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Hamburg im 18. Jahrhundert: Jan Anton Kock, Sohn des Scharfrichters Anton Kock, muss nach dem plötzlichen Tod seines Vaters dessen Amt übernehmen und schon im Alter von 16 seine erste Hinrichtung vollziehen. Viele Jahre erfüllt er seine Arbeit pflichtbewusst, obwohl er dem Scharfrichterberuf zwiespältig gegenübersteht. Doch als er sich in das Lachen eines Mädchens verliebt, gerät seine Welt ins Wanken. Denn die junge Hanna Kranz, Dienstmädchen einer reichen Familie, ist des Kindsmordes angeklagt und bis zu ihrer Hinrichtung bleiben nur noch wenige Tage. Eine qualvolle Zeit für Jan Kock, aber auch für Dr. Friedrich König. Der Anwalt ist als Defensor der Hanna Kranz berufen. Als aufgeklärter Geist und Gegner der Todesstrafe versucht er ihr Leben um jeden Preis zu retten ...
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Seitenzahl: 290
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Dagmar Fohl
Das Mädchen und sein Henker
Historischer Roman
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Katja Ernst
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Hinrichtung einer Vestalin«
von Heinrich Friedrich Füger, http://de.wikipedia.org
ISBN 978-3-8392-3374-0
Toren ihr! Zu ewiger Blindheit verdammt! Meinet ihr wohl gar, eine Todsünde werde das Äquivalent gegen Todsünden sein, meinet ihr, die Harmonie der Welt werde durch diesen gottlosen Misslaut gewinnen?
(Friedrich Schiller, Die Räuber)
Am Tag,andem Jan Kock begann, für seine Meisterprüfung zu üben, geschah nichts Außergewöhnliches im Zentrum der Stadt. Rund um die Petri-Kirche, wo er zu Hause war, bahnten sich die Menschen und Fuhrwerke ihren Weg durch das Labyrinth der schmalen und krummen Gassen. Unbeirrt von der Enge, von dem Lärm und dem Gestank, wateten sie durch Unrat, Kot und Dreck. Beständig atmeten sie die fauligen Dünste ein, die aus jeder Ecke der dicht an dicht ineinandergeschobenen Häuserhaufen und aus den Kanälen und Fleeten der Stadt aufdampften. Hier und da lagen Tierkadaver herum. Auch in den Fleeten und Hasenmooren, den stehenden Wasserzügen, dümpelte Aas.
Wie gewohnt gingen die Menschen in Hamburg ihrem Tagwerk nach. Karrenschieber und Lastträger stoben voran. Kranzieher waren vor ihre Wagen gespannt und schleppten schwere Lasten, Pferdekutschen polterten über die Wege. Dazwischen das Fußvolk. Boten teilten Post aus, Dienstmädchen machten Besorgungen, Marketenderinnen liefen mit ihren Körben umher und verhökerten Fische, Korinthenklöven und Schnaps. An den Straßenecken sangen und spielten Drehorgelspieler und Bänkelsänger. Hier und da hockte jemand am Gassenrand und verrichtete seine Notdurft. Überall liefen und krochen Bettler umher. Sie zupften an Rockzipfeln, jammerten lauthals um eine milde Gabe. Die Gassenjungen ließen ihre Peitschen knallen, schlugen den Fußgängern zwischen die Beine, dass sie zu Boden fielen. Einige Jungen warfen Erd- und Kotklumpen durch die Fenster der Karossen.
Nichts Bemerkenswertes geschah an diesem Tag. Beharrlich stolperten die Menschen, rumpelten die Karren und Kutschen über das schadhafte Pflaster. Füße knickten um, Räder fuhren sich fest, versanken im Morast von Abfällen. Menschen schrien und schimpften, Pferde wieherten, Straßenköter kläfften. All der Lärm, das Geschrei, das Rattern der eisenbeschlagenen Wagenräder, das Peitschenknallen der Kutscher und Gassenjungen, all der Schmutz, der Jauchegestank, die Masse an Dämpfen, die sich zusammenbrauten und sommers wie winters als Wolke über der Stadt lagen, gehörten zum täglichen Einerlei. Abgesehen davon, dass es sich um einen besonders heißen Sommertag handelte, nahm alles seinen gewohnten Lauf.
Für Jan Kock war an jenem Tag, es war der dreißigste August des Jahres 1767, nichts alltäglich. Er stand in seinem Garten hinter dem Haus, abseits des Gassenlärms, und übte. Mit einem langen Nagel durchbohrte er einige Rüben, zog eine nach der anderen auf einen Faden, legte die Rübenkette auf den Holzstamm, der als Begrenzung des Kräutergartens diente. Danach begann er, das Schwert zu schärfen. Mit äußerster Sorgfalt zog er den Wetzstahl über die Klinge. Mehrmals prüfte er ihre Schärfe mit dem Daumen. Dann führte er das Schwert mit beiden Händen nach oben. Er musste genau zielen, um den Faden zwischen den Rüben zu durchtrennen. Acht Mal schlug er zu. Immer wieder fehlte er. Acht Mal hieb er in das Rübenfleisch.
Er übte so lange, bis das Schwert den Faden zertrennte, ohne die Rüben zu verletzen. Danach versuchte er es mit toten Ziegen. Ziegen hatten besonders starke Nackenwirbel. Es war nötig, stark genug zuzuschlagen und das Schwert so präzise zu führen, dass es den Dornfortsatz und die beiden Querfortsätze des Halswirbels zerschnitt. Ein einziger waagerecht mit beiden Händen geführter Hieb musste das Haupt vom Rumpf trennen. Er holte kräftig aus. Klack. Ein sauberer Schnitt.
Jan Kock übte ohne Unterlass, denn er hatte Angst. Unbändige Angst. Er wollte nicht wie viele andere Scharfrichter von der aufgebrachten Volksmenge gesteinigt oder erschlagen werden, wenn er fehlte. Sein Vetter Hans in Lüneburg wäre beinahe umgekommen. Noch ganz beherzt und ohne Zögern hatte Hans dem Verurteilten die Haare abgeschnitten. Als er ihn dann aber hinrichten sollte, da torkelte und taumelte er, und erst mit vier Streichen schnitt er dem Delinquenten den Kopf ab. Hans war dem wutentbrannten Pöbel nur entkommen, indem er sich ins Gefängnis flüchtete.
»Übe, mein Junge, übe«, sagte der Vater auf dem Totenbett. »Ein Scharfrichter kann sich keine Fehler leisten. Gefährde nie deine Familie und dein eigenes Leben. Werde ein guter und gewissenhafter Scharfrichter.«
Schon einige Male hatte Jan Kock dem Vater bei Hinrichtungen assistiert, hatte den Verurteilten Wein reichen und sie festbinden müssen. Er kannte das Geräusch, wenn das Schwert durch den Hals fuhr. Auch das Rauschen und Spritzen des Blutes, das wie eine Fontäne aus dem Halse schoss, und die Totenblässe, die sich auf dem verblutenden Gesichte zeigte. Einmal, bei einer Kindsmörderin, die der Vater gerichtet hatte, war noch Leben im abgeschlagenen Kopfe, die Wangen waren rosig geblieben und die Lippen bewegten sich, als würden sie lautlose Worte sprechen, als sagte sie, man solle doch ihren Kopf wieder auf den Rumpf setzen.
Wie ist es, einen Menschen zu köpfen, mit eigenen Händen? Wie ist es, eine Frau zu köpfen? Was fühlt man dabei? Wäre er imstande, das zu tun, was man fortan von ihm verlangte?
»Du musst geschickt und tüchtig sein«, sagte der Vater, »du musst treu, gehorsam und verschwiegen sein, die Anweisungen der Obrigkeit genau befolgen und darauf vertrauen, dass die Herren Richter ein gerechtes Urteil gesprochen haben. Du darfst die Strafen, zu denen die Angeklagten verurteilt sind, niemals infrage stellen. Und denke immer daran: Rasch abgesetzt zu werden, ist eine schmerzfreie Art zu sterben, sofern du dein Handwerk verstehst.«
Der Vater sprach nie vom Köpfen. Er setzte rasch ab. Und wenn er stäupte, sprach er von fegen. Und wenn er folterte, setzte er vernünftig die Glieder. Und statt zu henken, schlug er einen feinen Knoten, und wenn er räderte, spielte er artlich mit dem Rade.
Am Tag der Meisterprüfung zogen Tausende von Menschen durch die Straßen zum Steintor hin, wo die Hinrichtung vollzogen werden sollte. Die Menschen drängten und schubsten, um voranzukommen. Sie lärmten und lachten, schrien und pöbelten. Jan Kock saß auf seinem Wagen, neben ihm die Mörderin, in eine härene Decke gewickelt. Das Messer, mit dem die Mutter die Tat begangen hatte, hing um ihren Hals. Der Wagen war umringt von Kavalleristen, die den Pöbel im Zaum hielten. Einige Reiter ritten mitten in die Volksmenge hinein und sprengten sie mit Gewalt auseinander. Menschen stürzten und drohten von der Masse zertreten zu werden.
Das Militär hatte um den Köppelberg einen großen Kreis geschlossen. Hinter der Absperrung hielten viele Wagen. Manche brachen unter der Last der Zuschauer zusammen, worauf die umstehende Menge mit Hohngelächter antwortete. Zwischen den Volksmassen drängten sich zahllose Marketender, die Likör und Branntwein feilboten und ihre Waren reißend verkauften.
Der Tag versprach heiß und stickig zu werden. Die Sonne stach bereits in den Morgenstunden. Jan Kock wischte sich die schweißnassen Hände an seinem Mantel ab. Er blickte weder nach rechts noch nach links, bis die Garde ihn mit der Verurteilten vor die Richtertribüne geleitet hatte. Der Oberstrichter schnaufte und schlug mit seinem Amtsstab auf.
»Stille, Stille!«, riefen die Gerichtsdiener.
Der Richter ergriff das Wort. »Du, Maria Voßen, tritt hervor und vernimm hier unter Gottes freiem Himmel das Strafurteil, welches die höchsten Richter dieser Stadt, zwar mit blutendem Herzen, aber auch mit höchster Gerechtigkeit gegen dich ausgesprochen haben, weil gegen dich Recht ergehen muss vor Gnade.
Mit dem Schwert sollst du hingerichtet werden vom Leben zum Tode. Gerecht, im höchsten Grade gerecht ist dieses Urteil, denn du hast dein eigenes Kind mit dem Messer getötet. Dein Leben ist verwirkt, auf dieser Erde ist für dich kein Platz mehr. Ich trenne das Band zwischen der Menschheit und dir. Nur bei Gott kannst du noch Gnade finden.«
Er klopfte erneut mit dem Stab.
»Scharfrichter Kock, ich übergebe Euch die hier vor mir stehende arme Sünderin, sie mit dem Schwert zu richten. Tut nun Eure Schuldigkeit, wir haben die unsrige getan.«
In der Mitte des Platzes befand sich das siebzehn Fuß hohe, teils gemauerte, teils hölzerne Gerüst. Jan Kock stieg mit der Delinquentin, den Scharfrichterknechten, dem Prediger und einigen Amtsvertretern die Treppe zum Schafott hinauf.
»Stille!«, riefen die Gerichtsdiener. »Stille!«
»Im Namen des Hoch- und Wohledlen Rates«, sprach der Richter, »gebiete ich von Obrigkeit wegen, bei Leib und Gut, dem Scharfrichter keine Hinderung zu tun, auch wenn ihm, Gott bewahre ihn davor, etwas misslingen sollte. Niemand darf Hand an ihn legen, denn auch er steht unter dem Schutz der Gesetze, und sollte er fehlen, so wird auch ihn sein Richter finden. Darum haltet Frieden! Haltet Frieden!«
Jan Kock trat an die linke Seite der Delinquentin. Der Prediger gebot der Mörderin, auf die Knie zu fallen und ein kurzes Gebet für die Vergebung ihrer Sünden zu sprechen. Die Verurteilte brach in krampfhaftes Weinen aus. Der Fronknecht führte sie auf den Richtstuhl, band ihr Arme und Beine und befestigte das Kinn mit einer Lederschlinge.
»Richtet sie«, schrie das Volk, »richtet die Teufelin.«
Jan Kock zog das Schwert unter seinem Mantel hervor. Es war des Vaters Schwert, in dessen Klinge der Spruch Die Herren judizieren, ich tue exequieren eingraviert war. Eine unheimliche Stille legte sich über den Richtplatz. Männer, Frauen und Kinder verstummten, selbst die Hunde hörten auf zu bellen. Es war kurz nach zwölf. Die Sonne stand im Zenit und brannte unerbittlich. Jan Kock richtete seine Augen starr auf den Nacken der Verurteilten. Er atmete tief ein, führte das Schwert nach oben. Längst hätte der Kopf fallen müssen, aber er vermochte nicht zuzuschlagen. Er stand mit erhobenem Schwert, wie eine Statue, neben der Verurteilten.
Tosender Lärm verdrängte die Stille. Die Menge schrie und pöbelte. Flaschen flogen durch die Luft und zerschlugen auf dem Pflaster.
»Richtet sie, richtet sie«, tönte es von überall.
Jan Kock liefen Schweißtropfen über Gesicht und Hals. Er begann, vor Anspannung zu zittern. Er setzte das Schwert ab.
»Kopf ab, Kopf ab«, schrie der Pöbel. Die Pferde der Garde scheuten.
Er holte aus, hörte, wie der Kopf über die Klinge sprang und dumpf zu Boden fiel. Zwei Blutsäulen schossen aus dem Rumpf hervor, fast zwei Ellen hoch, wie aus einem Springbrunnen. Jan Kock spürte Blutspritzer auf seinem Gesicht. Er blickte auf den abgeschlagenen Kopf, der zu seinen Füßen lag. Der Mund der Geköpften stand offen, die Zunge zuckte noch, als wolle sie reden. Er spürte, wie er erblich, aber er konnte seinen Blick nicht von ihr lösen. Für einen kurzen Moment schien ihm, er würde in die Knie sinken, ohnmächtig werden. Doch plötzlich fuhr ein heftiger Ruck durch seinen Leib. Er riss sein Schwert in die Höhe und salutierte dem Gericht:
»Richter, habe ich recht gerichtet?«
»Ihr habt recht gerichtet, wie Recht und Ordnung spricht, darum habt Ihr recht gerichtet«, verkündete der Richter.
Und er antwortete: »Davor danke ich Gott und meinem Meister, der mich solche Kunst gelehrt.«
Am Fuße des Gerüstes sammelten sich die Fallsüchtigen. Die Knechte reichten den Kranken das aufgefangene Blut der Geköpften. In der Hoffnung zu gesunden, ergriffen die Menschen die Becher und stürzten das noch warme Blut hinunter. Der Gesang der Geistlichen und Schulkinder drang an Jan Kocks Ohr.
»Ist denn das Herze und Genicke
Zusamt dem andern Leibesrest
Zerteilt in zwei getrennte Stücke,
dass Seel und Geist den Leib verlässt,
So höre, was mein Blut noch spricht:
Verstoße die Zertrennte nicht.«
Als der Gesang ausklang, begann der Musikzug zu spielen. Jan Kock stieg taumelnd die Treppen des Schafottes hinab. Mit Pauken und Trompeten und geschützt von einer Garde Reiter wurde er nach Hause geleitet.
Jan Kock saß auf dem Baumstamm, der als Begrenzung des Kräutergartens diente. Benommen blickte er auf die blühenden Kräuter. Wieso kam ihm seine Meisterprüfung ins Gedächtnis? Er hatte jahrelang keinen Gedanken daran verschwendet. Sechs Jahre war es her, dass er seine Probe abgelegt hatte. Sechs Jahre. Wieso dachte er gerade heute daran? Vielleicht, weil an diesem Tag die gleiche lastende Schwüle in der Luft lag, vielleicht, weil er sich alt und erschöpft fühlte. Menschen lebten immer in der Vergangenheit, wenn sie für sich keine Zukunft mehr sahen.
Der intensive Duft der Kräuter stieg ihm in die Nase. Heute war ihm dieser Duft lästig. Er war schwer, betäubend. Er wünschte sich nichts sehnlicher als eine frische Brise. Sechs Jahre lang war er jeden Mittwoch auf die Amtsstube gegangen, seine Aufträge entgegenzunehmen. Sechs Jahre lang hatte er den Knechten für die Torturen, das Stäupen und Brandmarken am Pranger und für alle Galgenurteile Anweisungen gegeben. Er selbst hatte eigenhändig acht Hinrichtungen mit dem Schwert vollstreckt, ›glücklich vollzogen‹, wie in den Schriftstücken vermerkt war. Freitags wurden die Urteile gesprochen, montags hingerichtet, immer um zwölf Uhr mittags.
Sechs Jahre lang hatte er angenommen, dass das Leben, das er führte, erträglich wäre, solange er seinen Garten und den Fluss hatte, solange er seine Spaziergänge an der Elbe machen konnte, aufs Wasser blickte und die Schiffe zählte, die mit der Flut einwärts oder mit der Ebbe auswärts fuhren, oder sich an den Möwen erfreute, die in weiten Bögen über das Wasser flogen.
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