8,99 €
„Hydra“ – ein neues, weltbedrohendes Virus bricht aus
In Moskau sterben US-Diplomaten an einem tödlichen, neuartigen Virus. Es lässt sich nicht diagnostizieren, nicht aufhalten und es gibt kein Gegenmittel. Die perfekte Biowaffe, die ihr Ziel in der DNA ihrer Opfer findet und diese rasend schnell zerstört. Jon Smith von der amerikanischen Sondereinheit Covert One wird von Prag nach Moskau beordert, um die Attentäter ausfindig zu machen. Er kommt einer weltweiten Verschwörung auf die Spur, die von einem geheimnisumwitterten Mann geleitet wird.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 662
Der amerikanische Geheimdienst hat Hinweise, dass es in Russland Kräfte geben soll, die die frühere Weltmacht in den Status zur Zeit des Kalten Krieges zurückführen möchten. Derweil sterben in Moskau US- und andere Diplomaten an einem tödlichen, neuartigen Virus. Es lässt sich nicht diagnostizieren, nicht aufhalten und es gibt kein Gegenmittel. Die perfekte Biowaffe, die ihr Ziel in der DNA ihrer Opfer findet und diese rasend schnell zerstört. Jon Smith von der amerikanischen Sondereinheit Covert One will sich mit Valentin Petrenko, einem russischen Spezialisten, treffen, um die rätselhaften Todesfälle zu besprechen. Doch bevor es zu diesem Treffen kommt, wird Petrenko ermordet. Smith wird von Prag nach Moskau beordert, um die Attentäter ausfindig zu machen. Er kommt einer weltweiten Verschwörung auf die Spur, die von einem geheimnisumwitterten Mann geleitet wird.
Robert Ludums Romane wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt und erreichten weltweit eine Auflage von über 200 Millionen Exemplaren. Im Heyne Verlag erschien zuletzt Das Bourne Vermächtnis und Die Ambler-Warnung. Robert Ludlum verstarb im März 2001. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.
Patrick Larkin hat als Co-Autor mit Larry Bond die Bestseller Red Phoenix und The Enemy Within veröffentlicht. Er studierte an der University of Chicago und lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Nordkalifornien.
Das Matarese-Mosaik – Der Cassandra-Plan – Die Paris-Option – Der Altman-Code – Die Lazarus-Vendetta – Der Janson-Befehl – Die Lennox-Falle – Der Tristan-Betrug – Das Jesus-Papier – Der Ikarus-Plan – Das Scarlatti-Erbe – Der Hades-Faktor – Die Halidon-Verfolgung – Der Holcroft-Vertrag – Der Prometheus-Verrat – Das Sigma-Protokoll – Das Bourne-Ultimatum – Die Bourne-Identität – Das Bourne-Imperium
Moskau
Schmutziger Schnee, schwarz von Auto- und Industrieabgasen, häufte sich auf den Bürgersteigen an der Twerskaja, dem imposanten Boulevard, der quer durch eins der quirligsten Geschäftsviertel der russischen Hauptstadt führt. Unter den leuchtenden Straßenlaternen wimmelte es von Fußgängern, die sich, dick eingewickelt gegen die frostige Nachtluft, auf dem eisglatten Pflaster drängelten. Ströme von Autos, Lastwagen und Bussen wälzten sich in beide Richtungen und ihre Winterreifen knirschten auf dem Gemisch aus Salz und Sand, das gestreut worden war, um ihnen auf der außergewöhnlich breiten, mehrspurigen Durchgangsstraße besseren Halt zu geben.
Dr. Nikolai Kirianow eilte auf der rechten Seite der Straße nach Norden, wobei er sich große Mühe gab, sich unauffällig durch die rastlose Menge zu bewegen. Doch sobald irgendjemand, ob Jung oder Alt, Mann oder Frau, ihn streifte, zuckte er zusammen und verspürte den Drang, zurückzuschrecken oder panisch davonzulaufen. Trotz der bitteren Kälte schwitzte er unter der Pelzmütze, Schweißtropfen rannen über seine Stirn.
Der groß gewachsene, spindeldürre Pathologe klemmte sich den hübsch verpackten Geschenkkarton fester unter den Arm und widerstand der Versuchung, ihn unter dem Mantel zu verbergen. Obwohl der Valentinstag erst vor relativ kurzer Zeit in den russischen Kalender aufgenommen worden war, wurde er immer beliebter, und viele andere Männer um ihn herum hatten ebenfalls Pakete mit Schokolade und Süßigkeiten dabei, die als Geschenk für ihre Frauen und Freundinnen gedacht waren.
Bleib ruhig, ermahnte er sich nachdrücklich. Er war in Sicherheit. Niemand wusste, was sie mitgenommen hatten. Noch waren ihre Pläne geheim.
Warum erschrickst du dann vor jedem kleinen Schatten, fragte die leise Stimme in seinem Kopf lakonisch. Hast du all die seltsamen Blicke und die furchtsamen Mienen der Kollegen vergessen? Und was ist mit dem kaum merklichen Klicken im Telefon, das du immer wieder gehört hast?
Kirianow blickte über die Schulter, als erwartete er geradezu, einen Trupp uniformierter Polizisten zu entdecken, die ihn verfolgten. Doch er sah nur andere Moskauer, die mit ihren eigenen Sorgen und Nöten beschäftigt waren, und es eilig hatten, aus dem eiskalten Winterwetter herauszukommen. Etwas erleichtert wandte er sich um und wäre fast frontal mit einer kleinen, rundlichen Alten zusammengestoßen, die mehrere Kartons mit Lebensmitteln in den Armen hielt.
Leise Verwünschungen ausstoßend funkelte sie ihn an.
»Prastitje, Babuschka«, stammelte er, während er sich an ihr vorbeidrückte. »Entschuldigen Sie, Großmütterchen.« Sie spuckte ihm ärgerlich vor die Füße und blickte ihm finster nach. Er hastete voran, sein Puls hämmerte in den Ohren.
Ein Stück weiter vorn erhellten grelle Neonreklamen die zunehmende Dunkelheit, ein auffallender Kontrast zu den massiven grauen Wohnhäusern und Hotels, die in der Stalin-Ära entlang der Straße entstanden waren. Kirianow atmete aus. Er näherte sich dem Café, in dem er seine Kontaktperson treffen wollte, eine sympathische westliche Journalistin namens Fiona Devin. Dort würde er ihre Fragen beantworten, sein Material übergeben und dann schnell in seine kleine Wohnung zurückkehren, ohne dass übergeordnete Stellen etwas erfuhren. Erpicht darauf, dieses gefährliche heimliche Rendezvous so bald wie möglich hinter sich zu bringen, beschleunigte er seine Schritte noch einmal.
Plötzlich rempelte ihn von hinten jemand an und Kirianow wurde nach vorn gestoßen, auf ein dickes Stück rutschiges schwarzes Eis. Seine Füße verloren den Halt. Wild um sich schlagend glitt er aus und fiel auf den Rücken. Sein Kopf schlug hart auf dem Pflaster auf und eine weißglühende Schmerzwelle überrollte ihn, sodass er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Benommen und stöhnend blieb er einen langen Augenblick still liegen, unfähig sich zu bewegen.
Durch die benebelnden Schmerzen spürte er, wie eine Hand sich auf seine Schulter legte. Ächzend öffnete er die Augen und schaute hoch.
Ein blonder Mann in einem teuer wirkenden Wollmantel kniete neben ihm und überschüttete ihn mit Entschuldigungen. »Oh, es tut mir so leid, mein Herr. Ist alles in Ordnung? Wie ungeschickt von mir. Furchtbar ungeschickt.« Mit beiden behandschuhten Händen griff er nach Kirianows Arm und packte ihn fest. »Lassen Sie mich Ihnen beim Aufstehen helfen.«
Der russische Pathologe spürte etwas Nadelspitzes tief in sein Fleisch eindringen. Er öffnete den Mund, um zu schreien, und bemerkte mit jähem Schreck, dass er nicht mehr atmen konnte. Seine Lungen waren gelähmt. Verzweifelt versuchte er, nach Luft zu schnappen. Seine Arme und Beine zuckten und bebten, während immer mehr Muskeln erstarrten. In Todesangst sah er zu dem Mann auf, der über ihm kniete.
Der verzog die dünnen Lippen zu einem angedeuteten Lächeln, das rasch wieder verschwand. »Do swidanja, Dr. Kirianow«, murmelte er. »Sie hätten den Anweisungen gehorchen und den Mund halten sollen.«
Gefangen in einem Körper, der den Befehlen des Gehirns nicht mehr folgen wollte, lag Nikolai Kirianow steif auf dem Boden, tonlos schreiend, während die Welt um ihn herum in völliger und ewiger Dunkelheit versank. Sein Herz flatterte noch einige Augenblicke nutzlos und hörte dann auf zu schlagen.
Der blonde Mann hielt den Blick eine weitere Sekunde auf den mit offenem Mund daliegenden Leichnam gerichtet. Dann blickte er zum Kreis der neugierigen Passanten hoch, die von dem Tumult angezogen worden waren, und setzte eine überraschte und besorgte Miene auf. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihm!«, sagte er. »Ich glaube, er hat eine Art Anfall gehabt.«
»Vielleicht ist er beim Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen. Wir sollten einen Arzt rufen«, schlug eine modisch gekleidete junge Frau vor. »Oder die Milizija.«
Der blonde Mann nickte knapp. »Ja, Sie haben Recht.« Er zog einen seiner dicken Handschuhe aus und holte ein Handy aus der Manteltasche. »Ich wähle den Notruf.«
Kaum zwei Minuten später hielt ein rot-weißer Rettungswagen am Bordstein an. Das blaue Blinklicht auf seinem Dach glitt über die kleine Zuschauergruppe und warf grobe, verzerrte Schatten auf das Pflaster und die umliegenden Häuser. Zwei bullige Sanitäter mit einer Tragbahre sprangen hinten aus dem Wagen, gefolgt von einem müde wirkenden jungen Mann, der einen zerknitterten weißen Kittel und eine schmale, rote Krawatte trug. In der Hand hielt er eine gewichtige schwarze Arzttasche.
Der Notarzt beugte sich einen Augenblick über Kirianow. Mit einer kleinen Stiftlampe leuchtete er dem Gestürzten in die offenen, starren Augen und fühlte nach dem Puls. Dann schüttelte er seufzend den Kopf. »Der arme Kerl ist tot. Ich kann nichts mehr für ihn tun.« Er blickte in die Gesichter ringsum. »Also, wer von Ihnen kann mir sagen, was hier vorgefallen ist?«
Demonstrativ zuckte der blonde Mann die Schultern. »Es war ein Unfall. Wir sind zusammengestoßen, er rutschte aus und fiel auf das Eis da drüben. Ich habe versucht, ihm zu helfen … aber dann hat er einfach, na ja, aufgehört zu atmen. Mehr weiß ich wirklich nicht.«
Der Doktor runzelte die Stirn. »Verstehe. Also gut, leider werden Sie mit uns ins Krankenhaus kommen müssen. Es sind einige Formulare auszufüllen. Und die Polizei wird eine offizielle Aussage von Ihnen haben wollen.« Er wandte sich an die restlichen Zuschauer. »Was ist mit Ihnen? Haben Sie irgendetwas gesehen, das uns weiterhelfen könnte?«
Die Menge der Zuschauer blieb stumm. Mit betont ausdruckslosen Gesichtern wichen die Menschen zurück, manche waren bereits allein oder zu zweit weitergegangen. Nun da sie ihre Schaulust fürs Erste befriedigt hatten, wollte niemand sich den Abend damit verderben, in einer von Moskaus tristen und schäbigen Unfall- oder Polizeistationen unangenehme Fragen beantworten zu müssen.
Der junge Arzt schnaubte abfällig. Dann machte er den beiden Sanitätern mit der Liege ein Zeichen. »Packt ihn drauf. Wir fahren. Es hat keinen Sinn, noch länger in der Kälte herumzustehen.«
Schnell schnallten sie Kirianows Leichnam auf der Liege fest und schoben sie in den Rettungswagen. Einer der Sanitäter, der weißbekittelte Arzt und der blonde Mann stiegen hinten ein und setzten sich neben die Leiche. Der zweite Sanitäter schlug die Tür zu und nahm dann neben dem Fahrer Platz. Ohne das Blinklicht auszuschalten, fädelte der Rettungswagen sich in den starken Verkehr auf der Twerskaja ein und fuhr nach Norden.
Geschützt vor neugierigen Zuschauern durchsuchte der Arzt nun rasch die Taschen des Toten und sah sogar unter seiner Kleidung nach, fand aber nur die Brieftasche und die Krankenhauskennkarte des Pathologen, die er fortwarf, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte. Mit finsterem Gesicht wandte er sich an die anderen. »Nichts. Gar nichts. Der Kerl ist sauber.«
»Dann schauen Sie mal hier hinein«, sagte der blonde Mann gelassen und warf ihm den Karton zu, den Kirianow unter dem Arm getragen hatte.
Der Doktor fing ihn auf, zerfetzte das Geschenkpapier und riss den Deckel herunter. Mappen voller Dokumente regneten auf den Leichnam herab. Hastig sah der Arzt die Papiere durch und nickte zufrieden. »Das sind die fotokopierten Befunde aus dem Krankenhaus«, bestätigte er. »Komplett, bis zur letzten Seite.« Er lächelte. »Wir können einen Erfolg melden.«
Der blonde Mann legte die Stirn in Falten. »Nein, das glaube ich nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Wo sind die Blut- und Gewebeproben, die er gestohlen hat?«, fragte der Blonde scharf und kniff die kalten grauen Augen zusammen.
Der Doktor starrte auf den leeren Karton in seiner Hand. »Mist.« Bestürzt sah er hoch. »Kirianow muss einen Komplizen gehabt haben. Die Proben hat jemand anders.«
»Es sieht ganz danach aus«, pflichtete der andere Mann ihm bei. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte eine verschlüsselte Nummer. »Hier ist Moskau-Eins. Ich brauche umgehend eine abhörsichere Verbindung mit Prag-Eins. Wir haben ein Problem …«
Im Schatten des Torbogens unter dem alten gotischen Turm am östlichen Ende der Karlsbrücke verharrte Lieutenant Colonel Jonathan »Jon« Smith, M. D. Die Brücke, die fast einen halben Kilometer überspannte, war vor mehr als sechshundert Jahren gebaut worden, als Übergang über die Moldau und Verbindung zwischen Prags Staré Mesto, der Altstadt, mit der Malá Strana, der Kleinseite. Smith blieb eine ganze Weile still stehen und betrachtete die vor ihm liegende Pflasterstrecke prüfend.
Er runzelte die Stirn. Ihm wäre es lieber gewesen, wenn dieses Treffen an einem anderen Ort stattgefunden hätte, einer belebteren Stelle, die naturgemäß mehr Deckung bot. Über die breiteren neueren Brücken der tschechischen Hauptstadt rollten elektrische Straßenbahnen und der motorisierte Verkehr, die Karlsbrücke aber war für die reserviert, die zu Fuß über die Moldau wollten. Im düsteren Dämmerlicht des Spätnachmittags lag sie weitgehend verlassen da.
Die meiste Zeit des Jahres war die historische Brücke die Hauptattraktion der Stadt, die elegante Schönheit ihrer Konstruktion lockte scharenweise Touristen und in ihrem Gefolge Straßenverkäufer an. Doch an diesem Tag lag Prag in Winternebel gehüllt, in einer dicken Wolke aus kaltem Wasserdampf und stinkenden Abgasen, die im gewundenen Flusstal festhing. Der graue Dunst verschleierte die anmutigen Silhouetten der Paläste, Kirchen und Häuser aus der Renaissance- und Barockzeit.
In der feuchtkalten Luft fröstelnd zog Smith den Reißverschluss seiner ledernen Bomberjacke zu, ehe er auf die Brücke trat. Er war ein großer, durchtrainierter Mann Anfang vierzig, mit glattem schwarzem Haar, durchdringend blauen Augen und hohen Wangenknochen.
Anfänglich hallte das Echo seiner Schritte vom hüfthohen Brückengeländer wider, doch dann verklang das Geräusch, verschluckt vom Nebel, der aus dem Fluss aufstieg und langsam über die Brücke waberte, sodass nach und nach beide Brückenenden dahinter verschwanden. Andere Fußgänger, meist Angestellte und Verkäufer auf dem Heimweg, tauchten aus den Schwaden auf, eilten an Smith vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und wurden dann ebenso schnell, wie sie erschienen waren, wieder vom Dunst verhüllt.
Smith ging weiter. Dreißig Heiligenstatuen säumten die Karlsbrücke, stumme, unbewegliche Figuren, die zu beiden Seiten aus dem stetig dichter werdenden Nebel ragten. Paarweise einander gegenüber aufgereiht auf den massiven Sandsteinpfeilern, auf denen die lange Konstruktion ruhte, dienten sie ihm als Führer zum vereinbarten Treffpunkt.
Als der Amerikaner die Mitte der Brücke erreicht hatte, blieb er stehen und schaute hoch. Er blickte in das gelassene Gesicht des Heiligen Johannes Nepomuk, eines 1393 zu Tode gefolterten katholischen Priesters, dessen verstümmelter Leichnam von eben dieser Brücke in den Fluss geworfen worden war. Ein Teil des vor Alter schwarz angelaufenen Bronzereliefs, auf dem das Martyrium des Heiligen dargestellt wurde, glänzte hell, blank gerieben von zahllosen Menschen, die es im Vorübergehen berührten, weil das Glück bringen sollte.
Spontan beugte Smith sich vor und strich selbst mit den Fingern über die erhabenen Figuren.
»Ich wusste gar nicht, dass Sie abergläubisch sind, Jonathan«, sagte eine ruhige, müde klingende Stimme hinter ihm.
Betreten lächelnd drehte Smith sich um. »Es kann ja nicht schaden, Valentin.«
Eine behandschuhte Hand fest um eine schwarze Aktentasche geschlossen, trat Dr. Valentin Petrenko näher. Der russische Seuchenexperte war ein gutes Stück kleiner als Smith und kräftiger gebaut. Auf seiner Nase thronte eine Brille mit dicken Gläsern und die traurigen braunen Augen dahinter blinzelten nervös. »Danke, dass Sie bereit waren, mich hier zu treffen. Weit weg von der Konferenz, meine ich. Mir ist durchaus bewusst, dass ich Ihnen Umstände bereite.«
»Machen Sie sich bloß keine Gedanken«, entgegnete Smith mit schiefem Grinsen. »Glauben Sie mir, das hier ist wesentlich angenehmer, als noch ein paar Stunden Kozliks neuesten Ausführungen über Typhus- und Hepatitis A-Epidemien irgendwo am Ende der Welt lauschen zu müssen.«
Für einen Augenblick blitzte in Petrenkos wachsamen Augen ein Funken Heiterkeit auf. »Dr. Kozlik ist wirklich kein glänzender Redner«, stimmte er zu, »aber seine Theorien haben meist Hand und Fuß.«
Smith nickte und wartete geduldig, dass sein Gesprächspartner darauf zu sprechen kam, warum er so nachdrücklich um dieses heimliche Treffen gebeten hatte. Er und Petrenko waren anlässlich einer großen internationalen Konferenz über neu auftretende Infektionskrankheiten in Osteuropa und Russland nach Prag gekommen. Tödliche, in den weiter entwickelten Ländern längst unter Kontrolle geglaubte Krankheiten hatten sich in einigen Teilen des ehemaligen Sowjetreiches wie Lauffeuer verbreitet. Schlechte hygienische Verhältnisse und öffentliche Gesundheitssysteme, die durch jahrzehntelange Vernachlässigung und den Zerfall der alten kommunistischen Ordnung zerstört worden waren, begünstigten diese Entwicklung.
Beide Männer waren im Kampf gegen die drohende Gesundheitskrise stark engagiert. Jon Smith diente unter anderem als Experte für Molekularbiologie am U. S. Army Medical Research Institute of Infectious Diseases (USAMRIID), dem Medizinischen Forschungsinstitut für Infektionskrankheiten der US-Armee, in Fort Detrick, Maryland. Und Petrenko arbeitete als hoch geschätzter Facharzt für seltene Krankheiten in der Moskauer Zentralklinik. Die beiden Männer waren sich über Jahre beruflich immer wieder begegnet und hatten die Fähigkeiten und das Urteilsvermögen des jeweils anderen zu schätzen gelernt. Daher hatte Smith, als ein offensichtlich äußerst beunruhigter Petrenko ihn früher am Tag beiseitegenommen und um ein privates Treffen außerhalb der Konferenzräume gebeten hatte, ohne Zögern zugestimmt.
»Ich brauche Ihre Hilfe, Jon«, gestand der Russe schließlich. Er schluckte schwer. »Ich habe dringliche Informationen, die an fachkundige medizinische Behörden im Westen weitergeleitet werden müssen.«
Smith sah ihn aufmerksam an. »Informationen? Worüber, Valentin?«
»Über den Ausbruch einer Krankheit in Moskau. Einer neuen Krankheit … so etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Petrenko leise. »Und ich habe Angst davor.«
Smith lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Sprechen Sie weiter.«
»Den ersten Fall sah ich vor zwei Monaten«, erzählte Petrenko. »Ein Kind, ein kleiner Junge, kaum sieben Jahre alt. Er wurde wegen starker Schmerzen und anhaltend hohem Fieber eingeliefert. Zu Anfang hielten die Ärzte es bloß für eine gewöhnliche Grippe. Doch dann, urplötzlich, verschlechterte sich der Zustand des Jungen. Sein Haar begann auszufallen. Auf seinem Körper breiteten sich hässliche, blutende Wunden und schmerzhafter Ausschlag aus. Er wurde stark anämisch. Am Ende brachen ganze Systeme – seine Leber, seine Nieren und letztlich sein Herz – einfach zusammen.«
»Mein Gott!«, murmelte Smith, während er sich die schrecklichen Schmerzen vorstellte, die der kranke Junge hatte aushalten müssen. Er runzelte die Stirn. »Die Symptome hören sich schwer nach massiver Strahlenvergiftung an, Valentin.«
Petrenko nickte. »Ja, genau das haben wir anfänglich auch gedacht.« Er zuckte die Achseln. »Doch wir konnten keinen Hinweis darauf finden, dass der Junge jemals radioaktivem Material ausgesetzt war. Weder Zuhause noch in seiner Schule noch irgendwo anders.«
»Hat das Kind jemanden angesteckt?«, fragte Smith.
»Nein«, antwortete der Russe, wobei er entschieden den Kopf schüttelte. »Niemand aus seiner Umgebung erkrankte. Weder seine Eltern noch seine Freunde oder das Krankenhauspersonal.« Er zog eine Grimasse. »Unsere Tests erbrachten keine Hinweise auf eine gefährliche Virus- oder Bakterieninfektion und alle toxikologischen Untersuchungen waren negativ. Wir fanden keinerlei Spuren von Gift oder schädlichen Chemikalien, die solch schlimme Auswirkungen gehabt haben könnten.«
Smith pfiff leise durch die Zähne. »Unangenehme Lage.«
»Es war grauenvoll«, gestand Petrenko. Die Aktentasche immer noch fest im Griff, nahm der Russe die Brille ab, putzte nervös die Gläser und setzte die Brille wieder auf. »Aber dann tauchten in der Klinik immer mehr Menschen auf, die unter den gleichen schrecklichen Symptomen litten. Zuerst ein alter Mann, ein ehemaliger Apparatschik der kommunistischen Partei. Dann eine Frau mittleren Alters. Und schließlich ein junger Mann – ein stämmiger Tagelöhner, der stets stark wie ein Ochse gewesen war. Alle starben innerhalb weniger Tage unter Höllenqualen.«
»Nur diese vier?«
Petrenko lächelte matt. »Das sind die vier, von denen ich weiß«, sagte er leise. »Doch es können durchaus auch mehr gewesen sein. Beamte des Gesundheitsministeriums haben mir und meinen Kollegen zu verstehen gegeben, dass wir nicht zu viele Fragen stellen sollten, sonst riskierten wir es, bei der Bevölkerung ›eine unnötige Panik auszulösen‹. Oder die Medien zu sensationslüsternen Artikeln zu verführen.
Natürlich kämpften wir, bis die höchsten Gremien die Entscheidung fällten. Doch am Ende wurden all unsere Anträge auf eine eingehendere Untersuchung abgeschmettert. Uns wurde auch verboten, diese Krankengeschichten mit irgendjemandem außerhalb eines sehr kleinen Kreises von Wissenschaftlern zu diskutieren.« Sein trauriger Blick wurde noch düsterer. »Ein Kremlbeamter sagte mir sogar, dass vier unerklärliche Todesfälle unbedeutend seien – ›statistisch gesehen‹ eine zu vernachlässigende Größe. Er riet uns, unsere Anstrengungen lieber auf AIDS zu konzentrieren und auf andere Krankheiten, an denen mehr Menschen in Mütterchen Russland stürben. Inzwischen ist alles, was mit diesen mysteriösen Todesfällen zu tun hat, als Staatsgeheimnis klassifiziert und in den Ämtern unter Verschluss.«
»Idiotisch«, brummte Smith und biss die Zähne zusammen. Stillschweigen und Geheimniskrämerei waren der Ruin jeglicher vernünftigen Wissenschaft. Der Versuch, das Auftreten einer neuen Krankheit aus politischen Gründen zu verschweigen, machte eine katastrophale Epidemie nur wahrscheinlicher.
»Schon möglich«, sagte Petrenko und zuckte die Achseln. »Aber ich mache bei diesen Vertuschungsversuchen nicht mit. Deshalb habe ich Ihnen das gebracht.« Der Russe klopfte sanft auf seine schwarze Aktentasche. »Hier drin sind alle wichtigen medizinischen Befunde sowie Blut- und Gewebeproben der vier bekannten Opfer. Ich hoffe nur, dass Sie und andere im Westen mehr über die Wirkungsweise dieser neuen Krankheit herausfinden, ehe es zu spät ist.«
»Wird man Ihnen nicht die Hölle heiß machen, wenn Ihre Regierung entdeckt, dass Sie dieses Material herausgeschmuggelt haben?« , fragte Smith.
»Ich weiß es nicht«, gestand der Russe. »Deshalb wollte ich Ihnen diese Informationen im Geheimen geben.« Er seufzte. »Die Zustände in meinem Land verschlechtern sich zusehends, Jon. Ich fürchte, unsere Mächtigen sind zu dem Schluss gekommen, dass sich mit Gewaltandrohung und Einschüchterung leichter und ungestörter regieren lässt als durch Überzeugungskraft und Einsicht.«
Smith nickte verständnisvoll. Er hatte die Nachrichten aus Russland mit wachsender Sorge verfolgt. Der Präsident des Landes, Viktor Dudarew, war als Offizier des ehemaligen KGB, des Komitees für Staatssicherheit, in Ostdeutschland stationiert gewesen. Als die UdSSR zerfiel, hatte Dudarew sich umgehend den Reformkräften angeschlossen. Im neuen Russland stieg er rasch auf, übernahm zuerst die Führung des FSB, des Inlandsgeheimdienstes der Föderation, wurde dann Premierminister und gewann schließlich die Wahl zum Präsidenten. Angesichts dieser steilen Karriere hatten viele sich verzweifelt an den Glauben geklammert, er wäre ein waschechter Demokrat.
Dudarew hatte sie alle getäuscht. Nachdem er Präsident geworden war, hatte der Ex-KGB-Offizier seine Maske fallen lassen und sich als ein Mann entpuppt, der eher daran interessiert war, seinen Ehrgeiz zu befriedigen, als daran, eine richtige Demokratie aufzubauen. Er war hauptsächlich damit beschäftigt, immer mehr Macht in den eigenen Händen zu bündeln und seine Getreuen die Fäden ziehen zu lassen. Die gerade unabhängig gewordenen Medienkonzerne wurden mundtot gemacht und wieder der Kontrolle der Regierung unterstellt. Unternehmen, deren Besitzer gegen den Kreml opponierten, wurden auf behördliche Anordnung zerschlagen oder ihre Aktiva wegen angeblicher Steuerhinterziehung konfisziert. Rivalisierende Politiker schüchterte man ein oder die staatlich gelenkte Presse ließ sie in der Versenkung verschwinden.
Satiriker hatten Dudarew »Zar Viktor« getauft. Doch der Witz war schon lange nicht mehr komisch, es sah sogar ganz danach aus, als würde er bald bittere Realität werden.
»Ich tue, was ich kann, um Ihren Namen herauszuhalten«, versprach Smith. »Aber sobald die Nachricht durchsickert, wird irgendjemand in Ihrer Regierung diese Informationen mit Sicherheit bis zu Ihnen zurückverfolgen. Und irgendwann wird sie durchsickern.« Er schaute auf den kleinen Russen hinab. »Vielleicht sollten Sie die Fakten einfach öffentlich machen. Das könnte sicherer sein.«
Petrenko zog eine Augenbraue hoch. »Sie meinen, ich sollte um politisches Asyl bitten?«
Smith nickte bestätigend.
Der Wissenschaftler schüttelte den Kopf. »Nein, das halte ich für falsch.« Er zuckte die Achseln. »Trotz all meiner Fehler bin ich in erster Linie Russe. Ich werde meinem Vaterland nicht aus lauter Angst den Rücken kehren.« Er lächelte traurig. »Außerdem, wie sagen noch die Philosophen? Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun? Ich glaube, das stimmt. Also bleibe ich in Moskau und tue mein Möglichstes, um in meinem kleinen Bereich gegen die dunklen Mächte zu kämpfen.«
»Prosím, muzete mi pomoci?« Die Frage kam aus dem Nebel.
Überrascht drehten Smith und Petrenko sich um.
Ein etwas jüngerer Mann mit unbeweglicher, finsterer Miene stand nur ein kleines Stück weit weg und hielt die linke Hand auf, als bettelte er um Geld. An seinem rechten Ohrläppchen, unter einer wirren Mähne aus langem, fettigem braunem Haar, baumelte ein kleiner silberner Totenschädel. Die rechte Hand hielt er in einem langen schwarzen Mantel verborgen. Zwei weitere Männer, ähnlich gekleidet und ebenso grimmig dreinblickend, hatten sich dicht hinter ihm aufgebaut. Auch sie trugen kleine Totenkopf-Ohrringe.
Instinktiv stellte Smith sich schützend vor den kleineren russischen Wissenschaftler. »Prominte. Tut mir leid«, sagte er. »Nerozumím . Ich verstehe nicht. Mluvíte anglicky? Sprechen Sie Englisch?«
Langsam ließ der langhaarige Mann die linke Hand sinken. »Sie sind Amerikaner, ja?«
Etwas an der Art, wie er das sagte, sorgte dafür, dass sich Smiths Nackenhaare aufstellten. »Richtig.«
»Gut«, sagte der Mann tonlos. »Alle Amerikaner sind reich. Und ich bin arm.« Seine dunklen Augen glitten zu Petrenko und konzentrierten sich dann wieder auf Smith. Ein kurzes Raubtierlächeln entblößte seine Zähne. »Also geben Sie mir die Aktentasche Ihres Freundes, ja? Als Geschenk, ja?«
»Jon«, zischte der Russe hinter ihm. »Diese Männer sind keine Tschechen.«
Der Langhaarige hatte ihn verstanden. Unbekümmert zuckte er die Schultern. »Dr. Petrenko hat Recht. Ich gratuliere ihm zu seiner Beobachtungsgabe.« In einer einzigen fließenden Bewegung zog er das Klappmesser hervor, das er in seinem Mantel versteckt gehalten hatte, und ließ es aufschnappen. Die Klinge wirkte rasiermesserscharf. »Aber ich möchte diese Aktentasche immer noch. Sofort.«
Verdammt, dachte Smith, während er kühl beobachtete, wie die drei Männer ihnen den Weg verstellten. Er trat ein wenig zurück – und stieß mit dem Rücken an das hüfthohe Brückengeländer mitten über der Moldau. Das ist nicht gut, dachte er grimmig. Unbewaffnet von einer Überzahl im Nebel auf einer Brücke gestellt zu werden ist wirklich nicht gut.
Seine anfängliche Hoffnung, mit der bloßen Übergabe der Aktentasche unverletzt davonkommen zu können, war zerplatzt, als er hörte, wie gleichgültig und selbstsicher der Langhaarige Petrenkos Namen genannt hatte. Dies war kein gewöhnlicher Raubüberfall. Wenn er sich nicht täuschte, waren diese Burschen Profis, und Profis waren darauf trainiert, keine Zeugen zu hinterlassen.
Er zwang sich zu einem matten Lächeln. »Ja, sicher … ich meine, wenn Sie es so sagen. Es muss hier doch niemand verletzt werden, oder?«
»Keinesfalls, mein Freund«, versicherte der Mann mit dem Messer, immer noch kaltblütig grinsend.
Smith holte einmal tief Luft und spürte, wie sein Puls sich beschleunigte. Die Welt um ihn herum schien sich in Zeitlupe zu bewegen, während sein Körper Adrenalin ausschüttete, damit er schneller reagieren konnte. Er spannte die Muskeln an. Jetzt! »Policie! Polizei!«, brüllte er in die nebelschwere Stille. Und dann noch einmal: »Policie!«
»Idiot!«, knurrte der Langhaarige nur. Er stürzte sich auf den Amerikaner und versuchte, ihn von unten mit dem Messer zu treffen.
Smith reagierte augenblicklich. Er wich aus und die Klinge schnellte an seinem Gesicht vorbei. Zu nah! Mit einem wütenden Schlag traf er die Nervenenden an der exponierten Innenseite des gegnerischen Handgelenks.
Der Langhaarige ächzte vor Schmerz. Das Messer entglitt seinen plötzlich kraftlosen Fingern und schlitterte über das Pflaster. Aus einer schnellen Drehung heraus rammte Smith ihm mit voller Wucht einen Ellbogen in das schmale Gesicht. Knochen splitterten und Blut spritzte. Stöhnend taumelte der Mann rückwärts und knickte, die blutigen Reste seiner zertrümmerten Nase befingernd, mit einem Bein ein.
Nun schob der zweite Mann sich, ebenfalls Messer schwingend, mit finsterer Miene am Anführer vorbei. Smith unterlief seinen Angriff, sodass er einen Faustschlag direkt unter den Rippen des Mannes platzieren konnte. Der krümmte sich unter dem plötzlichen Schmerz und stolperte vorwärts. Ehe er sich erholen konnte, packte Smith ihn hinten am Mantel und stieß ihn mit dem Kopf gegen das steinerne Brückengeländer. Bewusstlos oder zumindest schwer verletzt stürzte der Mann, ohne einen Laut von sich zu geben, auf das Pflaster und blieb regungslos liegen.
»Achtung, Jon!«, schrie Petrenko.
Smith wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um sehen zu können, wie der kleine russische Wissenschaftler sich gegen den dritten Mann wehrte, indem er ihm verzweifelte, unkontrollierte Schläge mit der Aktentasche versetzte. Doch dann wich die Angriffslust in Petrenkos Augen einem entgeisterten Blick, der sich nach unten richtete, auf das Messer, das bis zum Heft in seinem Bauch steckte.
Plötzlich fiel ein einzelner Schuss, der über die gesamte Brücke zu hören war.
Und ein kleines, rotgerändertes Loch erschien auf Petrenkos Stirn. Ein Gemisch aus Knochensplittern und Hirnmasse spritzte aus der Austrittswunde in seinem Hinterkopf, die ein aus kurzer Distanz abgefeuertes 9-mm-Projektil gerissen hatte. Der Russe verdrehte die Augen. Dann wankte er und fiel sterbend, die Aktentasche immer noch fest umklammert, rückwärts über das Brückengeländer in den Fluss.
Aus den Augenwinkeln sah Smith, dass der erste Angreifer sich wieder aufrappelte. Blut lief ihm über das Gesicht und tropfte von seinem unrasierten Kinn. Seine dunklen Augen waren voll Hass und in der Hand hielt er eine Pistole, ein altes sowjetisches Makarow-Modell. Eine leere Patronenhülse rollte langsam über das unebene Pflaster.
Der Amerikaner spannte kampfbereit die Muskeln an, doch er wusste bereits, dass es zu spät war. Der andere stand zu weit weg – außerhalb seiner Reichweite. Smith drehte sich um und stürzte sich von der Brücke, kopfüber sprang er in den Nebel. Hinter ihm peitschten weitere Schüsse. Eine Kugel flog haarscharf an seinem Kopf vorbei, eine andere durchschlug seine Jacke und bohrte sich glühend heiß in seine Schulter.
In einer weißen Fontäne aus Gischt und Schaum durchbrach Smith die Oberfläche der Moldau und tauchte tief in das eisige, tintenschwarze Wasser ein. In absoluter Stille und völliger Dunkelheit sank er immer tiefer in ein frostkaltes Nichts. Die starke Strömung riss ihn mit, zerrte an seiner zerrissenen Jacke, an seinen Armen und Beinen und zog ihn Hals über Kopf mit nach Norden, weg von den massiven Steinpfeilern der Brücke.
Seine Lungen brannten wie Feuer, gierten nach Luft. Wild entschlossen ruderte Smith mit Armen und Beinen, um sich durch das kalte, wirbelnde Wasser nach oben zu kämpfen. Endlich schoss sein Kopf durch die wellige Wasseroberfläche und er tat eine ganze Weile lang nichts anderes, als keuchend nach Luft zu schnappen, nur darauf erpicht, den Sauerstoff einzuatmen, nach dem sein Körper verlangte.
Immer noch in der Strömung gefangen, schaute er sich um. Die Karlsbrücke war in den wabernden Nebelschwaden nicht zu sehen, doch er konnte hören, dass Rufe und erschrockene Stimmen über den Fluss hallten. Der Knall der Schüsse schien die Prager aus ihrer Spätnachmittagslethargie geschreckt zu haben. Smith spuckte einen Schluck Wasser aus und wandte sich ab.
In einem Bogen, der ihn aus der reißenden Strömung befreien sollte, schwamm er auf das östliche Ufer zu. Er musste bald aus dem Wasser kommen – ehe die bittere Kälte seine Muskeln völlig lähmte. Als sein Körper in der durchnässten Kleidung immer weiter auskühlte, begannen seine Zähne zu klappern.
Einen bangen Augenblick lang sah es so aus, als läge das nebelverhangene Ufer um Haaresbreite außerhalb der Reichweite seiner rasch nachlassenden Kräfte. Smith wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und unternahm eine letzte verzweifelte Anstrengung. Er machte noch einen Schwimmzug, und diesmal stießen seine suchenden Hände gegen eine Schlammbank und erreichten das kiesige Ufer. Mühsam zog er sich aus der Moldau auf eine schmale verdorrte Rasenfläche mit ordentlich gestutzten Bäumen, die offensichtlich zu einem kleinen Park am Flussufer gehörte.
Zitternd und von Schmerzen in jedem einzelnen Muskel geplagt rollte er sich auf den Rücken und starrte in den gleichgültigen grauen Himmel hinauf. Minuten vergingen. Er ließ sie einfach verstreichen, zu erschöpft, um noch irgendetwas zu tun.
Da hörte er jemanden erschrocken nach Luft schnappen. Ächzend drehte er den Kopf zur Seite und entdeckte eine kleine ältere Dame, die in einen Pelzmantel gehüllt mit einer Mischung aus Angst und Staunen auf ihn herunterstarrte. Zwischen ihren Beinen lugte ein winziger Hund hervor, der neugierig schnüffelte. Mit jeder Sekunde schien die Luft um die beiden herum schwärzer zu werden.
»Policie«, presste Smith zwischen klappernden Zähnen hervor.
Die alte Dame riss die Augen auf.
Mit letzter Kraft besann er sich seiner paar Brocken Tschechisch und flüsterte: »Zavolejte policii. Rufen Sie die Polizei.«
Und bevor er noch irgendetwas anderes sagen konnte, hüllte ihn die rasch zunehmende Dunkelheit ein und verschluckte ihn.
Hauptquartier des Nördlichen Operationskommandos Tschernihiw, Ukraine
Da sie einem der Fürstentümer, das zur Kiewer Rus gehörte – jener losen Vereinigung von Wikingern, die sich zu Herren über das spätere Russland und die Ukraine aufgeschwungen hatten –, als befestigte Hauptstadt gedient hatte, wurde Tschernihiw schon seit Jahrhunderten »Stadt der Fürsten« genannt. Mehrere der wunderschönen Kathedralen, Kirchen und Klöster dort stammten aus dem elften und zwölften Jahrhundert, und ihre goldenen Kuppeln und Türme verliehen der Silhouette der kleinen Stadt eine schlichte Eleganz. Jedes Jahr machten sich Busse voller Touristen in Kiew, 140 Kilometer im Süden, auf die kurze Reise, um in Tschernihiw die historischen Stätten und Kunstwerke zu bestaunen.
Nur wenigen dieser Touristen fiel der abgesonderte Komplex am Stadtrand auf, dessen Stahl- und Betongebäude noch aus der Sowjetära stammten. Dort, hinter einer von schwer bewaffneten Soldaten bewachten Stacheldrahtumzäunung, lag das Verwaltungszentrum für einen der drei großen Kampfverbände der ukrainischen Armee – das Hauptquartier des Nördlichen Operationskommandos. Die Sonne war längst untergegangen, doch überall in den Gebäuden brannte noch Licht. Dienstwagen mit Wimpeln jeder größeren Einheit des Kommandos füllten die Parkplätze rund um das in Flutlicht getauchte dreistöckige Hauptgebäude.
In dem Gebäude, in einem überfüllten Besprechungszimmer etwas abseits an der Wand, stand Major Dimitri Poljakow. Er hatte diese Position absichtlich bezogen, um einen guten Blick auf seinen Vorgesetzten zu haben, auf den Mann, der das Nördliche Operationskommando der Armee befehligte: Generalleutnant Alexander Martschuk. Um sicherzugehen, dass der Ordner unter seinem Arm jeden Bericht und Befehlsentwurf enthielt, den der General für diese hastig einberufene militärische Lagebesprechung benötigen könnte, kontrollierte der groß gewachsene junge Major die Papiere erneut. Poljakow wusste genau, dass Martschuk ein anspruchsvoller, äußerst professioneller Soldat war, der von seinem Ersten Adjutanten erwartete, dass er jedem Wunsch und Auftrag unverzüglich nachkam.
Martschuk, seine leitenden Stabsoffiziere und die Kommandeure aller Brigaden und Divisionen des Nördlichen Operationskommandos hatten an drei Seiten eines langen rechteckigen Konferenztisches Platz genommen. Am Kopfende des Tisches stand ein Stativ mit einer detaillierten Karte ihres Einsatzgebietes. Jeder dieser hochrangigen Offiziere hatte eine Informationsmappe vor sich auf dem Tisch, dazu einen Aschenbecher und ein Glas heißen Tee. In den meisten Aschenbechern lagen brennende Zigaretten.
»Es besteht kein Zweifel, dass sowohl die Russen wie auch die Weißrussen die Sicherheitsvorkehrungen an unserer gemeinsamen Grenze drastisch verschärft haben«, dozierte der gerade Vortragende, ein rundlicher Oberst, während er mit seinem Zeigestock auf verschiedene Punkte der Karte deutete. »Sie haben jeden noch so kleinen Grenzübergang von Dobrjanka, hier im Norden, bis hin nach Charkiw, im Osten, geschlossen. Grenzverkehr wird nur über die an größeren Schnellstraßen aufgebauten Kontrollstellen erlaubt – und auch dann nur nach intensiver Durchsuchung. Darüber hinaus melden meine Kollegen vom Westlichen und Südlichen Operationskommando ähnliche Maßnahmen in ihrem Gebiet.«
»Das ist aber noch nicht alles, was die Russen tun«, unterbrach ein Offizier auf der anderen Seite des Tisches ärgerlich. Er kommandierte eine Brigade von Deckungstruppen, eine neue Formation aus verschiedenen Waffengattungen, die mit Aufklärungspanzern, Kampf- und Aufklärungshubschraubern sowie schwer bewaffneten Infanterieeinheiten mit Panzerabwehrgeschützen operierte. »Meine Vorposten haben beobachtet, dass an mehreren Stellen entlang der Grenze Aufklärungstruppen in Kompanie-und Bataillongröße operieren. Anscheinend versuchen sie, die Stützpunkte unseres Grenzschutzes exakt zu lokalisieren.«
»Wir sollten auch diese Gerüchte über Truppenbewegungen, die uns von den Amerikanern zugetragen wurden, nicht außer Acht lassen«, meinte ein anderer Oberst. Die gekreuzten Jagdhörner auf seinen Schulterstücken wiesen ihn als Mitglied der Nachrichtentruppen aus, doch das war nur Tarnung. In Wahrheit diente er dem Nördlichen Operationskommando als Leiter des Geheimdienstes.
Beifälliges Kopfnicken rund um den Tisch. Der amerikanische Militärattaché in Kiew hatte Geheimdienstberichte verbreitet, die andeuteten, dass einige russische Eliteeinheiten – luftbewegliche, gepanzerte und mechanisierte Brigaden – aus ihren Kasernen rund um Moskau verschwunden seien. Keiner dieser Berichte konnte bestätigt werden, doch beunruhigend waren sie trotzdem.
»Wie lautet Moskaus offizielle Erklärung für diese ungewöhnliche Aktivität?«, fragte ein korpulenter Panzerdivisionskommandeur neben dem Geheimdienstchef. Er saß etwas vorgebeugt, sodass die Deckenleuchten sich in seinem blanken Glatzkopf spiegelten.
»Der Kreml behauptet, das seien bloß vorsorgliche Anti-Terror-Maßnahmen«, antwortete General Martschuk schleppend, während er seine Zigarette ausdrückte. Seine Stimme klang heiser und sein hoher Uniformkragen war von Schweißflecken durchtränkt.
Major Poljakow versuchte, ein besorgtes Stirnrunzeln zu unterdrücken. Trotz seiner fünfzig Jahre hatte der General normalerweise eine kräftige, gesunde Konstitution, doch an diesem Tag war er krank – sehr krank sogar. Schon den ganzen Tag hatte er kein Essen mehr bei sich behalten können. Trotzdem war er nicht davon abzubringen gewesen, diese Abendbesprechung einzuberufen. »Es ist nur eine verdammte Grippe, Dimitri«, hatte Martschuk gekrächzt. »Ich werde schon darüber hinwegkommen. Augenblicklich verlangt die militärische Lage meine volle Aufmerksamkeit. Du kennst doch mein Motto: An erster Stelle steht die Pflicht.«
Wie jeder gute Soldat, der einen Befehl bekommt, hatte Poljakow nur genickt und gehorcht. Was hätte er sonst tun können? Doch nun dachte er beim Anblick seines Vorgesetzten, dass er besser darauf beharrt hätte, einen Arzt zu rufen.
»Und? Glauben wir unseren lieben russischen Freunden und Nachbarn, Alexander?«, fragte der Panzerkommandeur trocken. »Was diese so genannten Anti-Terror-Maßnahmen anbelangt?«
Martschuk zuckte die Achseln. Selbst diese kleine Bewegung schien ihn Mühe zu kosten. »Der Terrorismus ist eine ernste Bedrohung. Nicht nur die Tschetschenen versuchen, Moskau und seinen Interessen schaden, wo und wann sie können. Das wissen wir alle.« Er hustete heiser, hielt einen Moment inne, um Atem zu schöpfen, und zwang sich dann fortzufahren. »Doch mir ist nicht eine Erklärung geboten worden – weder von unserer Regierung noch von den Russen selbst – die so viel militärische Aktivität in so großem Rahmen rechtfertigen würde.«
»Was sollen wir also tun?«, fragte einer der anderen Offiziere leise.
»Wir werden unsere eigenen Vorkehrungen treffen«, erwiderte Martschuk grimmig. »Auch wenn sie nur dazu dienen sollten, dass ›Zar Viktor‹ und seine Getreuen in Moskau nicht übers Ziel hinausschießen. Ein wenig Säbelgerassel von unserer Seite wird den Kreml wohl daran hindern, eine Dummheit zu machen.« Er stemmte sich hoch und stellte sich vor die Karte. Schweißtropfen rannen über seine Stirn. Sein Gesicht war grau und er schwankte kurz.
Poljakow wollte ihm zu Hilfe eilen, doch der General winkte ab. »Mir geht es gut, Dimitri«, murmelte er. »Bin nur ein bisschen schwindlig, das ist alles.«
Seine Untergebenen wechselten besorgte Blicke.
Martschuk zwang sich zu einem schiefen Lächeln. »Was ist los, meine Herren? Haben Sie noch nie jemanden mit Grippe gesehen?« Er hustete erneut, diesmal lang und abgehackt, danach rang er mit gesenktem Kopf nach Luft. »Keine Angst, ich huste Sie schon nicht an.«
Dafür erntete er nervöses Gelächter.
Leicht erholt beugte der General sich vor und stützte sich auf die Hände. »Hören Sie mir jetzt genau zu«, sagte er, jedes Wort mühsam hervorstoßend. »Ab heute Nacht werden alle gefechtsbereiten Divisionen und Brigaden in höhere Alarmbereitschaft versetzt. Sämtliche Urlaube sind gestrichen. Jeder Offizier, der aus irgendeinem Grund nicht bei seiner Einheit ist, soll zurückkehren – auf der Stelle. Und bis zur Morgendämmerung wird jeder betriebsfähige Panzer, jedes Infanteriekampffahrzeug und jedes fahrbare Artilleriegeschütz unter diesem Kommando mit einer vollen Ladung Munition und Treibstoff ausgerüstet. Das Gleiche gilt für alle Transport- und Kampfhubschrauber, die fliegen können. Wenn das geschehen ist, werden Ihre Einheiten sich in ihr Aufmarschgebiet begeben, um spezielle Wintermanöver abzuhalten.«
»So viele Truppen in Kampfbereitschaft zu versetzen ist teuer«, warf sein Stabschef leise ein. »Extrem teuer. Das Parlament wird Ihnen ernsthafte Fragen stellen. Dieses Jahr ist der Etat für die Verteidigung sehr knapp.«
»Zum Teufel mit dem Etat!«, blaffte Martschuk. Missmutig richtete er sich auf. »Und zum Teufel mit den Politikern in Kiew! Unsere Aufgabe ist es, das Vaterland zu schützen; nicht, uns über Geld den Kopf zu zerbrechen.« Plötzlich wurde sein Gesicht noch grauer und er schwankte abermals. Er zitterte sichtlich, offenbar durchfuhr ihn eine Welle des Schmerzes, dann sackte er langsam vornüber und blieb mit dem Gesicht nach unten auf dem Konferenztisch liegen. Ein Aschenbecher fiel scheppernd zu Boden und Asche und Zigarettenkippen verteilten sich auf dem zerschlissenen Teppich.
Die schockierten Offiziere sprangen auf und scharten sich um ihren gefallenen Kommandeur.
Poljakow drängte sich ohne Rücksicht auf die Rangordnung zu ihm durch. Der Major berührte Martschuk sanft an der Schulter und fühlte dann seine Stirn. Sofort riss er die Hand wieder fort. Mit schreckgeweiteten Augen flüsterte er: »Heilige Mutter Maria! Der General ist glühend heiß.«
»Legt ihn auf den Rücken«, schlug jemand vor. »Nehmt die Krawatte ab und macht den Kragen auf. Schafft Platz zum Atmen.«
Mit fliegenden Fingern gehorchten Poljakow und ein weiterer Adjutant, hastig knöpften sie Hemd- und Jackenknöpfe auf. Als sie Martschuks Hals und Teile seiner Brust entblößten, ging ein Raunen durch den überfüllten Raum. Seine Haut schien nahezu vollständig von offenen blutenden Wunden überzogen zu sein.
Poljakow schluckte krampfhaft, um den Brechreiz zu unterdrücken. Dann wandte er sich ab. »Holt einen Arzt!«, brüllte er, entsetzt über das, was er gesehen hatte. »Um Gottes willen, holt sofort einen Arzt!«
Stunden später hockte Major Dimitri Poljakow vornübergebeugt auf einer Bank im Flur direkt vor der Intensivstation des Kreiskrankenhauses. Übernächtigt und trübsinnig starrte er hinunter auf den rissigen Fliesenboden, ohne auf das gedämpfte, unverständliche Krächzen aus den Lautsprechern zu achten, mit dem ein ums andere Mal Ärzte und Schwestern auf die verschiedenen Stationen beordert wurden.
Ein auf Hochglanz poliertes Stiefelpaar drängte sich in Poljakows Blickfeld. Seufzend hob der Major den Kopf und erblickte einen mürrischen, schmalgesichtigen Offizier, der mit offensichtlicher Missbilligung auf ihn herabstarrte. Er wollte schon eine patzige Bemerkung machen, doch da bemerkte er die zwei goldenen Sterne des Generalleutnantrangs auf den weiß-rot bestickten Epauletten seines Gegenübers und sprang auf. Er nahm die Schultern zurück, reckte das Kinn und stand stramm.
»Sie müssen Poljakow sein, Martschuks Erster Adjutant«, schnauzte der andere. Das war keine Frage.
Der Major, immer noch in Habachtstellung, nickte steif. »Jawohl, Herr General.«
»Mein Name ist Timoschenko«, entgegnete der wesentlich kleinere Offizier kühl. »Generalleutnant Eduard Timoschenko. Ich bin von Kiew geschickt worden, um hier das Kommando zu übernehmen, auf Befehl des Verteidigungsministers und des Präsidenten selbst.«
Poljakow bemühte sich, seine Bestürzung zu verbergen. Timoschenko war im gesamten Heeresoffizierskorps als Blender bekannt, übrig geblieben, wie hunderte andere ebenso, aus der Zeit, bevor die Ukraine durch den Zerfall der Sowjetunion ihre Unabhängigkeit wiedererlangte. Sein Ruf als Feldkommandeur war jämmerlich. Jene, die unter seiner Führung hatten dienen müssen, beschrieben ihn voll Bitterkeit als einen Mann, dem mehr am schönen Schein gelegen war als an tatsächlicher Kampfbereitschaft. In letzter Zeit hatte er hauptsächlich auf verschiedenen Posten innerhalb des Verteidigungsministeriums gearbeitet, wo er seine Papiere geschäftig von einer Seite des Schreibtisches auf die andere schob, einzig darum bemüht, einflussreiche Politiker von seiner Unersetzlichkeit zu überzeugen.
»Wie steht es um General Martschuk?«, wollte Timoschenko wissen.
»Der General ist immer noch bewusstlos«, berichtete Poljakow zögernd. »Und nach Aussage der Ärzte verschlechtert sein Zustand sich dramatisch. Bislang hat er auf keine Behandlung angesprochen.«
»Verstehe.« Timoschenko rümpfte die Nase, wandte den Kopf und starrte verächtlich auf die traurige Umgebung. Dann sah er wieder den jungen Major an. »Und der Grund für diese unglückselige Krankheit? Kurz bevor ich Kiew verließ, hörte ich irgendeinen Unsinn über eine Strahlenvergiftung.«
»Den Grund kennt man noch nicht«, gestand Poljakow. »Das Krankenhaus lässt eine ganze Reihe von Tests laufen, doch die Ergebnisse sind wohl frühestens in ein paar Stunden, vielleicht sogar erst nach Tagen zu erwarten.«
Timoschenko zog eine seiner grauen Augenbrauen hoch. »In dem Fall, Major, möchte ich meinen, dass es keinen Sinn mehr hat, wie ein verlassenes Schoßhündchen im Flur zu hocken, oder? General Martschuk wird leben – oder sterben. Und ich bin ganz sicher, dass es keine Rolle spielt, ob Sie hier herumsitzen oder nicht.« Er lächelte dünn. »Es sieht so aus, als würde ich übergangsweise selbst einen Adjutanten brauchen, wenigstens bis ich einen fähigeren und verdienstvolleren jungen Offizier finden kann.«
Poljakow tat sein Möglichstes, diese Beleidigung zu ignorieren. Er nickte nur ausdruckslos und sagte: »Ja, ich werde mein Bestes tun.«
»Gut.« Timoschenko deutete mit dem Kopf zum Ausgang. »Mein Dienstwagen wartet draußen. Sie können mit mir ins Hauptquartier zurückfahren. Und wenn wir da sind, werden Sie eine vorläufige Bleibe für mich finden. Etwas Gemütliches, denke ich. Martschuks Sachen können Sie dann gleich morgen früh wegräumen.«
»Aber …«, wollte Poljakow einwenden.
Der mürrische General schaute zu ihm auf. »Ja?«, blaffte er. »Was gibt’s, Major?«
»Was ist mit den Russen? Und der Lage an der Grenze?«, fragte Poljakow, ohne sich darum zu bemühen, sein Erstaunen zu verbergen. »General Martschuk beabsichtigte, morgen bei Sonnenaufgang die Kampftruppen des Kommandos in ihre Manövergebiete zu schicken.«
Timoschenko runzelte die Stirn. »Ich weiß.« Er hob die schmalen Schultern. »Selbstverständlich habe ich diese Befehle gleich bei meiner Ankunft widerrufen.« Spöttisch schüttelte er den Kopf. »Große Manöver mitten im Winter? Mit all dem Verschleiß, den das für die teure Ausrüstung bedeutet? Und alles wegen einiger paranoider Gerüchte über die Russen? Schierer Wahnsinn. Ich weiß wirklich nicht, was Martschuk sich dabei gedacht hat. Das Fieber muss seine Urteilskraft beeinträchtigt haben. Die Treibstoffkosten allein wären untragbar!«
Damit machte der neue Kommandeur des Nördlichen Operationskommandos der ukrainischen Armee zackig auf dem Absatz kehrt und stolzierte davon, während Major Poljakow ihm mit wachsendem Unbehagen nachschaute.
Pentagon
Bei seinem nächtlichen Kontrollgang durch die stillen, labyrinthischen Korridore des Pentagon pfiff Corporal Matthew Dempsey vom Sicherheitsdienst des riesigen Gebäudes leise vor sich hin. Diese Schicht hatte er am liebsten. Das Pentagon war nie komplett menschenleer und unter manchen Bürotüren schimmerte immer noch Licht hervor, doch viel war von der täglichen Hektik in den Stunden um Mitternacht nicht mehr zu spüren.
Plötzlich begann der kleine Funkempfänger in seinem Ohr zu krächzen. »Dempsey, hier ist Milliken.«
Dempsey sprach in das Funkgerät, das er in der Hand hielt. »Ich höre, Sarge.«
»Die Zentrale meldet einen Notruf aus einem Büro innerhalb des JCS Support Directorate der DIA. Irgendwer da drin hat gerade die 911 gewählt und dann den Hörer nicht wieder aufgelegt. Die Telefonistin glaubt, dass sie jemanden atmen hören kann, aber sie bekommt keine Antwort. Ich möchte, dass du dort mal nachsiehst.«
Dempsey runzelte die Stirn. Die Büroräume, die im Pentagon von der Defense Intelligence Agency, dem Armeegeheimdienst, belegt wurden, zählten zu den hochsensiblen Bereichen – normalerweise war allen, die nicht mindestens die Freigabe für streng geheime Unterlagen hatten, der Zutritt strikt verboten. Er war zwar berechtigt, diese Beschränkungen wenn nötig zu übergehen, doch glich das einem Stich ins Wespennest. Selbst wenn es sich hier nur um einen falschen Alarm handelte, würde er die nächsten Stunden damit zubringen, Verschwiegenheitserklärungen auszufüllen und befragt zu werden.
Seufzend setzte er sich in Bewegung und trabte durch den Korridor. »Bin schon unterwegs.«
Vor den geschlossenen Zugangstüren zum Bürokomplex der DIA blieb Dempsey stehen. Das Lämpchen an der elektronischen Zugangskontrolle leuchtete knallrot. Jeder, der versuchte, hier mit Gewalt einzudringen, löste automatisch im gesamten riesigen Gebäude Alarm aus. Dempsey legte die Stirn in Falten, fischte den speziellen Polizeiausweis, der bei jeder Schicht neu ausgegeben wurde, aus der Uniformtasche und zog ihn durch das Lesegerät. Das Lämpchen schaltete auf Gelb, was bedeutete, dass ihm der Zugang gestattet worden war.
Nachdem er die Sicherheitstür passiert hatte, befand er sich in einem weiteren Korridor, der noch tiefer in das Gebäude hineinführte und von mehreren schalldichten Türen gesäumt war. Möglichst geräuschlos eilte der Polizist nun zu dem Büro, das sein Sergeant ihm als Quelle des abgebrochenen Notrufs genannt hatte, wobei er sich alle Mühe gab, in den Räumen, an denen er vorbeikam, nichts näher zu betrachten.
Auf dem farbigen Schild an der Tür, die er suchte, stand: ABTEILUNG FÜR AKTUELLE INFORMATION – RUSSLAND. Dempsey kannte die verschiedenen Geheimdiensteinrichtungen gut genug, um zu wissen, dass die Männer und Frauen, die hier arbeiteten, dafür verantwortlich waren, den Verteidigungsminister und die Stabschefs stets über alle wichtigen militärischen und politischen Entwicklungen auf dem Laufenden zu halten. Sie waren hervorragende Analytiker, damit betraut, die bruchstückhaften Informationen auszuwerten, die von Agenten vor Ort, Satellitenfotos, abgefangenen Funk-, Telefon- und Computerverbindungen stammten.
»Polizei!«, rief er laut, als er hineinging. »Ist da jemand? Hallo?«
Der Corporal sah sich aufmerksam um. In dem Büro herrschte ein buntes Durcheinander aus Schreibtischen, Stühlen, Aktenschränken und Computern. Die leise Stimme der Telefonistin, die immer noch versuchte, eine Antwort zu bekommen, führte ihn zu einem Schreibtisch in der hinteren Ecke des Raumes.
Dutzende von Aktenordnern und Satellitenfotoausdrucken lagen auf dem Schreibtisch und auf dem Teppich am Boden verstreut. Trotz all seiner Bemühungen konnte der Corporal es nicht vermeiden, einige Beschriftungen zu lesen:
4. GARDEPANZERDIVISION – GARNISON NARO-FOMINSK, ABGEFANGENE NACHRICHTEN – 45. SPEZNAS-BRIGADE, SCHIENENVERKEHRSANALYSE – MILITÄRDIS-TRIKT MOSKAU. Rote Warnaufkleber klassifizierten die Papiere ausnahmslos als mindestens TOP SECRET.
Dempsey verzog das Gesicht. Nun konnte er sich auf etwas gefasst machen.
Der Computer auf dem Schreibtisch summte leise vor sich hin. Ein Bildschirmschoner verhinderte die Sicht auf das Dokument, an dem sein Besitzer gearbeitet hatte, und der Corporal achtete sehr darauf, rund um das Gerät nichts zu berühren. Er schaute zu Boden.
Dort lag ein älterer Mann zusammengekrümmt neben einem umgefallenen Stuhl. Die Haut in seinem Gesicht und am Hals sah seltsam fleckig aus. Plötzlich stöhnte der Mann auf. Seine Augenlider öffneten sich zitternd, fielen aber gleich wieder zu, als er erneut das Bewusstsein verlor. Den Telefonhörer hielt er noch in der Hand. Das dichte graue Haar fiel ihm büschelweise aus und auf den grotesken kahlen Stellen kam ein leuchtend roter Ausschlag zum Vorschein.
Dempsey ging neben dem kranken Mann in die Knie und betrachtete ihn genauer. Dann tastete er nach dem Puls, das Pochen unter seinen Fingerspitzen war rasch und unregelmäßig. Fluchend griff Dempsey nach seinem Funkgerät. »Sergeant, hier ist Dempsey! Ich brauche einen Arzt, und zwar schnell!«
Die reich verzierten Zinnen und Türme des Kotelnitscheskaja-Apartmentgebäudes erhoben sich hoch über die Stadt; sie boten eine unvergleichliche Aussicht westwärts über die Moskwa auf die von goldenen Kuppeln und Zwiebeltürmen gekrönten roten Backsteinmauern des Kreml. Dutzende von Satellitenschüsseln sowie Radio- und Mikrowellenantennen ragten aus jeder einigermaßen freien Fläche an seiner kunstvollen Fassade. Der Kotelnitscheskaja-Komplex zählte zu Stalins klotzigen »Sieben Schwestern« – sieben kolossalen Hochhäusern, die in den 50er Jahren des vergangen Jahrhunderts in Moskau gebaut worden waren, um das zu beheben, was der zunehmend machtbesessene Diktator für einen im Vergleich mit den Vereinigten Staaten beschämenden »Hochhausmangel« hielt.
Einst als Heim für Funktionäre der Kommunistischen Partei und Bosse der Schwerindustrie gedacht, beherbergte das kolossale Hochhaus inzwischen hauptsächlich wohlhabende Ausländer und Mitglieder der neuen russischen Regierungs- und Wirtschaftseliten – Leute, die es sich leisten konnten, Luxusapartments zu mieten, die mehrere tausend amerikanische Dollar im Monat kosteten. Für die höchsten Stockwerke, jene direkt unterhalb der herausragenden Spitze in der Mitte, die von einem gigantischen, goldglänzenden Stern geziert wurde, verlangte man Preise, die nur die Reichsten und Mächtigsten aufbringen konnten. Und um noch mehr Geld zu scheffeln, waren mehrere Wohnungen ganz oben zu prestigeträchtigen Bürokomplexen umgebaut worden.
In einer dieser renovierten Penthouse-Büroetagen stand ein großer, kräftig gebauter Mann an einem Fenster. Sein hellblondes Haar wurde von Strähnen durchzogen, die denselben Farbton hatten wie seine schiefergrauen Augen. Mit gerunzelter Stirn blickte er über die dunkle Stadt. Die lange Winternacht hielt Moskau noch in ihrem eisigen Griff, doch der Himmel über ihm hellte sich bereits ein wenig auf.
Plötzlich klingelte ein abhörsicheres Telefon auf dem Schreibtisch neben ihm. Eine digitale Anzeige am Telefon erwachte zum Leben und identifizierte den Anrufer. Der Mann drehte sich um und nahm den Hörer ab. »Hier Moskau-Eins. Sprechen Sie.«
»Hier ist Prag-Eins«, sagte eine gedämpfte, nasale Stimme. »Petrenko ist tot.«
Der blonde Mann lächelte. »Gut. Und was ist mit dem Material, das er aus dem Krankenhaus gestohlen hat? Den Krankengeschichten und Proben?«
»Die sind weg«, meldete Prag-Eins düster. »Sie steckten in einer Aktentasche, die mit Petrenko in den Fluss gefallen ist.«
»Dann ist der Fall erledigt.«
»Nicht ganz«, entgegnete der Anrufer gedehnt. »Ehe wir ihn erwischen konnten, hat Petrenko sich mit einem anderen Arzt getroffen, einem Amerikaner, der auch auf der Konferenz war. Sie unterhielten sich gerade, als wir sie stellten.«
»Und?«
»Der Amerikaner ist unserem Hinterhalt entkommen«, gestand Prag-Eins zögernd. »Die tschechische Polizei hält ihn fest.«
Der blonde Mann kniff die Augen zusammen. »Wie viel weiß er?«
Der Mann mit dem Codenamen Prag-Eins schluckte schwer. »Das kann ich nicht sagen. Wir glauben, dass es Petrenko gelungen ist, ihm vor unserem Eingreifen etwas von den Todesfällen zu erzählen. Wir sind ebenfalls ziemlich sicher, dass er ihm die Krankenakten und Proben übergeben wollte.«
Moskau-Eins schloss die Hand fester um den Hörer. »Und wer ist dieser Amerikaner, der uns in die Quere kommt?«, schnauzte er.
»Sein Name ist Jonathan Smith«, antwortete Prag-Eins. »Nach den Konferenzunterlagen ist er Militärarzt – Lieutenant Colonel – und einem ihrer medizinischen Forschungsinstitute als Seuchenspezialist zugeteilt.«
Smith? Der blonde Mann legte die Stirn in Falten. Er hatte den flüchtigen Eindruck, diesen Namen schon einmal gehört zu haben. Nur wo? Irgendwie schien er im Hinterkopf eine Alarmglocke läuten zu lassen. Ungeduldig schüttelte der Mann den Kopf. Er hatte Dringenderes zu erledigen. »Was macht die tschechische Polizei?«
»Sie suchen den Fluss ab.«
»Nach der Tasche?«
»Nein«, erwiderte Prag-Eins. »Wir haben einen Informanten im Polizeihauptquartier. Augenblicklich suchen sie nur nach Petrenkos Leiche. Aus irgendeinem Grund verrät der Amerikaner nicht, was man ihm gesagt hat.«
Der blonde Mann starrte aus dem Fenster. »Werden sie eins von beidem finden?«
»Der Leichnam wird früher oder später wieder auftauchen«, meinte Prag-Eins. »Aber die Aktentasche findet bestimmt niemand mehr. Die Moldau ist breit und hat eine starke Strömung.«
»Ich hoffe sehr, dass Sie Recht haben – um Ihretwillen«, sagte der blonde Mann leise.
»Was sollen wir mit diesem Smith machen?«, fragte Prag-Eins nach einer kurzen unangenehmen Pause. »Er könnte zu einem ernsten Problem werden.«
Der blonde Mann runzelte abermals die Stirn. Das stimmte leider. Den tschechischen Behörden mochte der amerikanische Arzt noch nicht erzählt haben, was er in Erfahrung gebracht hatte, doch über kurz oder lang würde er den Geheimdiensten seines Landes von Petrenkos Tod und seinen Anschuldigungen berichten. In dem Fall würden die CIA und andere Institutionen neuen Meldungen über weitere mysteriöse Krankheitsfälle sicher viel zu viel Aufmerksamkeit widmen. Und das war etwas, was er und seine Auftraggeber nicht riskieren konnten. Jedenfalls noch nicht.
Der Mann mit dem Codenamen Moskau-Eins fällte seine Entscheidung mit einem Kopfnicken. Es musste sein. Offen gegen diesen Smith vorzugehen konnte gefährlich werden. Wenn er verschwand oder starb, stellte die Prager Polizei höchstwahrscheinlich weitere unangenehme Nachforschungen zum Mord an Petrenko an und leitete die Ergebnisse an Washington weiter. Doch Smith am Leben zu lassen war unter Umständen noch gefährlicher. »Eliminieren Sie den Amerikaner, wenn irgend möglich«, befahl er kalt. »Aber seien Sie vorsichtig – und lassen Sie diesmal keine Zeugen am Leben.«
Die Originalausgabe THE MOSCOW VECTOR erschien 2006 bei St. Martin’s Griffin, New York
Vollständige Deutsche Erstausgabe 09/2008
Copyright © 2006 by Myn Pyn LLC
Copyright © 2008 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Foto: © Richard Ross/The Image Bank/Getty Images; © Stock Image/B. Ancelot/Premium Gestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich
eISBN: 978-3-641-09378-5
www.heyne.de
www.randomhouse.de
Leseprobe