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Bourne is back!
In den Kinohits mit Matt Damon begeistern die Jason-Bourne-Thriller ein Millionenpublikum. Jetzt wird die erfolgreiche Serie fortgesetzt. Jason Bourne kommt nicht zur Ruhe. Sein Freund Martin Lindros wird in Afrika entführt, und Bourne setzt alles daran, um ihn freizubekommen. Doch ist Lindros wirklich der, der er vorgibt zu sein? Ein teuflisches Spiel beginnt.
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Seitenzahl: 808
Zum Gedenken an Adam Hall (Elleston Trevor), einen literarischen Mentor:
Die Rosen sind auch für dich.
Dank an
Ken Dorph, meinen ArabistenJeff Arbital
Und besonderen Dank an Victoriafür den Titel
Die CH-47D Chinook schraubte sich mit knatternden Rotoren in den blutroten Abendhimmel hinauf. Sie erzitterte in gefährlichen Scherwinden, lag schräg in der dünnen Luft. Wolkenfetzen, von der untergehenden Sonne von hinten angestrahlt, schienen wie Rauch von einem brennenden Hubschrauber wegzuströmen.
Martin Lindros starrte gespannt aus dem Militärhubschrauber, der ihn zu den höchsten Erhebungen der Simien-Gebirgskette hinauftrug. Obwohl er nicht mehr im Einsatz gewesen war, seit der Alte ihn vor vier Jahren zum Deputy Director, zum stellvertretenden Direktor des Geheimdienstes Central Intelligence, ernannt hatte, achtete er ständig darauf, in Form zu bleiben. Drei Mal in der Woche trainierte er morgens auf dem Hindernisparcours für CI-Agenten außerhalb von Quantico. Jeden Donnerstagabend um 22 Uhr verscheuchte er die langweilige Routine, elektronische Agentenmeldungen durchsehen und Einsatzbefehle unterschreiben zu müssen, indem er eineinhalb Stunden auf dem Schießstand verbrachte und sich wieder mit allen möglichen Waffen – alten, modernen und futuristischen – vertraut machte. Selbst für Action zu sorgen trug mit dazu bei, seine Frustration darüber zu mildern, dass er keine wichtigere Rolle spielte. Das alles änderte sich jedoch schlagartig, als der Alte seinen Plan für das Unternehmen Taifun genehmigte.
Ein klagendes Heulen und Pfeifen erfüllte das Innere der für CI-Einsätze umgebauten Chinook. Anders, der Kommandeur von Scorpion One, einer Gruppe von fünf Elite-Agenten, stieß ihn an, und er wandte sich ihm zu. Aufreißende Wolken gaben den Blick auf die windumtoste Nordflanke des Ras Dejen frei. Dieser Viereinhalbtausender, der höchste Gipfel der Simien-Kette, hatte etwas ausgesprochen Bedrohliches an sich. Aber das mochte daran liegen, dass Lindros sich an die Sagen der Einheimischen erinnerte: Erzählungen von Geistern, uralt und böse, die angeblich in seinen oberen Regionen hausten.
Das Heulen des Windes wurde zu einem Kreischen, als versuche der Berg, sich von seinen Wurzeln loszureißen.
Es war Zeit.
Lindros nickte, stand auf und ging nach vorn, wo der Pilot sicher auf seinem Sitz angeschnallt saß. Der stellvertretende Direktor war Ende dreißig, ein großer, aschblonder Absolvent der Brown University, den die CI schon angeworben hatte, als er noch an der Georgetown University in Politikwissenschaft promovierte. Er war blitzgescheit und ein so diensteifriger General, wie der Alte – der Director of Intelligence (DCI) – sich immer wünschte.
Jetzt beugte Lindros sich tief hinunter, damit der Pilot ihn trotz des Triebwerklärms verstehen konnte, und nannte ihm die Zielkoordinaten, die er aus Sicherheitsgründen bis zu diesem Augenblick geheim gehalten hatte.
Er war jetzt seit etwas über drei Wochen im Einsatz. In dieser Zeit hatte er zwei Männer verloren. Ein schrecklich hoher Preis, fand er. Annehmbare Verluste, würde der Alte sagen, und er selbst musste sich wieder daran gewöhnen, so zu denken, wenn er bei Außeneinsätzen erfolgreich sein wollte. Aber welchen Preis hatte ein Menschenleben? Das war eine Frage, über die Jason Bourne und er schon oft diskutiert hatten, ohne jemals eine akzeptable Antwort zu finden. Nach Lindros’ innerster Überzeugung gab es Fragen, für die keine akzeptablen Antworten existierten.
Waren jedoch Agenten im Einsatz, sah die Sache völlig anders aus. »Annehmbare Verluste« mussten hingenommen werden. Daran führte kein Weg vorbei. Deshalb war der Tod dieser beiden Männer annehmbar, weil sie im Rahmen seines Auftrags den Nachweis geführt hatten, dass die Meldung zutraf, irgendwo am Horn von Afrika sei einer Terrororganisation eine Kiste mit Löschfunkenstrecken in die Hände gefallen. LFS waren kleine, für höchste Stromstärken ausgelegte Schalter, mit denen Hochspannungen ein- und ausgeschaltet wurden: als Hightech-Überspannschutz für elektronische Bauteile wie Mikrowellenröhren und medizinische Diagnosegeräte. Sie dienten auch dazu, Atomsprengkörper zu zünden.
Von Kapstadt aus war Lindros einer Fährte gefolgt, die sich von Botsuana aus nach Sambia, durch Uganda und zuletzt nach Ambikwa geschlängelt hatte: einem kleinen Bauerndorf – nicht mehr als eine Handvoll Häuser, eine Kirche und eine Kneipe – zwischen Almwiesen am Fuß des Ras Dejen. Dort hatte er eine LFS an sich bringen können, die er sofort per Kurier dem Alten geschickt hatte.
Aber anschließend hatte sich etwas ereignet, etwas Außergewöhnliches, etwas Erschreckendes. In der heruntergekommenen Bar mit ihrem Boden aus Mist und getrocknetem Blut hatte er Gerüchte gehört, dass die Terrororganisation mehr als nur LFS aus Äthiopien verschiffe. Traf dies wirklich zu, konnte es nicht nur für Amerika, sondern für die ganze Welt schreckliche Folgen haben, weil die Terroristen die Mittel besäßen, um die Welt in einen Albtraum zu stürzen.
Sieben Minuten später setzte die Chinook im Auge eines von ihr erzeugten Sandsturms auf. Das kleine Hochplateau wirkte gänzlich verlassen. Nicht weit vor dem Hubschrauber stand eine alte Natursteinmauer – mit einem Zugang, so behaupteten hiesige Sagen, zu dem Schlupfwinkel furchterregender Dämonen, die dort hausten. Tatsächlich, das wusste Lindros, lag hinter der Lücke in der verfallenen Mauer der Einstieg zu der fast senkrechten Kletterroute durch die Steilwände, die den Ras Dejen nahezu unbezwingbar machten.
Lindros und die Männer von Scorpion One sprangen geduckt aus der Maschine. Der Pilot blieb in seinem Sitz und ließ die Triebwerke laufen, damit die riesigen Rotoren sich weiterdrehten. Die Männer trugen Schutzbrillen, die ihre Augen vor dem Staub und dem Hagel aus kleinen Steinen schützten, die der große Hubschrauber aufwirbelte, winzige Mikrofone für ihre Funkgeräte und Ohrstöpsel, die eine Kommunikation über den Triebwerks- und Rotorenlärm hinweg ermöglichten. Jeder war mit einem leichten Sturmgewehr XM8 mit der mörderisch hohen Schussfolge von 750 Schuss in der Minute bewaffnet.
Lindros führte die Gruppe über das felsig-raue Hochplateau. Gegenüber der Steinmauer ragte eine steile Felswand auf, in der sich der schwarze, gähnende Eingang einer Höhle abzeichnete. Alles andere war graubraun, ockergelb, stumpfrot – die wüste Landschaft eines anderen Planeten, der Weg zur Hölle.
Anders setzte seine Männer nach dem Standardschema ein, schickte sie erst los, damit sie mögliche Verstecke überprüften, und ließ sie anschließend einen Verteidigungsring bilden. Zwei von ihnen verschwanden durch die Lücke in der Steinmauer, um ihre Rückseite zu kontrollieren. Die beiden anderen bekamen die Höhle zugewiesen: Einer hielt neben dem Eingang Wache, der andere überzeugte sich davon, dass in ihrem Inneren niemand lauerte.
Der Fallwind von der Felsbarriere über ihnen pfiff über den kahlen Boden, drang durch ihre Kampfanzüge. Wo das Plateau nicht steil abfiel, ragte der Ras Dejen über ihnen auf: bedrohlich, muskulös, sein kahler Schädel wirkte in der dünnen Luft größer. Lindros blieb vor den Überresten eines Lagerfeuers stehen, konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit darauf.
Als guter Kommandeur registrierte Anders neben ihm, was seine Männer von der Peripherie berichteten. Hinter der Natursteinmauer lauerte niemand. Er hörte seinem zweiten Team aufmerksam zu.
»In der Höhle liegt ein Toter«, meldete der Kommandeur. »Mit einem Kopfschuss. Mausetot. Ansonsten ist das Gelände sauber.«
Lindros hörte Anders’ Stimme in seinem Ohr. »Wir fangen hiermit an«, sagte er mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Dem einzigen Lebenszeichen an diesem gottverlassenen Ort.«
Sie gingen in die Hocke. Anders stocherte mit einem behandschuhten Finger in der Holzkohle herum.
»Das ist eine flache Feuergrube.« Der Kommandeur scharrte Asche und unverbranntes Material heraus. »Sehen Sie? Der Boden ist von Feuer gehärtet. Das bedeutet, dass jemand hier nicht nur einmal, sondern in den letzten Monaten viele Feuer gemacht hat – vielleicht bis zu einem Jahr lang.«
Lindros nickte, wobei er einen Daumen hochreckte. »Sieht so aus, als hätten wir den richtigen Ort gefunden.« Angst und Sorge durchfluteten ihn. Es erschien immer wahrscheinlicher, dass das Gerücht, das er gehört hatte, zutraf. Eigentlich wider besseres Wissen hatte er gehofft, es würde sich letztlich doch nur als Gerücht erweisen – sie würden hier heraufkommen und nichts finden. Weil jedes andere Ergebnis undenkbar war.
Er hakte zwei Geräte von seinem Webkoppel los und führte sie über der Feuergrube hin und her. Eines war ein Detektor für Alphastrahlung, das andere ein Geigerzähler. Wonach er suchte, was er aber nicht zu finden hoffte, war eine Kombination aus Alpha- und Gammastrahlung.
An der Feuerstelle schlug keines der beiden Geräte aus.
Er ging langsam weiter. Indem er die Feuerstelle als Mittelpunkt nahm, bewegte er sich in konzentrischen Kreisen und ließ die Anzeigen keine Sekunde aus den Augen. Er war auf der dritten Runde, ungefähr hundert Meter von der Feuerstelle entfernt, als der Alphadetektor anschlug.
»Scheiße«, sagte er halblaut.
»Was gefunden?«, fragte Anders.
Lindros bewegte sich rechtwinklig weg, und der Alphadetektor verstummte. Der Geigerzähler zeigte weiter nichts an. Nun, das war immerhin etwas. Für eine schwache Alphastrahlung konnte es alle möglichen Quellen geben, vielleicht sogar den Berg selbst.
Er kehrte zu der Stelle zurück, wo der Alphadetektor angeschlagen hatte. Als er den Kopf hob, stellte er fest, dass er sich in gerader Linie zwischen Feuerstelle und Höhleneingang befand. Er bewegte sich langsam auf die Höhle zu. Die Anzeige des Alphadetektors blieb zunächst konstant, aber ungefähr zwanzig Meter vor dem Eingang schnellte sie plötzlich hoch.
Lindros blieb kurz stehen, um sich Schweißperlen von der Oberlippe zu wischen. Jesus, er wurde hier gezwungen, einen weiteren Nagel im Sarg der Welt zur Kenntnis zu nehmen. Trotzdem … Noch keine Gammastrahlung, sagte er sich selbst. Das war immerhin etwas. Diese Hoffnung hielt weitere zwölf Meter an. Dann begann der Geigerzähler zu ticken.
O Gott, Gammastrahlen in Verbindung mit Alphastrahlung. Genau die Signatur, die er nicht zu finden gehofft hatte. Er spürte, wie ihm ein dünner Schweißfaden das Rückgrat hinunterlief. Kalter Schweiß. Das hatte er seit dem Tag, an dem er im Einsatz erstmals hatte töten müssen, nicht mehr erlebt. Im Nahkampf, Verzweiflung und Entschlossenheit auf seinem Gesicht und auf dem des Mannes, der alles daransetzte, ihn zu töten. Selbsterhaltungstrieb.
»Licht.« Lindros musste sich dazu zwingen, seine tödliche Angst zu überwinden, um die Worte hervorstoßen zu können. »Ich muss diese Leiche sehen.«
Anders nickte und erteilte Brick, der als Erster in der Höhle gewesen war, einen kurzen Befehl. Brick schaltete seine Xenon-Stablampe ein. Die drei Männer betraten das Dunkel der Höhle.
Hier gab es weder trockenes Laub noch anderes organisches Material, das den scharfen Mineralgeruch abmilderte. Sie glaubten, das tote Gewicht des Felsmassivs über ihnen zu spüren. Es erinnerte Lindros an das Gefühl, fast ersticken zu müssen. Er hatte es beim ersten Betreten der Grabkammern der Pharaonen in den Pyramiden von Giseh empfunden.
Der helle Xenonstrahl glitt über die Felswände. In dieser düsteren Umgebung schien der Tote nicht gänzlich fehl am Platz zu sein. Schatten huschten über ihn hinweg, als Brick die Stablampe bewegte. Das Xenonlicht raubte ihm jegliche Farbe, die er vielleicht noch aufwies, und ließ ihn noch unmenschlicher erscheinen – ein Zombie aus einem Horrorfilm. Seiner entspannten, völlig friedlichen Haltung widersprach das saubere Einschussloch mitten in der Stirn. Sein Gesicht war abgewandt, als wünsche es im Dunklen zu bleiben.
»War kein Selbstmord, das steht fest«, sagte Anders, der damit den Ausgangspunkt von Lindros’ eigenen Überlegungen aufgriff. »Selbstmörder machen sich die Sache einfach – zum Beispiel durch einen Schuss in den Mund. Diesen Mann hat ein Profi umgelegt.«
»Aber warum?« Lindros’ Stimme klang besorgt.
Der Kommandeur zuckte mit den Schultern. »Bei diesen Leuten kommen tausend …«
»Zurück, verdammt noch mal!«
Lindros schrie so laut in sein Mikrofon, dass Brick, der um die Leiche hatte herumgehen wollen, einen Satz rückwärts machte.
»Sorry, Sir«, sagte Brick. »Ich wollte Ihnen nur etwas Merkwürdiges zeigen.«
»Zeigen Sie’s mir mit der Lampe«, wies Lindros ihn an. Aber er wusste bereits, was kommen würde. Sobald sie die Höhle betreten hatten, hatten der Alphadetektor und der Geigerzähler vor seinen Augen einen erschreckenden Höllentanz aufgeführt.
Jesus, dachte er. O Jesus.
Der Tote war unglaublich mager und schockierend jung, bestimmt noch ein Teenager. Hatte er die semitischen Gesichtszüge eines Arabers? Wohl eher nicht, aber das ließ sich kaum feststellen, weil …
»Heilige Muttergottes!«
Nun sah es auch Anders. Der Tote hatte keine Nase mehr. Die Mitte seines Gesichts war weggefressen. Das hässliche Loch war schwarz von gerinnendem Blut, das blasig schäumend austrat, als lebe der Körper noch. Als fresse ihn etwas von innen heraus auf.
Was genau zutrifft, dachte Lindros, der gegen Brechreiz ankämpfen musste.
»Was zum Teufel kann so etwas bewirken?«, fragte Anders heiser. »Gewebegift? Virus?«
Lindros wandte sich an Brick. »Haben Sie ihn angefasst? Ich will wissen, ob Sie ihn angefasst haben!«
»Nein, ich …« Brick war sichtlich eingeschüchtert. »Bin ich kontaminiert?« Er wartete die Antwort jedoch nicht ab. »Deputy Director, bitte um Entschuldigung, Sir, aber wo haben Sie uns hier reingeritten, verdammt noch mal? Wir sind’s gewöhnt, bei ›schwarzen‹ Einsätzen im Ungewissen gehalten zu werden, aber dies hat die Grenze des Zumutbaren überschritten.«
Neben dem Toten kniend schraubte Lindros einen kleinen Metallbehälter auf und schob mit dem behandschuhten Zeigefinger etwas Gesteinsstaub aus der Umgebung der Leiche hinein. Nachdem er den Behälter wieder fest verschlossen hatte, stand er auf.
»Wir müssen schleunigst fort von hier.« Er sah Anders direkt ins Gesicht.
»Deputy Director …«
»Keine Sorge, Brick. Ihnen ist nichts passiert«, sagte er nachdrücklich. »Kein Wort mehr darüber. Wir müssen weiter.«
Als sie den Höhlenausgang und die gleißend helle blutrote Felswüste erreichten, sagte Lindros in sein Mikrofon: »Anders, ab sofort dürfen Sie und Ihre Männer diese Höhle nicht mehr betreten! Nicht mal zum Pinkeln. Kapiert?«
Der Kommandeur zögerte einen Augenblick. Verärgerung und die Sorge um seine Männer standen ihm ins Gesicht geschrieben. Als ob er mental mit den Schultern zucke, sagte er knapp: »Ja, Sir.«
Lindros verbrachte zehn Minuten damit, das Plateau mit Strahlendetektor und Geigerzähler abzusuchen. Ihn interessierte vor allem, wie die Kontamination hierhergelangt war – auf welchem Weg waren die Männer, die sie transportierten, heraufgekommen? Wohin sie weitergezogen waren, ließ sich unmöglich feststellen. Die Tatsache, dass der Mann ohne Nase erschossen worden war, bewies ihm, dass die Mitglieder der Gruppe auf schrecklichste Weise entdeckt hatten, dass sie durch austretende Strahlung gefährdet waren. Bestimmt hatten sie das Leck abgedichtet, bevor sie weitergezogen waren. Aber jetzt hatte er kein Glück mehr. Im weiteren Umkreis der Höhle ließ sich keine Alpha- oder Gammastrahlung mehr feststellen. Nicht die geringsten radioaktiven Spuren, aus denen er den Aufstiegsweg hätte rekonstruieren können, waren noch messbar.
Schließlich kehrte er an der Peripherie um.
»Lassen Sie das Gelände räumen, Kommandeur.«
»Ihr habt gehört, was der Boss gesagt hat«, rief Anders, als er zu dem wartenden Hubschrauber trabte. »Aufsatteln, Jungs!«
»Wa’i«, sagte Fadi. Er weiß es.
»Bestimmt nicht.« Abbud ibn Aziz bewegte sich in seiner Position neben Fadi. Die beiden Männer, die hinter der Felsbarriere dreihundert Meter über dem Plateau kauerten, bildeten die Vorhut eines Kaders aus ungefähr zwanzig bewaffneten Männern, die etwas abgesetzt auf dem felsigen Boden hinter ihnen in Deckung lagen.
»Mit diesem Glas kann ich alles sehen. Es hat ein Leck gegeben.«
»Wieso ist uns das nicht gemeldet worden?«
Aziz bekam keine Antwort. Sie wäre überflüssig gewesen. Die Meldung war aus nackter Angst unterblieben. Hätte Fadi davon erfahren, hätte er sie alle umgebracht – jeden Einzelnen der äthiopischen Träger. Das gehörte zu seinem System absoluter Einschüchterung.
Fadi schwenkte sein starkes russisches 12 × 50-Militärfernglas etwas nach rechts, um Martin Lindros nicht aus den Augen zu verlieren. Das 12 × 50 hatte ein fast schwindelerregendes kleines Blickfeld, aber dieser Nachteil wurde durch hohe Auflösung und Bildschärfe mehr als wettgemacht. Er hatte beobachtet, wie der Anführer der Gruppe – der Deputy Director der CI – einen Strahlendetektor und einen Geigerzähler benutzte. Dieser Amerikaner verstand seine Sache.
Fadi, eine große, breitschultrige Erscheinung, hatte ein charismatisches Auftreten. Wenn er sprach, schwieg jeder in seiner Umgebung. Den Teint seines gut aussehenden, energischen Gesichtes hatten Wüstensonne und Bergwind noch dunkler gemacht. Sein Kopf- und Barthaar war lang und gelockt, pechschwarz wie eine sternenlose Mitternacht. Lächelte er mit seinen vollen Lippen, schien die Sonne von ihrem Platz am Himmel herabzukommen und auf seine Jünger herabzuscheinen. Denn Fadis erklärtes Ziel war messianischer Art: Hoffnung zu bringen, wo es keine Hoffnung mehr gab, die Hundertschaften abzuschlachten, aus denen das saudi-arabische Herrscherhaus bestand, ihre Abscheulichkeit vom Antlitz der Erde zu tilgen, sein Volk zu befreien, den unanständigen Reichtum der Despoten gerecht zu verteilen und in seinem geliebten Arabien wieder die rechtmäßige Ordnung herzustellen. Als Erstes, darüber war er sich im Klaren, musste er die symbiotische Beziehung zwischen der Herrscherfamilie und den Vereinigten Staaten zerschlagen. Dafür musste er einen Schlag gegen Amerika führen und das Land mit einer klaren Aussage treffen, die ebenso nachhaltig wie unauslöschlich war.
Auf keinen Fall durfte er jedoch die Fähigkeit von Amerikanern, Schmerzen zu ertragen, unterschätzen. Das war ein Fehler, den seine extremistischen Genossen häufig machten; das brachte sie oft in Schwierigkeiten bei den eigenen Leuten und war mehr als alles andere die Ursache eines Lebens ohne Hoffnung.
Fadi war kein Utopist. Er hatte die Weltgeschichte studiert. Noch besser – er hatte aus ihr gelernt.
Als Nikita Chruschtschow den Amerikanern gedroht hatte: »Wir werden euch begraben!«, hatte er aus dem Herzen, aber auch aus der Seele gesprochen. Aber wer war letztlich begraben worden? Die UdSSR.
Seine extremistischen Genossen sagten: »Wir haben viele Leben, um Amerika zu begraben« und meinten den endlosen Strom junger Männer, die jedes Jahr volljährig wurden und aus deren Reihen sie Märtyrer auswählen konnten, die im Kampf fallen würden. Aber sie verschwendeten niemals einen Gedanken auf den Tod dieser jungen Männer. Wozu denn auch? Schließlich erwartete das Paradies die Märtyrer mit offenen Armen. Aber was war in Wirklichkeit gewonnen worden? Führte Amerika ein Leben ohne Hoffnung? Nein. Hatten die Anschläge Amerika in Richtung auf ein Leben ohne Hoffnung gedrängt? Wieder nein. Wo lag also die Antwort?
Fadi glaubte mit ganzem Herzen und ganzer Seele – und vor allem mit seinem außerordentlichen Intellekt –, sie gefunden zu haben.
Als er den Deputy Director weiter durch sein 12 × 50-Glas beobachtete, merkte er, dass es dem Mann widerstrebte, das Plateau zu verlassen. Er selbst kam sich wie ein Raubvogel vor, der auf sein Ziel hinabblickte.
Die arroganten CI-Agenten waren wieder in ihren Hubschrauber geklettert, aber ihr Kommandeur – Fadis Informationen hielten seinen Namen nicht bereit – ließ nicht zu, dass ihr Anführer schutzlos allein auf dem Plateau zurückblieb. Ein cleverer Bursche. Vielleicht witterte seine Nase etwas, das seine Augen nicht sahen; vielleicht hielt er sich auch nur an ein erprobtes und lange bewährtes Verfahren. Jedenfalls erkannte Fadi, als die beiden Männer dort unten standen und miteinander sprachen, dass er nie eine bessere Chance bekommen würde.
»Los!«, befahl er Abbud ibn Aziz halblaut, ohne das Fernglas von den Augen zu nehmen.
Neben ihm griff Abbud ibn Aziz nach dem Raketenwerfer RPG-7 aus sowjetischer Produktion, der von der Schulter abzufeuern war. Der untersetzte Mann mit breitem Mondgesicht schielte seit seiner Geburt mit dem linken Auge. Rasch und sicher steckte er die Rakete mit noch zusammengefaltetem Leitwerk in das Abschussrohr. Dieses Leitwerk stabilisierte die Rakete im Flug und stellte sicher, dass sie ihr Ziel sehr präzise traf. Sobald er den Abzug betätigte, stieß das Primärsystem die Rakete mit 115 Metern in der Sekunde aus. Dieser gewaltige Vortrieb zündete wiederum das Raketentriebwerk noch im Abschussrohr und beschleunigte den Sprengkopf auf 295 Meter in der Sekunde.
Jetzt sah Abbud ibn Aziz mit dem rechten Auge durch das unmittelbar hinter dem Abzug angebrachte optische Visier. Er suchte die Chinook, fand sie und dachte kurz, es sei doch schade, diese prachtvolle Kriegsmaschine zu vernichten. Aber für ihn konnte es kein solches Objekt der Begierde geben. Außerdem hatte Fadis Bruder alles exakt geplant – bis hin zu den vermeintlichen »Beweisen«, die den stellvertretenden CI-Direktor aus seinem Büro, auf komplizierter Route in den Nordwesten Äthiopiens und zuletzt hierher auf den Ras Dejen gelockt hatten.
Abbud ibn Aziz rückte den RPG-7 so zurecht, dass er auf das Getriebe des vorderen Rotors zielte. Er war jetzt eins mit seiner Waffe, eins mit dem Auftrag seines Kaders. Er spürte, wie der unbedingte Siegeswillen seiner Kameraden ihn wie eine Woge durchflutete, die nun bald gegen die feindliche Küste anbranden würde.
»Denk daran«, sagte Fadi.
Aber Abbud ibn Aziz, ein erstklassiger Schütze, den Fadis hochintelligenter Bruder an modernsten Waffensystemen ausgebildet hatte, brauchte keine Erinnerung. Der einzige Nachteil des RPG-7 war, dass die abgeschossene Rakete eine verräterische Rauchspur hinter sich herzog. Der Feind würde sofort wissen, wo sie in Stellung lagen. Aber auch das war berücksichtigt worden.
Er spürte, dass Fadis Zeigefinger ihm auf die Schulter tippte, um ihm zu signalisieren, ihr Ziel sei in Position. Er krümmte seinen Finger am Abzug, holte tief Luft, atmete langsam aus.
Dann kam der Abschuss mit einem Wirbelsturm aus überhitzter Luft. Danach der Lichtblitz und das schmetternde Krachen der eigentlichen Detonation, die aufsteigende dunkle Rauchsäule, die verdreht aus den Flammen ragenden Rotorblätter. Donnernde Echos, die Abbud ibn Aziz’ leichte Benommenheit verstärkten, brachen sich noch an den Felswänden, als Fadis Leute wie ein Mann aufsprangen und zu einer Stelle der Felsbarriere stürmten, die hundert Meter vom Ausgangspunkt der verräterischen Rauchspur entfernt war. Gleichzeitig brachten Fadi und Abbud ibn Aziz sich eilig in Sicherheit. Wie dem Kader eingebläut worden war, begann er mit massivem Dauerfeuer – dem solchermaßen ausgedrückten Zorn der Gläubigen.
Al-Hamdu lil-Allah! Allah sei gepriesen! Der Angriff hatte begonnen.
Eben hatte Lindros Anders noch erklärt, wozu er weitere zwei Minuten bleiben wollte, doch im nächsten Augenblick hatte er das Gefühl, sein Kopf sei von einer Dampframme zerquetscht worden. Er brauchte einige Sekunden, um zu erkennen, dass er flach auf dem Rücken lag und den Mund voller Gesteinsstaub hatte. Er hob den Kopf. Brennende Trümmer schleuderten wie verrückt durch die von Rauch erfüllte Luft, aber er hörte kein Geräusch, nahm nichts als einen merkwürdigen Druck auf die Trommelfelle wahr: ein schwaches innerliches Brausen, als wehe in seinem Kopf eine Brise. Blut lief ihm übers Gesicht, heiß wie Tränen. Der beißende, erstickende Gestank von brennendem Kunststoff und Gummi stieg ihm in die Nase, aber darunter mischte sich noch etwas anderes: der starke Geruch von verbranntem Fleisch.
Erst als er sich zur Seite wälzen wollte, entdeckte er, dass Anders halb auf ihm lag. Bei dem Versuch, ihn zu schützen, hatte der Kommandeur die größte Wucht der Detonation abgefangen. Sein Gesicht und die nackte Schulter, wo seine Kampfjacke weggebrannt war, waren verkohlt und rauchten. Sein Haar war völlig abgesengt, sodass sein Kopf einem Totenschädel glich. Lindros würgte, dann stieß er die Leiche mit einem krampfhaften Schauder von sich weg. Als er sich kniend aufrichtete, musste er nochmals würgen.
Schließlich drang eine Art Zirpen an sein Ohr, seltsam gedämpft, als käme es aus großer Ferne. Er drehte sich um und sah die Männer von Scorpion One aus dem Hubschrauberwrack springen und dabei mit ihren Sturmgewehren schießen.
Einer von ihnen brach im vernichtenden Feuerhagel eines Maschinengewehrs zusammen. Lindros’ Reaktion erfolgte ganz instinktiv: Er robbte zu dem Gefallenen hinüber, schnappte sich sein XM8 und begann zu schießen.
Die kampferprobten Männer von Scorpion One waren tapfer und gut ausgebildet. Sie wussten, wann es sich zu schießen lohnte, wann man besser in Deckung blieb. Aber das nun einsetzende Kreuzfeuer traf sie völlig unvorbereitet, so sehr konzentrierten sie sich auf den Gegner vor ihnen. Einer nach dem anderen wurde getroffen, die meisten sogar mehrfach.
Lindros kämpfte weiter, obwohl er der letzte Mann war, der noch stehen konnte. Seltsamerweise schoss niemand auf ihn; keine Kugel kam auch nur in seine Nähe. Eben wunderte er sich noch darüber, als sein XM8 keine Munition mehr hatte. Er stand mit dem rauchenden Sturmgewehr in der Hand da und beobachtete, wie der Feind von der Felsbarriere über ihm herunterkam.
Sie waren stumm, abgezehrt wie der entstellte Tote in der Höhle, mit dem leeren Blick von Männern, die zu viel Blutvergießen gesehen haben. Zwei lösten sich aus der Horde und schlüpften in den rauchenden Kadaver der Chinook.
Lindros zuckte zusammen, als er Schüsse fallen hörte. Einer der Angreifer taumelte rückwärts aus der offenen Tür des Hubschrauberwracks, aber im nächsten Augenblick zerrte der zweite Mann den blutenden Piloten am Kragen seiner Fliegerkombi heraus.
War er tot oder nur bewusstlos? Lindros brannte darauf, es zu erfahren, aber die anderen Kämpfer hielten ihn eng umringt. Auf ihren Gesichtern erkannte er das eigentümliche Leuchten von Fanatikern – eine kränklich gelbe Flamme, die nur durch ihren eigenen Tod gelöscht werden konnte.
Er ließ sein nutzloses Gewehr fallen, und sie ergriffen ihn, drehten ihm die Arme grob auf den Rücken. Männer sammelten die ringsum verstreuten Gefallenen auf und warfen sie in die Chinook. In ihrem Kielwasser tauchten zwei weitere Kämpfer mit Flammenwerfern auf. Mit entnervender Präzision machten sie sich daran, den Hubschrauber und die Gefallenen und Verwundeten in seinem Inneren in Brand zu setzen.
Lindros, groggy und aus mehreren oberflächlichen Schnittwunden blutend, beobachtete ihr exakt koordiniertes Vorgehen. Er war überrascht und zugleich beeindruckt. Und ihre methodische Art machte ihm Angst. Wer diesen raffinierten Hinterhalt geplant, wer diesen Kader ausgebildet hatte, war kein gewöhnlicher Terrorist.
Hinter seinem Rücken zog er den Siegelring ab, den er am linken Ringfinger trug, ließ ihn ins Geröll fallen und machte unauffällig einen halben Schritt, um ihn mit dem Schuh zu bedecken. Wer auch immer auf der Suche nach ihm hierherkam, musste erfahren, dass er hier gewesen und nicht wie die anderen erschossen worden war.
Im nächsten Augenblick teilte sich der Kreis seiner Bewacher, und er sah einen großen, kräftig gebauten Araber mit kühnen, von der Wüste fein gemeißelten Gesichtszügen und großen, durchdringenden Augen auf sich zukommen. Anders als die Terroristen, die Lindros bisher wahrgenommen hatte, trug dieser das Kennzeichen der Zivilisation auf der Stirn: Die Erste Welt hatte ihn berührt; er hatte aus ihrem technologischen Kelch getrunken.
Als sie sich gegenüberstanden, starrte Lindros trotzig in die dunklen Augen des Arabers.
»Guten Tag, Mr. Lindros«, sagte der Terroristenführer auf Arabisch.
Lindros starrte ihn weiter an, ohne zu blinzeln.
»Schweigsamer Amerikaner, wo sind Ihre großen Töne geblieben?« Lächelnd fügte er hinzu: »Sparen Sie sich die Mühe, sich zu verstellen. Ich weiß, dass Sie Arabisch sprechen.« Er nahm Lindros den Strahlendetektor und den Geigerzähler ab. »Ich muss annehmen, dass Sie gefunden haben, was Sie gesucht haben.« Er tastete Lindros ab, zog ihm den kleinen Metallbehälter aus der Tasche. »Ah, ja.« Er schraubte den Behälter auf und kippte seinen Inhalt zwischen Lindros’ Stiefel. »Pech für Sie, dass das wahre Beweismaterial längst nicht mehr hier ist. Was würden Sie wohl dafür geben, seinen Bestimmungsort zu erfahren.« Sein letzter Satz war keine Frage, sondern eine spöttische Feststellung.
»Sie besitzen erstklassige Informationen«, sagte Lindros in akzentfreiem Arabisch, das fast alle Angehörigen des Kaders sichtlich verblüffte. Nur zwei Männer wirkten keineswegs überrascht: der Anführer selbst und ein untersetzter Mann, den Lindros für seinen Stellvertreter hielt.
Der Anführer lächelte erneut. »Dieses Kompliment kann ich durchaus erwidern.«
Schweigen.
Ohne Vorwarnung schlug der Anführer Lindros so kräftig ins Gesicht, dass ihm die Zähne klapperten. »Ich heiße Fadi, der Erlöser, Martin. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Martin nenne? Das dürfte angebracht sein, nachdem wir die kommenden Wochen in sehr enger Gemeinschaft verbringen werden.«
»Ich habe nicht vor, Ihnen irgendwas zu erzählen«, sagte Lindros, der plötzlich wieder Englisch sprach.
»Was Sie vorhaben und was Sie tun werden, sind zwei ganz verschiedene Dinge«, sagte Fadi in ebenso präzisem Englisch. Er nickte kurz. Lindros musste einen Aufschrei unterdrücken, als unsichtbare Hände ihm die Arme so kräftig auf den Rücken drehten, dass sie fast ausgerenkt wurden.
»Sie wollen in dieser Runde offenbar passen.« Fadi schien ehrlich enttäuscht zu sein. »Wie arrogant von Ihnen, wie wahrhaft töricht. Andererseits sind Sie vor allem Amerikaner. Ihr Amerikaner seid vor allem arrogant – stimmt’s, Martin? Und wahrhaft töricht.«
Wieder stieg der Gedanke in ihm auf, dies sei kein gewöhnlicher Terrorist: Fadi kannte seinen Namen. Lindros bemühte sich, trotz der brennenden Schmerzen, die immer stärker durch seine Arme hinauf schossen, weiter ein ausdrucksloses Gesicht zu machen.
Wieso trug er nicht wie Agenten in Spionagethrillern eine als Zahn getarnte Zyankalikapsel im Mund? Früher oder später würde er sich wahrscheinlich wünschen, er hätte eine. Trotzdem wollte er so lange wie irgend möglich den Unerschütterlichen spielen.
»Ja, verstecken Sie sich nur hinter Ihren Klischees«, sagte er. »Sie werfen uns vor, wir verstünden euch nicht, aber in Wirklichkeit verstehen Sie uns noch weniger. Sie kennen mich überhaupt nicht.«
»Ah, in diesem Punkt haben Sie wie meistens unrecht, Martin. Tatsächlich kenne ich Sie sehr gut. Ich habe Sie seit längerer Zeit zu meinem – wie sagen Ihre amerikanischen Studenten? – ah, ja, ich habe Sie zu meinem Hauptfach gemacht. Anthropologie oder Realpolitik?« Er zuckte mit den Schultern, als seien sie Kommilitonen, die miteinander tranken. »Letztlich eine semantische Frage.«
Sein Lächeln wurde breiter, als er Lindros auf beide Wangen küsste. »Jetzt beginnt also die zweite Runde.« Als er zurücktrat, waren seine Lippen blutig.
»Sie haben drei Wochen lang nach mir gefahndet; stattdessen habe ich Sie gefunden.«
Er wischte sich Lindros’ Blut nicht von den Lippen. Stattdessen leckte er es ab.
»Wann hat diese spezifische Erinnerung eingesetzt, Mr. Bourne?«, fragte Dr. Sunderland.
Jason Bourne, der nicht still sitzen konnte, ging in dem behaglichen, fast gemütlichen Raum auf und ab, der eher an ein häusliches Arbeitszimmer als an das Sprechzimmer eines Arztes erinnerte. Cremeweiße Decke, Wandtäfelung aus Mahagoni, ein antiker Schreibtisch aus dunklem Holz mit Klauenfüßen, zwei Sessel, ein kleines Sofa.
Die Wand hinter Dr. Sunderland war mit seinen vielen Diplomen und einer eindrucksvollen Reihe internationaler Auszeichnungen für bahnbrechende neue Behandlungsmethoden in Psychologie und Psychopharmakologie bedeckt, die sein Spezialgebiet Gedächtnisforschung betrafen.
Bourne studierte sie genau, dann betrachtete er das Foto, das in einem Silberrahmen auf dem Schreibtisch des Arztes stand.
»Wie heißt sie?«, fragte Bourne. »Ihre Frau.«
»Katja«, sagte Dr. Sunderland nach kurzem Zögern.
Psychiater vermieden es stets, persönliche Informationen über sich und ihre Angehörigen preiszugeben. Aber in diesem Fall, dachte Bourne …
Katja trug einen Skianzug. Auf dem Kopf hatte sie eine fröhlich gestreifte Pudelmütze. Sie war blond und bildschön. Irgendetwas an ihr suggerierte, dass sie keine Kamerascheu kannte. Sie lächelte in die Kamera, hatte dabei die Sonne in den Augen. Die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln ließen sie besonders verwundbar erscheinen.
Bourne fühlte Tränen kommen. Früher hätte er gesagt, dies seien David Webbs Tränen. Aber die beiden im Streit liegenden Persönlichkeiten – David Webb und Jason Bourne, die Tag- und Nachtseite seiner Seele – hatten sich zuletzt vereinigt. Während es einerseits stimmte, dass David Webb, ehemals Linguistikprofessor an der Georgetown University, immer tiefer in die Schatten zurücksank, war es ebenso wahr, dass Webb die schlimmsten paranoiden und antisozialen Kanten Bournes abgeschliffen hatte. Bourne konnte so wenig in Webbs normaler Welt leben, wie Webb in Bournes tückisch brutaler Schattenwelt nicht hätte überleben können.
Dr. Sunderlands Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Bitte nehmen Sie Platz, Mr. Bourne.«
Bourne setzte sich. Das gerahmte Foto loszulassen bedeutete eine gewisse Erleichterung.
Auf Dr. Sunderlands Gesicht stand von Herzen kommendes Mitgefühl. »Nein, nicht damals«, sagte Jason Bourne rasch. Aber das war gelogen. Die bruchstückhaften Erinnerungen waren in der Nacht aufgetaucht, nachdem er Marie gesehen hatte. Sie hatten ihn aus dem Schlaf hochschrecken lassen: Albträume, die sogar im hellen Schein der Lampen, die er eingeschaltet hatte, noch manifest waren.
Blut. Blut an seinen Händen, Blut an seiner Brust. Blut auf dem Gesicht der Frau, die er trägt. Marie! Nein, nicht Marie! Eine andere Frau, ihr biegsam schlanker Hals blass unter Strömen von Blut. Ihr Leben strömt aus ihrem Körper, färbt seine Kleidung blutrot, tropft aufs Straßenpflaster, über das er in einer kalten Nacht keuchend rennt. Wo ist er? Weshalb rennt er? Großer Gott, wer ist sie?
Er war hochgeschreckt, hatte sich angezogen, obwohl es mitten in der Nacht war, war aus dem Haus geschlüpft und war in vollem Tempo durch die kanadische Wildnis gerannt, bis er Seitenstechen bekommen hatte. Der knochenweiße Mondschein hatte ihn verfolgt wie die blutigen Bruchstücke alter Erinnerungen. Er hatte beide nicht abschütteln können.
Jetzt belog er diesen Arzt. Nun, weshalb auch nicht? Er traute ihm nicht, obwohl Martin Lindros – der stellvertretende CI-Direktor (DDCI) und Bournes Freund – ihm Sunderland mit Hinweis auf dessen eindrucksvolle Referenzen empfohlen hatte. Lindros hatte den Namen auf einer Liste gefunden, die das Büro des DCI zur Verfügung gestellt hatte. Nach der Quelle brauchte Bourne seinen Freund nicht zu fragen: Anne Helds Paraphe unten auf jeder Seite bestätigte seine Vermutung. Anne Held war die Assistentin des Alten, seine strenge rechte Hand.
»Mr. Bourne?«, spornte der Psychiater ihn an.
Nicht, dass das notwendig gewesen wäre. Er sah Maries Gesicht, blass und leblos, und spürte Lindros’ Gegenwart neben sich, während er sich anstrengte, das dialektgefärbte Englisch des frankokanadischen Coroners zu verstehen. »Die Viruslungenentzündung war schon so weit fortgeschritten, dass ihr niemand mehr helfen konnte. Sie können sich mit dem Bewusstsein trösten, dass sie nicht leiden musste. Sie ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.« Der Coroner hatte von der Toten zu ihrem tief bekümmerten Ehemann und seinem Freund hinübergesehen. »Wäre sie von diesem Skiausflug nur früher zurückgekommen …«
Bourne hatte sich auf die Unterlippe gebissen. »Sie war mit unseren Kindern unterwegs. Jamie hatte sich bei der letzten Abfahrt den Knöchel verdreht. Alison war völlig verängstigt.«
»Sie hat keinen Arzt aufgesucht? Und wenn der Knöchel nun verstaucht oder gebrochen gewesen wäre?«
»Das verstehen Sie nicht. Meine Frau … ihre ganze Familie sind Leute, die sich viel im Freien aufhalten, Rancher, abgehärtete Naturliebhaber. Marie hat von frühester Jugend an gelernt, sich in der Wildnis zurechtzufinden. Sie hatte keine Angst vor ihr.«
»Manchmal«, hatte der Coroner gesagt, »hat ein bisschen Angst auch ihr Gutes.«
»Sie haben kein Recht, sie zu verurteilen!«, hatte Bourne kummervoll und zornig ausgerufen.
»Sie verbringen zu viel Zeit mit Toten«, hatte Lindros den Coroner getadelt. »Sie müssen an Ihren Fähigkeiten im Umgang mit Leuten arbeiten.«
»Entschuldigung.«
Bourne hatte tief durchgeatmet und sich an Lindros gewandt: »Sie hat mit mir telefoniert; sie dachte, sie hätte nur eine Erkältung.«
»Eine auf der Hand liegende Vermutung«, hatte sein Freund gesagt. »Jedenfalls hat sie nur an ihren Sohn, an ihre Tochter gedacht.«
»Wann haben diese bruchstückhaften Erinnerungen also angefangen, Mr. Bourne?«
Dr. Sunderland sprach mit leicht osteuropäischem – rumänischem? – Akzent. Mit seiner breiten, hohen Stirn, der markanten Nase und dem energischen Kinn war er ein Mann, zu dem man leicht Vertrauen haben, dem man sich leicht anvertrauen konnte. Er trug eine Nickelbrille und hatte sein Haar auf seltsam altmodische Weise mit Brillantine zurückgekämmt. Für ihn gab es keinen PDA, keine hastig geschriebenen SMS-Nachrichten.
Vor allem versuchte er nicht, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Zu seinem Dreiteiler aus schwerem Harris-Tweed trug er eine rote Fliege mit weißen Punkten.
»Kommen Sie, kommen Sie.« Dr. Sunderland hielt seinen großen Kopf schief, was ihm das Aussehen einer Eule verlieh. »Sie müssen entschuldigen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Sie – wie soll ich’s sagen? – die Wahrheit vor mir verbergen.«
Bourne war sofort alarmiert. »Verbergen … ?«
Dr. Sunderland zog eine exquisit gearbeitete Geldbörse aus Krokodilleder heraus, entnahm ihr einen Hundertdollarschein und hielt ihn hoch. »Ich wette, dass die Erinnerungen kurz nach der Beisetzung Ihrer Frau eingesetzt haben. Die Wette gilt allerdings nicht, wenn Sie’s vorziehen, nicht die Wahrheit zu sagen.«
»Was sind Sie – ein menschlicher Lügendetektor?«
Dr. Sunderland zog es klugerweise vor, darauf nicht zu antworten.
»Stecken Sie Ihr Geld weg«, sagte Bourne schließlich. Er seufzte. »Sie haben natürlich recht. Die bruchstückhaften Erinnerungen haben an dem Tag angefangen, an dem ich Marie zum letzten Mal gesehen habe.«
»Welche Form haben sie angenommen?«
Bourne zögerte. »Ich habe auf sie hinabgesehen – als sie aufgebahrt war. Ihr Vater und ihre Schwester hatten sie bereits identifiziert und von einem Bestattungsunternehmen holen lassen. Ich habe auf sie hinuntergeblickt … und sie gar nicht gesehen …«
»Was haben Sie denn gesehen, Mr. Bourne?« Dr. Sunderlands Stimme klang sanft, unbeteiligt.
»Blut. Ich habe Blut gesehen.«
»Und?«
»Na ja, es gab kein Blut. Nicht in der Realität. Das war eine Erinnerung, die plötzlich aufgetaucht ist – ohne Vorwarnung, ohne …«
»So passiert’s immer, nicht wahr?«
Bourne nickte. »Das Blut … Es war frisch, glänzend, im Licht der Straßenlampen bläulich. Das Blut bedeckte dieses Gesicht …«
»Wessen Gesicht?«
»Das weiß ich nicht … Eine Frau … aber es war nicht Marie. Es war … jemand anders.«
»Können Sie diese Frau beschreiben?«, fragte Dr. Sunderland.
»Das ist’s eben. Ich kann sie nicht beschreiben. Ich weiß nicht, weshalb nicht … Und trotzdem kenne ich sie. Ich weiß, dass ich sie kenne.«
Nun entstand eine Pause, in die Dr. Sunderland scheinbar zusammenhanglos eine weitere Frage einwarf. »Sagen Sie mir, Mr. Bourne, welches Datum haben wir heute?«
»Ein Gedächtnisproblem habe ich nicht.«
Dr. Sunderland nickte gelassen. »Tun Sie mir den kleinen Gefallen.«
»Donnerstag, dritter Februar.«
»Vier Monate seit der Beerdigung, seit Erinnerungen Ihnen zusetzen. Warum haben Sie so lange gewartet, bis Sie ärztliche Hilfe aufgesucht haben?«
Erneut entstand eine Pause, diesmal etwas länger. »Vergangene Woche ist etwas passiert«, sagte Bourne schließlich. »Ich habe … ich habe einen alten Freund gesehen.« Alex Conklin, der in der Old Town von Alexandria, in der er mit Jamie und Alison zu ihrem voraussichtlich für längere Zeit letzten Ausflug unterwegs war, eine Straße entlangging. Sie kamen gerade aus einem Baskin-Robbins, die Kinder mit riesigen Eiswaffeln in den Händen, und da stand Conklin in Lebensgröße vor ihnen. Alex Conklin, sein Mentor, der Erfinder seiner Identität als Jason Bourne. Wo er heutzutage ohne Conklin wäre, konnte er sich unmöglich vorstellen.
Dr. Sunderland legte den Kopf leicht schief. »Das verstehe ich nicht.«
»Dieser Freund ist vor drei Jahren gestorben.«
»Und Sie haben ihn trotzdem gesehen.«
Bourne nickte. »Ich habe seinen Namen gerufen, und als er sich umgedreht hat, hat er etwas in den Armen gehalten – eigentlich jemanden. Eine blutende Frau.«
»Ihre blutende Frau.«
»Ja. In diesem Augenblick dachte ich, ich sei kurz davor, den Verstand zu verlieren.«
Da hatte er beschlossen, die Kinder wegzuschicken. Jamie und Alison waren jetzt bei Maries Vater und ihrer Schwester in Kanada auf der ungeheuer großen Ranch der Familie. Das war besser für sie, obwohl sie Bourne schrecklich fehlten. Für sie wäre es schlimm gewesen, ihn in seinem gegenwärtigen Zustand zu sehen.
Wie viele Male hatte er seit damals von den Augenblicken geträumt, die er am meisten fürchtete? Er sah sich, wie er auf Maries blasses Gesicht hinabblickte, wie er ihre Sachen aus dem Krankenhaus abholte und wie er mit dem Direktor neben sich in einem schwach beleuchteten Raum des Bestattungsunternehmens stand und auf Marie hinuntersah, deren wächsernes, stilles Gesicht ein Make-up trug, das sie niemals benutzt hätte. Über sie gebeugt, hatte er stumm eine Hand ausgestreckt, und der Direktor hatte ihm ein Taschentuch gegeben, mit dem Bourne den Lippenstift und das Rouge von ihrem Gesicht abgewischt hatte. Danach hatte er sie geküsst, und die Kälte ihrer Lippen hatte einen Stromstoß durch seinen Körper geschickt: Sie ist tot, sie ist tot. Das war’s, dein Leben mit ihr ist vorbei. Er hatte mit ersticktem Schluchzen den Sargdeckel geschlossen und dem Direktor des Bestattungsunternehmens erklärt: »Ich habe mir die Sache anders überlegt. Der Sarg bleibt geschlossen. Ich will nicht, dass jemand sie so sieht, vor allem die Kinder nicht.«
»Trotzdem haben Sie ihn beim Namen gerufen«, stellte Dr. Sunderland fest. »Wirklich faszinierend. Wegen Ihrer Vorgeschichte, wegen Ihres Gedächtnisverlusts hat der tragische Tod Ihrer Frau spezielle Erinnerungsblitze ausgelöst. Haben Sie eine Idee, in welcher Beziehung Ihr toter Freund zu der blutenden Frau steht?«
»Nein.« Aber das war natürlich gelogen. Er hatte den Verdacht, einen alten Auftrag, den er von Alex Conklin erhalten hatte, nochmals zu durchleben.
Dr. Sunderland legte die Fingerspitzen seiner Hände aneinander. »Ihre jäh auftauchenden Erinnerungen können wie ein wieder an die Oberfläche kommender Traum durch alle möglichen Impulse ausgelöst werden, wenn diese nur stark genug sind: etwas, das Sie gesehen, angefasst oder gerochen haben. Nur sind die ›Träume‹ in Ihrem Fall real. Sie sind Ihre Erinnerungen; sie haben sich tatsächlich ereignet.« Er griff nach seinem goldenen Füller. »Ein Trauma, wie Sie eines erlitten haben, würde auf dieser Liste zweifellos ganz oben stehen. Und wenn Sie glauben, jemanden gesehen zu haben, von dem Sie wissen, dass er tot ist … Kein Wunder, dass die Erinnerungsblitze seither häufiger geworden sind.«
Alles wahr, aber die häufiger einschießenden Erinnerungen machten seinen jetzigen Geisteszustand noch unerträglicher. An jenem Nachmittag in Georgetown hatte er seine Kinder allein gelassen. Nur für einen Augenblick, aber … Er war darüber entsetzt gewesen; er war es noch immer.
Marie war fort, hatte ihn in einem schrecklichen, sinnlosen Augenblick verlassen. Und jetzt verfolgte ihn nicht nur die Erinnerung an sie, sondern auch an diese stillen alten Straßen, die ihn fast boshaft angrinsten; Straßen, die mehr wussten als er, die etwas über ihn wussten, das er nicht einmal ansatzweise erraten konnte. Sein Albtraum lief stets nach dem gleichen Schema ab: Erinnerungsblitze tauchten auf und ließen ihn in Schweiß gebadet zurück. Danach lag er in der Dunkelheit und war der festen Überzeugung, nie mehr einschlafen zu können. Aber er tat es unweigerlich doch – er verfiel in schweren, wie betäubten Schlaf. Und wenn er aus diesem Abgrund auftauchte, drehte er sich noch schlaftrunken zur Seite und tastete jedes Mal nach Maries warmem Körper, den er so liebte. Anschließend traf die Realität ihn wieder wie ein Keulenschlag.
Marie ist tot. Tot und für immer fort …
Das trockene, rhythmische Geräusch, mit dem Dr. Sunderland etwas in sein Notizbuch schrieb, holte Bourne aus seiner schwarzen Gedankenwelt zurück.
»Diese Erinnerungsblitze treiben mich buchstäblich in den Wahnsinn.«
»Das überrascht mich nicht. Ihr Wunsch, Ihre Vergangenheit zu ergründen, ist übermächtig. Man könnte ihn sogar als Zwangsvorstellung bezeichnen – ich täte’s ganz sicher. Eine Zwangsvorstellung raubt dem Menschen, der unter ihr leidet, oft die Fähigkeit, ein sogenanntes ›normales‹ Leben zu führen, obwohl ich diesen Ausdruck verabscheue und nur selten gebrauche. Jedenfalls glaube ich, Ihnen helfen zu können.«
Dr. Sunderland breitete seine großen, schwieligen Hände aus. »Am besten fange ich damit an, dass ich Ihnen die Art Ihrer Behinderung erkläre. Erinnerungen entstehen, wenn elektrische Impulse die Synapsen im Gehirn dazu veranlassen, Neurotransmitter freizusetzen – die Synapsen zünden, wie wir sagen. Dabei entsteht eine temporäre Erinnerung. Damit sie permanent wird, muss ein als Konsolidierung bezeichneter Prozess ablaufen. Ich will Sie nicht mit Einzelheiten langweilen, sondern nur sagen, dass die Konsolidierung die Synthese neuer Proteine erfordert und daher viele Stunden dauert. In dieser Zeit kann der Prozess durch alle möglichen Ereignisse blockiert oder verändert werden – beispielsweise durch ein schweres Trauma oder Bewusstlosigkeit. Das war bei Ihnen der Fall. Während Sie bewusstlos waren, hat Ihre anomale Gehirntätigkeit Ihre permanenten Erinnerungen in temporäre verwandelt. Die Proteine, die vorübergehende Erinnerungen erzeugen, werden sehr rasch abgebaut; daher verschwinden temporäre Erinnerungen binnen Stunden oder sogar auch Minuten.«
»Aber meine Erinnerungen tauchen manchmal wieder auf.«
»Das liegt daran, dass Traumata – körperliche, emotionale oder eine Kombination aus beiden – bestimmte Synapsen sehr rasch mit Neurotransmittern überfluten können, sodass verschüttete Erinnerungen sozusagen wiederbelebt werden.« Dr. Sunderland lächelte. »Das alles erzähle ich Ihnen nur zur Einstimmung. Die Idee, Erinnerungen vollständig löschen zu können, ist zwar nicht ganz abwegig, gehört heute aber noch in den Sciencefiction-Bereich. Andererseits stehen mir die neuesten Verfahren zur Verfügung, und ich kann zuversichtlich sagen, dass ich Ihre Erinnerungen ganz wiederherstellen kann. Aber Sie müssen mir zwei Wochen Zeit geben.«
»Ich gebe Ihnen heute, Doktor.«
»Ich empfehle Ihnen dringend …«
»Heute«, sagte Bourne nachdrücklicher.
Dr. Sunderland musterte ihn eine Zeitlang prüfend, wobei er sich mit dem goldenen Füller nachdenklich an seine Unterlippe tippte. »Unter diesen Umständen … Ich glaube, ich kann Ihre Erinnerungen unterdrücken. Das ist natürlich weniger, als sie zu löschen.«
»Ja, ich verstehe.«
»Also gut.« Dr. Sunderland klatschte sich leicht auf die Schenkel. »Kommen Sie mit ins Untersuchungszimmer, dann werde ich alles versuchen, Ihnen zu helfen.« Er hob warnend einen langen Zeigefinger. »Ich brauche Sie wohl nicht daran zu erinnern, dass Erinnerungen glitschig wie ein Aal sind.«
»Das weiß ich«, sagte Bourne, während er das Kribbeln einer weiteren bösen Vorahnung am Rückgrat spürte.
»Ich will damit sagen, dass es keine Garantien gibt. Die Chancen, dass meine Behandlung wirkt, sind sehr hoch, aber wie lange …« Er zuckte mit den Schultern.
Bourne nickte, als er aufstand und Dr. Sunderland nach nebenan folgte. Dieser Raum war etwas größer als das Sprechzimmer. Der Boden war mit dem gesprenkelten Standardlinoleum für Arztpraxen ausgelegt, die Wände verschwanden hinter Einrichtungsgegenständen aus Edelstahl: Glasschränke, ein Arbeitstisch, darüber Hängeschränke. Unter dem Waschbecken in einer Ecke stand eine kleine rote Abfalltonne mit der großen Aufschrift SONDERMÜLL. Die Mitte des Raums wurde von etwas eingenommen, das wie ein besonders luxuriöser, futuristischer Zahnarztstuhl aussah. Über ihm bildeten von der Decke herabhängende Gelenkarme einen engen Kreis. Auf Stahlwägelchen mit Gummirädern standen zwei medizinische Geräte, deren Zweck Bourne nicht erraten konnte. Insgesamt wirkte der Raum effizient und steril wie ein Operationssaal.
Bourne nahm auf dem Behandlungsstuhl Platz und wartete, bis Dr. Sunderland Höhe und Neigung zu seiner Zufriedenheit justiert hatte. Anschließend brachte der Arzt an verschiedenen Bereichen seines Kopfs insgesamt acht Elektroden an, deren Kabel zu dem Gerät auf einem der Wägelchen führten.
»Ich zeichne Ihre Gehirnströme jetzt zweimal auf, einmal bei Bewusstsein, einmal in der Bewusstlosigkeit. Ihre Gehirntätigkeit in beiden Stadien zu vergleichen ist entscheidend.«
»Und wie geht’s weiter?«
»Das hängt davon ab, was ich finde«, sagte Dr. Sunderland. »Aber zu meiner Behandlung gehört, dass ich bestimmte Synapsen in Ihrem Gehirn mit speziellen komplexen Proteinen stimulieren werde.« Er sah auf Bourne hinunter. »Miniaturisierung ist der Schlüssel, wissen Sie. Die gehört zu meinen Spezialitäten. Man kann nicht mit winzig kleinen Proteinen arbeiten, ohne ein Experte für Miniaturisierung zu sein. Sie haben von Nanotechnologie gehört?«
Bourne nickte. »Mikroskopisch kleine elektronische Bauteile. Eigentlich Mini-Computer.«
»Genau.« Dr. Sunderlands Augen glitzerten. Er schien mit den Vorkenntnissen seines Patienten sehr zufrieden zu sein. »Diese komplexen Proteine – diese Neurotransmitter – verhalten sich genau wie Nano-Anlagen: sie verbinden und stärken Synapsen in den Gehirnbereichen, in die ich sie leite, damit sie Erinnerungen blockieren oder schaffen.«
Bourne riss sich plötzlich die Elektroden ab, sprang auf und stürmte wortlos aus dem Behandlungszimmer. Er rannte einen Korridor mit Marmorboden entlang, auf dem seine Schuhe kleine klickende Geräusche machten, als verfolge ihn ein vielbeiniges Tier. Teufel – was fiel ihm ein, wie kam er dazu, jemanden an seinem Gehirn herumpfuschen zu lassen?
Die beiden Toiletten waren nebeneinander angeordnet. Er stieß die Tür mit der Aufschrift HERREN auf, stürmte hinein und kam am weißen Porzellanwaschbecken, auf das er die Arme stemmte, zum Stehen. Vor sich hatte er sein geisterhaft blasses Gesicht in dem Spiegel, der ihm die reflektierten Kacheln hinter ihm zeigte, die denen im Bestattungsunternehmen so ähnlich waren. Er sah Marie, die mit auf ihrem flachen Sportlerbauch gefalteten Händen still dalag. Sie trieb wie auf einem Kahn davon, als werde sie ihm von einer schnellen Strömung entführt.
Er drückte seine Stirn an den Spiegel. Die Schleusen öffneten sich, Tränen traten ihm in die Augen, liefen ihm ungehindert übers Gesicht. Er erinnerte sich an Marie, wie sie gewesen war: mit im Wind wehenden Haaren, ihre Haut im Nacken glatt wie Satin; wie sie mit dem Kanu den weiß schäumenden Snake River hinuntergefahren waren, wobei ihre sonnengebräunten kräftigen Arme das Paddel durchs Wildwasser gezogen hatten, während der weite Himmel des Westens sich in ihren Augen spiegelte; wie er auf dem gleichmütig zuhörenden Granitpflaster der Georgetown University um ihre Hand angehalten hatte, sie im kleinen Schwarzen mit Spaghettiträgern unter einem kanadischen Lammfellmantel, als sie lachend und Händchen haltend auf dem Weg zur Weihnachtsparty seiner Fakultät waren; wie sie kirchlich geheiratet hatten – mit den kanadischen Rockys hinter ihnen, ihre Hände mit den neuen Trauringen miteinander verschränkt, ihre Lippen aufeinandergepresst, ihre Herzen vereint schlagend. Er erinnerte sich, wie sie Alison zur Welt gebracht hatte. Zwei Tage vor Halloween hatte sie an der Nähmaschine gesessen, um Jamie ein Geisterpiratenkostüm zu nähen, als ihre Fruchtblase geplatzt war. Alisons Geburt war langwierig und schwer gewesen. Zuletzt hatte Marie Blutungen bekommen. Schon damals hätte er sie fast verloren, aber er hatte ihre Hand umklammert gehalten, sie durch reine Willenskraft dazu gezwungen, ihn nicht zu verlassen. Jetzt hatte er sie für immer verloren …
Er merkte, dass er hemmungslos schluchzte und nicht mehr aufhören konnte.
Plötzlich tauchte aus seinen Erinnerungen, einem Gespenst gleich, das ihn verfolgte, erneut das blutige Gesicht der Unbekannten auf, um seine geliebte Marie zu verdrängen. Blut tropfte von ihr herab. Ihre Augen starrten blicklos zu ihm auf. Was wollte sie von ihm? Wieso verfolgte sie ihn? Bourne hielt sich verzweifelt und laut stöhnend die Schläfen. Er wünschte sich nichts mehr, als diese Etage, dieses Gebäude verlassen zu können, aber er wusste, dass er nicht flüchten durfte. Nicht in diesem Zustand, nicht ständigen Angriffen seines eigenen Gehirns ausgesetzt.
ENDE DER LESEPROBE
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Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 08/2016Copyright © 2007 by Myn Pyn, LLC Copyright © 2009 der deutschsprachigen Erstausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, MünchenCopyright © dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 MünchenPublished by arrangement with The Estate of Robert Ludlum and Eric van Lustbader c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A.Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/ Jasminko Ibrakovic ISBN 978-3-641-09379-2V002
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