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Der Hamburger Schriftsteller Olaf Sprengler ist krankhaft eifersüchtig. Seine Frau Selma, eine angesehene Klimaforscherin, erträgt die Situation nicht länger und beschließt, sich von ihm zu trennen. In ohnmächtiger Wut verliert Olaf die Kontrolle über sich und tötet Selma. Vom Wunsch nach Erfolg besessen, beginnt er einen Roman über sich selbst und das Geschehene zu schreiben. Er kann nicht mehr zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden und gerät immer stärker in Bedrängnis. Wird die Wahrheit am Ende ans Licht kommen?
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Seitenzahl: 194
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Dagmar Fohl
Schneemusik
Kriminalroman
Dieses Buch wurde vermittelt durch die LKM Literaturbetreuung Klaus Middendorf
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Alma (2017), Der Schöne im Mohn (2016),
Amrum sehen und sterben (2016, Gmeiner Digial),
Palast der Schatten (2013), Der Duft von Bittermandel (2011),
Die Inseln der Witwen (2010),
Das Mädchen und sein Henker (2009)
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © suze / photocase.de
ISBN 978-3-8392-5470-73
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Er hatte Türen und Fenster geschlossen sowie Türklingel, Telefon und Handy abgestellt. Er wollte niemanden sehen und sprechen. Er stieg die Treppe hinauf, schritt den Flur entlang, seine Schuhsohlen scharrten über den Boden; die eigenen Schlurfgeräusche verstärkten seine Furcht. Er steht nun vor seiner Zimmertür, nimmt all seinen Mut zusammen, öffnet die Tür, schließt hinter sich ab, als wäre er nicht allein im Haus. Er geht auf seinen Schreibtischstuhl zu, zieht, vor innerer Kälte zitternd, die blaue Strickjacke, die über dem Stuhlrücken hängt, an, und setzt sich an den Schreibtisch. – Er starrt auf das schwarze Rechteck, das vor ihm liegt. Noch wagt er nicht, den Deckel zu heben. Seine Hände sind feucht, und auf seiner Stirn perlt ungesunder, kühler Schweiß. Was ist das für ein Unterfangen? Was habe ich mir vorgenommen? Ihn schaudert, aber er kann nicht anders.
Er öffnet den schwarzen Deckel und startet den Laptop. Die Lüftung rauscht und sirrt, sie frisst sich fordernd in seine Ohren und setzt sich quälend in den Gehörgängen fest … Er hält es nicht länger aus, hebt die Hände, die schwer wie Bleigewichte an seinen Armen hängen, und seine Finger zittern auf die Tasten:
UNTER DEM MANTEL DES EISES
von
Olaf Sprengler
Für Selma,
tippt er auf die nächste Seite. ›Selma‹ bedeutet schöne Aussicht, Harmonie und Frieden. Er hatte es nachgeschlagen, gleich, nachdem er sich in sie verliebt hatte. Und er war glücklich darüber gewesen und hatte es als gutes Zeichen gesehen, als gutes Zeichen!
Es kommt ihm alles so unfassbar, so unwahrscheinlich vor. Er würde Selma jetzt so gern umarmen, aber sie ist nicht mehr da.
Warum ist alles so gekommen? Vielleicht hatte er sich selbst in eine romanhafte Fantasie von einer glücklichen Ehe erhoben, die in der Wirklichkeit nicht einzulösen war, vielleicht jedoch zerplatzte sein Traum von einer Liebesehe, weil er selbst schuld daran war. Schüttelfrost. Kellergedanken. –
Ich kann das nicht. Ich kann nicht über mich schreiben.
Du musst schreiben, Sprengler, du weißt es. Und du weißt, dass du es selbst so entschieden hast. Es gibt kein Zurück.
Aber wie? Ich bin nicht Rousseau. Wie soll ich den Mut aufbringen?
Das ist dein Problem, du selbst hast dir den Stoff geliefert, nun musst du sehen, wie du ihn bewältigst.
Mit weichen Knien und einem inneren Frösteln ging Sprengler auf das Polizeigebäude zu. Seine Augen waren dunkel umrandet; er hatte es immerhin geschafft, sich zu rasieren. Nur noch ein paar Schritte bis zum Eingang … Vor der Tür sammelte er sich, schloss die Augen und atmete tief durch, dann trat er über die Schwelle der Wache und schritt auf den Tresen zu.
Telefonklingeln, Stimmengewirr, über allem Lärm erhob sich die keifende Stimme einer alten Frau. Er erfasste nur den Klang, nicht den Inhalt des Gesprochenen.
Ein Beamter mit Hornbrille und Schnurrbart kam auf ihn zu.
»Sie wünschen?«
Er suchte seine Worte zusammen.
»Ich … ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«
»Um wen geht es?«
»Meine Frau ist verschwunden. Sie müssen mir helfen, ich weiß nicht mehr weiter.«
»Seit wann vermissen Sie sie denn?«
»Seit gestern Morgen.«
Der Beamte blieb gelassen.
»Das kommt öfter vor und klärt sich nicht selten von allein auf.«
»Es ist nicht so, wie Sie denken. Meine Frau wollte eine Forschungsreise mit der ›Polarstern‹ machen. Sie war bei der Abfahrt nicht am Anleger. Einer ihrer Kollegen rief mich gestern an, dass sie nicht angekommen ist. Ich habe dann noch abgewartet, jetzt mache ich mir große Sorgen.«
»Haben Sie schon Freunde und Verwandte angerufen?«
»Ja, niemand weiß etwas. Auf dem Handy ist sie auch nicht zu erreichen. Kein Empfang. Hören Sie, das ist nicht Selmas Art. Bitte unternehmen Sie etwas.«
»Haben Sie schon in den Krankenhäusern nachgefragt?«
»Ja, sie ist nirgends eingeliefert worden.«
Er zog ein Foto aus der Brusttasche.
»Hier, das ist meine Frau, sie ist 35 Jahre alt, 1,65 Meter groß und, wie Sie sehen, schlank.«
»Welche Kleidung hat sie getragen?«
»Ich weiß nicht, wir haben uns am Abend verabschiedet. Sie musste um vier Uhr morgens aufstehen. Ich nehme an, sie trug ihren weinroten Anorak, der hängt jedenfalls nicht mehr an der Garderobe, und sicher eine schwarze Jeans, sie trägt fast immer schwarze Jeans.«
»Hat sie ein Taxi genommen?«
»Nein, ich glaube nicht. Ihr Gepäck war schon auf dem Schiff, sie hatte nur noch eine kleine Reisetasche zu Hause. Meine Frau wollte zum Bus gehen, vielleicht hat sie sich ja auch anders entschieden und ein Taxi genommen, das weiß ich nicht.«
»Gut, ich werde jetzt alle Daten aufnehmen. Nach der Anzeigenaufnahme werden wir nochmals die umliegenden Krankenhäuser und auch die Polizeidienststellen überprüfen, ob Ihre Frau eventuell an einem Verkehrsunfall beteiligt war.«
»Und dann?«
»Verläuft die Überprüfung negativ, werden wir die bundesweite Fahndung ausschreiben. Für eine eventuelle Veröffentlichung in den Medien brauche ich noch Ihr Einverständnis.«
»Ich bin einverstanden.«
»Ich muss Sie darauf hinweisen: Sollten wir Ihre Frau ausfindig machen, dürfen wir ihren Aufenthaltsort nicht nennen, sofern Ihre Frau es nicht möchte. Sie hat das Recht, ihn frei zu wählen, ohne Freunde und Verwandte zu informieren.«
Sprengler spürte, wie er zu zittern begann und seine Augenlider unwillkürlich zuckten.
»Beruhigen Sie sich«, sagte der Beamte, »es wird sich schon alles aufklären. Wie gesagt, man muss nicht gleich vom Schlimmsten ausgehen. 50 Prozent der Vermisstenfälle klären sich innerhalb einer Woche gütlich auf. Das sind unsere Erfahrungswerte. Meistens ahnt kaum jemand, was den Vermissten tatsächlich zum Abtauchen bewogen hat. Also, wir informieren Sie umgehend, sobald wir etwas in Erfahrung bringen.«
*
Sprengler verließ das Polizeirevier. Seine Beine trugen ihn ohne sein Zutun zum Kaiserhafen hinunter. Sie gingen die Franziusstraße entlang und betraten die Promenade der Schiffsliegeplätze. Am Anleger der ›Polarstern‹blieben sie wie von selbst stehen. Hier hätte Selma ankommen wollen, um das Schiff zu besteigen, hier wäre sie die Rampe emporgestiegen und im Bauch des Eisbrechers, in der Höhle der Forschungslabore, verschwunden.
Er starrte auf das Wasser, das grau und undurchsichtig vor ihm lag. Tränen quollen aus seinen Augen, seine Brille beschlug und vernebelte die Umgebung. Ein Stich fuhr ihm durch die Brust, es folgten ein paar unregelmäßige Herzschläge. Ihm wurde übel. Um Gottes willen …
Vom Autodock her ertönten Motorengeräusche und hohes Quietschen von Metall, das aneinanderrieb und sich in Sprenglers Ohren bohrte.
Er presste die Hände an den Kopf, drehte sich um und rannte davon. Er weiß nicht mehr, wie er nach Hause kam.
*
SPRENGLER
Vorname:
Selma
Geburtsdatum:
12.5.1980
Geburtsname:
Johansen
Geburtsort:
Pellworm
Staatsangehörigkeit:
deutsch
Vermisst seit:
22.6.2015
Alter zum Zeitpunkt des Verschwindens:
35 Jahre
Personenbeschreibung:
Größe: 165 cm
Äußere Erscheinung: schlank, brünette, kurze Haare
Sachverhalt:
Die Polizei Bremerhaven fahndet nach der vermissten Selma SPRENGLER
Wer kann Hinweise zum Aufenthaltsort von Selma SPRENGLER geben?
Weitere Informationen zur Fahndung finden Sie auf der Internetseite der Polizei Bremen
www.polizei.bremen.de
Hinweise bitte an die sachbearbeitende
Polizeidienststelle Mitte
Obere Bürger 65
7568 Bremerhaven
Telefon: 0471 953 – 3331
oder an das
Bundeskriminalamt Wiesbaden
Kriminaldauerdienst
Telefon: 0611 55 – 13101
Bremerhaven
Seit dem Morgen des 22.06.15 wird die 35-jährige Selma Sprengler vermisst. Nach bisherigen Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass sie ihr Haus gegen fünf Uhr morgens verlassen hat, um eine Forschungsreise mit der ›Polarstern‹ anzutreten. Selma Sprengler soll wahrscheinlich mit einem weinroten Anorak und einer schwarzen Jeans bekleidet sein. Sie hat eine hellgraue Reisetasche aus Plastikmaterial dabei und eine schwarze lederne Umschlagtasche in der Größe eines Laptops. Sie ist vermutlich gegen fünf Uhr morgens zu Fuß zur Busstation Wulsdorf-Mitte gegangen, wo sie in den 511er Bus steigen wollte.
Wer kann Hinweise zum Aufenthaltsort von Frau Sprengler geben?
Wo wurde sie, insbesondere am und nach dem 22.06.2015, gesehen?
Zeugen, die Angaben zum Aufenthalt von Selma Sprengler machen können, werden gebeten, sich in der Polizeidienststelle Bremerhaven Mitte unter der Telefonnummer 0471 953 – 3331 oder beim Bundeskriminalamt Wiesbaden, Kriminaldauerdienst unter der Telefonnummer 0611 55 – 13101 zu melden.
Es hatte doch alles so wunderbar begonnen mit Selma.
Er war aus beruflichen Gründen nach Bremerhaven gefahren, er arbeitete an einem Roman über einen deutschen Auswanderer und hatte im Auswanderermuseum Recherchen zu erledigen. In der Mittagspause schlenderte er durch die Einkaufsstraße, um irgendwo eine Kleinigkeit zu essen. Er blickte durch die leicht beschlagene Scheibe eines Bistros, es machte einen sehr einladenden Eindruck auf ihn, der Raum war mit verschiedenfarbigen Stühlen und kleinen rechteckigen Tischen, die man für größere Gruppen schnell zusammenschieben konnte, möbliert. Die Beleuchtung war angenehmerweise nicht neonblau wie üblich, sondern erhellte den Raum in einem warmweißen Ton.
Das Bistro war gut besucht. Er fand noch einen Tisch am Fenster, er saß am liebsten am Fenster, um sowohl einen Blick in den Gastraum als auch auf die Straße zu haben, er liebte es, Menschen zu beobachten, denn er war stets auf der Suche nach Eigenschaften, die für seine Romanfiguren nützlich sein könnten.
Die junge Frau fiel ihm sofort auf, sie saß ihm schräg gegenüber, nur ein schmaler Gang trennte ihre Tische, vermutlich aß sie mit ihren Kollegen zusammen zu Mittag. Durch das Geschirr- und Besteckgeklapper, durch das Stimmengeraune, das den ganzen Raum erfüllte, drangen Wortfetzen wie »Institut …« und »Projektmittel …« an sein Ohr.
Sprenglers Blick blieb an ihr haften; die junge Frau hielt die Gabel in die Höhe, ihre Lippen bewegten sich, sie schien etwas Lustiges zu erzählen, er konnte nichts verstehen, da die Espressomaschine gerade laut aufzischte, aber sie selbst und alle Tischnachbarn um sie herum lachten auf.
Er versank in ihrem Lachen und fühlte Wärme in seinem Herzen aufsteigen. Ihre tiefblauen Augen strahlten lebendig, ihre Lippen bewegten sich unverkrampft natürlich, sie hatte nichts Gekünsteltes, keinerlei eitles Gebaren an sich.
Er konnte nicht aufhören, sie zu betrachten; sie trug ihr brünettes Haar kurz, was ihr eine sportliche Note verlieh, sie war schlank und eher zierlich gebaut, dennoch wirkte sie energiegeladen und strahlte die Zähigkeit dieses Frauentyps aus. Ihre Armbewegungen waren kraftvoll, sie schnitt ihre Pizza mit festem Messerdruck in mundgerechte Teile und führte sie mit Schwung zum Mund.
Sie trug keinerlei Schminke, er hätte sie sich, wenn er es bedenkt, gar nicht geschminkt vorstellen können, es hätte nicht zu ihr gepasst, sich mit Wimperntusche und Lippenstift zu bemalen, und Make-up hätte ihre natürliche Hautfrische überdeckt.
Wieder ein Auflachen. Er hatte den plötzlichen Impuls, sie zu umarmen.
Sie bemerkte seinen Blick, lächelte ihm freundlich zu, oder war es warm und einladend? Er antwortete mit einem schüchternen Lächeln, von dem er genau wusste, wie dämlich es aussah.
Die Gruppe brach in fröhlicher Stimmung auf. Er hatte kurzen und intensiven Blickkontakt mit ihr, dann ging sie zum Ausgang. Er beobachtete, wie sie in ihre Tasche griff und einen Kartenstapel auf den Tisch im Eingangsbereich legte. Sie drehte sich um und schaute noch einmal zu ihm herüber. In einer plötzlichen Eingebung, so schien es, schritt sie auf ihn zu und überreichte ihm eine Karte.
»Vielleicht haben Sie Interesse zu kommen«, sagte sie, lächelte und verließ das Bistro.
Er hätte ihr gern ›Ich komme, wohin Sie wollen!‹ nachgerufen, traute sich aber nicht. In seinem Innern sirrte es. Wieder und wieder trat ihm die Situation vor Augen, wie sie zurückkam, auf ihn zuschritt und ihm die Karte entgegenreichte, ihn mit ihren blauen, strahlenden Augen anblickte, ihn ansprach und ›Vielleicht haben Sie Interesse‹ sagte, in einem Stimmklang, der sein Herz flirren ließ. Er glaubte nicht, was ihm widerfahren war, denn es war ihm noch nie passiert. Er hatte einige Affären und Verliebtheiten gelebt, es war nie etwas Ernstes, er war all die Jahre Junggeselle geblieben, er hatte nie ernsthaft an Heiraten gedacht, und wenn ihm der Gedanke kam, dann war ihm immer klar gewesen, nur einmal in seinem Leben zu heiraten, und zwar die Richtige.
Jetzt empfand er plötzlich Liebe. Es musste Liebe sein, es fühlte sich alles ganz anders an, da war etwas Tiefes, Erhabenes, Unwiderrufliches, es war ein Gefühl, angekommen zu sein bei dem Menschen, der für einen bestimmt ist. Er fühlte sich glücksdurchstrahlt und konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.
*
Einen Tag nach der Begegnung war er gezwungen, wegen einer Lesungsveranstaltung nach Hamburg zurückzufahren. Zwei Wochen hatte er zu überbrücken, bis er sie wiedersehen durfte. Immer wieder nahm er die Karte zur Hand. ›Bedrohte Arktis, bedrohte Welt‹, Vortrag von Dr. Selma Johansen, Klimaforscherin. Er hatte noch nie eine Frau mit naturwissenschaftlichem Doktortitel kennengelernt, er muss zugeben, es erstaunte ihn, eine solch schöne Frau mit diesem Beruf verknüpft zu wissen, und er wurde sich des Vorurteils bewusst, das er in sich trug.
Sprengler forschte im Internet. Sie war auf Pellworm geboren, absolvierte ihr Studium der Ozeanografie an der Universität Hamburg. Sie hätte ihm also schon in Hamburg begegnen können. Es wäre möglich gewesen. Sie promovierte, war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut angestellt. Derzeitig arbeitete sie am Alfred-Wegener-Institut als Expertin für globale Erwärmung.
Sehnsuchtsvoll betrachtete er das eingestellte Foto. Er ertappte sich bei dem Gedanken, den Bildschirm zu küssen. Schließlich startete er den Drucker, druckte das Foto aus und legte es auf seinen Schreibtisch. Der Wunsch, ihre Lippen zu berühren, ließ nicht nach, und er tupfte einen Kuss auf den noch feuchten Druckfarbenmund.
Alles, womit er sich abzulenken versuchte, zeigte keine Wirkung. Er stellte sich vor, sie in seine Arme zu schließen, es war ein schmerzvolles Sehnen, wie er es nie erfahren hatte, er wünschte sich so sehr, in ihrer Nähe zu sein, er liebte sie, er war sich sicher, ihm war, als hätte er sie sein ganzes Leben gesucht. Er hatte sich schon öfter Gedanken gemacht, wie es wäre, wenn er sich einmal verliebte, aber nichts in seiner Fantasie kam diesem Gefühl, das er jetzt in sich trug, gleich. Plötzlich schlug seine Stimmung um. Sicher hat er keinen guten Eindruck auf sie gemacht, er weiß, wie täppisch er wirkt. Was bildet er sich ein? Er macht sich Hoffnungen, es ist lächerlich, sie hat ihm nur ein Kärtchen in die Hand gedrückt. Sie hat dabei gelächelt, sie ist zurückgekommen, zu ihm zurückgekommen und hat ihm persönlich die Karte überreicht, mit einem bezaubernden Lächeln die Karte überreicht.
Die Lesung war ein Fiasko. Er hatte sich noch nie so häufig versprochen wie an jenem Abend. Auf Fragen zum Buch und zu seiner Person antwortete er wirr und unkonzentriert. Kopf und Herz waren bei Selma Johansen.
Endlich war der Tag ihres Vortrages gekommen. Schon am Morgen fieberte Sprengler dem Abend entgegen. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit beschäftigte er sich mit der Frage der richtigen Kleidung. Er zog sein bestes Hemd aus dem Schrank, das schwarze mit den hellgrauen Streifen. Im Hosenstapel fand er glücklicherweise eine nagelneue Jeans, er hatte offensichtlich ihr Vorhandensein vergessen. Plötzlich fragte er sich, wie er einer jungen Frau gegenübertreten und wodurch er jünger wirken könnte. Verunsichert durchsuchte er seine Garderobe. Nach längerem unschlüssigem Hin und Her entschied er sich für den roten Schal und seine Lederjacke. Er breitete alle ausgewählten Kleidungsstücke auf seinem Bett aus, begutachtete die Kombination und war zufrieden.
Er duschte, rasierte sich gründlich, benutzte sein Rasierwasser, das ihm in jenem Moment nicht gefiel, weil es für ihn plötzlich den Duft eines Altherrenwassers verströmte. Er kleidete sich an, verließ die Wohnung und stieg mit klopfendem Herzen und Ameisen im Bauch ins Auto. Etwa zwei Stunden trennten ihn noch von Selma Johansen.
Auf der Autobahn hatte es einen Unfall gegeben. Sprengler bremste ab und schaltete die Warnblinkanlage an. Die Straße wurde vollständig abgesperrt. Er sah auf die Uhr. Er hatte eine Stunde Puffer eingeplant, um auf keinen Fall zu spät zu kommen. Jetzt schnurrte die Zeit dahin. Hektisch und nervös klopften seine Finger auf das Lenkrad. Wann geht es endlich weiter? Der Unfallwagen war bereits abgefahren, nun wurden die verunglückten Wagen auf den Schlepper geladen. Wie lange brauchen sie denn noch? Ständig blickte er zur Uhr. Er saß schon 35 Minuten fest. 35 Minuten! Sie waren immer noch am Aufladen.
Endlich wurde die Sperre aufgehoben. Es hatte alles in allem 55 Minuten gedauert. Sprengler gab Gas. Mit Glück könnte er es noch schaffen.
Er eilte in den Vortragsraum. Das Publikum hatte schon Platz genommen. Das Raumlicht war gedämmt, der Bühnenscheinwerfer auf Selma gerichtet.
Um nicht zu stören, setzte er sich auf den äußersten Platz in der hintersten Reihe. Der Vortragsbeginn verzögerte sich noch eine Weile wegen Mikrofonproblemen.
Sprengler glühte vor Aufregung. Er war froh, unbemerkt im Publikum zu sitzen. Selma trug ein schmal geschnittenes, schlichtes schwarzes Kurzkleid, das nur die Hälfte ihrer Oberschenkel bedeckte. Die blickdichten schwarzen Strumpfhosen gingen in lange schwarze Stiefel über. Über dem Kleid trug sie ein legeres kobaltblaues Jackett, das wunderbar mit der Farbe ihrer Augen harmonierte. Die drei großen blauen Knöpfe waren nicht zugeknöpft, wodurch der V-förmige Ausschnitt des Kleides sichtbar wurde.
Mit fiebrig glänzenden Augen und geröteten Wangen stand sie auf der Bühne. Sprengler litt mit ihr, er kannte dieses Lampenfieber vor einem Auftritt nur allzu gut.
Die technischen Probleme waren behoben. Selma trat ans Mikro, begrüßte die Zuhörer und sprach ein paar einleitende Worte. Sie hatte ihn offensichtlich noch nicht gesehen. Sprengler genoss es, sie unerkannt betrachten zu können. Selma begann mit ihren Ausführungen. Sie sprach vom gravierenden Klimawandel, wie schnell er voranschritt, dass die Erwärmung der vergangenen 50 Jahre mit großer Wahrscheinlichkeit vor allem durch den Menschen, insbesondere durch die ständig steigenden Emissionen von Kohlendioxid, bedingt sei.
»Wenn wir durch unsere Aktivitäten, zum Beispiel durch Verbrennen von Kohle, immer mehr Klimagase in die Atmosphäre entlassen, dann verstärken wir den Treibhauseffekt. Es wird ständig wärmer. Das wiederum führt zu mehr Wetterextremen und weiterem Anstieg des Meeresspiegels …«
Sprengler saß wie verzaubert im Zuschauerraum. Er interessierte sich für alles, worüber sie sprach, selbst wenn sie das Telefonbuch vorgetragen hätte, wäre er fasziniert gewesen.
»Das arktische Klima hat wesentliche Änderungen erfahren. Die erkennbarste davon ist die Abnahme der Meereisbedeckung in den letzten Jahrzehnten. Früher hat mehrjähriges Eis bis zu 90 Prozent des Nordpolarmeeres bedeckt, heute sind es noch etwa 17 Prozent. Das Eis ist an vielen Stellen so dünn geworden, dass es die Eisbären nicht mehr trägt. Sie verlieren ihren Lebensraum und sind vom Aussterben bedroht.«
Sprengler musste trotz des Themas an ein Schaumbad bei Kerzenschein denken, weil ihre Stimme so warm und rund in ihn eindrang und ihm ein wohliges Gefühl verschaffte.
»Die klimatischen Veränderungen beeinflussen nicht nur die Eisbären, sondern den ganzen Energiehaushalt der Erde, die Gaszusammensetzung der Atmosphäre, Ozeanströmungen, Windsysteme und den Meeresspiegel. Ich werde Ihnen das kurz im Einzelnen erörtern …«
Er hatte sich noch nie näher mit der Problematik der Arktis und des Klimas beschäftigt, jetzt lauschte er den Ausführungen über das schmelzende Eis und die damit verbundenen Auswirkungen auf die ganze Welt. Doch je intensiver er sich bemühte, sich auf den Inhalt des Gesagten zu konzentrieren, desto stärker verlor er sich in ihrem regen Lippenspiel.
»Ich teile die Meinung meines Kollegen und Klimaexperten Mojib Latif. Realistisch betrachtet wird sich die Erde bis zum Ende des Jahrhunderts um mindestens zwei Grad erwärmen. Alles, was diese zwei Grad übersteigt, können wir noch vermeiden. Der Meeresspiegel wird wahrscheinlich um einen halben Meter, im kritischen Fall sogar um einen Meter ansteigen. Viele Menschen könnten dadurch bedingt ihre Heimat verlieren, insbesondere die Menschen auf den tropischen Inseln im Pazifischen und Indischen Ozean. Denn dort reicht schon ein Meeresspiegelanstieg von einigen Dezimetern, um diese Inseln zu überfluten.«
Ein Zuhörer unterbrach: »Was bedeutet der Klimawandel für Deutschland?«
»Wir sollten aufhören, die globale Erwärmung in nationalen Kategorien zu betrachten. Ich werde Ihnen dennoch antworten. Wir haben bereits immer seltener kalte Winter, die später anfangen und früher aufhören. Wenn der Meeresspiegel sich weiter erhöht, wird es auch in Deutschland Überflutungen geben, und es wird nicht nur die Halligen treffen.«
Selma blickte in das Publikum.
»Was kann Deutschland zur Verhinderung einer Klimakatastrophe beitragen? Diese Frage ist viel wichtiger. Deutschland muss einen Beitrag leisten, den Klimawandel durch saubere Energien drastisch einzudämmen. Wir verfügen weltweit über die am besten ausgebildeten Ingenieure. Wir müssen aufgrund unseres Wissens eine Vorreiterfunktion für andere Länder übernehmen.«
Die Veranstaltung näherte sich dem Ende. Selma beantwortete noch einige Fragen. In Sprengler stieg Hitze auf. Wie soll er vorgehen? Wie sie begrüßen? Vielleicht erinnert sie sich gar nicht mehr an ihn? Er macht sich nur lächerlich, wenn er auf sie zugeht.
Selma schloss den Vortrag mit einer Danksagung an Veranstalter und Publikum.
Sie erhielt viel Applaus. Sofort bildete sich eine Menschentraube um sie herum. Unsicher und über die Maßen erregt beobachtete Sprengler das Geschehen. Selma war immer noch vollständig umringt von interessierten Zuhörern, die ein persönliches Wort mit ihr zu wechseln wünschten. Er wartete ab, denn er hatte beschlossen, der Letzte zu sein, um sie zu begrüßen und zu beglückwünschen. Aufgewühlt und gleichzeitig ängstlich beklommen, stand er im Hintergrund. Allmählich leerte sich der Saal, nur noch eine hartnäckige alte Dame, deren Fragerei kein Ende fand, belagerte Selma. Sprengler nahm sich ein Herz und schritt ans Pult. Selmas blaue Meeresaugen richteten sich auf ihn und strahlten ihn an.
»Wie schön, dass Sie gekommen sind.«
Sogleich verabschiedete sie die Dame und wandte sich ihm zu.
Sie lächelte.
»Danke, Sie haben mich erlöst.«
Sprengler spürte nur Leere im Kopf, während sein Herz glühte. Er gab lauter Unsinn von sich, doch Selma verstand die Botschaft hinter der Wirrnis, sie erkannte, dass sich hinter dem Zeugs, das er plapperte, seine Zuneigung verbarg. Sie versuchte, ihm Sicherheit zu schenken, und wartete ab. Er brachte nicht den Mut auf, sie einzuladen, er dachte unentwegt über die richtigen Worte nach, sie kamen nicht über seine Lippen.
Selma begann, ihre Unterlagen zusammenzupacken. Er wollte nicht, dass sie ging, er wollte sie einladen, sein Kopf war leer, der Hals wie zugeschnürt.
Selma nahm ihre Tasche, und unerwartet, als ahnte sie, mit welchen Schwierigkeiten er kämpfte, ergriff sie die Initiative und lud ihn auf ein Glas in die Kneipe nebenan ein. Er stand immer noch sprachlos vor ihr und konnte sein Glück kaum fassen. Endlich gelang es ihm, ein ›Sehr gern, ich freue mich‹ von sich zu geben. Und dann, er spürte es genau, lächelte er wieder sein unvorteilhaftes Lächeln, das so wirkte, als sei er leicht gestört.
Dieser Abend war der Ausgangspunkt für sein Leben mit Selma. Jede nur mögliche freie Minute verbrachten sie seither miteinander. Selma schränkte sogar ihre Arbeit ein und nahm spontan Urlaub, um nach Hamburg zu kommen. Da Sprengler unabhängig arbeitete, besuchte er sie jedoch meist in ihrem Haus in Bremerhaven.