Das Maislabyrinth am Ende der Welt - Manuel Deinert - E-Book

Das Maislabyrinth am Ende der Welt E-Book

Manuel Deinert

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Beschreibung

In manchen Irrgärten findet man mehr als den Ausgang. Ja, der zwölfjährige Ben weiß, dass die Geschäfte seines Vaters schlecht laufen. Seit der neue Recyclinghof eröffnet hat, kommt kaum noch jemand zu dem abgelegenen Schrottplatz in den Feldern. Aber muss sein Vater deswegen alles hinschmeißen und wegziehen? Ben liebt den Schrottplatz - nicht nur, weil er mit dem großen Bagger fahren darf. Wie frischer Teer am Reifen klebt an diesem Ort eine alte Erinnerung, die Ben alles bedeutet: ein Sommerabend mit seiner Mutter, kurz bevor sie starb. Was also tun? Eine Bank ausrauben? Nein, Vaters Kunden zurückholen! Und zwar mit einem selbstgebauten Maislabyrinth! Wären da nur nicht Bens griesgrämiger Opa, dem die Maisfelder gehören, und dieses nervige Öko-Mädchen, das sich seit Tagen in den Feldern herumtreibt ... Während der Sommer voranschreitet, lernt Ben nicht nur Treckerfahren, sondern auch eine Menge über sich, wütende Wespen und seine Eltern. Und am Ende wartet auf ihn eine Überraschung, mit der er niemals gerechnet hätte. Eine herzerwärmende Geschichte über Mais, Mut und die Magie des Lebens. Für alle Träumer von 9 bis 99 Jahren.

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Manuel Deinert – als waschechtes Sonntagskind 1979 in Westfalen geboren, sitzt ihm der Schalk im Nacken und die Poesie in der Seele. Seit seiner Jugend schreibt er Gedichte und Lieder und mittlerweile auch Geschichten. Sein erstes Buch Hinter den Feldern schaffte es in die Shortlist des Deutschen Selfpublishing Preises 2018. Das Maislabyrinth am Ende der Welt ist bereits sein viertes Buch für Kinder und Junggebliebene.

Mais·la·by·rinth

Substantiv, Neutrum [das]

als Sommervergnügen angelegter Irrgarten in Maiskulturen, dessen verschlungene Wege von hohen Maispflanzen gesäumt sind, sodass man sich darin verlaufen kann;

ein großer Spaß;

eine Heidenarbeit.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Ich war drei, als Mama mich eines Abends an die Hand nahm und mit mir über den Schrottplatz schlenderte. Die Sonne stand knapp über dem Lattenzaun; sie ließ die Staubkörnchen in der Luft funkeln und die demolierten Wagen und zerbeulten Ölfässer und verbogenen Fahrradgestelle rostrot schimmern.

Mama zeigte mir die Autowracks, die hinter- und übereinander standen, und erklärte mir, dass Papa die Wracks zu großen Paketen zusammenpresste und sie verschickte. Ich verstand damals noch nicht, dass das eine Maschine übernahm, und dachte, mein Papa müsse der stärkste Mann der Welt sein.

An einem besonders glitzernden Wagen blieb sie stehen. Sie sagte, das sei ihr Lieblingsauto unter allen Autos auf der Welt, und sie würde gerne einmal damit fahren. Ich fragte sie, warum sie das nicht tue; es stand ja schließlich vor ihr. Dass der Wagen keinen Motor hatte und ebenfalls darauf wartete, verschrottet zu werden, wusste ich nicht.

Sie lächelte, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und stieg in den Wagen, der so schön glänzte. Dann hob sie mich auf ihren Schoß und ließ mich das Auto lenken. Linksherum, rechtsherum, flitzeschnell fuhren wir direkt in den Sonnenuntergang.

Wieso ich mich so gut daran erinnern kann? Papa fotografierte uns damals heimlich. Seitdem stand das Bild auf meinem Nachttisch. Jeden Abend schaute ich es mir an. Und oft fragte ich mich, wieso Papa das Foto gemacht hatte. Er konnte ja nicht wissen, dass es das letzte von Mama und mir sein würde. Vier Wochen später starb sie bei einem Autounfall. Und alles, was mir von ihr blieb, war diese Erinnerung.

Was für ein Morgen! Die Sonne stieg langsam über den Maisfeldern auf, vertrieb den Frühnebel und verwandelte den schummrigen Himmel in ein Meer aus hellen Blautönen. Ich streckte mich und gähnte. Es war kurz nach fünf, die ersten Vögel zwitscherten in den Hecken und der Wind hauchte leise durch die schmalen, staubigen Wege auf dem Schrottplatz.

Meine Schulkameraden hätten mich für verrückt erklärt: In den Ferien um fünf Uhr aufstehen! Aber dieser Anblick war es wert. Nirgendwo auf der Welt ging die Sonne so schön auf wie bei uns in den Feldern. Das wusste ich genau. Immerhin lag ich in meinem Schlafsack auf dem Hausdach.

Ich liebte es, nach einem heißen Sommertag dort oben zu übernachten. Von den Feldern kam mit der Dämmerung eine wohltuende Kühle. Und der Geruch von Getreide, Gras und Wildblumen. Dann legte ich mich auf den Schlafsack, lauschte den Grillen und beobachtete die Sterne, die nach und nach am Himmel aufleuchteten. In manchen Nächten tauchte der Mond den Schrottplatz in gespenstisches Licht. Dann schlüpfte ich vorsichtshalber in den Schlafsack und zog ihn bis über die Nasenspitze. Aber am tollsten war es, wenn es stockdunkel war und Sternschnuppen flogen. Das sah aus, als fielen die Sterne vom Himmel.

Mein Vater hatte nichts dagegen, wenn ich draußen schlief. Natürlich war es gefährlicher, als ein Zelt im Garten aufzuschlagen: Im Zelt konnte man nicht vom Dach stürzen. Aber zum einen war das Dach leicht über eine Treppe im Haus zu erreichen. Man musste nur durch eine Luke schlüpfen. Und zum anderen hatte Papa dort oben extra eine Terrasse aus Holzdielen gebaut und sie mit einem kniehohen Geländer umgeben, so dass man nicht von dem flachen Dach herunterkullern konnte. Er meinte, wenn ich nicht auf dem Dach herumspazierte und auf der Terrasse bliebe, dürfte ich da schlafen. Natürlich versprach ich ihm das. Und hielt mich auch daran. Ich hatte wirklich keine Lust, sieben Meter in die Tiefe zu fallen. Unsere Wohnung befand sich nämlich auf der Werkstatthalle – deswegen hatte man so eine tolle Aussicht.

Mit jeder Minute stieg die Sonne höher. Die Frühnebel lösten sich auf und ich erkannte die Container und Fässer unter mir. Auch die verschiedenen Schrottberge konnte ich mit dem erwachenden Licht besser ausmachen. Statt dunkler Umrisse sah ich Fahrräder aufgetürmt zu einem Haufen. Und Heizkörper. Und Autoreifen. Und den Neuzugang: zwanzig Einkaufswagen. Der Supermarkt in Distelheim hatte zugemacht und neben dem üblichen Schrott wie Heizungsrohre und Lüftungsbleche waren die Einkaufswagen allesamt bei uns gelandet.

Meine Lieblingsgasse auf dem Schrottplatz war aber eine andere: die Autowrackgasse! Egal, wohin man den Kopf drehte, links, rechts, oben, unten – überall standen kaputte Autos, die auf die große Schrottpresse warteten.

Ich grinste. Die Sommerferien hatten erst begonnen. Wochen voller Abenteuer warteten auf mich. Manchmal durfte ich eine Runde mit einem der Autos über den Hof fahren. Wenn es denn noch fuhr. Wenn nicht, so durfte ich in und über die Autowracks klettern und mich hinters Lenkrad setzen, sofern es das und den Sitz noch gab. Das hing davon ab, wie schnell Papa und ich mit dem Ausschlachten der Autos vorankamen.

Papa ermahnte mich regelmäßig, aufzupassen. Klaro! Aber laut Opa Honke konnte ich klettern wie eine Bergziege, so sicher bewegte ich mich zwischen den Wracks hindurch.

Aber das war nicht alles, was auf mich wartete. Ich durfte auch den Bagger samt Greifklaue steuern und damit die Autos in die Schrottpresse heben. Das machte tierisch viel Spaß! Das Knirschen und Reißen und Quietschen! Als würde der Erdboden aufbrechen und ein Drache emporsteigen!

Wenn ich nicht gerade Abenteurer spielte, half ich Papa beim Trockenlegen der alten Autos: Die Batterien mussten ausgebaut werden, ebenso die Scheinwerfer und Lichter, und Öl und Benzin mussten abgelassen werden. Deswegen hatte ich auch meine eigene blaue Latzhose mit dem Firmenlogo auf der Brust: Schrott– und Metallverwertung Meyle.

Manche Kunden schmunzelten, wenn sie mich in dem Blaumann sahen. Wenn ich dann aber ratzfatz die Motorhaube öffnete und erklärte, was Papa und ich alles zu tun hätten, staunten sie nicht schlecht. Manchmal bekam ich sogar ein Trinkgeld, das ich regelmäßig in neue Comics investierte.

Aber das war jetzt erst einmal egal: Der Wetterbericht hatte nämlich für die nächsten Tage über dreißig Grad angekündigt. Also mussten Papa und ich den Pool herrichten.

Wer jetzt an ein kreisrundes Plastikbecken denkt, hat immer noch nicht verstanden, dass ich auf einem Schrottplatz lebte. Schrottplatz! Da gibt es keine Plastikbecken. Unser Pool war eine ausrangierte Baggerschaufel! Aber keine schmale für Rohrarbeiten. Unsere war über drei Meter breit und tiefer als unsere Badewanne! Natürlich konnte man nicht darin schwimmen. Doch wenn die Sonne einem das Gehirn verbrannte, gab es keinen schöneren Ort zum Abkühlen.

Ich konnte Papa unmöglich um fünf Uhr wecken. Da war bei ihm Schluss mit lustig. Also legte ich mich bäuchlings auf meine Luftmatratze, setzte mir meine neue gelbe Baseballkappe auf und beobachtete den Schrottplatz und die Maisfelder. Manchmal schlichen Rehe durch die mannshohen Maisreihen oder ein Fuchs huschte über die Wege des Schrottplatzes. Es gab immer etwas Spannendes zu entdecken.

Einmal hatte ich gesehen, wie ein Kranich auf dem Arm des Baggers gelandet war und das Gelände inspiziert hatte; keine zwanzig Meter von mir entfernt. Seelenruhig beschaute er sich das metallene Kuddelmuddel zu seinen Stelzen. Dabei drehte er langsam den Kopf – bis er mir in die Augen schaute. Eine Zeitlang blieb er reglos stehen, als müsse er herausfinden, wieso ich da auf dem Dach lag und nicht wie die anderen meiner Art da unten auf dem Boden umherlief.

Unsere Begegnung endete damit, dass er einen heiseren urzeitlichen Schrei ausstieß und nach Norden Richtung Moosbach davonflog, nur wenige Meter über meinen Kopf hinweg.

Da! Drei junge Feldhasen hoppelten unter den Autowracks hervor. Ihre kleinen Nasen beschnupperten den Boden. Die Gerüche nach Rost und Metall schienen ihnen jedoch nicht geheuer zu sein. Aufgeregt hoppelten sie hierhin und dorthin.

»Gott lächelt auf uns herab«, hätte Papa bei dem Anblick der Häschen im Dämmerlicht gesagt. Er liebte diesen Ort genauso wie ich. Früher war er oft mit mir hier oben gewesen, aber er kam seit Jahren nicht mehr herauf. Wahrscheinlich hatte er eingesehen, dass das mittlerweile meine Terrasse war – und er ein Eindringling.

Das Hoppeln und Schnüffeln der Hasen machte mich müde. Und ehe ich mich versah, schlief ich ein. Erst ein lautes Summen weckte mich. Mühsam öffnete ich die Augen und erschrak: Vier oder fünf Bienen schwirrten um mich herum.

»Ich bin nicht süß!«, rief ich und zog den Schlafsack über meinen Kopf. »Ich bin richtig sauer!«

Keine Ahnung, ob sie mich verstanden. Durch den Schlafsack klang alles mumpfig. Als ich jedoch keine Luft mehr bekam und vorsichtig hinauslugte, waren sie verschwunden. Offenbar hatten die Bienen gute Ohren.

»Puh«, sagte ich und atmete gierig die frische Morgenluft ein. Gähnend schaute ich auf die Uhr und erschrak ein zweites Mal: 8:45 Uhr! Mist! Ich hatte das Frühstück mit Papa verpasst! Womöglich hatte er schon damit begonnen, das abgestandene Regenwasser aus der Baggerschaufel abzupumpen. Das war okay für mich. Aber wehe, er nahm mir den Hochdruckreiniger weg! Das war mein Part. Es machte wahnsinnig Spaß, damit den ganzen Dreck wegzupusten!

Schnurstracks stieg ich durch die Luke ins Haus und flitzte in die Küche. Der Tisch war nicht gedeckt. Schlief Papa doch noch? Vorsichtig blickte ich ins Schlafzimmer. Kein Papa. Also war er doch schon in den Garten gegangen.

Ich rannte die Treppe hinunter in den Garten und stutzte: Die Baggerschaufel stand unberührt in der Ecke, umgeben von Sonnenblumen, Schilfgras und Holzpfosten, auf denen drei Metallmöwen hockten. Aber keine Spur von Papa.

»Papa?«, rief ich und lief zur Vorderseite des Gebäudes, zur Werkstatt. »Papa?« Vielleicht sortierte er Lampen oder Spiegel in den hinteren Regalen. Oder jemand hatte sein Auto vorbeigebracht und Papa begutachtete es. Aber die Werkstatt war leer. Kein Auto, kein Papa.

»Mist!«, murmelte ich und rieb mir das Kinn. Er konnte sich doch nicht einfach in Luft auflösen.

»Ich hab's!«, rief ich und flitzte zu Papas Büro, einem blauen Container, der neben der Werkstatt stand. »Papa?«, rief ich und trat ein. »Kommst du …«

Ich verstummte. Papa lag in seinem Stuhl, seine langen Beine auf dem Schreibtisch ausgestreckt, und schnarchte.

»Papa?«, fragte ich. »Alles okay?«

Er murmelte vor sich hin, räkelte sich in den Stuhl und schlummerte weiter. War er krank? Oder hatte er letzte Nacht schlecht geschlafen? Ich zuckte die Schultern und ließ ihn dösen. Wenn jemand kam, konnte ich ihn immer noch wecken.

Allerdings war es fraglich, ob jemand kam. Seit dieser neue Recyclinghof in Rietberg eröffnet hatte, fuhren immer weniger Leute zu uns heraus. Der Hof lag nämlich direkt an der Bundesstraße und war viel schneller zu erreichen. Deshalb brachten die Leute ihre kaputten Autos und Fahrräder und Badewannen lieber dorthin.

All die Jahre zuvor galt Papas Schrottplatz als kleine Attraktion in der Gegend. Wir waren der Schrottplatz am Ende der Welt. Sieben Kilometer trennten uns jeweils von Westerheide, Försterhausen und Distelheim. Wir lagen genau in der Mitte, im Nichts, und von nichts als weiten Feldern und Weiden umgeben.

Mit dem neuen Recyclinghof war aber alles anders geworden. Jetzt waren wir keine Attraktion mehr, sondern ein Ärgernis. Ich hatte es selbst gehört. Als Papa und ich in der Landmetzgerei Meise Grillwürstchen kaufen wollten, kam Papa mit einem Mann ins Gespräch. Der rümpfte nur die Nase, als Papa ihn einlud, mal wieder vorbeizuschauen, und meinte, unser Schrottplatz läge am Ende der Welt. So viel Zeit hätte er nicht.

Wer hingegen viel Zeit hatte, war Opa Honke. Der kam mehrmals die Woche auf seinem Traktor bei uns vorbei. Gemeinsam mit seinem Hund Hund. Ja, Opas Terrier hieß Hund. Kaum zu glauben, oder?

Jedenfalls, Opa Honke gehörten eine Menge Felder. Auch die Maisfelder um den Schrottplatz. Und das Grundstück, auf dem der Schrottplatz stand. Und jede Woche kontrollierte er den Mais und knatterte dann weiter zu uns. Hier gesellte er sich zu Papa. Sie redeten kaum. Opa Honke war kein Mann vieler Worte – höchstens grummeliger Worte. Und Papa war zu höflich, um das Schweigen zu brechen und Gefahr zu laufen, Opa eine Gelegenheit zum Meckern zu geben. So saßen die beiden mausestill im Containerbüro, tranken ein Bier zusammen und schauten sich Sport im Fernsehen an. Hund erkundete derweil den Schrottplatz oder döste neben dem metallicblauen Ford Capri, der direkt am Büro parkte.

Seltsamerweise waren Honke und Hund nun seit Tagen nicht bei uns gewesen. Obwohl der Mais prächtig gedieh. Papa sprach nicht darüber, aber ihm war es sicherlich auch aufgefallen. Und wer weiß, vielleicht vermisste er das stille Beisammensitzen mit Opa und schlief nun aus purer Langeweile. Das geschah mir im Matheunterricht ständig. Allerdings verpasste ich dadurch keine Poolparty, höchstens eine richtig krasse Addition ungleicher Brüche.

Ich schmollte. Aber nicht lange. Zum Schmollen war das Wetter viel zu gut. Wenn Papa schlafen wollte, sollte er das tun. Wir konnten den Pool später saubermachen. Jetzt wartete mein Lieblingsfrühstück auf mich: eine Schüssel Cornflakes mit Nüssen, Honig und Milch. Die aß ich aber nicht in der Küche, sondern oben auf dem Dach.

Es gab nicht einen Jungen in meiner Klasse, der nicht neidisch auf den Schrottplatz war. Außer vielleicht Flo. Aber der lebte in der alten Entenmühle, drüben in Westerheide. Der hatte keinen Grund, neidisch zu sein. Sein Haus lag direkt am Moosbach und besaß ein eigenes Mühlrad!

Die anderen Jungs konnten nicht oft genug betonen, was für ein Glück ich hätte, an so einem Ort zu wohnen. Für sie war ein Schrottplatz ein riesengroßer Abenteuerspielplatz, auf dem man unbegrenzt Spaß haben konnte. Was soll ich sagen? Sie hatten recht!

Ich liebte unseren Schrottplatz: die Autowracks, die aufeinandergestapelt auf die Schrottpresse warteten; die staubigen Wege, die durch Berge von verrosteten Fahrrädern, Autoreifen und undefinierbaren Metallteilen führten. Alles! Es gab Dutzende leere Ölfässer in allen Farben. Und Container. Nicht nur diese offenen, wie sie an Baustellen benutzt werden, sondern auch die geschlossenen mit Türen, die auf Schiffe oder Züge verladen werden. Und immer wieder gab es neue Nischen und Schrotthöhlen zu entdecken. Denn alles war in Bewegung. Der Schrott wurde sortenrein getrennt, zusammengepresst und abgeholt.

Ich kannte jeden Winkel unseres Schrottplatzes. Von der Einfahrt im Norden, der Werkstatthalle samt Wohnung in der Mitte, dem Garten hinter der Werkstatt bis zum verbotenen Teil im Süden. Niemand außer Papa und mir wusste von jenem Teil. Nicht mal Opa Honke.

Der verbotene Teil lag am Rand des Grundstücks und nur ein Labyrinth aus schmalen Pfaden führte dorthin. Es war Papas Allerheiligstes. Der Ort seiner Träume. Der Ort, den er seit Wochen nicht mehr aufgesucht hatte.

In jenem verborgenen Winkel, umgeben von Containern und einem hohen Holzlattenzaun, lag Papas Kunstwerkstatt. Neunundneunzig Prozent des Schrottes, den die Leute vorbeibrachten, wurden verwertet und weiterverkauft. Ein Prozent des Schrottes behielt Papa jedoch für sich. Wieso? Er bastelte damit. Hunde, Schweine, Bienen, Vögel – wie die Möwen im Garten beim Schaufelpool.

Er nahm zum Beispiel eine alte Gasflasche, schweißte links und rechts geschwungene Blechohren an, dazu zwei dicke Muttern als Augen und hinten ein Metallriemenschwänzchen, stellte das Ganze auf vier Metallfüße – und fertig war das Blechschwein. Oder er nahm eine verrostete Feder eines Stoßdämpfers, lötete allerhand Kleinteile daran – und fertig war der Metalldackel mit Auspuffnase.

Es gab mittlerweile unzählige dieser Tiere. Sie schlummerten in den Containern ringsum, niemand ahnte etwas davon. Und Papa wollte, dass das so bleibt. Ihm war es unangenehm. Er glaubte, die Leute würden ihn auslachen, wenn sie sähen, dass er aus ihrem Schrott neuen Schrott anfertigte. Ich konnte das nicht verstehen; die Kreaturen sahen zauberrostigschön aus!

Vor allem der lebensgroße Hirsch. Er stand seit Jahren in der Mitte des Platzes, nicht wie die meisten anderen Tiere in einem der Container. Ihm fehlte nur noch die Hälfte seines Geweihs, aber aus irgendeinem Grund wollte Papa ihn nicht fertig bauen. Seit Ewigkeiten Wind und Wetter ausgesetzt, war er inzwischen dunkelrostigrot. Hätte ein Zauber ihn zum Leben erweckt, hätte er bei jeder Bewegung gequietscht wie ein rostiger Nagel, der aus einem Brett gezogen wird.

Auch ich hatte einen Lieblingsort auf unserem Grundstück: klaro, den Wolkenwinkel, wie ich die Dachterrasse nannte. Sie war mein Rückzugsort. Hier konnte ich meine Comics lesen, Hausaufgaben machen, träumen. Oder nachts die Sterne schauen und dabei einschlafen. Alles war möglich im Wolkenwinkel.

»Ein Auto?«, horchte ich auf und rieb mir die Hände. Ob das ein Kunde war? Ich sprang auf und lauschte. Doch sobald der Wagen in den Schotterweg zum Schrottplatz einbog, erkannte ich das Fahrzeug. Enttäuscht lief ich nach unten.

»Hallo«, grüßte ich Herrn Meise mit hängenden Schultern.

»Furz und Feuerstein!«, rief der riesige Kerl und lachte über beide Backen. »Begrüßt man so einen alten Freund?«

Herrn Meise gehörte die Landmetzgerei in Westerheide. Er war ein Mordskerl. Zwei Meter groß, breit wie ein Bär und eine Stimme, die einen das Fürchten lehrte. Dabei trieb er Späße, wann immer er konnte. Was er aber jetzt hier wollte, war mir ein Rätsel.

»Ich habe dir was mitgebracht«, sagte er und zeigte auf die Ladefläche seines Geländewagens.

»Einen Tresor?«, wunderte ich mich und starrte auf den großen schwarzen Kasten mit dem mechanischen, drehbaren Zahlenschloss an der Tür.

»Ja«, lachte Herr Meise. »Ich habe meinen Keller aufgeräumt und den da in einem alten Schrank gefunden. Der muss meinem Vater gehört haben.«

Ich schob meine gelbe Baseballkappe zurecht. »Und was soll ich damit?«

»Mensch, Ben, du oller Tüftler. Natürlich sollst du herausfinden, wie man ihn öffnet. Ich habe weder Zeit noch Lust dazu.«

»Haben Sie denn nicht die Zahlenkombination?«, wunderte ich mich und wedelte eine Biene vor meiner Nase weg.

Herr Meise grinste. »Die hat mein Vater mit ins Grab genommen, dieser Geizhals. Da gehe ich jede Wette ein!« Er ging zur Ladefläche. »Ich habe lange überlegt, aber ich glaube, wenn es jemand schafft, das Ding aufzukriegen, dann bist du das.«

»Okay …«, zögerte ich, wobei ich schon das Kribbeln in den Fingern spürte.

»Ich habe keine Ahnung, was sich darin befindet«, fuhr Herr Meise fort. »Vielleicht alte Aktien. Oder Geld.« Er strich sich durch den Rauschebart. »Vielleicht hat mein alter Herr auch sein ganzes Geld ausgegeben und das Ding einfach nur nicht entsorgt.«

Ich rieb mir das Kinn und betrachtete den Tresor von allen Seiten.

»Jetzt guck nicht so sparsam«, lachte er. »Eine Bombe wird nicht drin sein.«

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte seine Gedanken zu lesen. Eine Bombe war da nicht drin, klar. Aber sagte er ansonsten die Wahrheit? Oder schwindelte er mich an? Beides war möglich. Der Meise war nämlich nicht nur Metzgermeister, sondern auch Flunkermeister.

»Wenn du ihn aufgekriegt hast«, sagte Herr Meise, »kommst du vorbei. Dann machen wir halbe-halbe.«

»Und wenn nichts drin ist?«, prüfte ich ihn.

»Dann essen wir eine Mettwurst und trinken 'ne Limo.« Er streckte mir seine Pranke entgegen. »Abgemacht?«

Ich legte den Kopf schief, reichte ihm aber meine Hand. Den Spaß würde ich mir nicht entgehen lassen. »Abgemacht!«

Herr Meise schaute sich suchend um. »Wo steckt denn dein Vater, Ben? Alleine schaffen wir den Tresor nicht herunter. Ich frage mich, wie ich den überhaupt auf den Wagen gekriegt habe.«

Beschämt blickte ich zum Containerbüro. »Papa ist im Büro.« Dass er dort schlief, behielt ich für mich. »Er ist bestimmt in irgendwelche Akten versunken. Ich hole ihn mal.«