Palast der Schatten - Dagmar Fohl - E-Book

Palast der Schatten E-Book

Dagmar Fohl

4,3

Beschreibung

1914. Ein kleines Stadtkino zur Zeit des Stummfilms. Der Filmerzähler Theo und die Kinopianistin Carla verlieben sich leidenschaftlich. Beide gehen völlig in ihrer Arbeit auf, doch ihr Glück wird überschattet von Carlas verhängnisvoller Vergangenheit. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges reißt das Paar auseinander und stellt seine Liebe auf dramatische Weise auf die Probe …

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Seitenzahl: 202

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Dagmar Fohl

Palast der Schatten

Historischer Kriminalroman

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © GettyImages

ISBN 978-3-8392-4234-6

Vorbemerkung

Dieser Roman beruht auf einem wahren Traum. Er enthält zum Schutz der Personen keine Ortsangaben und Städtenamen. Alle Personennamen wurden geändert. Namensgleichheiten mit lebenden Personen sind Zufall.

Vorspann

Gestern war ich im Reich der Schatten. Wenn Sie nur wüssten, wie merkwürdig es ist, dort zu sein. Es gibt nicht einen Laut und keine Farben. Alles dort – die Erde, die Bäume, die Menschen, Wasser und Luft – ist in eintöniges Grau getaucht. Auf grauem Himmel graue Sonnenstrahlen, graue Augen in grauen Gesichtern, auch die Blätter an den Bäumen sind grau, wie Asche. Das ist nicht das Leben, sondern der Schatten des Lebens. Das ist keine Bewegung, sondern der lautlose Schatten der Bewegung …

Und alles ist lautlos, schweigend, absonderlich. Man hört nicht das Rumpeln der Räder auf dem Straßenpflaster, nicht das Trappeln der Schritte, keine Stimme, nichts – nicht eine einzige Note jener vielschichtigen Symphonie, die immer die Bewegung von Menschen begleitet. Lautlos wiegt sich das aschgraue Laub der Bäume im Wind, lautlos gleiten die grauen, schattengleichen Figuren der Menschen über die graue Erde, wie von einem Fluch zum Schweigen Verdammte und grausam Bestrafte, denen man alle Farben des Lebens genommen hat.

(Maxim Gorki, Flüchtige Notizen, Bericht über den Cinématographe Lumière in Nischni Nowgorod).

1. Akt

Fremde Frau

Eiligen Schrittes, als würde sie verfolgt, lief Carla durch die Straßen. Ihr Atem schnitt ihr in die Brust. Sie musste ausruhen. Ausruhen? Es dämmerte bereits. Angst stieg in ihr auf wie schwarzer, öliger Rauch. Sie blickte sich um. Es war niemand zu sehen. Weiter, weiter. Aber wohin? Sie fröstelte. Wohin nur? Sie schlug die Jacke fester um den Körper.

Planlos hetzte sie durch das Dunkel. Die Gaslaternen leuchteten auf, streuten ihr seltsam gelbliches Licht über die Stadt. Sie warfen Carla als fliehende Gestalt an die Hausmauern, ein verhuschtes Wesen auf dem Weg ins Nichts.

Nebel umhüllte sie wie in einem Traum. Verhangen die Häuserfronten, milchig trüb die Waschfrau mit dem Leiterwagen, die weißen Wäschesäcke wie schlafende Gespenster auf die Pritsche gebettet. Die Blumenfrau mit blassen Bouquets hinter angehauchtem Glas. Dumpf das Scheppern des Milchwagens mit seinen Metallkannen. Erstickt die Stimme des Schwammverkäufers, dessen Schwämme wie bleiche Hirne am Faden baumelten.

Carlas Beine schnellten über das Pflaster. Sie stolperte, fand Halt an einem Laternenpfahl, umklammerte den Pfosten, als würde ihr Leben davon abhängen. Sie schloss die Augen. Schloss sie vor der Vergangenheit, während ihr Atem Wandlung keuchte. Etwas war geschehen, etwas, was sie sich selbst nicht zu erklären vermochte. Sie fühlte sich wie eine Schlafende, die aus einem Albtraum erwachte. Ein Stöhnen. Sie stieß sich vom Pfeiler ab, eilte voran. Fort, nur fort. Zum Bahnhof!

Bremsen quietschten. Neben ihr hielt die Elektrische. Carla sprang auf, fischte einen Zwanzigmarkschein aus ihrer Handtasche. Der Schaffner wechselte, überreichte ihr das Billett mit argwöhnischem Blick.

Die Tram heulte über die Schienen. Carla zwang sich, sich zu setzen. Unauffällig bleiben. Sie presste ihre Tasche an den Körper, das Gesicht zum Fenster gedreht. Geschäfte, Passanten, Lichter zogen vorüber hinter schmutzigem Glas, verschwommen, wie flatternde Stofffetzen im Dämmerlicht.

Die Glocke schrillte. Carla fuhr zusammen. Hauptbahnhof.

Sie stieg aus, hastete über den Vorplatz in die Schalterhalle. Der Fahrplan verschwamm vor ihren Augen. Ein Ruck fuhr durch ihren Körper. Der Schleier hob sich. Sie studierte Abfahrtszeiten, blickte auf die Bahnhofsuhr, eilte zum Schalter, schob das Geld hin, nahm die Fahrkarte entgegen.

Der Schaffner hielt bereits die Kelle in die Höhe. Sie stieg ein, die Waggontür fiel zu. Ein durchdringender Pfiff. Der Zug setzte sich in Bewegung unter dem Ächzen der Eisenräder.

Das Coupé war leer. Kaum hatte Carla sich auf die hölzerne Bank gesetzt, erschien der Schaffner. Mit bebender Hand hielt sie ihm das Billett entgegen. Er lochte die Karte, zog sich ohne Nachfrage zurück. Ihr stieg die Aufregung die Kehle hinauf. Sie presste die Hand vor den Mund, taumelte durch den Korridor zur Toilette, zerrte die Tür auf, schlug sie hinter sich zu und spie in die Schüssel. Sie keuchte, wischte sich mit dem Taschentuch über den Mund.

In dem trüben Spiegel erblickte sie ein ausgelaugtes Gesicht mit Augen, die sie, von dunklen Schattenringen umschlossen, anstierten. Sie erschauderte vor der fremden Frau, durch deren leichenfahles Antlitz sich ein schwarzer, gezackter Riss zog. Als spalte das gebrochene Glas ihr Leben in zwei Hälften.

Der Zug schwankte. Carla fand Halt an einem Eisengriff. Schwindlig und elend kehrte sie ins Abteil zurück. Sie riss das Zugfenster auf, um Atem zu schöpfen. Der kalte Nachtwind schlug ihr Haarsträhnen ins Gesicht. Er vermochte sie von dem Ekel, der sie gefangen nahm, nicht zu befreien. In ihren Ohren dröhnte das Rattern der Räder, ein eisernes Krachen, das im immer selben Rhythmus über die Schienen sprang und sich in ihren Schädel bohrte. Jäh schob sie das Fenster wieder zu und setzte sich auf die Holzbank.

Die Nacht huschte vorüber. Hier und da ein Licht, ein kleines Dorf, dann wieder das dunkle Tuch, das sich über die Landschaft zog und auf Carlas Seele legte. Tränen der Wut und Verzweiflung drängten aus ihren Augen, gepaart mit einem untergründigen Schamgefühl. Ihre Wangen brannten.

Warum? Warum? Ihr brach der Schweiß aus. Das Abteil schwankte. Wo waren die Decke, der Boden, die Wand? Alles drehte sich. Sie zwang sich durchzuatmen, krallte ihre Hände ineinander, bis sie schmerzten. Nie mehr zurückblicken. Alle Brücken abbrechen. Die Vergangenheit war tot. Kein Gedanke mehr daran. Nie wieder zurück, nie mehr. Weit weg, weg von allem. Ein neues Leben anfangen.

Berauscht von diesem Gedanken öffnete sie ihre Tasche, zog den Briefumschlag mit dem Geld hervor und zählte im Licht des Nachtlämpchens die Scheine. Noch 260 Mark. Ihr Blick schweifte ins Ungewisse. Wie lang konnte sie damit auskommen? Sie brauchte Kleidung, Waschzeug, ein Zimmer. Sie kramte nach ihrem Ausweis. Erleichtert stellte sie fest, dass er sich in der Tasche befand.

Carla versank in der schwarzen Nacht, die unendlich und konturenlos vorüberglitt. Vor den Bahnhöfen verlangsamte der Zug die Fahrt. Lichter tauchten aus der Dunkelheit auf, kleine Punkte in weiter Ferne, die sich zu immer größeren Gebilden zusammenfügten. Waren es Hoffnungsschimmer oder Grabkerzen?

Das Räderwerk sang seine monotone Melodie. Carla fiel in einen dumpfen Dämmer, der in einen friedlosen Eisenbahnschlaf mündete. Sie trieb in einem leeren, schwarzen Loch, umgeben von der Hülle der ratternden Geräusche, die sie betäubten.

Die Bremsen kreischten. Der Zug hielt ruckartig. Türenkrachen. Carla schreckte aus ihrem Halbschlaf auf.

»Guten Abend«, tönte eine tiefe Männerstimme. »Sie gestatten?«

Carla blinzelte furchtsam ins Dämmerlicht. Wieder überfiel sie Übelkeit. Die Bestie Angst hatte sie fest im Griff.

Der dicke, talgige Schnurrbart-Mann verstaute seinen braunen, an den Ecken abgenutzten Koffer, legte den Hut auf die Ablage und setzte sich ihr schräg gegenüber. Carla fasste nach ihrer Tasche.

Er löste seine Krawatte, stieg aus seinen abgewetzten, aber blank geputzten Schuhen, lehnte sogleich seinen Kopf ans Polster und schloss die Augen. Er war offensichtlich nicht an ihr oder einer Unterhaltung interessiert. Ein sonores Schnarchen ertönte.

Carla starrte in die Finsternis. Wie war es nur dazu gekommen? Wem hätte sie sich denn anvertrauen können? Sie konnte doch mit niemandem darüber sprechen. Ausgeschlossen. Vielleicht täuschte sie sich, vielleicht war das Geschehene nur ein Traum, das Erlebte nur ein Missverständnis. Ein ersticktes Schluchzen zerriss ihr die Brust. Ihr Leben war ruiniert. Sie lachte lautlos auf. Ihr Leben? Was war das, ihr Leben?

Sie spähte aus dem Fenster. Wo eben noch Berge und Hügel aus dem Boden aufragten, zog flaches Land vorbei, eine weite Landschaft, die sich in morgendlichen Dunst hüllte. Sie empfand die unendliche Ebene, die sich vor ihr erstreckte, als ein Spiegelbild ihrer ungewissen Zukunft. Nichts zeigte ihr eine Richtung, kein Gipfel war zu erklimmen, kein Tal zu durchschreiten. Ein weites Land ohne Konturen, als einzige Begrenzungen der Felder und Wiesen die Knicks, dunkelgraue, langgezogene Silhouetten, die in den Trübungen lagen und sich in der Ferne verloren.

Filmwechsel

Theo saß am Schreibtisch, umgeben von Zeitschriftenstapeln, Programmheften, Rechnungen und Filmbüchsen. Er hämmerte mit den Zeigefingern auf die Schreibmaschinentasten.

›Bitte schicken Sie mir für die nächste Woche zwei- bis dreihundert Meter Liebesidylle. Falls Sie einen Unglücksfall am Lager haben sollten, so möchte ich ihn ebenfalls für nächste Woche haben. Wenn ›Der deutsche Kaiser in Rom‹ nicht mehr als ein Kilo wiegt, können Sie ihn auch beipacken.

Mit freundlichen Grüßen

Theo Blum‹

Er zog den Briefbogen heraus und legte ihn neben die Schreibmaschine. Dann stellte er die Kaffeetasse in den Ausguss, ergriff seine Jacke, schloss die Wohnungstür und stieg die Treppe zum Kino hinunter. Seit einem Jahr besaß er das Ladenkino und lebte in der Mansarde über dem Saal. Die Wohnküche ging zur Straße hinaus, das Schlafzimmer lag zum Hof hin. Er fühlte sich wohl in seinen vier Wänden, obgleich ihm das Wanderleben mit der Kinematographenbude besser gefallen hatte. Er vermisste den Wohnwagen, die Ortswechsel und die Gemeinschaft der Schausteller. Dennoch war er glücklich und zufrieden. Er genoss es, unabhängig zu sein, seine eigenen Entscheidungen treffen zu können. Ein anderes Leben konnte er sich nicht vorstellen.

Theo öffnete die Tür zum Saal und schob den Vorhang beiseite. Er durchquerte den lang gestreckten Raum, holte die Leiter aus der Abseite, tauschte die durchgebrannten Birnen gegen neue aus. Dann ergriff er den Werkzeugkasten, leimte die wackelnden Lehnen und Stuhlbeine und befestigte sie mit Zwingen. Seine Stimme schallte durch den Raum.

»Lolita, Liebste mein, mein Herz ist so krank

Ich will mein Lied dir siiingen, jetzt!

Ich möchte dir erzählen mein Leid,

Das du, Lolita, nur lindeeern kannst.

Oh, komm, ich möchte dir viele Küsse geben

und mit dir zu den Sternen schweben …

Oh, komm, Loliiita

Ich muss steeerben ohne dich

Komm doch zu mir

Loliiita, ich liebe dich.«

Guste und Hans rauschten herein. Hans fiel in den Gesang ein.

»Loliiita, ich muss steeerben ohne dich. Komm doch zu mir Loliiita, ich liebe dich.« Er umschlang Guste, tanzte mit ihr durch den Gang und küsste sie leidenschaftlich.

»Lass das jetzt«, rief Guste lachend, »es stehen schon Kinder vor der Tür. Ich muss die Kasse aufmachen.«

Theo hob den Arm.

»Warte noch, die Jungs zum Kartenabreißen und Platzanweisen sind noch nicht da. Und Max und Paul fehlen auch noch.«

»Immer kommen sie so spät.«

»Was jammerst du? Bis jetzt haben wir immer pünktlich angefangen.«

Guste verzog das Gesicht und zog sich in die Kassenbox zurück. Hans schritt auf Theo zu.

»Hast du schon einen neuen Pianisten?«

»Nein, aber Paul möchte lieber heute als morgen aufhören. Er spielt jetzt jede Nacht in der Tanzbar.«

»Weiß Paul nicht jemanden?«

»Zu teuer.«

Hans verschwand hinter der Leinwand und legte die Instrumente bereit.

»Es wird nicht leicht sein, einen guten Spieler zu finden. Weißt du noch, Peter, den wir vor Paul hatten? Er hat ständig dasselbe geklimpert. Bei Verfolgungsjagden: ›Zampa oder die Marmorbraut‹, bei rasenden Zügen das Gewitter aus: ›Wilhelm Tell‹. Na ja, das passte wenigstens noch zur Szene. Meistens lag er mit der Stimmung daneben. Verspielt hat er sich auch andauernd. Wenn ich nur an die Mozartstücke denke. Die reinste Katzenmusik.«

»Ist ja gut, ich werd’ schon einen guten Pianisten finden.«

Hans spähte aus seinem Geräuschereich hervor.

»Weißt du, ich glaube, es wird sowieso nicht mehr lang gehen mit den Hintergrundgeräuschen und dem Klavier. In den großen Kinos spielen Orchester. Sie sparen den Geräuschemacher und sogar den Rezitator ein. Sie zeigen immer mehr lange Films mit Zwischentexten.«

»Unser Publikum hat kein Geld für die feinen Kinos. Es sind doch fast nur Arbeiter. Und was sollen wir mit kilometerlangen Dauerfilms? Viele Zuschauer können schlecht lesen und haben bestimmt keine Geduld, die langen Streifen zu sehen. Wir machen mit den kürzeren Stücken weiter wie bisher.«

»Wir müssen mitziehen, Theo. Die Eintrittspreise sinken. Es gibt Hunderte von Sitzplätzen in den neuen Theatern. Und sie werden immer größer. Du hast es doch auch gesehen. Die Säle sind wunderschön, mit Plüschsesseln und Lüstern an der Decke. Und vor der Leinwand hängen samtene Vorhänge. Wir müssen mithalten und die Ausstattung des Vorführraumes verbessern. Es gibt zu viele Kinos in unserer Nähe. Die Konkurrenz wird immer größer.«

»Du weißt es genau. Mir fehlt das Geld seit dem Brand. Und außerdem, willst du uns mit den langen Films arbeitslos machen?«

»Wir können auch die langen begleiten.«

Theo wirbelte mit dem Zeigestock in der Luft umher.

»Na gut, wenn du meinst. Wir versuchen es. Ich werde die Films gemeinsam mit dem ›Odeon‹ ausleihen und den Boten zum Spulentauschen schicken. Das ist billiger.«

»Hallo!«, rief Max. Er humpelte sogleich in die Vorführkabine, um die Vorstellung vorzubereiten. Theo verdrehte die Augen.

»Mensch, Max, heute bist du aber wirklich spät dran.«

»Bin immer noch pünktlicher als Paul.«

»Max, was hältst du von langen Films?«, rief Hans.

»Kommt auf den Film an. Warum nicht? Solang der Projektor mitmacht.«

»Wo bleibt Paul denn? Muss ich jetzt mit Tonbild und Grammophon anfangen?«

»Sing doch selbst. Die Leute lieben deine Caruso-Einlagen.«

»Nix Tonbild, nix Caruso. Ich hab den ›Lokführer‹ schon einspannt.«

»Na endlich. Da kommt Paul.«

Paul kam im Laufschritt durch den Gang geeilt. Sofort setzte er sich ans Klavier und klappte den Deckel auf. Er rang nach Luft.

»Theo, finde jemanden. Ich schaff’s wirklich nicht mehr.«

Der Türvorhang öffnete sich. Die Kinderstimmen wurden lauter. Der Saal füllte sich. Theo setzte seinen Zylinder auf. Das aufgeregte Plappern verstummte.

»Hochverehrtes Publikum, liebe Kinder! Als Erstes zeigen wir: ›Die abenteuerliche Reise des Lokomotivführers‹. Dort geht es nicht mit rechten Dingen zu. Hexerei und Magie sind im Spiel. Seht selbst. Gleich ist es so weit. Ihr glaubt nicht an Wunder? Ich garantiere, nach diesem Film glauben alle im Saal an Zauberei …«

Endstation

Der Rauch der Lokomotive bildete weiße Wolken vor dem Fenster. Hinter dem Dunst zogen Strommasten und Weichen vorüber. Wieder durchzog Carla ein kalter Schauer. Eine unsichere, schutzlose Zukunft lag vor ihr. Der Zug verlangsamte seine Geschwindigkeit, die Lok rollte in den Bahnhof ein, schnaufte in zischenden Stößen den letzten Dampf aus. Das Räderwerk bremste in schrillen Tönen. Ein letztes Fauchen, ein letztes Quietschen, das in einem kurzen Klageton endete. Der Zug stand still, die Schaffner öffneten die Türen. Gepäckträger eilten herbei, müde und mürrische Männer, vor deren Mündern Atemfahnen in den frühen Morgen schwebten. Ihre Stimmen schepperten blechern durch die Halle, untermalt von den Kofferkarren, die über den Bahnsteig rumpelten.

Carla stelzte die Metallstiege der Zugtür hinab. Unschlüssig blieb sie auf dem Bahnsteig stehen, ihre Tasche ängstlich an den Körper gedrückt. Der dicke Mann aus ihrem Coupé stieg nach ihr aus. Sie fasste allen Mut und fragte ihn nach einem Hotel. Seine wulstigen Augenbrauen hoben sich. Er schaute sie erstaunt an.

»Ein Hotel? Haben Sie denn nichts vorgebucht?«

»Ein Krankheitsfall«, stammelte Carla. »Ich musste übereilt aufbrechen.«

Er zog Stift und Zettel aus der linken Innentasche des Mantels, notierte Namen und Adresse eines Gasthofes, der ihrer fragwürdigen Erscheinung entsprach, überreichte ihr die Notiz und wies mit dem Arm zum Nordausgang.

»Sie können es nicht verfehlen.«

Ein kurzes Nicken, dann schlug er die entgegengesetzte Richtung ein.

Carla sah ihm nach. Er drehte sich noch einmal um. Ihre Blicke streiften sich.

Sie eilte durch die Bahnhofshalle, erschrak über einen Polizisten, der den Gang auf und ab stolzierte. Er schien sie nicht wahrzunehmen und sie beruhigte sich. An einem Kiosk kaufte sie Seife, Zahnpasta, Zahnbürste, eine Flasche Mineralwasser und ein Brötchen, verstaute den Einkauf in ihrer Tasche und machte sich auf den Weg ins Hotel.

Sie folgte einer langen Straßenschlucht, die zu beiden Seiten von hohen, aneinandergrenzenden Häusern gesäumt war. Rollläden von Geschäften ratschten in die Höhe, Fensterläden klapperten. Frauenhände legten Betten über die Brüstung und schüttelten Staubtücher aus.

Zwei Männer zogen einen Obstkarren aus einer Toreinfahrt. Der Duft der Früchte mischte sich mit dem Geruch von Schmierseife einer Treppenstiege und fauligen Abfällen am Straßenrand.

Straßenfeger, mit breiten Besen bestückt, nahmen ihre Arbeit auf. Einer von ihnen stützte sich auf den Stiel und spie in einen Spucknapf.

Eine Gruppe von Schulkindern kam Carla entgegen, mit Schweinslederranzen auf dem Rücken und Brotbeuteln vor der Brust, die Mädchen trugen Schleifen im Haar, die Jungen große Ballonmützen auf dem Kopf. Carla ließ die Kinder passieren. Hinter ihr ertönte eine Autohupe im Klang einer Kindertrompete. Jäh schreckte Carla zusammen. Auf einer Bank erwachte ein Bettler. Er kratzte sich unter dem Arm, richtete sich mühsam auf, griff zur Flasche, die zu seinen Füßen stand, setzte sie an die Lippen, warf sie wütend zu Boden. Dann erhob er sich, um eine Zigarettenkippe aufzusammeln.

Carla beschleunigte ihre Schritte. Würde auch sie als Obdachlose enden?

Bauarbeiter mit Spitzhacken stiegen aus einem Lastwagen. Sie begannen, die Steinschicht neben den Straßenbahnschienen aufzustoßen. Carla dröhnten ihre Schläge in den Ohren. Jeder Hieb erinnerte sie an … Weiter, weiter.

›Meyers Gasthof‹ las sie auf dem verwitterten Schild. Ein graues Gebäude, dessen Fassade von Mauerrissen durchzogen war. Hinter den von Straßenschmutz bespritzten Fenstern hingen rauchvergilbte Gardinen, die den Blick ins Innere verwehrten.

Zögernd betrat sie den Empfangsraum. An der nur spärlich beleuchteten Rezeption hockte ein alter, ungepflegter Mann in abgewetzter Livree. Der Schein der Tresenlampe erhellte sein zerfurchtes Gesicht und gab ihm ein unheimliches Aussehen. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm der Portier ihren Ausweis entgegen und trug die Personalien ein. Er blickte auf. Seine rot geäderten Augen wanderten suchend umher.

»Wo ist Ihr Gepäck?«

»Es … es wird nachgeschickt. Ich musste übereilt aufbrechen, ein … ein Krankheitsfall.«

Carla vernahm ihre zerfaserte Stimme, übertönt von einem Rauschen in den Ohren.

Der Portier schnaufte. Carla hörte Verachtung in seinem Atem.

Er reichte ihr den Zimmerschlüssel.

»Zimmer 17.«

Er zeigte, den Kopf schräg von unten in die Tiefe des Raumes geneigt, auf den dunklen Treppenaufgang mit seinen ausgetretenen Stufen.

Von Müdigkeit gezeichnet, stieg Carla die knarrende Treppe empor. Das Zimmer befand sich am Ende des Flures. Ihre Hand war nicht in der Lage, das Schlüsselloch zu treffen. Endlich gelang es ihr, die Tür aufzuschließen. Sofort klappte sie die Tür hinter sich zu und schloss ab. Kalter Zigarrenrauch stieg ihr in die Nase. Sie ließ ihren Blick durch den dunklen Raum schweifen. Ein Bett mit Eisengestell, ein kleiner Tisch am Fenster, davor ein Stuhl mit verschlissenem Bezug. Verblichene, vormals grüne Vorhänge. Das Fenster lag zum Hinterhof, vis-à-vis eine graue Mauer. An der gegenüberliegenden Wand klaffte ein Stück eingerissene Tapete hervor, darunter befand sich ein kleines Waschbecken mit Sprung.

In stumpfer Erschöpfung setzte sie sich auf die Bettkante, holte ihr Essen aus der Tasche, öffnete die Wasserflasche, nahm einen kräftigen Schluck. Sie biss vom Brötchen ab, kaute ohne Empfindung, saß und kaute, bis sie sich ermattet auf die Matratze zurückfallen ließ und in einen bleiernen Dämmerzustand sank. Sie wünschte sich einzuschlafen, aber der Schlaf verweigerte sich ihr. Die Gedanken rasten. In diesem Hotel konnte sie nicht lang bleiben. Der Portier hatte ihren Namen eingetragen. Wenn man sie suchte? Was hatte sie getan? Wo war sie? Auf welchem Weg? Wohin würde er sie führen? Plötzlich sah sie vor ihren Augen Bilder aufblitzen. Carla schnellte vom Bett hoch. Sie griff nach der Tasche, schloss mit bebenden Fingern die Tür auf und stürzte aus dem Hotelzimmer. Tot, die Vergangenheit war tot!

Lebende Bilder

Die Vorstellung war beendet. Ein fröhliches Knäuel von Punktkleidchen, Matrosenanzügen, Knickerbockern, Hosenträgern, Jacken, Käppchen und Ballonmützen schob sich zur Tür hin. Theo beobachtete die lachenden Mädchen und Jungen, die mit glühenden Wangen zum Ausgang strebten. Sie fanden am meisten Vergnügen an den Films.

Vor einem Jahr hatte er die Kinder im Viertel mit Werbezetteln durch die Straßen geschickt.

›Neu eröffnet! Neu eröffnet!

PALAST DER SCHATTEN, Elite-Programm.

DieBilder werden während der Vorführung durch den Rezitator Theo Blum erklärt, wodurch die

zahlreichen Handlungen besonders interessant

und verständlich werden …‹

Seither wurde sein Kino sehr gut besucht. Theo verspürte Sehnsucht nach Simon. Er hatte seinen Palast einzig und allein Simon zu verdanken. Wenn er nicht gewesen wäre … Theo sah den alten Mann vor sich, das schmale Gesicht mit den lebendigen Augen unter dem breitkrempigen Schlapphut. Simon hatte ihm ein neues Leben geschenkt, ein Leben, das er liebte, wie er Simon geliebt hatte, und das er niemals verlieren wollte.

Ein klebriges Gefühl machte sich in Theo breit. Er roch die Keksfabrik. Jeden Morgen hatte er sich über das Straßenpflaster zum Fabriktor geschleppt. Jeden Morgen hatte er seine Marke gezeigt, war die Treppe zu den Kellerräumen hinabgestiegen und hatte seinen Spind geöffnet. Jacke aus, Mütze ab, Kittel an, Haube auf, betrat den Backraum, stellte sich an seinen Platz vor die Teigmaschine, die im spärlichen Licht der Glühbirne auf ihn wartete. Der Boden, die Wände und die Decke waren von dem unerträglich heißen Dampf, der durch die Halle waberte, mit einer feuchtglitschigen Schicht überzogen.

Die Arbeit begann. Mit dem Kübel in den Mehlraum, Eimer füllen, zurück in den Backraum, wieder raus, wieder rein. Bottich vollschütten, Trockenmilch rein, Fett dazu, Zucker drauf, Knetarm runter, Motor an. Teig raus. Mehl rein, Teig raus, Mehl rein, Teig raus. Hitze, Schweiß. Teig-Theo klebt. Theo ist Teig. Theo sitzt im Bottich und wird geknetet. Theo rein, Theo raus.

Nach der Schicht tappte er, von seinem Teigmantel niedergedrückt, aus dem Fabriktor. Auch im Kopf klebte die schwere Masse. Sie ließ die Welt, ohne dass er einer Empfindung fähig war, an ihm vorüberziehen.

Eines Abends aß er auf dem Heimweg wie gewohnt von den gestohlenen Keksen, die in den Löchern des Jackenfutters steckten. Er stopfte die Kekse stumpf in sich hinein. Die Krümel vermischten sich zu Brei. Kekse. Krümel. Brei. Schlucken. Als er von innen und außen nur noch aus Krümelmasse bestand und ihm übel wurde, wusste er plötzlich, dass er nie mehr in die Fabrik zurückkehren würde.

Er trieb sich auf dem Jahrmarkt herum. Umnebelt vom Duft heißer Würstchen und Waffeln, das Kreischen und Lachen der Menschen in den Ohren, schlenderte er umher und bestaunte die Karussells und Krinolinen, die Schießhallen und Abnormitätentheater. Er bog vom Hauptweg ab, schritt auf einen Bretterverschlag mit dem Schild ›Palast der Schatten, Lebende Bilder‹ zu. Ein alter Mann saß in der Kabine und verkaufte Eintrittskarten. Theo legte ihm vier Groschen in die Hand, betrat den kleinen, schmutzigen Saal und setzte sich auf eine der Holzbänke vor ein Gestell, an dem ein weißes Laken befestigt war, auf das der Lichtkegel des Projektors fiel. Ein ratterndes Geräusch ertönte. Harmoniumklänge folgten. Geisterhaft zuckende Bilder erschienen auf dem weißen Viereck. ›Der Kettensprenger‹, es folgten ›Die Schlangendompteuse‹ und viele andere kurze Stücke. Die Bilder flimmerten über die Leinwand, als wären sie von einer flackernden Kerze beleuchtet. Er spürte nicht, wie die Minuten vergingen. Das Weiß blitzte. Das Schwarz huschte. Das Licht streute sich. Die hastigen Bilder hüllten ihn ein. Verzückt verfolgte er die vorüberpreschenden Schatten, die sich geistergleich in aufsteigendem Rauch bewegten. Sein verzaubertes Herz pochte. Er selbst sprengte Ketten und bezähmte Schlangen. Er saß auf Elefanten und löschte die Feuersbrunst. Er lebte im Traum, einem Traum, der leicht und frei wie ein Luftballon in den Himmel schwebte.

Seither kam er jeden Tag zur Bude und half Simon. Er machte sauber, riss Karten ab, bediente die Lüftungsklappe. Simon Rosenthal nickte ihm jedes Mal freundlich zu. Simon spürte, dass er, Theo, nicht mehr als Teig-Theo leben wollte.

Mehrmals am Tag besuchte er die Vorführung. Er kannte alle Nummern: ›Der letzte Angriff auf einen Hügel‹, ›Zahlungsunfähige Gäste‹, ›Fuchs und Kaninchen‹, ›Spanisches Ballett‹, ›Töchter des Teufels‹, ›Petersplatz in Rom‹, ›Der kleine Apfeldieb‹, ›Der Sardinenfang‹ …

Er konnte die Szenen auswendig und wusste, ob das Harmonium traurige oder fröhliche Klänge spielen würde. An einem Morgen sagte Simon zu ihm:

»Heute erzählst du, Theo, willst du? Ich habe Husten.«

Theo stellte sich neben die Leinwand, den Zeigestab in der rechten Hand haltend. Seine Stimme schallte durch den Raum.

»Diese kostbare Lampe musst du bis zehn Uhr zur Bankiersfrau bringen. Du musst unbedingt pünktlich sein. Es ist sehr wichtig. Aber pass auf, sie ist sehr zerbrechlich.

Oh, seht, der Bote fällt die Treppe herunter. Gott sei Dank, die Lampe bleibt heil. Er kämpft sich durch den Straßenverkehr. Die Lampeee! Uuii! Noch mal gut gegangen. Da, ein Teich. Was tun? Er watet hinein, schwimmt, die Lampe hält er über Wasser. Schwimmt und schwimmt. Er schafft es! Doch da, am Parkausgang, eine Meute von Hunden, zähnefletschende Bestien. Kläffen, springen, schnappen nach ihm. Jetzt beißen sie zu … Glück gehabt.