Wunder war das Bauwerk unversehrt geblieben. Die Amerikaner hatten es nach der Einnahme Frankfurts beschlagnahmt, und Eisenhower hatte dort sein Hauptquartier eingerichtet. Mittlerweile hatten sich diverse US-Einrichtungen hier niedergelassen, auch der Geheimdienst CIA. Das CIC und die CIA mussten zwar notgedrungen in vielen Fällen zusammenarbeiten, aber man schenkte sich nichts. Grund genug für Colonel Anderson, nicht mit den Rivalen unter ein Dach zu ziehen. Darum residierte das CIC in einem ehemaligen Geschäftshaus am Rand des Parks. Der wachhabende Sergeant am Haupteingang erkannte Gerber, brummte ihm einen knappen Gruß zu und winkte ihn durch.
Das Gebäude verfügte über einen Aufzug, aber Gerber nahm aus Gewohnheit die Treppe in den dritten Stock. Lieutenant Snyder, wie die Wachen und alle CIC-Mitglieder im Innendienst in Uniform, saß in seiner üblichen kerzengeraden Haltung im Vorzimmer des Colonels und telefonierte. Snyders kalter Blick erfasste ihn. Der Adjutant hob die linke Hand und zeigte mit dem Daumen hinter sich, auf die Durchgangstür zu Andersons Büro. Nach einem kurzen Anklopfen trat Gerber ein und schloss die Tür hinter sich, während Snyder noch immer Anweisungen ins Telefon bellte.
In dem geräumigen Büro des CIC-Befehlshabers für Westdeutschland herrschte eine deutlich gelassenere Atmosphäre. Gerber bemerkte sofort den zum Esstisch umfunktionierten Kartentisch, auf dem für zwei Personen gedeckt war. Colonel Anderson stand mit dem Rücken zu ihm und blickte aus einem der großen Fenster auf die erwachende Stadt. Auch er trug seine Uniform. Mit seinem kräftigen Körperbau, dem kantigen Gesicht und dem weißen Bürstenhaarschnitt wirkte er wie einem Kriegscomic entsprungen.
«Erstaunlich, diese Deutschen», hörte er Andersons Reibeisenstimme, ohne dass der Colonel sich zu ihm umdrehte. «Sie erinnern mich an ein Ameisenvolk, dessen Bau zerstört wurde. Ohne einen Gedanken an ihre Verluste und ihre Versäumnisse zu verschwenden, machen sie sich an den Wiederaufbau. Vielleicht sind sie die diszipliniertesten Arbeiter und die fanatischsten Soldaten der Welt. Gut, sie diesmal auf unserer Seite zu haben.»
«Diesmal?», wiederholte Gerber, obwohl er ahnte, was sein Vorgesetzter meinte.
«Wenn es wieder losgeht. Der Krieg. Die Russen stehen bereits vor der Tür, und es wird nicht mehr lange dauern, bis sie sie eintreten. Dann wird es gut sein, die fleißigen Ameisen da draußen auf unserer Seite zu haben. Besser, die übriggebliebenen Krauts beißen ins Gras als noch mehr von unseren Jungs.»
Ein schwerer Seufzer und ein Blick zu einem großen, goldgerahmten Foto auf seinem Schreibtisch. Es zeigte Anderson mit seinen beiden Kindern, James und June. Vater und Sohn trugen Uniform, und June blickte bewundernd zu ihnen auf. Ein Bild aus glücklichen Tagen.
«Dann sind die Deutschen für uns nichts als Schachfiguren?», vergewisserte sich Gerber. «Bauern, dazu bestimmt, sie im Spiel um den Sieg zu opfern?»
«Die Geschichte und die Geographie haben sie dazu ausersehen. Und die Deutschen haben es sich selbst eingebrockt. Einen Krieg anzufangen, den man verlieren muss, ist eine sehr dumme Idee.»
«Es war Hitler, der den Krieg angezettelt hat.»
«Und wer hat Hitler an die Macht gebracht? Wer saß in den Panzern, hinter den Maschinengewehren und in den Sturzkampfbombern?» Der Colonel atmete tief durch, und seine Stimme war jetzt weicher. «Was sollen wir machen, Phil? Die Lage ist, wie sie ist. Wir müssen unseren Einfluss auf die Deutschen nutzen, um sie an unserer Seite zu halten. Dazu brauche ich deine Hilfe. Du und mein Jim, ihr habt es schon einmal getan.»
«Wovon sprechen Sie, Sir?»
«45, als ihr Adenauer aus seinem Keller zurück in die Öffentlichkeit gezerrt habt. Einen besseren Verbündeten hätten wir uns nicht wünschen können. Der Kanzler bringt die Deutschen ganz auf unsere Linie, und unsere Aufgabe ist es, ihn dabei nach Kräften zu unterstützen.» Er deutete auf den gedeckten Tisch. «Aber setzen wir uns doch und frühstücken in Ruhe. Vor uns liegt ein langer, arbeitsreicher Tag.»
Es gab Instantkaffee, dazu Orangensaft, Toast, Rührei, Speck und Würstchen. Gerber langte zu, sein Magen war leer. Dennoch aß er ohne Appetit. Zu viele Fragen stürmten auf ihn ein. Aber er kannte Andersons Grundsatz: erst essen, dann reden.
Gerber betrachtete das Gemälde der Schlacht bei Yorktown, das über dem Tisch hing, als sähe er es zum ersten Mal. Es zeigte die Amerikaner bei der Erstürmung der britischen Schanzen, und blanke Bajonette stießen auf die britischen Grenadiere ein. Man nannte diese letzte große Auseinandersetzung des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs auch die deutsche Schlacht, weil auf beiden Seiten viele Deutsche gekämpft hatten. Deutsche, die ihr Leben für Amerika gaben – gefiel dem Colonel das Gemälde deshalb so sehr?
«Es tut mir leid, dass ich dich ausgerechnet heute mit diesem Sonderauftrag überfalle, Phil.» Anderson hielt die Kaffeetasse in beiden Händen und sah ihn über deren Rand hinweg an. «June kommt heute Nachmittag an, nicht wahr?»
«Ja, mit Pan Am», seufzte Gerber. «Ich habe ihr versprochen, sie vom Flughafen abzuholen.»
«Snyder wird jemanden schicken, der das übernimmt. Und ich fürchte, mein Junge, unsere June wird auch ohne dich in die Staaten zurückkehren müssen. Das hier könnte etwas länger dauern.»
Salamitaktik, dachte Gerber bei dieser Eröffnung. Was immer der Colonel mit ihm vorhatte, es schien tatsächlich eine größere Sache zu sein. June würde das gar nicht freuen. Sie wollte mit ihm ein paar Tage in Deutschland verbringen, auch um ihren Vater wiederzusehen. Dann wollten sie gemeinsam in die Staaten fliegen, wo Gerber bereits eine Stelle als Juradozent in Harvard angenommen hatte. Der Colonel hatte, so vermutete er, ein wenig an den Strippen gezogen. June studierte dort Jura, und Anderson unterstützte die Universität mit großzügigen Spenden. Das beträchtliche Vermögen seiner Frau, die bei Junes Geburt gestorben war, versetzte ihn dazu in die Lage. Am Ende der Geschichte stand selbstredend eine Hochzeit: Mr. und Mrs. Philipp Gerber. Aber jetzt schien alles auf der Kippe zu stehen. Er beschloss, dass er keine Lust auf Andersons Salamitaktik hatte.
«Schießen Sie schon los, Sir! Was ist passiert?»
«Komm, ich zeig es dir.» Gerber folgte Anderson und nahm an dessen Schreibtisch Platz. Der Colonel schob ihm eine Personalakte vom Bundeskriminalamt zu. Ein noch ganz junger Verein, erst vor zwei Jahren gegründet, mit Sitz in Wiesbaden, der einmal so etwas wie das deutsche FBI werden sollte. Auf der Akte stand der Name Heinz Buchmann. Der Name sagte Gerber nichts. Das Foto auf der ersten Seite zeigte ein hartes, ausdrucksstarkes Gesicht mit einem ausgeprägten Kinn.
«Was ist mit dem Mann?», fragte er.
«Er ist tot. Kam vor drei Tagen mit seinem Wagen von der Straße ab und hat sich das Genick gebrochen. Ein geplatzter Reifen.»
«Also ein Unfall.»
«Leider nein. Man hat ein Gewehrprojektil in der Nähe der Unfallstelle gefunden. Wahrscheinlich hat das Geschoss den Reifen getroffen, und ab ging es den Berghang hinunter.»
«Was für einen Berghang?»
«Im Siebengebirge, nahe Bonn.»
«Was hatte er dort zu tun?»
«Buchmann gehörte zu einer Unterabteilung des BKA, der Sicherungsgruppe Bonn. Die SG Bonn wurde auf Adenauers besondere Weisung aufgestellt. Sie beschützt hochrangige Politiker und führt Ermittlungen in staatsgefährdenden Angelegenheiten durch. Buchmann gehörte der Ermittlungsabteilung an.»
«In welcher Angelegenheit hat er zuletzt ermittelt?»
Der Colonel rieb mit einer Hand seinen Nacken und zog die Mundwinkel nach unten. «Das ist das Problem: Ich weiß es nicht. Er konnte seinen letzten Bericht an mich nicht mehr absenden.»
«Er war eigentlich einer von uns?»
«Sagen wir, er hat mit uns kooperiert. Du weißt doch, wie es ist: Wir halten gern alle Fäden in der Hand. Die Regierung Adenauer deckt uns übrigens in diesem Punkt.»
«Gemeinsam gegen die Roten.»
«Du hast es erfasst, Phil. Ich denke, du wirst einen würdigen Nachfolger für Heinz Buchmann abgeben.»
«Moment, ich stamme zwar aus Deutschland, aber ich bin amerikanischer Staatsbürger.»
«Nicht länger.» Anderson nahm etwas aus einer Schublade und legte es vor Gerber auf den Tisch. «Dein druckfrischer Personalausweis. Du musst nur noch unterschreiben. Übermorgen trittst du den Dienst bei der Sicherungsgruppe Bonn an. Als Special Agent des CIC mit Juraabschluss bringst du die besten Voraussetzungen mit. Ich hatte vorhin ein langes Telefonat mit Lehr, er sieht das genauso.»
«Mit dem Innenminister? Ich bin beeindruckt.»
«Aber glücklich siehst du nicht aus.»
«Was ist mit June und mit meiner Familie? Sie denken doch, ich bin bald zurück in den Staaten.»
Anderson bedachte ihn jetzt mit einem fast flehenden Blick. «Ich weiß, ich verlange viel von dir, Phil. Aber ich muss wissen, wer Buchmann getötet hat und warum. Steckt etwas Politisches dahinter? Die Bundestagswahlen sind nächsten Monat, und Adenauers CDU hält sich nur mit diversen Koalitionspartnern an der Macht. Eine Verschiebung des Machtgefüges könnte die amerikanischen Interessen empfindlich stören. Eine SPD-geführte Regierung würde als Erstes die Marktwirtschaft abschaffen. Dann hätten wir Verhältnisse wie im Osten. Ein Albtraum. Dir kann ich hundertprozentig vertrauen. Willst du mir helfen, Phil?»
Gerber sah das Familienfoto auf dem Schreibtisch an, und sein Blick heftete sich auf den jungen Mann in Uniform. Jim war nicht mehr da, und er hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, ihn bestmöglich zu ersetzen.
«Natürlich helfe ich Ihnen, Sir. Das habe ich doch immer getan.»
Sofort strahlte Anderson über das ganze Gesicht. «Ich wusste, auf dich ist Verlass. Gut, dann wartet eine Menge Arbeit auf dich. Aktenstudium, damit du weißt, mit wem du es beim BKA zu tun hast. Du wirst übrigens den Dienstrang von Buchmann übernehmen, Kriminalhauptkommissar. Deinen Dienstausweis lässt Lehr gerade ausstellen.»
«Dann fange ich mal hiermit an.»
Gerber griff nach einem Füllfederhalter und unterschrieb den Personalausweis.
Anderson strahlte noch immer. «Jetzt bist du, nach zwanzig Jahren, wieder ein richtiger Deutscher.»
Mittwoch, 19. August 1953
«Die ideale Stelle für einen Hinterhalt. Eine gerade Strecke und dann eine scharfe Kurve. Heinz Buchmann musste hier stark abbremsen und gab damit ein perfektes Ziel ab. Ein Schuss in den rechten Vorderreifen, und das war’s. Heinz verliert die Kontrolle über den Wagen und stürzt fast achtzig Meter in die Tiefe. Und jeder geht von einem Unfall aus. Zum Glück hat ein Mann vom Suchtrupp das Projektil gefunden.» Erwin Sattler zog ein kariertes Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn. «Ein Scheißtod!»
Gerber dachte daran, wie viele Scheißtode er schon gesehen hatte. Er stand mit Sattler am Rand der Straße, die in Ost-West-Richtung über das Siebengebirge führte, und stellte sich die Situation vor. Kriminalhauptkommissar Buchmann verliert von einer Sekunde zur anderen die Kontrolle über den Porsche 356. Wahrscheinlich war er deutlich zu schnell unterwegs. Der Wagen schert plötzlich aus. Instinktiv dreht Buchmann das Lenkrad nach links, will den Wagen wieder in die Spur bringen. Aber der Porsche schießt über den Straßenrand, stürzt den Abhang hinunter und überschlägt sich. Buchmann wird aus dem offenen Wagen geschleudert, Genickbruch.
«Das Projektil ist eine Infanterie Spitz?», fragte Gerber.
«Ja, 7,92 mal 57 Millimeter. Vermutlich aus einer Mauser 98 abgefeuert. Von dem Modell sind ja eine Menge im Umlauf. Zwei Kriege lassen grüßen.»
Während er sprach, zog Sattler das Jackett aus und lockerte den Knoten seiner Krawatte. Unter beiden Achseln breiteten sich große Schweißflecke aus, auf der linken Seite sogar rund um das Schulterholster mit der Dienstpistole. Was Gerber daran erinnerte, dass er seine Ausrüstung mitsamt der Waffe noch in Empfang nehmen musste. Heute war sein erster Tag bei der Sicherungsgruppe.
Als habe er Gerbers Gedanken gelesen, sagte Sattler: «Es ist schon ungewöhnlich, mitten im Monat eine neue Stelle anzutreten. Ich darf wohl annehmen, dass Buchmanns Tod der Grund dafür ist.»
Sattlers stämmige Figur und das breite Bulldoggengesicht wirkten einschüchternd, aber der Mann schien recht scharfsinnig zu sein. Mit nichts als Stroh im Kopf wurde man nicht Kriminaloberkommissar beim BKA.
«Ihre Annahme ist zutreffend, Kollege.»
Sattler zog eine Packung Chesterfield aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin. Gerber nahm eine Zigarette und ließ sich von Sattler Feuer geben. Das vergoldete Dupont-Feuerzeug mit eingravierten Initialen hätte Gerber eher einem Diplomaten oder einem Industriellen zugeordnet. Als er seinen ersten tiefen Zug getan hatte, traf ihn die Erkenntnis, was er Sattler, ohne es zu wollen, angetan hatte.
«Meine Versetzung zum BKA erfolgte ziemlich übereilt.»
Sattler stieß den Rauch durch seine fleischige Nase aus. «Kann man wohl sagen.»
«Hat bestimmt niemand hier mit gerechnet.»
«Bestimmt nicht.»
«Ich auch nicht.» Gerber sah dem anderen ins Gesicht. «Nur damit Sie’s wissen: Ich habe mich nicht für diesen Posten beworben. Er wurde mir angetragen.»
«Warum erzählen Sie mir das?»
«Weil ich Ihnen die Beförderung zum Hauptkommissar vermasselt habe.» Als Sattler nur mit den Achseln zuckte, fuhr Gerber fort: «Sie sollen nur wissen, dass das nicht meine Absicht war.»
Sattler schwieg weiterhin, und Gerber starrte den Abhang hinunter. Deutlich sah er die Stelle, wo der Porsche gegen einen großen Felsen geprallt war. Buchmann hatte das nicht mehr erlebt, seine Leiche hatte man dreißig Meter weiter oben gefunden.
«Der Porsche war ein Dienstwagen?», fragte Gerber.
«Ja, aus unserem Fuhrpark. Üblicherweise führt ein Porsche den Konvoi des Kanzlers an. Heinz hat sich gern den Ersatzwagen genommen.» Sattler verzog die Mundwinkel zu einer säuerlichen Miene. «Jetzt brauchen wir Ersatz für den Ersatzwagen.»
«Wo ist Buchmann gewesen?»
Sattler wiederholte sein Achselzucken. «Heinz spielte gern den großen Schweiger und überraschte einen dann mit dem, was er herausgefunden hatte. Das war eine echte Marotte von ihm.»
«Das klingt nicht sehr kollegial.»
«Er war ein guter Kollege», erwiderte Sattler wie aus der Pistole geschossen. «Einer von uns, wenn Sie verstehen.»
Gerber beschloss, die letzte Bemerkung zu ignorieren, auch wenn sie zweifellos eine Anspielung auf ihn selbst war, den Neuling und Außenseiter.
«Zu dumm, dass wir nicht wissen, woran er gearbeitet hat.»
«Vielleicht gibt es gar keinen Zusammenhang mit seiner Arbeit.»
«Sondern?»
«Heinz war ein großer Casanova. Möglicherweise war Eifersucht das Motiv. Keine, die zwei hübsche Beine hatte, war vor ihm sicher.»
Gerber glaubte, etwas wie Bewunderung herauszuhören. Unwillkürlich sah er Junes hübsches Gesicht vor sich und dachte an den fürchterlichen Streit am gestrigen Morgen.
«Was du tust, ist ein Verrat an uns, an unseren Plänen, unserem gemeinsamen Leben!», hatte June ihn angefaucht.
Er hatte ihr zu erklären versucht, dass ihr Vater ihm kaum eine Wahl gelassen hatte. Vergeblich.
«Hast du keinen eigenen Willen? Wenn dir die Detektivspielerei lieber ist, bitte! Du und Dad, ihr könnt doch schon gar nicht mehr anders. Ich fliege heute noch zurück!»
Dann war sie abgerauscht, und er musste sich eingestehen, dass ihr Vorwurf, so pathetisch er auch klingen mochte, gerechtfertigt war.
Sein Vater hatte sein schlechtes Gewissen noch befeuert. «Was bist du, Philipp, Deutscher oder Amerikaner?», hatte er auf Englisch am Telefon gesagt. Seit Theodor Gerber vor zwanzig Jahren amerikanischen Boden betreten hatte, war er mit Leib und Seele Amerikaner. Gerber konnte nicht sagen, was für ihn schlimmer gewesen war, der kaum verhohlene Vorwurf seines Vaters oder die stille Duldsamkeit seiner Mutter, die nur mit bebender Stimme ein «Gott schütze dich, Philipp!» hervorgebracht hatte. Auf Deutsch. Sie war in den USA nie heimisch geworden.
Gerber drückte die Zigarette unter seinem Schuh aus und ging zu dem großen Felsen auf der anderen Seite der Straße. Es kostete ihn keine Mühe, ein Stück hinaufzuklettern. Wirklich ein gutes Versteck für einen Heckenschützen. Weit unten reflektierte der Rhein blaugrün funkelnd die Mittagssonne.
Der Jäger traute seinen Augen kaum, als der Mann den Fels heraufkletterte, direkt auf ihn zu. Er hatte ihn schon einmal gesehen, auch wenn das schon Jahre her war. Er vergaß nie ein Gesicht. Nun trug der Mann Anzug statt Uniform und Stahlhelm.
Der Jäger dagegen mit seinem Flecktarnanzug aus SS-Beständen verschmolz perfekt mit seiner Umgebung. Er lag in einer Steinkuhle und war mit Zweigen bedeckt, bereit, jederzeit hochzuschnellen und dem anderen innerhalb von Sekunden das Leben zu nehmen. Wie oft hatte er sich das in Gedanken ausgemalt. Aber er hatte niemals ernsthaft mit dieser Chance gerechnet.
Bedauerlich, dass er die Mauser nicht dabeihatte. Er hatte den Auftrag auszuspähen, nicht aber zuzuschlagen. Also hatte er sein Gewehr im Versteck gelassen, um beweglicher zu sein. Statt der Mauser führte er ein Zeiss-Fernglas und eine Zeiss-Ikon-Kamera mit sich.
Er hatte dem Mann vor ihm Rache geschworen. Und jetzt stand er keine acht Meter von ihm entfernt. Der Jäger benötigte seine Mauser gar nicht. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, dem verhassten Mann den Stahl seines Messers ins Herz zu rammen – oder ihn mit einem Schuss aus seiner Luger niederzustrecken und den zweiten Mann, der unten an der Straße wartete, anschließend auch. Er rang mit sich, wollte dem Impuls zu töten nachgeben.
Als der Mann näher trat, spannte der Jäger seine Muskeln bis zum Zerreißen an und zog lautlos die scharfe Klinge aus der Scheide. Das Messer sollte es sein. Er wollte es in das Fleisch des anderen bohren und sein Blut herausspritzen sehen. Amerikanerblut, Verräterblut, Judenblut, dachte er verächtlich. Danach würde er noch Zeit genug haben, um den anderen mit der Luger zu erledigen.
Aber durfte er seine Befehle missachten?
Der Amerikaner nahm ihm die Entscheidung ab, als er sich umdrehte und wieder hinunter auf die Straße stieg. Der Jäger bekämpfte seine Enttäuschung mit dem Gedanken daran, dass er die Witterung seiner Beute aufgenommen hatte. Sollte das Spiel ruhig noch ein bisschen dauern, der Amerikaner würde ihm nicht entkommen.
«Glauben Sie wirklich, man kann den Deckel darauf halten, dass Buchmanns Tod kein Unfall war?»
«Warum nicht?», erwiderte Sattler, während er den Mercedes durch eine enge Kurve steuerte. «Die Sicherungsgruppe soll die Politiker beschützen, aber wenn herauskommt, dass wir uns nicht mal selbst beschützen können, macht das keinen guten Eindruck. Es könnte sogar zum Wahlkampfthema werden, und vielleicht würde man unsere ganze Einheit in Frage stellen.»
Als sie wieder unten am Rhein waren, tauchten die ersten Wahlplakate auf. CDU, Deutsche Partei, SPD, FDP, Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten … Die Parteienlandschaft schien ebenso zerrissen wie das Land.
«Man kann Deutschland nicht vorwerfen, es nähme seine junge Demokratie nicht ernst», sagte Gerber mit Blick auf die Plakate.
Sattler ließ ein abschätziges Brummen hören. «Versprechungen. Angeblich ist jeder für Deutschland. Aber wenn man die Falschen wählt, wird das Land ruckzuck von Moskau aus regiert. Das sieht man ja an der Ostzone.»
«Dann muss man den Wählern klarmachen, wer die Richtigen und wer die Falschen sind.»
«Ganz meine Meinung, Herr Gerber.» Sie hatten das Gebirge hinter sich, und Sattler bremste den Mercedes vor der Einmündung in eine größere Straße ab. «Hoffentlich gelingt es ihm!»
«Wem?»
«Na, ihm!»
Sattler nickte nach links, von wo sich schnell ein Konvoi näherte. Ein schwarzer Porsche 356 Cabrio und dahinter zwei schwere, schwarze Mercedes-Limousinen. Am Porsche blinkte ein Blaulicht, und der Beifahrer, wie der Fahrer in Zivil gekleidet, wedelte wie ein Wilder mit einer Kelle herum, um andere Fahrzeuge davon abzuhalten, vor dem Konvoi auf die größere Straße einzubiegen.
«Die Kollegen vom Kommando Adenauer», erklärte Sattler. «Der Alte liebt es zu rasen, obwohl er vor zig Jahren einen schweren Autounfall hatte. Seitdem sieht er ein bisschen aus wie ein Chinese. Die Operationen, wissen Sie.»
Die Deutschen hatten sich wirklich schnell erholt, dachte Gerber beim Anblick des Konvois. Noch vor zehn Jahren waren sie mit Kübelwagen und Panzern gefahren.
Als der Porsche sie passierte, hielt der fast kahlköpfige Mann auf dem Beifahrersitz ihnen demonstrativ die Kelle entgegen und grinste breit. Offenbar hatte er Sattler erkannt.
«Blaschke, du alter Blödian!», rief Sattler ihm nach, obwohl der ihn bei dem Dröhnen des Porschemotors unmöglich hören konnte. «Wenn ich dich erwische, rasiere ich dir die letzten Haare ab!»
Gerbers Interesse galt dem Mann, der allein im Fond des mittleren Fahrzeugs, einem schweren Mercedes 300 mit der schwarz-rot-goldenen Standarte über dem Kühler und dem Kennzeichen «02», saß und in das Studium irgendwelcher Unterlagen vertieft war. Seine scharfen Gesichtszüge wirkten wie damals, er schien kaum gealtert zu sein. Für den Flügelschlag einer Sekunde stand Gerber wieder neben seinem Freund Jim im Eingang des Weinkellers, ihnen gegenüber der Mann, dem sie auf seinen ehemaligen Posten zurückverhelfen wollten. Oberbürgermeister von Köln. Sie hatten ihn unterschätzt.
Sich in der Hauptstadt Westdeutschlands zu befinden, mutete angesichts der Größe dieses Provinzstädtchens kurios an. Nicht weit entfernt lag Rhöndorf, noch immer der Wohnort Adenauers. Irgendwo hatte Gerber ein Bonmot aufgeschnappt. In anderen Ländern müssten die Regierungschefs in die Hauptstadt umziehen, die Deutschen aber hätten ihrem Kanzler die Hauptstadt direkt zu Füßen gelegt. Gerber spürte, wie ihn eine schwere Mattigkeit überfiel. Die aufgeheizte Luft und die Bequemlichkeit in den Polstern der ruhig laufenden Mercedes-Limousine taten ihre Wirkung. Sattler steuerte das Regierungsviertel an. In der Simrockstraße, nicht weit entfernt vom Palais Schaumburg, dem Amtssitz des Bundeskanzlers, setzte er Gerber ab.
Das war auch so ein Ding mit Bonn: das Platzproblem. Während sich das BKA in seinem gerade erst errichteten Wiesbadener Neubau ausbreiten konnte, war die Sicherungsgruppe, auf der ständigen Suche nach geeigneten Räumlichkeiten, auf diverse Bonner Standorte verteilt. Hier, in der Simrockstraße 21, sollte Gerber seine Ausrüstung in Empfang nehmen. Bis jetzt besaß er nicht einmal einen Dienstausweis.
«Warten Sie nicht auf mich, Herr Sattler», sagte Gerber, bevor er die Beifahrertür zuschlug. «Bonn geht auch zu Fuß.»
Das alte Haus war verziert mit Stuck und Statuen und hatte den Krieg offenbar heil überstanden. Im Treppenhaus umfing ihn eine angenehme Kühle. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Er fühlte sich müde und erschöpft. Viel war in den vergangenen zwei Tagen geschehen. Seine Zukunftspläne waren weggewischt worden, und alle Menschen, die ihm etwas bedeuteten, hatte er bitter enttäuscht.
Noch ein tiefer Atemzug, bevor er die Augen wieder öffnete. Gerber fand den Mann, den er suchte, in einem mit Regalen und Schränken völlig zugestellten Raum. Er war klein und schmal und trug eine graue Strickjacke. Obwohl Gerber laut an die Tür geklopft hatte, fütterte er seelenruhig die Goldfische in einem kleinen Aquarium. Aus einem Kofferradio auf der Fensterbank säuselte eine hohe Tenorstimme irgendetwas von roten Rosen, roten Lippen, rotem Wein und Sonnenschein.
Gerber räusperte sich. «Herr Schindler?»
Langsam drehte sich der unscheinbare Mann um, die Blechdose mit dem Fischfutter noch in der Hand. Den strengen Blick unter dem Seitenscheitel kannte Gerber: So schauten Menschen, die Macht über andere haben – und sei es nur die Macht über die Materialausgabe.
«Verwaltungsamtmann Schindler. Und Sie sind?»
«Kriminalhauptkommissar Gerber», antwortete er ebenso wichtigtuerisch.
Kaum hatte Gerber seinen Rang genannt, wirkte Schindler gleich freundlicher, wenn auch leicht verwirrt. Mit einer schnellen Bewegung schaltete er das Radio aus.
«Ich kenne Sie gar nicht. Sind Sie neu?»
«So ist es. Ich bin KHK Buchmanns Nachfolger.»
«Ja, Buchmann, ein trauriger Verlust.»
War er in die wahren Umstände von Buchmanns Tod eingeweiht? Gerber fragte vorsichtig: «Sie kannten sich gut?»
«Wie man sich unter Kollegen so kennt.» Schindler drückte den Deckel auf die Blechdose und stellte sie auf eine Anrichte neben dem Fenster. «Hier in der Verwaltung hat man nicht so den engen Kontakt zu den Kollegen der anderen Referate. Sein Faible für schnelle Autos ist ihm offenbar zum Verhängnis geworden.»
«Ja, ein tragischer Unfall.» Gerber ließ einen bewusst langen Seufzer hören und wartete vergeblich auf einen Einwand Schindlers. «Jeder Mensch hat seine Laster. Bei Heinz Buchmann waren es die Autos und, wie man hört, die Frauen.»
«Ach, tatsächlich?», erwiderte Schindler vielleicht ein bisschen zu schnell, und seine Züge verhärteten sich.
«Das hat sich nicht bis zu Ihnen rumgesprochen?» Während er noch sprach, nahm Gerber ein Foto im Silberrahmen vom Schreibtisch. Das Porträt einer attraktiven, dunkelhaarigen Frau, deren mandelförmige Augen den Betrachter herausfordernd anblickten. «Bei so einer hübschen Frau laufen Sie bestimmt nicht Gefahr, anderen Damen zu verfallen.»
«Stimmt, mit Marianne habe ich wirklich Glück gehabt.»
Er wirkte angespannt, und seine Augen waren auf das Foto in Gerbers Händen fixiert. Erst als Gerber den Rahmen zurück auf den Schreibtisch stellte, entspannte er sich.
«Kommen wir zum Dienstlichen, Herr Hauptkommissar. Sie haben mir Ihren Dienstausweis noch nicht gezeigt.»
«Genau den wollte ich bei Ihnen abholen.»
«Dann muss er gestern Abend per Kurier gekommen sein. Wenn ich kurz Ihren Personalausweis sehen dürfte.»
Gerber holte den Ausweis aus seiner Brieftasche und reichte ihn dem Verwaltungsamtmann, der große Augen machte.
«Der ist erst vorgestern ausgestellt worden!»
«Ich weiß», sagte Gerber ungerührt. «Folglich dürfte er kaum abgelaufen sein. Was also ist Ihr Problem?»
«Wieso gerade vorgestern?»
«Weil ich davor noch kein deutscher Staatsbürger war.»
«Sondern?»
«Amerikaner. Als 33 dieser Österreicher mit dem seltsamen Oberlippenbart und der noch seltsameren Weltanschauung an die Macht kam, erkannte meine Familie sehr schnell, dass das nicht mehr unser Land war.»
«Emigriert, aha.» Schindlers Kopf hob sich, und er blickte Gerber forschend an. «Jüdisch?»
«Hat Marianne Sie jemals betrogen?»
«Wie bitte?» Schindlers Miene verhärtete sich wieder, wurde fast feindselig. «Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.»
«Das finde ich auch», sagte Gerber ruhig.
«Man wird sich ja noch wundern dürfen, wenn jemand, der vor ein paar Tagen noch amerikanischer Staatsbürger war, heute schon Hauptkommissar bei der Sicherungsgruppe ist. Waren Sie in Amerika Polizist?»
«So etwas in der Art. Captain der US Army.»
«Ah, so.» Etwas Unverständliches vor sich hin brummelnd, ging Schindler zu einem hohen Stahlschrank und schloss ihn auf. Darin lag tatsächlich der Dienstausweis, den Gerber in Gegenwart des anderen unterschreiben musste. Anschließend erhielt Gerber seine Polizeimarke und die Dienstausrüstung, zuletzt die Dienstwaffe, eine belgische FN-Browning-Selbstladepistole mit drei vollen Magazinen. «Deutsche Polizei, aber deutsche Waffen sind nicht erwünscht. Der Krieg hat doch vieles durcheinandergebracht.» Schindler schüttelte den Kopf und packte eine lederne Pistolentasche neben die Browning. «Wundern Sie sich nicht, die Tasche ist eine Spende von der Bahnpolizei. Was Besseres gibt’s noch nicht.»
«Danke», sagte Gerber und quittierte den Empfang.
Zurück auf der Simrockstraße zündete Gerber sich mit seinem schwarzen Zippo eine Camel an und hielt sein Gesicht in den leichten Lufthauch, der vom Fluss herüberwehte. Hier zu stehen und wieder ein Deutscher zu sein – jedenfalls auf dem Papier –, fühlte sich unwirklich an. Wie in einer Geschichte von Kafka. Er hatte dieses Land verlassen, als es nicht mehr sein Land gewesen war, hatte gegen dieses Land gekämpft und in dem Kampf sein Leben riskiert, und jetzt stand er mitten in dieser merkwürdigen Parodie einer Hauptstadt und sollte dabei helfen, Gesetz und Ordnung in die Trümmer zu tragen.
Ein Deutscher war ermordet worden, mit einiger Wahrscheinlichkeit von einem anderen Deutschen. Vor ein paar Jahren noch ein Umstand, über den sich jeder amerikanische Soldat gefreut hätte. Jetzt sollte er diesen Mord aufklären. Ergab das alles einen Sinn?
In einer Hand die klobige Pistolentasche, schlenderte er in Richtung Rhein und zog verwunderte Blicke auf sich. Pistole, Munition und andere Kleinigkeiten, die er von Schindler empfangen hatte, beulten seine Jackentaschen aus. Wahrscheinlich wirkte er wie einer der Schwarzmarkthändler, die in den ersten Nachkriegsjahren überall unterwegs gewesen waren.
Gerbers neue Wirkungsstätte lag auf dem Gelände der Villa Selve, praktischerweise angesiedelt zwischen der Villa Hammerschmidt mit dem Sitz des Bundespräsidenten und dem Palais Schaumburg.
Am Eingang kam ihm sein neuer Vorgesetzter, Kriminaloberrat Dr. Arnulf Krey, Leiter der Ermittlungsabteilung und stellvertretender Leiter der Sicherungsgruppe, entgegen. Ein großer, eloquenter Mann mit schütterem Haar unter dem dunkelgrauen Homburger und einer gewaltigen Hornbrille auf der Hakennase. In einer Hand trug er eine große Aktentasche.
«Herr Gerber, wollen Sie Ihren neuen Schreibtisch einweihen?»
«Ja, den in der nicht mehr vorhandenen Villa», sagte Gerber und deutete auf die Ruine. «Da ist wohl eine Bombe zu viel auf Bonn gefallen.»
«Sie irren sich, die Villa Selve stand 45 noch. Nach dem Krieg saß der Offiziersstab der Belgier da drin. Danach sollte das Gebäude an die Universität übergehen. Aber beim Auszug der Belgier ist die Villa abgebrannt. Ein Unfall, sagt man. Egal, weg ist weg. Wenigstens können wir die übriggebliebenen Wirtschaftsgebäude nutzen.»
«Ich glaube, ich muss mir noch einen Stadtplan besorgen und darauf sämtliche Standorte der Sicherungsgruppe markieren, um nicht die Orientierung zu verlieren.»
«Gute Idee, den lassen wir dann vervielfältigen», amüsierte sich der Kriminaloberrat. «Ja, diese ständige Lauferei zwischen den Dienstgebäuden kann nicht ewig weitergehen, sonst muss der Staat uns Schuhsohlengeld bezahlen. Vergessen Sie die Beerdigung und die Pressekonferenz morgen nicht, Herr Gerber. Ich muss jetzt an meinen eigenen Schreibtisch. Der steht seit ein paar Wochen in der Joachimstraße.»
Erst als sein Vorgesetzter weitergegangen war, wurde Gerber bewusst, dass Krey sich mit keiner Silbe nach den Ermittlungen im Fall Buchmann erkundigt hatte. Er wurde das Gefühl nicht los, dass es niemanden recht zu interessieren schien, wer den geschätzten Kollegen ins Jenseits befördert hatte.
In seinem Dienstgebäude, einem ehemaligen Pferdestall, traf Gerber auf Sattler, mit dem er sich ein Büro teilte. Als Gerber seine bei Schindler gemachte Beute auspackte, ging Sattler zu einem verschrammten Schrank aus billigem Furnier, holte ein ledernes Schulterholster hervor und legte es neben Gerbers Dienstpistole.
«Ein Geschenk des Hauses zum Dienstantritt, Herr Hauptkommissar. Damit Sie nicht mit dem Ding von der Bahnpolizei am Hosenbund herumlaufen müssen.»
«Vielen Dank, aber woher …»
Sattler hielt mahnend einen Zeigefinger vor seinen Mund. «Fragen Sie nicht, dann muss ich nicht antworten. Wir alle haben doch im Krieg das Organisieren gelernt.»
Gerber zuckte zusammen, als plötzlich lautes Gebell den Raum erfüllte. «Himmel, was ist das?»
«Das sind unsere Nachbarn, Freitag und Robinson, an die müssen Sie sich gewöhnen.»
«Freitag und Robinson?»
«Unsere Schäferhunde. Werden wahrscheinlich gerade gefüttert. Der Zwinger ist hinter uns. Die alten Stallwände sind nicht so dick, wie sie aussehen.»
«Ich höre es.» Gerber blickte auf den Schreibtisch, an dem er saß und an dem vor ein paar Tagen noch Heinz Buchmann gesessen hatte. «Könnte es eigentlich sein, dass unser Toter auch vor den Frauen von Kollegen nicht haltgemacht hat?»
«Denken Sie an jemand Bestimmtes?»
«Schindlers Frau Marianne sieht sehr ansprechend aus. Ich habe in der Simrockstraße ein Foto von ihr gesehen.»
Ein breites Grinsen durchschnitt Sattlers Gesicht. «Da haben Sie voll ins Schwarze getroffen. Was man aber nicht unbedingt Heinz ankreiden kann. Die Marianne ist eine ganz Scharfe, ständig bereit, und das sendet sie auch aus. Kein Wunder. Können Sie sich vorstellen, wie Goldfisch-Schindler in seiner Strickjacke ihre Bedürfnisse befriedigt? Sie ist ja viel jünger als er. Als Heinz was mit ihr hatte, hätte er nur mit den Fingern schnippen müssen, und sie wäre ihm bis ans Ende der Welt gefolgt.»
«Und das wollte Buchmann nicht?»
Sattler schüttelte den Kopf. «Heinz sagte immer, Deutschland ist ein Paradies für Männer. So viele Tote, so viele Kriegsgefangene, so viele Verkrüppelte und auf der anderen Seite so viele Frauen ohne Männer. Da wäre er doch saublöd, hat er gesagt, sich nur an eine zu binden.»
«Das wird Frau Schindler nicht sonderlich gefallen haben.»
«Wie gesagt, sie ist für viele zu haben. Als sie zu aufdringlich wurde und Heinz ihr den Laufpass gegeben hat, hat sie sicher schnell einen Neuen gefunden.»
«Und wie geht Schindler damit um?»
«Der flüchtet sich in seine Materialkammer und zu seinen Goldfischen.»
«War es keine Liebesheirat?»
«Ach was. Die Marianne war eine mittellose Kriegswaise, und Schindler als Beamter mit festen Bezügen kam ihr da gerade recht. Sie hat finanziell ausgesorgt, und er durfte sich der Illusion hingeben, es wäre die wahre Liebe.»
«Eine manchmal wirklich trügerische Illusion mit unerwartetem Ende», seufzte Gerber und dachte an June.
Donnerstag, 20. August 1953
Die Sonne schien gnadenlos herab, und jeder Flecken Schatten auf dem Bonner Nordfriedhof wurde von den Trauergästen dankbar ausgenutzt. Gerber hatte in dem kleinen Pensionszimmer mit Blick auf ein Trümmergrundstück, das das CIC oder das BKA oder wer auch immer für ihn angemietet hatte, eine unruhige Nacht verbracht und fühlte sich alles andere als ausgeschlafen. Der übliche Albtraum, der ihn seit Jahren verfolgte.
Jetzt schwitzte er in seinem schwarzen Anzug und ertrug nur mit Mühe die nichtssagende Rede irgendeines Abgesandten des Bonner Oberbürgermeisters, dann die ebenso hohlen Worte eines Staatssekretärs aus dem Innenministerium und schließlich die einzige Ansprache, die etwas persönlicher gehalten war. «Lebe wohl irgendwo da oben, geschätzter Kollege und lieber Freund!», schloss Arnulf Krey, und ein fein herausgeputztes Polizeiorchester, dessen Instrumente in der Sonne funkelten, spielte langsam und feierlich Ich hatt’ einen Kameraden. Als Krey anschließend die Kondolenzwünsche am offenen Grab entgegennahm, wurde allen klar: Nicht ein einziger Angehöriger von Heinz Buchmann war hier. Gerber wusste aus der Personalakte des Verstorbenen, dass Buchmann seine gesamte Familie im Krieg verloren hatte. Der große Frauenheld musste ein sehr einsamer Mensch gewesen sein.
Als er und seine neuen Kollegen dem Toten die letzte Ehre erwiesen hatten und alle in einem Pulk einer nahen Gastwirtschaft zustrebten, erkannte Gerber, dass er sich geirrt hatte. Zumindest ein Mensch war gekommen, der nicht dienstlich mit Heinz Buchmann verbunden gewesen war. Hinter einer Hecke, weitab von den anderen Trauergästen, trat zögernd eine schwarz gekleidete Frau hervor. Offenbar hatte sie gewartet, bis sich alle anderen entfernt hatten. In der behandschuhten Rechten hielt sie eine einzelne weiße Rose. Gerber ging am Schluss der Gruppe und blieb bald stehen. Er lief zurück zum Grab und betrachtete die Frau in Schwarz, die ihm den Rücken zuwandte und hinab in die Grube sah. Eine kleine, schlanke Gestalt, die still dastand und in ihre Gedanken versunken schien.
Plötzlich drehte sie sich um und blickte Gerber erschrocken an. Er lächelte freundlich und betrachtete ihr hübsches, ovales Gesicht. Auf dem dunklen, hochgesteckten Haar thronte ein kleiner, schwarzer Hut mit einem schwarzen Schleier, der über ihre Augen fiel. Es war so hell, dass er die Frau trotz Schleier wiedererkannte.
«Ich wollte Sie nicht erschrecken, Frau Schindler.»
Er war zwei Köpfe größer als sie, und sie blickte zu ihm hoch. «Kennen wir uns? Sind Sie ein Kollege von Heinz?»
«Mein Name ist Philipp Gerber. Ich bin erst seit gestern bei der Truppe.»
«Woher wissen Sie, wer ich bin?», fragte sie mit Skepsis in der Stimme.
«Ich musste gestern bei Ihrem Mann vorsprechen und habe Ihr Foto auf seinem Schreibtisch bewundert.»
«Ach so.» Nach einer kurzen Pause hatte sie ihre Gedanken geordnet und sagte: «Mein Mann konnte sich leider nicht freimachen, deshalb bin ich gekommen.»
«Das ist sehr freundlich von Ihnen, Frau Schindler. Ich habe Heinz Buchmann nicht gekannt, aber er scheint recht beliebt gewesen zu sein.» Er wartete, aber sie erwiderte nichts darauf. «Darf ich Sie zur Trauerfeier begleiten? Es ist nur ein kleiner Umtrunk mit belegten Broten, die Kollegen haben gesammelt.»
Sie wich einen Schritt zurück und musste aufpassen, nicht ins offene Grab zu fallen. «Nein, danke, ich – ich habe nicht so viel Zeit, wissen Sie.»
«Ach, Sie sind berufstätig.»
«Nein, das nicht.»
Er trat näher, und jetzt war sie zwischen ihm und dem Grab fast gefangen. «Dann sind es die Kinder, um die Sie sich kümmern müssen. Jetzt in den Sommerferien brauchen sie wohl den ganzen Tag über Beaufsichtigung.»
«Nein, wir haben keine Kinder.»
Wieder hielt er ihr seinen Arm hin. «Dann gehen wir doch irgendwo etwas trinken. Wir müssen uns ja nicht den anderen anschließen.»
Er hatte sie da, wo er sie haben wollte. Sie hakte sich bei ihm unter und begleitete ihn. Die Vorstellung, auf die halbe Sicherungsgruppe zu treffen, musste ihr als das größere Übel erscheinen.
Sie hatten das Friedhofstor fast erreicht, als sie plötzlich stehen blieb und ihn ansah. «Sie wissen es, nicht wahr? Das von Heinz und mir.»
Er nickte.
«Und was wollen Sie von mir?»
«Nichts Unsittliches, keine Sorge. Ich möchte mich nur ein wenig mit Ihnen unterhalten.»
Sie hielten auf ein kleines Wirtshaus zu. Im Eingang zögerte Frau Schindler plötzlich.
«Nichts Unsittliches», wiederholte sie Gerbers Worte. «Sie haben bestimmt schon einiges über mich gehört.»
«Ich bin gut im Zuhören, Frau Schindler. Aber ich bin auch gut darin, nicht alles zu glauben, was ich höre.»
Sie waren die einzigen Gäste in dem mit zusammengesuchten Möbeln ausstaffierten Lokal, und die aufmerksame Bedienung war sofort zur Stelle. Marianne Schindler wollte nur eine Tasse Kaffee. Gerber, der mangels Appetit nicht gefrühstückt hatte, bestellte sich eine Linsensuppe mit Mettwurst und dazu eine Coca-Cola. Er zündete erst seiner Begleiterin und dann sich eine Camel an. Als sich Marianne Schindler auf dem einfachen Holzstuhl zurücklehnte und an der Zigarette zog, wirkte sie ein wenig entspannter.
«Wahrscheinlich hat es Sie einige Überwindung gekostet, zu Heinz’ Beerdigung zu kommen», sagte Gerber vorsichtig.
«Es fiel mir nicht ganz leicht, aber ich musste es einfach tun.»
«Warum sind Sie nicht später gekommen, nachdem die Kollegen weg waren?»
«Daran habe ich gar nicht gedacht.» Sie lachte kurz und ohne echte Erheiterung. «Wie dumm von mir.»
«Ich halte Sie nicht für dumm, Frau Schindler.»
«Sondern?»
«Ich denke, Sie sind eine Frau, die weiß, was sie will, die aber nicht weiß, wie sie es bekommt. Eine Frau, die irgendwann in ihrem Leben eine scheinbar goldrichtige Entscheidung getroffen und zu spät erkannt hat, dass es nur Katzengold war.»
Sie blickte ihn erstaunt an. «Sie sind ja ein Romantiker, Herr Gerber. Das hätte ich gar nicht vermutet.»