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Ein ergreifendes Sommerabenteuer von Manuel Deinert Das Abenteuer wartet. Sommer, 1986. Der zehnjährige Leon weiß einfach nichts mit sich anzufangen. Er hat Asthma und eine Mutter, die mehr Verbote kennt als die Schulordnung: Rad fahren, Fußball spielen, Schwimmen, alles das verträgt sich nicht mit seinem Asthma. Deswegen wird er von seinen Mitschülern auch gehänselt, vor allem von Kalle. Doch als wäre das alles nicht schlimm genug, gab es dieses Unglück in Tschernobyl. Wochenlang musste Leon im Haus bleiben. Radioaktivität und Asthma vertragen sich nämlich auch nicht. Daher freut sich Leon riesig, als er mit Beginn der Sommerferien endlich wieder mit Opa in den Garten gehen darf. Der lebt zusammen mit Leons Eltern und Schwester im alten Forsthaus am Rande des Dorfes und vermag Leon immer ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Er kennt die tollsten Märchen, die spannendsten Rätsel und liebt alle Pflanzen und Tiere. Als er Leon eines abends von der heilenden Kraft des Flüsterchens erzählt, begibt sich Leon heimlich auf die Suche nach jener sagenumwobenen Blume. Irgendwo dort draußen wird sie sein. Opa würde ihn schließlich nie belügen! Und wenn er sie erst einmal gefunden hat, wird sein Asthma verschwinden und Kalle ihn nie wieder ärgern. Dann wird er endlich ein normaler Junge sein! Noch weiß Leon nicht, dass etwas ganz anderes hinter den Feldern auf ihn wartet und sein Leben für immer verändern wird. Diese herzerwärmende Geschichte ist Balsam für die Seele. In fast poetischer Sprache schenkt der Autor unsicheren Kindern Mut und Kraft, an sich zu glauben. Und Hoffnung, dass jeder eine Aufgabe im Leben hat. Dies gelingt ihm mit leisen Tönen, mit denen er den Zauber eines Sommers heraufbeschwört und jungen Lesern einen Weg aufzeigt, sich selbst zu akzeptieren.
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Seitenzahl: 159
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Der Frühling 1986 war verseucht. Da waren verseuchte Salatköpfe, die man nicht essen durfte. Da war der verseuchte Sandkasten, in dem man nicht spielen durfte. Da war die verseuchte Milch, die man nicht trinken durfte. Alles war verseucht.
Ein Atomkraftwerk in der über 1500 Kilometer weit entfernten Stadt Tschernobyl war wie ein Vulkan explodiert und hatte statt Lava jede Menge Gift ausgespuckt. Und das war mit dem Wind und Regen bis zu uns gekommen. Deswegen war alles verseucht und verboten.
»Ich möchte immer neun Jahre alt sein«, hatte ich noch im Vorjahr zu Großvater gesagt, als er mir den Korb für die Kirschen reichte. Ich hockte oben in unserem alten Baum, überglücklich und zufrieden, und teilte meine Ernte gerecht auf: eine Kirsche für mich, eine für Mas Kuchen. Ma hatte zwar protestiert, als ich ihr sagte, dass ich ihr beim Pflücken helfen wolle, aber Großvater hatte versprochen, auf mich aufzupassen. Sie war schnaubend ins Haus gegangen und hatte uns das Abzupfen überlassen.
Ma schnaubte viel. Und sie protestierte viel. Ich war nämlich ihr Sorgenkind. Mit Asthma sei nicht zu spaßen, warnte sie mich täglich. Vor allem in jenem Frühling 1986, den ich größtenteils im Haus verbrachte. »Verseuchter Regen und Asthma vertragen sich nicht gut«, hatte Ma gesagt. Und daher freute ich mich riesig, als sie mir Anfang der Sommerferien endlich erlaubte, in den Garten zu gehen. Sie meinte, das Gift sei nun nicht mehr bedrohlich. So ganz glaubte ich ihr das nicht, denn trotz der Entwarnung wollte sie in diesem Sommer keine Kirschen von unserem Baum haben. Er hing zwar voller dunkelroter Kirschen, aber Ma wollte stattdessen lieber Apfelpfannkuchen machen.
Die Äpfel für die Pfannkuchen lagerten im Keller, wo wir neben allerlei Krams alles Eingemachte aufbewahrten. Wir hatten immer genug Marmelade, Apfelmus, Sanddornsaft und Schnaps gelagert. »Falls das Dorf zu Besuch kommt«, scherzte Großvater oftmals beim Anblick der Vorräte. Die Holzregale stöhnten am Herbstanfang unter der Last der übereinander gestapelten, gut beschrifteten und sortierten Einmachgläser und Flaschen. Und im Frühling stöhnten sie noch mal. Wahrscheinlich atmeten sie da zum ersten Mal wieder richtig durch, nachdem sie vom Großteil der Last befreit waren, und husteten sich den Staub von den alten, morschen Brettern.
Den Herbst und Winter über gab es reichlich Stachelbeer-, Kirsch- und Erdbeermarmelade. Und Fliederschnaps. Den tranken aber nur Großvater und Pa. Für mich und Lissi gab es Holundersaft, den wir aus kleinen Pinnchen tranken und so taten, als wären wir erwachsen und tränken ebenfalls Schnaps. Lissi war zwar mit ihren siebzehn Jahren fast wirklich erwachsen, aber sie spielte dennoch mit, was ich ihr hoch anrechnete. Im Gegensatz zu Ma behandelte sie mich wie einen normalen Menschen und nicht wie eine Porzellanfigur. Ma schüttelte nur den Kopf, wenn wir unseren Holunderschnaps tranken und ermahnte mich, niemals mit dem Trinken anzufangen. »Alkohol und Asthma vertragen sich nicht gut«, behauptete sie. Auch wenn ich erst zehn Jahre alt war, glaubte ich ihr das nicht. Der Hustensaft, den ich manchmal nehmen musste, enthielt nämlich ziemlich viel Alkohol, und der vertrug sich wunderbar mit meinen Beschwerden.
Überhaupt unternahm Ma viel, um mich vor allen möglichen Gefahren zu schützen. Ich durfte nicht schwimmen, nicht Rad fahren, nicht Fußball spielen. »Das verträgt sich nicht gut mit deinem Asthma«, erklärte Ma mir. Dass ich der einzige Junge in Försterhausen war, der nicht am Schulsport teilnahm, schien ihr egal zu sein. Ich hatte dadurch zwar weniger Asthmaanfälle, aber auch weniger Freunde. In meiner Klasse wurde ich wegen meiner Hustenanfälle Lungenlurch genannt. Allein die Lehrer nannten mich bei meinem richtigen Namen, Leon Hupp.
Als Ma mir an jenem Tag erlaubte, in den Garten zu gehen, war ich außer mir vor Freude. Ich liebte es, draußen zu sein. Ich liebte die Düfte, die Geräusche, einfach alles.
Rasch sprang ich hinaus und nahm alles in mich auf: den süßlichen Duft der Narzissen und Schlehen, den herben Atem der Roggenfelder, das Zwitschern der Meisen und Drosseln und das Rauschen der Bäume. Ich freute mich sogar am Gegacker unserer Hühner, das wie ein hübsches, schräges Sommerlied klang.
Ich ließ meine Hand durch die Blätter des Rhododendrons streichen und befühlte seine Blüten. Ich fuhr mit der Hand über die Stämme der Obstbäume, beobachtete die Ameisen, die an ihnen emsig rauf und runter liefen, und sah den blauen, klaren Himmel über mir.
Es war die reinste Wohltat nach all den Wochen im Haus. Selbst zur Schule hatte Ma mich eine Zeitlang mit dem Auto gebracht. Sie wollte nicht, dass ich der giftigen Luft da draußen ausgesetzt war. Sie verfolgte alle Radiosendungen über den Unfall in Tschernobyl und selbst in der Schule wurde viel davon gesprochen, mehr als ich verstand. Ich fand es natürlich auch schrecklich, was da passiert war, aber nur, weil es mich dazu verdammte, im Haus zu bleiben. Denn das war die totale Langeweile.
Im Haus gab es nichts für mich zu tun. Ich machte meine Hausaufgaben, las ab und an ein Buch und sah Ma beim Kochen oder Nähen zu. Manchmal sah ich Kalle und seine Jungs mit dem Rad zum Weiher fahren, der nahe des alten Wirtshauses lag. Sie sammelten Kaulquappen, die sie mit in die Schule nahmen und stolz herumzeigten. Statt draußen zu spielen, rührte ich das Essen im Topf um oder wusch Gemüse.
In jenen Tagen lernte ich, wie sich unsere Hühner im Stall fühlten: traurig und ungeduldig. Die Hühner wollten bestimmt auch hinaus in den Garten, raus aus ihrem Bretterverhau und Maschendrahtgehege. Wer weiß, vielleicht wollten sie sogar fliegen. Mir hätte das Sitzen im Garten schon gereicht. Ich hätte mit Großvater Schmetterlinge beobachtet oder die wirren Lufttänze der Kiebitze. Wenn Ma nicht hingeguckt hätte, hätte ich ein paar Pusteblumen gepflückt und Schirmchen steigen lassen.
Am schlimmsten war aber die Zeit gewesen, als die Obstbäume blühten. Wie gerne hätte ich mich in den Blütenregen gestellt. Es war herrlich, wenn im Mai die Bäume in voller weißer Pracht standen und der Wind die kleinen, samtfeinen Blüten abzupfte. Wenn man sich dann unter die Bäume stellte, war das wie tausend kleine Berührungen von Elfen.
Als ich mich nach meinem Spaziergang durch den Garten zu Großvater gesellte, pochte mein Herz vor Freude bis zum Hals. Ich liebte es draußen – und bei Großvater zu sein. Der schnitt soeben die Rosen zurecht und ich setzte mich auf die Bank neben dem Strauch.
»Hallo, Leon«, sagte Großvater, der seine unverzichtbare grüne Gartenschürze trug und vor dem Rosenbeet kniete. Der Wind strich durch die Zweige und ließ die Blätter rascheln.
»Hallo, Großvater«, sagte ich und ließ die Beine baumeln. »Mähst du heute den Rasen?«
Großvater legte den Kopf schief und sah mich durchdringend an. Er wusste, was das für mich bedeuten würde. Sobald er den Rasenmäher herausholen würde, müsste ich zurück ins Haus. Rasenmähen und Asthma vertragen sich nämlich nicht. »Nein, der schafft es noch ein paar Tage.«
Großvaters Augen leuchteten grasgrün, was für mich logisch war, da er den Garten über alles liebte. Mas Augen glichen der Farbe von Schokolade, da sie den besten Schokoladenkuchen der Welt backte. Lissi hatte meerblaue Augen, weil sie verrückt nach dem Meer war. Pas graue Augen wirkten wie aus Beton. Er hätte nach meinem Verständnis Maurer sein oder zumindest Steine sammeln müssen. Aber er war Bankangestellter. Ich war noch auf der Suche nach dessen Bedeutung. Und meine Augen? Die schimmerten auch blau. Aber das Meer war mir egal. Vielleicht waren sie himmelblau, weil ich mir gerne die Wolken anschaute. Ich wusste es nicht.
»Wieso schneidest du die Blüten ab?«, fragte ich Großvater.
»Damit die Rosen besser gedeihen und gesund bleiben.«
»Aber die Blätter sind doch schon welk.«
»Das sind Sommerrosen. Wenn ich die Blüten stutze, blüht der Strauch bald noch einmal. Die dürren Zweige schneide ich ab, damit der Strauch gesund und kräftig bleibt.«
»Wie beim Haareschneiden?«
Großvater lachte. »Ich habe noch nie gesehen, dass dir Blüten auf dem Kopf wachsen.«
Ich überlegte. »Manchmal schon.«
Großvater pflückte eine Rosenblüte und steckte sie mir ins Haar. »Du hast Recht, da ist eine.«
Ich lächelte. Er nahm die Rosenschere und schnitt die welken Zweige über der Verästelung ab.
»Kannst du auch meine Lunge stutzen?«, fragte ich. »Vielleicht habe ich eine Sommerlunge und die wächst sich gesund.«
Großvater hielt inne. »Mit Lungen funktioniert das leider nicht, Leon.«
»Das ist doof.«
Unter Stöhnen setzte er sich zu mir auf die Bank. »Wir können uns leider nicht aussuchen, was wir für Gaben oder Gebrechen haben.« Er zeigte auf sein Knie. »Ich habe eine angeborene Knochenfehlstellung. Damit kann ich nicht laufen. Das fand ich auch doof.«
»Und was hast du dagegen gemacht?«
»Nichts. Ich habe mich entschieden, etwas daraus zu machen.«
»Und was?«
Großvater zeigte auf die Rosen und die Sonnenblumen, die weiter hinten im Wind schwankten. »Ich habe mich mit Blumen beschäftigt. Die können nicht weglaufen.«
Ich kicherte bei der Vorstellung, wie die Blumen ihre Wurzeln in die Hand nahmen und wie alte Damen mit Regenschirmen vor Großvater davonliefen.
»Und was soll ich daraus machen?«
»Wer weiß, vielleicht wirst du ein berühmter Musiker. Oder ein gefeierter Maler.«
Ich grübelte. »Das wäre was. Ich schreibe Musik zu meinen Bildern.«
Großvater lachte. »Mannomann, da wirst du viel Zeit brauchen.«
»Du hast doch auch Zeit für deine Blumen.«
»Mittlerweile, ja. Aber du musst ja auch noch nebenbei arbeiten gehen.«
Ich merkte, dass es gar nicht so einfach war, etwas aus seinen Gaben und Gebrechen zu machen. Entweder fehlte die Idee, oder die Zeit.
»Was warst du denn mal früher?«
»Ich habe bei der Bank gearbeitet, wie dein Vater.«
Ich sah ihn empört an. »Aber Pa kann doch gar nicht mit Blumen umgehen.«
»Das muss man als Bankangestellter auch nicht. Jeder hat sein eigenes Steckenpferd. Dein Pa kann dafür sehr gut kochen.«
Das stimmte. Wenn er Zeit fand, stellte er sich stundenlang in die Küche und zauberte Gerichte, die so gut aussahen und so sonderbar schmeckten, dass sie keiner so richtig essen wollte. Ihm machte das nichts aus. Er aß einfach alles selbst auf oder nahm die Reste am nächsten Tag mit zur Arbeit. Ma behauptete manchmal, er mache das absichtlich. Er bestritt das, aber ich fand, sein kugelrunder Bauch gab Ma Recht.
Großvater kniete sich wieder hin und schnitt die welken Blüten ab. Ich beobachtete indessen die Amseln im Kirschbaum. Sie wussten nichts von Tschernobyl und pickten genüsslich und ungestört alle Kirschen vom Baum. Aufgeregt flatterten sie von Ast zu Ast und versuchten sich gegenseitig zu vertreiben.
»Werden die Amseln sterben?«, fragte ich. Großvater schaute auf und zog die Augenbrauen hoch. Ich zeigte auf den Kirschbaum.
»Vielleicht, wir wissen es nicht. So eine Situation hat es noch nicht gegeben.« Er starrte auf den Baum, als erwartete er, dass die Amseln tot herunterfielen.
»Sind die Blüten auch verseucht?«
Großvater schaute auf die Blätter in seiner Hand. »Ich hoffe, der liebe Gott hat ein Nachsehen mit unserer Leichtfertigkeit und lässt alles Schöne am Leben.«
Das Gartentor quietschte und fiel im nächsten Augenblick laut krachend ins Schloss. Das musste Lissi sein, niemand sonst machte so einen Krach.
»Hat Ma dich endlich rausgelassen?«, fragte sie mich und setzte sich neben mich auf die Bank. Ich nickte und zeigte ihr die Blüte in meinem Haar. »Du bist ja ein kleiner Elfenprinz, Brüderchen.«
Lissi war immer freundlich zu mir. Nie schien sie wütend auf mich zu sein, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte. Im Gegensatz zu mir musste sie Ma viel im Haushalt helfen. Staubwischen, bügeln, spülen. Anmerken ließ sie sich das aber nicht. Ich denke, sie hatte Mitleid mit mir, da sie gesund und munter war und Freunde hatte. Vielleicht hatte sie aber auch einfach nur ein großes Herz.
»Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe«, sagte sie und reichte mir ein Buch.
»Wolfsblut von Jack London!«, rief ich begeistert. »Das habe ich noch nicht!«
»Weiß ich doch«, sagte Lissi und wuschelte meine Haare durcheinander. Das hasste ich, nahm es aber in Kauf, wenn ich dafür mit neuem Lesestoff versorgt wurde.
»Danke! Damit werde ich heute Abend noch anfangen«, sagte ich und lächelte Lissi an. Sie wusste immer, wie sie mir eine Freude machen konnte.
Ich blätterte in dem Buch. Die Geschichten von Jack London las ich für mein Leben gern. Durch sie konnte ich große Abenteuer erleben und die Welt dort draußen entdecken. Wie gerne wäre ich Jack auf seinen Fahrten gefolgt, wäre Goldgräber geworden und Hundeschlitten gefahren und hätte einen eigenen Wolfshund gehabt. Aber Asthma und Haustiere vertragen sich nicht. Asthma und Abenteuer schon gar nicht.
»Schaut mal«, flüsterte Großvater und zeigte auf den Kirschbaum, wo ein blaugrauer Vogel mit rostrotem Bauch den Stamm kopfüber runter lief.
»Das ist ja ein putziges Kerlchen«, sagte Lissi.
»Das ist ein Kleiber«, erklärte ich ihr.
»Aha«, sagte Lissi. »Und woran erkennst du das?«
»Am Gefieder. Außerdem ist er der einzige Vogel, der über Stämme läuft und nicht hüpft.«
Lissi schaute prüfend zu Großvater. Der nickte bestätigend. »Da hat er Recht.«
Lissi lachte. »Ihr seid mir zwei Vögel!«
Großvater und ich grinsten. Lissi kannte sich nicht gut aus in der Natur. Für sie gab es nur Baum, Vogel, Käfer, Blume. »Dass du Kirschen von Äpfeln unterscheiden kannst, grenzt an ein Wunder«, neckte Großvater sie gerne. »Zum Glück schmecken sie beide«, lachte Lissi dann immer.
Nachdem Lissi ins Haus gegangen war, legte ich das Buch beiseite und schlenderte durch den Garten. Ich ging am Hühnerstall vorbei, unter den Obstbäumen hindurch, wich den Gänseblümchen aus und atmete schnupperdurstig alles ein.
Mein Ziel war die Schaukel, die an der großen Ulme hinten im Garten hing. Wenn man hoch genug schaukelte, fühlte man sich für kurze Zeit wie ein Vogel.
Von Ma war weit und breit nichts zu sehen, also legte ich los. Mit viel Schwung und ohne Lungenrasseln hatte ich bald eine wunderbare Aussicht. Vor mir lagen die Roggenfelder. Die reichten bis zum alten Wirtshaus, das sich in der Ferne zwischen den flirrenden Birken zu verstecken versuchte. Leise wiegten sich die schweren Ähren im Wind, als striche eine unsichtbare Hand durch sie hindurch. Feine goldene Staubkörnchen schwebten durch die warme Sommerluft wie kleine Falter auf der Suche nach Blüten. Es war wie verzaubert. Und über allem tanzten und torkelten die Kiebitze durch den Himmel, als wären sie betrunken. Ihr meckernder Ruf vermischte sich mit dem sanften Rauschen des Windes und dem Quietschen der Schaukel. Der Duft der Ähren stieg mir in die Nase. Ich befürchtete, husten zu müssen. Meinen Lungen schien es aber zu gefallen, sie taten das, wofür sie gemacht waren: sie atmeten und ließen mich leben.
Im Gegensatz zu Ma. Die rief so laut nach mir, dass ich beinahe vor Schreck von der Schaukel fiel. »Leon, du kommst sofort da herunter!« Sie wischte ihre Hände an ihrer Schürze ab, hektisch, schier panisch – und ich erklärte ihr seelenruhig, dass alles in Ordnung sei.
»Auf der Stelle hörst du auf damit, Leon Hupp!«
Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu gehorchen. Wenn Eltern einen mit Vor- und Nachnamen ansprechen, wollen sie dich am liebsten dem Storch zurückbringen.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte sie mich, die Hände in die Hüften gestemmt.
»Es geht mir gut«, versicherte ich ihr.
»Noch. Noch geht es dir gut. Eine Minute länger und du hättest wieder einen Hustenanfall bekommen. Und ich hätte den Notarzt rufen dürfen.«
Großvater gesellte sich zu uns. »Es ist doch nichts passiert«, sagte er und stellte sich demonstrativ auf meine Seite.
»Ich wusste nicht, dass du Arzt bist«, sagte Ma streng. »Du magst einen grünen Daumen haben, aber Blumen leiden auch nicht an Asthma.«
»Marmeladen auch nicht«, konterte Großvater und zwinkerte mir zu.
Ma holte einen Lappen aus der Schürze und wickelte ihn so fest zusammen, als wollte sie ihn erwürgen. »Das klären wir ein andermal. Jetzt möchte ich, dass der Junge ins Haus kommt. Sein Inhalator wartet auf ihn.«
Sie drehte sich um und stapfte zurück zum Haus. Großvater schaute mich mit großen Augen an. »Du hast gehört, was Frau Doktor Apfelpfannkuchen gesagt hat.«
»Jawohl«, sagte ich halb kichernd und halb enttäuscht. Gerne hätte ich noch länger geschaukelt. Manchmal konnte man nämlich Rehe am Waldrand sehen, die auf die Felder schlichen. Ich schlenderte zurück ins Haus, wo der Inhalator, ein grauer, unhandlicher Klotz, auf mich wartete – allerdings nicht ohne wieder den Gänseblümchen auszuweichen. Abrupt blieb ich stehen. Zwischen zwei Blümchen entdeckte ich ein vierblättriges Kleeblatt. Aufgeregt pflückte ich es, sprang zu Großvater und hielt es ihm wedelnd vor die Nase.
»Sieh mal, was ich gefunden habe. Jetzt bin ich ein Glückspilz!«
Großvater legte den Kopf schief und sah mich fragend an. »Ein Glückspilz?«
»Ja!«, rief ich. »Ich habe ein vierblättriges Kleeblatt gefunden. Das bringt Glück!«
»Ach so«, seufzte Großvater und kratzte sich am Kinn. »Da muss ich dich wohl leider enttäuschen.«
Verständnislos starrte ich ihn an. »Aber ein vierblättriges Kleeblatt bringt doch Glück.«
Großvater schüttelte den Kopf. »Nein, Leon. Dass du es gefunden hast, war dein Glück.«
»Das Kleeblatt war mein Glück?« Ich schluckte. »Das heißt, jetzt ist es wieder weg?«
Großvater nickte und sah mich ernst an. Als ich die Schultern hängen ließ, fing er an zu lachen. Das klang wie eine alte, schnaubende Dampflok, die aus einem Tunnel kommt. Von ganz tief unten kroch das Lachen aus seiner Kehle. »Schon gut, Leon, ich wollte dich nur veräppeln.«
Ich knurrte ihn an und lief ins Haus. Vor der Küchentür blieb ich stehen und drehte mich um. Er lachte noch immer. Ich hielt das Kleeblatt hoch und winkte ihm zu. Großvater war ein Frechdachs, wie er im Buche steht. Aber man konnte ihm nie lange böse sein.
Beim Abendbrot wurden wie jeden Abend Neuigkeiten ausgetauscht. Pa erzählte von den Bauern im Dorf, die um ihre Ernten und Tiere fürchteten. Salate waren zwar angeblich wieder genießbar, aber was war mit den Kühen? Die wuchsen nicht so einfach nach.
Lissi war ganz aufgeregt. Aber nicht wegen irgendwelcher Kühe, sondern wegen Paul. Paul war der älteste Sohn von Bürgermeister Zitterbart und seit heute ihr Freund. Pa pfiff und Ma brummte. Großvater gratulierte Lissi zu ihrem Freund und fing an, die Hochzeit zu planen. Pa stieg mit ein und Ma schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Lissi kannte Großvater gut genug, um sich nicht aufzuregen. Sie spornte ihn sogar noch an und wünschte sich ein Kleid mit meterlanger Schleppe. Ma rief die ganze Zeit dazwischen, dass sie auch noch ein Wörtchen mitzureden hätte, aber wir lachten alle durcheinander, so dass niemand ihr Wörtchen hörte.
Auch ich wusste schließlich noch etwas zu erzählen, denn die Junikäfer flogen wieder. Das schien aber niemanden zu interessieren. Ma schüttelte nur unentwegt den Kopf und Pa rechnete die Kosten für die Hochzeit aus. Einzig Lissi hörte mir zu und zusammen ahmten wir mit unseren Gabeln den wankenden Flug der Junikäfer nach. Dabei fiel ihr eine Kartoffel in die Soße. Wir kicherten und Ma schaute uns grimmig an. Sie verstand halt nichts von Junikäfern.
Am nächsten Morgen ging ich in die Küche und wollte frühstücken. Das Haus roch bereits nach Mas selbstgebackenem Brot und auf dem Tisch standen verschiedene Marmeladengläser. Auch die mit Orangen, die ich so gerne mochte. Als ich mich an den Tisch setzte, kam Ma von draußen herein. Sie hielt einen Korb voll Eier in der Hand.