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Kein weiterer Ratgeber zur Selbstoptimierung. Kein Buch, welches den eigenen Perfektionsdruck noch mehr erhöht. Vielmehr handelt es sich um ein Buch, welches Schluss macht mit dem westlichen Individualismus und Gemeinschaft und Solidarität in den Vordergrund stellt. Zahlreiche neue Informationen und Thesen werden in diesem Sachbuch verständlich aufgearbeitet und bieten einen breiten Zugang zu der gesellschaftlichen Verbundenheit.Wenn man das psychologische Sachbuch gelesen hat, versteht man nicht nur, welche Chancen und Gefahren im westlichen Individualismus liegen, was Tribalismus oder auch Meritokratie bedeuten; man kann sich auch besser vor Medienmanipulationen und verbalen Angriffen im Internet schützen. Die wissenschaftlich fundierten Ansätze des Buches helfen die Beziehungen zu nahen und fremden Personen besser zu gestalten. Dabei wird auch die gelebte Solidarität in Gemeinschaften erklärt und dargestellt, wie die Wertschätzung der eigenen Empathie das Miteinander stärkt. Denn am Ende ist klar: Was die Menschen wirklich erfüllt, ist die Verbindung zu anderen zu verstehen und zu suchen. Trotz Differenzen und Meinungsverschiedenheiten wollen wir alle das Gleiche: eine solidarische Gemeinschaft!
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Seitenzahl: 436
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.
© Verlag Fischer & Gann
in Kamphausen Media GmbH, Bielefeld 2022,
1. Auflage 2022
Lektorat: Dr. Richard Reschika, Freiburg
Umschlaggestaltung | Layout und Satz: Gesine Beran, Turin
Umschlagmotiv: © shutterstock | Alex Landa
Gesamtherstellung | Druck:
Aumayer Druck + Verlag Ges.m.b.H. & Co KG, Munderfing
Printed in the European Union
ISBN 978-3-95883-558-0 | ISBN E-BOOK 978-3-95883-559-7
www.kamphausen.media
JO ECKARDT
EinePsychologieder solidarischenGemeinschaft
VORWORT
TEIL 1
WISSENSCHAFTLICHE ANNÄHERUNG AN DAS THEMA »GEMEINSCHAFT«
Tiefenpsychologie
Bindungstheorie
Human- und Systempsychologie
Evolutionäre Anthropologie und Ethologie
Spieltheorie
Physiologische Ansätze, Genetik und Persönlichkeitstheorie
Soziologie
TEIL 2
DIE BEDEUTUNG VON GEMEINSCHAFT
Frühkindliche Bedürfnisse
Bedürfnisse im Kindesalter
Bedürfnisse im Erwachsenenalter
Gruppen und Gemeinschaften
TEIL 3
WAS KÖNNEN WIR TUN?
Kindererziehung
Selbstvertrauen
Gefühle
Empathie
Kommunikation
Verbundenheit
Seelisches Gleichgewicht
Kooperation und Solidarität
Sinnfrage und Altruismus
Das Gemeinschaftsgefühl stärken
Was der Staat tun kann
NACHWORT
ANHANG
Index
Anmerkungen
Ausgesuchte Literatur
ERST WENN MAN SICH NICHT MEHR mit anderen Menschen treffen kann, wird einem bewusst, wie sehr man die Gesellschaft der anderen braucht – das hat uns Corona gezeigt. Denn wir sind soziale Wesen, die ohne Gemeinschaft kaum überleben können. Menschen sind von Anfang an auf Empathie und Bindung programmiert. Die Bereitschaft zur Kooperation hat uns geholfen, uns zu den Wesen zu entwickeln, die wir geworden sind.
Aber es scheint so, als ginge die evolutionäre Entwicklung langsam in eine andere Richtung: von der Bereitschaft zur Kooperation fort hin zum Individualismus, wenn nicht sogar zum Egoismus. Der Mensch, der doch global so stark zusammengerückt und elektronisch vernetzt ist, ist gleichzeitig in sozialer Hinsicht isolierter als je zuvor. Dieser Trend schadet nicht nur den einzelnen Menschen, sondern der Gemeinschaft insgesamt, und stellt am Ende eine Gefahr für unser aller Überleben dar.
In meiner Arbeit mit Trauma-Betroffenen bin ich schon früh auf das Thema »Gemeinschaft« gestoßen. Denn ob jemand ein Trauma gut verarbeiten kann oder nicht, hängt nicht nur von der individuellen Konstitution und Resilienz ab, sondern auch davon, wie die Gemeinschaft die Betroffenen auffängt und stärkt oder eben fallen lässt. Solidarität ist gar nicht hoch genug einzuschätzen, nicht nur für Überlebende von Traumata. Solidarität kommt jedem zugute, der an sich zweifelt oder sich einsam fühlt. Ohne Solidarität wäre das menschliche Leben kaum lebenswert.
In diesem Buch beschäftige ich mich zunächst mit der Frage, wie die Wissenschaft sich dem Thema »Gemeinschaftlichkeit« annähert. Welche Bedeutung hat die Gemeinschaft für den Menschen historisch und evolutionsbedingt? Welche Arten von Gemeinschaft gibt es? Kann die Soziologie erklären, warum unsere Gesellschaft sich zu spalten droht? Können wir vielleicht von anderen Gesellschaften lernen? In einem zweiten Teil widme ich mich der menschlichen Psyche und der Bedeutung, die Empathie, Verbundenheit und das Bedürfnis nach Gemeinsamkeit und nach Zugehörigkeit für Menschen haben, von der frühesten Kindheit bis ins hohe Alter. Schließlich beschäftige ich mich im dritten Teil des Buches damit, was Einzelne tun können, um ihre Verbundenheit zu stärken, und was die Gesellschaft tun kann, um die drohende Spaltung aufzuhalten und zu einer neuen Gemeinschaftlichkeit zurückzufinden.
Für dieses Buch habe ich viele spannende Bücher und Studien gelesen und selbst viel gelernt: unter anderem über die menschliche Bereitschaft zu kooperativem und altruistischem Handeln, über die Generationen Y und Z, über die begangenen Fehler, die in der menschlichen Geschichte zur Selbstauslöschung ganzer Bevölkerungen geführt haben, über die gesundheitlichen Folgen von Einsamkeit, über den Schaden, den Halbwissen anrichten kann, über den schwierigen Umgang mit den neuen Medien und mit Menschen, die sich gegen gesellschaftliche Werte stellen, über Algorithmen, die Vorurteile verstärken, und über die Notwendigkeit, ungerechte Systeme neu auszurichten. Nach jedem Kapitel finden Sie praktische Hinweise, falls Sie zu einem Thema noch mehr wissen oder bestimmte Fertigkeiten einüben wollen.
Es werden viele Fragen aufgeworfen und nicht alle kann ich beantworten. Für manche gibt es vielleicht auch keine klaren Antworten, aber es ist dennoch wichtig, dass wir uns mit ihnen beschäftigen. Ich möchte dazu anregen, die Fragen aufzugreifen und weiter zu diskutieren. In der Auseinandersetzung mit schwierigen Themen können wir uns annähern und Gemeinsamkeiten identifizieren.
NOCH EIN WORT ZUR SPRACHE. Wenn ich Sie, liebe Leser, anspreche, möchte ich wirklich alle ansprechen, die das Buch lesen, egal, welches Geschlecht und Alter, welche Ethnizität oder Religion Sie haben. Einige von Ihnen wünschen sich, dass ich das kenntlich mache, indem ich jedes Nomen entsprechend markiere, also etwa, indem ich Leser*innen, Leser:innen oder Lesx schreibe. Doch wenn ich dies täte, würde mir wahrscheinlich trotzdem irgendwo ein Wort durchschlüpfen, das dem Anspruch nicht gerecht würde, oder eine marginalisierte Gruppe würde vergessen werden, und dann würden etliche rufen: »Ha! Hab’ ich doch gewusst!«. Was ich wirklich möchte, ist, dass Sie am Ende dieses Buches verstehen, dass wirklich alle Menschen gemeint sind, wenn es um Gemeinschaft geht. Dass Sie das verinnerlichen. Um solch ein tiefgehendes Verständnis zu ermöglichen, ist Sprache sehr hilfreich. Hätten wir nicht seit Jahrzehnten die Diskussion um gendergerechte Sprache, würden wahrscheinlich immer noch viele Menschen meinen, Bürger oder Studenten seien immer männlich. Als ich 2002 mein erstes Buch geschrieben habe, habe ich mich bereits um gendergerechte Sprache bemüht. Aber gendergerechte Sprache ist kein Selbstzweck. Wenn die Formel »liebe Bürgerinnen und Bürger« zigmal heruntergerasselt wird, verschiebt sich im Denken nichts mehr. Dafür braucht es immer neue Denkanstöße und Erinnerungen, im Sinne von BRECHTS Verfremdungseffekt. Daher werde ich Sie, liebe Leserin, vielleicht damit überraschen, plötzlich ein unerwartetes Wort zu benutzen, das Sie daran erinnern soll, ja, genau, Sie sind gemeint!
Die Flexibilität, Solidarität und Fähigkeit, sich selbst zu hinterfragen, die wir mit einer bewussten, verfremdeten Sprache einüben, sind Eigenschaften, die wir brauchen, um unsere Gesellschaft zu verändern und eingefahrene Denkweisen zu durchbrechen, um vom »Ich« zum »Wir« zu kommen. Denn das ist die Erkenntnis, die ich gerne teilen möchte: Persönliches Glück und Zufriedenheit sind nicht zu erreichen, indem sich die Einzelnen immer weiter optimieren und auf sich selbst konzentrieren. Erfüllung und Glück sind nur dann möglich, wenn wir uns mit anderen verbunden fühlen. Umgekehrt hängt der Fortbestand unserer Welt davon ab, inwieweit wir eine solidarische Gemeinschaftlichkeit verwirklichen können, die sich den Herausforderungen der Zukunft stellen kann.
VIELE UNSERER HEUTIGEN ERKENNTNISSE über die menschliche Psyche sind ganz unmittelbar mit den Theorien verbunden, die SIGMUND FREUD entwickelte. Dass Menschen ein Unbewusstes haben, das still und heimlich unser Fühlen und Denken bestimmt, dass wir unangenehme Gefühle und Triebe verdrängen oder kompensieren, dass wir, dem »Lustprinzip« folgend, am liebsten Dinge tun, die uns Spaß machen, und dass nicht verarbeitete Konflikte uns noch Jahrzehnte später im Weg stehen können, das sind alles Erkenntnisse, die wir SIGMUND FREUD zu verdanken haben. Dabei konzentrierte sich FREUD allerdings ganz auf die innere Erlebniswelt des Individuums, als ob Wünsche, Triebe und Fantasien mit tatsächlichen Erfahrungen in der realen Welt kaum etwas zu tun hätten. Warum FREUD nicht sehen konnte oder wollte, dass Kinder in ihrer psychischen Gesundheit von den begleitenden Erwachsenen abhängen, mag verschiedene Gründe haben. Sie mögen mit seiner gesellschaftlichen Stellung, den Erwartungen der damaligen Gesellschaft sowie mit seinem persönlichen Leben zu tun haben. Bestes Beispiel dafür ist die Entwicklung der Theorie um den Ödipus-Komplex. Nachdem viele von FREUDS Patientinnen über missbräuchliche sexuelle Erfahrungen in der Kindheit berichtet hatten, veröffentlichte FREUD die These, dass diese Frauen tatsächlich in ihrer Kindheit missbraucht worden seien – und produzierte prompt einen Skandal in der Wiener Gesellschaft. FREUD ließ sich einschüchtern und entwickelte daraufhin die Theorie, dass die »angeblichen« sexuellen Erfahrungen nur in der Fantasie der Frauen stattgefunden hätten. FREUD ging nun davon aus, dass sexuelle Wünsche und Triebe schon in früher Kindheit das Fantasieleben bestimmten. Jungen fühlten sich zu ihren Müttern und Mädchen zu ihren Vätern hingezogen. Psychologische Auffälligkeiten im Erwachsenenalter seien auf daraus resultierende frühe inner-psychische Konflikte zurückzuführen. Was die Betroffenen tatsächlich in ihrer Kindheit erlebt hatten, interessierte FREUD fortan weniger. Es sei denn, Patienten berichteten davon, heimlich sexuelle Handlungen von Erwachsenen beobachtet zu haben – so wie der »Wolfsmann«, der in Wirklichkeit SERGEI PANKEJEFF hieß und ein langjähriger Patient von FREUD war. Ein Traum, in dem weiße Wölfe auf einem Baum den kleinen SERGEI in Angst und Schrecken versetzten, überzeugte FREUD davon, dass der Junge beobachtet haben müsse, wie seine Eltern miteinander schliefen. Die Psychoanalyse geht davon aus, dass die Aufdeckung solcher Zusammenhänge, eben die »Analyse«, die Auflösung der inneren Konflikte zur Folge habe und die Patienten so geheilt werden. Der Wolfsmann war einer von FREUDS berühmtesten »Fällen«, durch die er die Wirkungsweise der Psychoanalyse unter Beweis zu stellen versuchte, wenn auch der Patient selbst und auch andere Forschende später vehement leugneten, dass PANKEJEFF durch FREUDS Analyse tatsächlich geheilt worden sei.
So ist es keine Überraschung, dass FREUD dem Thema »Gemeinschaft« eher negativ gegenüberstand. Sie zwinge den Menschen, seine Triebe »Sexualität« und »Aggression« zu unterdrücken. Kultur bestehe aus einem fortwährenden Verzicht. Diese Gedanken vertiefte FREUD noch in seiner Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur (1929). Kultur und Zivilisation stünden letztlich dem menschlichen Glück im Wege, indem sie Regeln aufzwingen, die Menschen im Ausleben ihres Gefühlslebens behindern. Immerhin hält FREUD der Kultur eines zugute: dass nämlich die Notwendigkeit, ihre Triebe zu unterdrücken, Künstler dazu bringe, durch Sublimation geniale Werke zu schaffen. Dennoch, die Anerkennung der Bedeutung von Gemeinschaft als sinnstiftend und lebensnotwendig sucht man bei FREUD vergebens.
Während FREUD und seine Anhänger die Ursachen für Neurosen und psychisches Leid also vornehmlich in inneren Konflikten der Betroffenen suchten, mehrten sich Stimmen, die auf die Wechselwirkung von Umwelt und Individuum verwiesen. So waren sowohl KARL ABRAHAM als auch SÁNDOR FERENCZI, beide Zeitgenossen und Wegbegleiter FREUDS, davon überzeugt, dass Missbrauch und Misshandlung von Kindern durchaus verbreitet seien und dass eine empathische Begleitung ausschlaggebend für die gesunde Entwicklung eines Kindes sei. ALFRED ADLER, Psychoanalytiker der ersten Generation, brach mit FREUD bereits 1911 und gründete seine eigene psychoanalytische Schule, die Individualpsychologie. Für ihn waren nicht Triebe und Konflikte zwischen Ich-Instanzen (also zwischen Ich, Es und Über-Ich) ausschlaggebend für das psychische Wohlsein, sondern das Bedürfnis nach Sicherheit und Geltung. Kommt es zu Einschränkungen oder Verletzungen durch soziale Gefüge, also zuallererst durch die Familie, dann entstehen Minderwertigkeitsgefühle, die zu Neurosen führen können. Um dem Gefühl der Minderwertigkeit zu entkommen, so ADLER, entwickeln Menschen ein Streben nach Geltung, und dies wiederum führt im günstigsten Fall zu einem Gemeinschaftsgefühl. Tatsächlich meint ADLER mit »Gemeinschaft« jede Art von zwischenmenschlicher Beziehung, angefangen mit der Mutter-Kind-Dyade über die Familie bis hin zur Gemeinschaft aller Menschen. Folgerichtig setzte ADLER in seiner Behandlung von Patienten nicht so sehr darauf, vergangene Konflikte zu lösen, sondern richtete sein Augenmerk auf die Zukunft.
Wenn es Patienten gelingt, sich als Teil einer Gemeinschaft zu sehen, SO ADLER, können sie ihre vergangenen psychischen Probleme überwinden.
Konsequenterweise erkannte ADLER auch, dass durch geeignete Maßnahmen verhindert werden kann, dass psychische Probleme überhaupt entstehen. So gründete er Kindergärten, Erziehungsberatungsstellen und Vereine, die Eltern helfen sollten, ihren Kindern ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln, sodass sich in ihnen ein gesundes Gemeinschaftsgefühl entwickeln könne.
In der Folgezeit wurden die Ideen von ADLER immer wieder aufgegriffen und weiterentwickelt. Wenn KAREN HORNEY die Idee des kindlichen Strebens nach Geborgenheit unterstreicht, ERICH FROMM die Bezogenheit des Menschen auf andere und auf seine Umwelt in den Mittelpunkt seiner friedensorientierten Theorie stellt oder ABRAHAM MASLOW, wie wir noch sehen werden, eine Hierarchie der menschlichen Bedürfnisse entwickelt und dabei das Bedürfnis nach Zugehörigkeit berücksichtigt, immer steht ADLERS These im Hintergrund, dass die menschliche Psyche die Gemeinschaft benötigt. Auch VIKTOR FRANKLS Logotherapie, die davon ausgeht, dass jeder Mensch das Gefühl braucht, einen Sinn im eigenen Leben zu sehen, wird von ADLER in gewisser Weise vorweggenommen. Im Grunde stehen FREUD und ADLER für zwei grundverschiedene Ansätze in der Betrachtung des Menschen: Konzentriert man sich wie FREUD auf das, was falsch gelaufen ist, auf das »Ungesunde«, oder betont man die Ansätze zum Gesunden hin, um die angelegten positiven Stärken freizusetzen?
Ein weiterer Psychoanalytiker, der in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist, war HEINZ KOHUT, der Begründer der sogenannten Selbstpsychologie. Er orientierte sich eigentlich noch recht nah an FREUD, entwickelte jedoch seine eigene Theorie von den drei Grundbedürfnissen des Selbst. Zunächst, so KOHUT, löse sich das Baby langsam aus der Symbiose mit der Mutter, indem es sich selbst im Auge der Mutter gespiegelt sieht. KOHUT benutzt hier den Begriff vom »Glanz im Auge der Mutter«, durch den das Kind sich bestätigt und geliebt weiß. Wo diese Spiegelung fehlt, findet das Kind keine Bestätigung und erfährt eine narzisstische Störung. In der Therapie könne diese fehlende Erfahrung nachgeholt und so die Störung geheilt werden. Ein zweites Grundbedürfnis, das einige Jahre später folge, sei das der Idealisierung. KOHUT meint damit das Bedürfnis, zu einer bewunderten und geliebten Person aufzublicken, die eigenen Werte und Überzeugungen dementsprechend auszurichten und sich leiten zu lassen. Auch dieses Bedürfnis kann in einer tiefenpsychologischen Therapie nachgeholt werden, wenn die Therapeutin zumindest eine Zeit lang idealisiert wird. Und schließlich benennt KOHUT das dritte Grundbedürfnis des Selbst als das nach Gleichheit und Zugehörigkeit. Spätestens im Schulalter wollen Kinder dazugehören, sich als Teil einer Gruppe erfahren. Sicherheit, Geborgenheit, Selbstbestätigung und auch ein gewisser Stolz sind die Folgen. Wo dies nicht möglich ist, sei es durch soziale Isolation oder durch bewusste Ausgrenzung, entsteht das Gefühl der Einsamkeit und des Falsch-Seins.
Wir Menschen brauchen das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein, um uns selbst wertvoll zu fühlen.
IN DER PRAXIS
Wer sich für FREUD und die Anfänge der Psychoanalyse interessiert, findet in PETER GAYS Biographie Freud. Eine Biographie für unsere Zeit eine lesenswerte Einführung.
Wer allerdings Spaß daran hat, zuzusehen, wie alte Idole von ihren Sockeln gestürzt werden, dem könnte MICHEL ONFRAYs Buch Anti Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert gefallen. Hämisch schreibt der französische Philosoph ONFRAY, der die längste Zeit ein Verehrer von FREUD war, ehe es ihm wie Schuppen von den Augen fiel: »Die Psychoanalyse ist so lange eine wahre und richtige Lehre, wie sie FREUD und niemand anderen betrifft.« 1
Wirklich beeindruckend ist die Autobiographie von VIKTOR FRANKL: … trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager (München 2009). Von FRANKL gibt es auch einige sehenswerte Interviews, die im Internet leicht zu finden sind.
NACH DEN 1930ER-JAHREN mehrten sich die Stimmen, dass der Mensch von Beginn an ein soziales Wesen sei, Zuwendung und Anerkennung benötige und ohne eine solche Bindung verkümmere. Besonders die Bindungstheorie hat dieses frühe Bedürfnis gründlich erforscht. Aufbauend auf Arbeiten von IAN D. SUTTIE und seinem wichtigen Werk The Origins of Love and Hate sowie auf den frühen Arbeiten von WILLIAM R. D. FAIRBAIRN entwickelten D. D. WINNICOTT und später JOHN BOWLBY eine Theorie, die, in BOWLBYs Buch Maternal Care and Mental Health (1951) zusammengefasst, weitreichende Auswirkungen auf die Erziehung – auch und gerade in Heimen – und auf die Psychologie ganz allgemein hatte. Trotz verschiedener kritischer Stimmen setzte sich die Gewissheit durch, dass Kleinkinder Erziehende brauchen, die sich feinfühlig auf sie einstellen und die eine wechselseitige, liebevolle Kommunikation ermöglichen. Wir reden hier von einer Zeit, in der Strenge und Disziplin einen sehr viel höheren Stellenwert hatten als Zärtlichkeit und Liebe, zumindest in der westlichen Welt. Wenn ein Kind schwierig war, so die damalige gängige Erklärung, war es ein schlechtes Kind. Die Eltern hatten einfach Pech, ein Kind mit einem schlechten Kern geboren zu haben. Kaum jemandem wäre eingefallen, den Eltern die Schuld zu geben, wenn das Kind sich schlecht benahm oder sich später als Erwachsener nicht in die Gesellschaft einfügte. Ironischerweise wurden damals Eltern nur dann beschuldigt, wenn sie ein krankes oder behindertes Kind geboren hatten. Heute sehen wir das genau umgekehrt!
Es war schon eine kleine Sensation, als Wissenschaftler wie DAVID WINNICOTT, JOHN BOWLBY und MARY AINSWORTH mit empirischen Forschungen und Studien belegten, dass es die empathische Begleitung von Kindern ist, die ihnen erst ermöglicht, Urvertrauen aufzubauen, Frustration auszuhalten und sich selbst schätzen zu lernen. Die Entwicklung der Kinder, so die logische Folgerung, hängt also von der liebevollen Begleitung in den ersten Jahren ab. Einen Beweis dafür erbrachte RENÉ A. SPITZ, dessen Studien heutzutage allerdings recht fragwürdig erscheinen. Er beobachtete Kinder, die im Krankenhaus kaum aus ihrem Bettchen genommen und daran gehindert wurden, durch Blickkontakt mit anderen Babys zu kommunizieren, und stellte fest, dass sie nicht nur verkümmerten (ein Phänomen, das man »Hospitalismus« nennt), sondern dass einige von ihnen tatsächlich starben. Einen eindrücklicheren Beweis, wie wichtig Bindungen und soziale Eingebundenheit sind, kann man sich wohl kaum vorstellen.
So ließen sich nun auch Neurosen und psychische Störungen ganz anders verstehen, als dies die FREUD’sche Triebtheorie erlaubte. Keine fehlgeleiteten Triebe führen zu Störungen, sondern fehlende Bindung und Liebe. Kinder, die sich nicht geliebt fühlen, entwickeln Scham und Minderwertigkeitsgefühle. Oder sie entwickeln ein »falsches« Selbst, also eine Persönlichkeit, die den Erwartungen der Erziehenden hoffentlich besser entspricht. Denn wenn ich nicht so geliebt werde, wie ich bin, dann stimmt etwas nicht mit mir und ich muss versuchen, »richtig« zu werden, so die Annahme dahinter. Heute sind Begriffe wie das »innere Kind« oder »Minderwertigkeitsgefühle« alltäglich, aber in der Mitte des 20. Jahrhunderts boten die Ideen der Bindungstheorie ganz neue Denkansätze, an die man sich erst einmal gewöhnen musste.
Die sogenannte Fremde-Situation-Studie (MARY AINSWORTH 1965), bei der Mütter gebeten wurden, ihr Kind kurz alleine zu lassen, untersuchte das Bindungsverhalten von Kleinkindern und kam zu dem Schluss, dass es verschiedene Arten von Bindungsverhalten gibt. So sind sicher-gebundene Kleinkinder, etwa im Alter von anderthalb oder zwei Jahren, zwar traurig, wenn die Mutter den Raum verlässt, können sich aber selbst beschäftigen und freuen sich dann umso mehr über die Rückkehr der Mutter. Sie haben Vertrauen, dass die Mutter immer wieder zurückkehrt. Unsicher-vermeidende Kinder reagieren kaum, wenn die Mutter den Raum verlässt. Sie hatten auch vorher wenig Augenkontakt zu ihr. Kommt die Mutter dann zurück, tun sie, als ob sie das kaum interessiere. In Wirklichkeit jedoch sind sie, das belegen physiologische Tests, sehr gestresst während der Abwesenheit der Mutter, zeigen dies aber nicht. Die unsicher-ambivalenten Kinder sind untröstlich, wenn die Mutter geht, können sich nicht allein beschäftigen und beruhigen sich auch dann nicht, wenn die Mutter zurückkehrt. Spätere Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Bindungstypen, ergänzt durch ein viertes, desorganisiertes Muster, in den meisten Fällen für das ganze Leben prägend sind. Das heißt, Kinder lernen bereits in den ersten zwei Lebensjahren, ob sie sich und anderen vertrauen können oder ob sie um Liebe und Anerkennung kämpfen müssen.
DANIEL STERN hat durch klinische Studien, in denen er das Verhalten von Babys untersuchte, bewiesen, dass der Mensch von Beginn an darauf ausgerichtet ist, soziale Kontakte und Bindungen zu begünstigen. Das heißt, das Kleinkind ist zwar abhängig von den Erwachsenen, die es versorgen, aber es tut alles, um die Beziehung zu stimulieren und günstig zu beeinflussen. Es orientiert sich nach der Stimme der Mutter, es schaut vertrauten Personen deutlich länger ins Gesicht als Fremden, es nimmt Kontakt auf und bemüht sich, den Kontakt zu halten. Wenn man die Kommunikation zwischen Babys und ihren Eltern genau betrachtet, merkt man schnell, dass dies keine einseitige Angelegenheit ist. Die Erwachsenen gehen genau so nah an das Gesicht des Kindes heran, dass es sie scharf sehen kann – obwohl sie in den meisten Fällen gar nicht wissen, dass Neugeborene anfangs nur 30 bis 50 cm scharf sehen können. Sie reden mit einer hohen Stimme, die für das Gehör des Kindes bestens geeignet ist, wiederum ohne dies zu wissen. Sie lächeln viel, vielleicht sogar etwas übertrieben, und machen immer wieder die gleichen Laute, sie tun also genau das, was Babys besonders anspricht. Diese wiederum lächeln zurück, sobald sie dies können, halten den Blick und geben Laute von sich und erfreuen so die Erwachsenen. Eltern sind sich sicher, dass die ersten Grimassen des neugeborenen Wesens ein Lächeln bedeuten sollen, dass die gurgelnden Laute etwas mitteilen wollen, und werden von skeptischen Außenstehenden schnell belächelt. Und sie haben doch recht! Denn auch wenn die Kinder nicht wirklich lächeln oder sprechen, so laden sie doch von Anfang an zur Kommunikation ein. Nicht von ungefähr »verlieben« sich viele Eltern in ihr Kind, wenn sie es zum ersten Mal ansehen. Der erste Schritt zur Bindung ist getan.
ZUSAMMENFASSEND KANN GESAGT WERDEN, dass Menschen von Anfang an darauf programmiert sind, Bindung aufzunehmen. Sie verfügen über ausgeprägte Fähigkeiten, Kontakte herzustellen, andere Personen einzuschätzen und sich in sie hineinzuversetzen.
Es sind die Bindungen, die es Menschen ermöglichen, sich zu entwickeln und psychisch stabil zu sein.
Genügt anfangs die Bindung zu einer wichtigen Bezugsperson, benötigen Menschen im Lauf ihres Lebens viele weitere Bindungen. Ohne Bindung verliert der Mensch Vertrauen in sich, traut sich also nicht mehr zu, etwas zu bewirken, und gleichzeitig wird auch die Welt nicht mehr als sicherer Ort wahrgenommen. Einsamkeit ist das Warnsignal, das andeutet, dass Menschen keine Bindung spüren.
IN DER PRAXIS
Wenn Sie das Thema interessiert, schauen Sie sich einmal entspechende Videos im Internet an. Als Stichwörter empfehle ich »Bindungstypen«, »Bindungstheorie« oder »Fremde Situations-Test«.
In Deutschland hat der Psychologe KARL HEINZ BRISCH einige Bücher zum Thema geschrieben, die besonders für Eltern sehr lesenswert sind.
Das folgende Buch von NICOLE STRÜBER gibt eine detaillierte Einführung in die Entwicklung des kindlichen Gehirns, mit vielen Beispielen und Bezügen zur aktuellen Forschung: Die erste Bindung. Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen (Stuttgart 2016). STRÜBER beschreibt auch, was sich in den Gehirnen der Eltern abspielt und welche Konsequenzen die neurologischen Erkenntnisse für die Kindererziehung haben können.
NEBEN DER PSYCHOANALYTISCHEN Psychologie gibt es natürlich noch ganz andere Richtungen in der modernen Psychologie: Verhaltenstherapie, systemische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Sozialpsychologie oder auch die humanistische Psychologie. Ein Vertreter der letzteren Richtung war ABRAHAM MASLOW, der mit seiner Bedürfnispyramide ein Modell schuf, das in leichten Abwandlungen bis heute vielfach genutzt wird. MASLOW stellt fest, dass Menschen zunächst einmal körperliche Bedürfnisse haben. Wir brauchen Luft zum Atmen, Schmerzfreiheit, Schlaf, Nahrung und Flüssigkeitszufuhr. Wenn dieses elementare Grundbedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit nicht erfüllt ist, zählen alle anderen Bedürfnisse nichts. Erst wenn wir wieder frei atmen und ohne Hunger und Schmerz leben, werden wir uns anderer Bedürfnisse bewusst. Das zweite Grundbedürfnis ist das nach Sicherheit. Dieses umfasst zum einen die persönliche Sicherheit: Habe ich ein Dach über dem Kopf, ein geregeltes Einkommen oder muss ich mir Sorgen machen, wo ich morgen sein werde? Genauso ist aber auch die allgemeine, gesellschaftliche Sicherheit gemeint, denn wenn willkürlich Menschen verhaftet oder beseitigt werden, fühlt sich der oder die Einzelne auch persönlich unsicher. Wie wichtig dieses Gefühl der Sicherheit ist, beweisen die Menschen in autoritären Regimen, die immer wieder ihr Leben riskieren, um Rechtsstaatlichkeit und Transparenz zu fordern. An dritter Stelle, und nun kommen wir zu unserem Thema, postuliert MASLOW das Gefühl nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft.
Menschen haben ein tief empfundenes Bedürfnis nach Beziehungen.
Nur die allerwenigsten Menschen wählen freiwillig ein Leben in Einsamkeit, und selbst diese Einsiedler oder Aussteiger fühlen sich vermutlich mit einer anderen Einheit – sei es die Natur oder die Vorstellung einer göttlichen Macht – verbunden. Wer ohne Partner oder Familie lebt, läuft sehr viel leichter Gefahr, sich einsam zu fühlen, doch können auch Freunde, Gruppen oder ganze Gesellschaften die Aufgabe der sinngebenden Gemeinschaft übernehmen. Erst wenn diese drei Grundbedürfnisse – nach körperlicher Unversehrtheit, nach Sicherheit und nach Zugehörigkeit – erfüllt sind, rücken die weiteren Bedürfnisse in den Fokus: das nach einem guten Selbstwertgefühl, nach Selbstverwirklichung und nach materiellen Gütern. Später fügte MASLOW noch ästhetische und kognitive Bedürfnisse hinzu. Ein anderes Modell ist die Mitte der 80er-Jahre von EDWARD DECI und RICHARD RYAN entwickelte Selbstbestimmungstheorie, die von drei menschlichen Grundbedürfnissen ausgeht: nämlich nach Kompetenz, nach Autonomie und nach sozialer Eingebundenheit.
Kritische Stimmen bemängeln, dass sich die gängigen Bedürfnis-Theorien zu sehr nach westlichen Maßstäben richten. So gibt es Kulturen, in denen das Bedürfnis nach individueller Selbstverwirklichung und Autonomie keineswegs so hoch bewertet wird wie im Westen. Auch kommt es durchaus vor, dass Individuen absichtlich ihre eigene Sicherheit riskieren, um etwa ästhetische Bedürfnisse zu befriedigen. So gibt es genügend Legenden von verarmten Künstlern, die ihr letztes Geld nicht für Nahrung, sondern für Ölfarben ausgegeben haben. Trotzdem ermöglicht uns die Hierarchisierung menschlicher Grundbedürfnisse ein besseres Verständnis dafür, was Menschen motiviert und zurückhält. Gerade in Gesellschaften, die sehr stark auf die individuelle Selbstverwirklichung fixiert sind, kann das Wissen um das Grundbedürfnis nach sozialer Verbundenheit und Gemeinschaft helfen, die psychischen Nöte von einzelnen Personen besser zu verstehen. Gleichzeitig können Wissenschaft und Politik bei der Gestaltung des alltäglichen Lebens dafür sorgen, dass Menschen eingebunden bleiben und nicht vereinsamen.
Ein ganz anderer Ansatz ist der systemische, der den Menschen grundsätzlich als Teil eines sozialen Gefüges, eines Systems, sieht.
Jeder Mensch ist mit anderen Menschen vernetzt, und es ergibt keinen Sinn, einen Menschen isoliert verstehen zu wollen.
Alle Elemente eines Systems wirken aufeinander ein, und Einzelphänomene sind nur zu verstehen, wenn man diese Wechselwirkung berücksichtigt, so der Ansatz der Systemtheorie, der im Übrigen nicht nur in der Psychologie, sondern auch in anderen Wissenschaften Anwendung findet. In der Familientherapie, die in ihren Grundthesen auf VIRGINIA SATIR zurückgeht, ist demzufolge ein auffälliges Kind nur Symptomträger von Problemen, die in der Familie bestehen. Nicht das Kind wird therapiert, sondern die gesamte Familie. Hilfsmittel in der systemischen Therapie sind etwa Familienbäume, wobei es nicht um die Ahnenfolge geht, sondern darum, Gemeinsamkeiten und Abweichungen zu entdecken. Gibt es zum Beispiel in einer Familie viele Trennungen, starke, alleinstehende Frauen, »schwarze Schafe« oder viele Seitensprünge? Solche Beobachtungen können Hinweise darauf geben, mit welchen Erwartungen, Gesetzmäßigkeiten oder Überzeugungen der Patient oder die Patientin zu tun hat. Ein weiteres Hilfsmittel ist das Soziogramm, das dazu dient, die Verbindung eines Menschen mit verschiedenen Systemen aufzuzeigen, die auf ihn oder sie einwirken: die Familie, die Arbeitsstelle, die Schule oder die Universität, die Nachbarschaft, die religiöse Gemeinschaft usw. Ein solches Soziogramm gibt Aufschluss über Konflikte und mögliche Ressourcen, aber auch über soziale Isolation und Ausgrenzung.
Eine weitere wichtige Erkenntnis aus der Systemtheorie ist die, dass Systeme offen oder geschlossen sein können. So gibt es Familien, in denen Gäste und Freunde ein und aus gehen und in denen Rollen flexibel besetzt werden. Andere Familien bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, in der Außenstehende misstrauisch als Eindringlinge abgewehrt werden. Häufig sind auch die Rollen innerhalb der Familie eher rigide. Größere Systeme funktionieren ähnlich. So war die amerikanische Gesellschaft lange Zeit sehr offen, auch wenn sich gerade ein Wandel anzubahnen scheint: Sie definierte sich als eine Gesellschaft, die die armen und »geknechteten Massen« einlädt (dies ist der von EMMA LAZARUS verfasste Spruch, der auf der Freiheitsstatue eingraviert ist), als ein Land, in dem täglich neue Einwanderer dazukommen und das eben daraus Stärke und Bestätigung zieht. Anders das Gemeinschaftsbild der Nationalsozialisten in Deutschland: Sich als »volkszugehörig« zählen durften sich nur die, die eine reinrassige deutsche Ahnenreihe nachweisen konnten. Alle anderen wurden als minderwertig angesehen, und man sprach ihnen nicht nur das Recht ab, sich in die Gemeinschaft einzureihen, sondern glaubte sogar, das Recht zu haben, sie zu töten.
Je geschlossener ein solches System ist, umso feindlicher ist es Außenstehenden gegenüber eingestellt. Das kollektive »Wir« ermöglicht es jedem einzelnen Mitglied, sich stark und wichtig zu fühlen. Die anderen werden im Vergleich dazu dermaßen abgewertet, dass sie im schlimmsten Fall sogar getötet werden dürfen. Wer den Kreis freiwillig verlässt, wird als Verräter angesehen. Da alle Außenstehenden weniger wert sind, werden auch Kontakte oder Abhängigkeiten, die den Kreis durchbrechen, nicht gerne gesehen. Offene Systeme haben demgegenüber den Vorteil, dass Menschen sich relativ frei in ihnen bewegen können. Gleichzeitig besteht allerdings die Gefahr, dass die Offenheit in Beliebigkeit umschlägt und sich niemand mehr der Allgemeinheit verbunden fühlt und damit wichtige Funktionen einer solidarischen Gemeinschaft verloren gehen.
IN DER PRAXIS
Erstellen Sie doch einmal ein Soziogramm oder einen Familienbaum für sich. Wie das genau geht, erklären Ihnen verschiedene Seiten im Internet, geben Sie einfach die entsprechenden Suchbegriffe ein.
Erstellen Sie eine »Bedürfnispyramide« für sich selbst. Wie steht es um die Befriedigung Ihrer existenziellen Bedürfnisse? Wenn Sie grundsätzlich zufrieden sind, was kann es dann noch geben, um die ultimative Erfüllung zu finden? Vielleicht können Sie anhand Ihrer definierten Bedürfnisse erkennen, ob die Ziele, die Sie derzeit verfolgen, tatsächlich Sinn ergeben? Welchen Stellenwert haben die Bindung zu anderen Menschen und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft für Sie persönlich?
DIE FRAGE, WAS GEMEINSCHAFT für den Menschen bedeutet, ist auch für andere Wissenschaften interessant. Denn viele Forschende gingen lange Zeit davon aus, dass der Mensch mit seinen sozialen Fähigkeiten eine Sonderrolle innerhalb der Tierwelt hat. Oder was sonst macht den Menschen aus?
Ist es die Fähigkeit, Werkzeuge zu benutzen? Ist es die Sprache? Die Beherrschung des Feuers? Das abstrakte Denken? Die Intelligenz? All diese Fähigkeiten sind wichtig, aber sie stehen nicht am Anfang der menschlichen Entwicklung.
Unsere Vorfahren wurden zu Menschen, als sie begannen soziale Fähigkeiten auszubauen.
Aber wieso taten sie das? Wie kam es dazu, dass sich diese soziale Neigung überhaupt etablieren konnte? Tatsächlich besitzen viele Säugetiere die Fähigkeit zu Empathie und vielfältigen Emotionen. Das wurde zwar bis vor Kurzem vehement bestritten, doch in den letzten Jahren hat es viele Studien in der Tierpsychologie und Verhaltensforschung gegeben, die beweisen konnten, dass etwa Kapuzineräffchen und Hunde einen Gerechtigkeitssinn haben, dass Elefanten kooperieren können, um an Futter zu kommen, dass Hunde Gefühle bei Menschen erkennen können oder dass Ratten anderen, nicht verwandten Artgenossen aus einer Falle heraushelfen, selbst wenn es in einer anderen Falle ein Leckerli für sie gibt.2 Menschenaffen sind in Ausnahmefällen auch bereit dazu, nicht verwandte Waisenkinder zu adoptieren, und dafür gibt es keine andere Erklärung als Mitgefühl. Aber auch wenn Empathie und Altruismus keine Alleinstellungsmerkmale für uns Menschen sind, so steht doch außer Frage, dass keine andere Spezies es in der Bereitschaft zur Kooperation so weit gebracht hat wie Menschen. Frühe Funde von menschlichen Vorfahren lassen darauf schließen, dass die Gehirne gerade in den Bereichen, die für Empathie und Kooperation benötigt werden, weniger ausgeprägt waren als heute. Zu der Zeit waren die menschlichen Vorfahren körperlich unseren engsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos, wahrscheinlich sogar unterlegen. Erst als die sozialen Fähigkeiten einen großen Sprung machten, begann die Entwicklung hin zum modernen Menschen.
Nicht nur Anthropologen, sondern auch Soziologen, Zoologen, Historiker und Psychologen interessieren sich dafür, warum Menschen anderen Menschen helfen und wie sich solches Verhalten, kurz Altruismus genannt, entwicklungsgeschichtlich herausbilden konnte. Es geht also nicht um die Art der Selbstaufopferung, welche bei fast allen Tieren vorkommt, nämlich die Selbstaufopferung für die Nachkommen. Bestimmte Spinnen gehen sogar so weit, dass sie sich nach der Geburt auflösen und verflüssigen, sodass die Kleinen sie als Nahrung aufnehmen können. Bei dieser Art von Selbstaufopferung geht es um die Sicherung des Fortbestandes der eigenen Gene.
Doch Altruismus geht über Hilfsbereitschaft den eigenen Nachkommen gegenüber hinaus. Viele Menschen helfen anderen Menschen, mit denen sie nicht verwandt sind, auch dann, wenn dabei kein Nutzen für sie selbst abzusehen ist. Das Menschen dies tun, muss einen Grund haben. Hilfsbereitschaft und Altruismus müssen irgendwann einmal den Menschen, die sich so verhielten, einen Vorteil den anderen gegenüber verschafft haben. Eine Forschergruppe um ROBERT KURZBAN hat die Forschung zu diesem Thema analysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass sich Altruismus in vier Bereiche unterteilen lässt: Unterstützung der eigenen Nachkommen, der Austausch von Gegenständen, die Ausbildung von freundschaftlichen Bindungen mit Nicht-Verwandten zum Zweck der Gemeinschaftlichkeit und Unterstützung und Zusammenarbeit in größeren Gruppen wie etwa eine militärische Kriegsaktion.3
Die gängige Theorie besagt, dass Menschen begannen, anderen Menschen mit Gaben und Diensten auszuhelfen, weil diese dann zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht den Gefallen erwidern würden. Ein weiterer Vorteil besteht möglicherweise auch darin, dass Menschen, denen ich einen Gefallen tue, wahrscheinlich zu mir halten, wenn ich von dritter Seite angegriffen werde. Gegenseitige Hilfsbereitschaft zahlte sich am Ende für beide Seiten aus und basierend auf diesem Tauschsystem entwickelten sich im menschlichen Gehirn die Fähigkeiten zu Empathie und Einfühlungsvermögen. Auch Gefühle wie Scham, Schuld und Wut passen in dieses System. Denn wer den Erwartungen nicht gerecht wird, wird durch Schuld- und Schamgefühle darauf aufmerksam gemacht, dass er oder sie den »Vertrag« nicht eingehalten hat. Die anderen empfinden Wut und Ärger über die Regelbrecher und sorgen durch Strafen oder Rache dafür, dass es einen Anreiz gibt, sich das nächste Mal an die Regeln zu halten. Schuld, Scham und Wut sind demnach Gefühle, die ursprünglich dafür sorgten, dass Einzelne sich innerhalb einer Gemeinschaft möglichst regelkonform, also sozial verhalten. Im weiteren Verlauf führte die emotionale Entwicklung des Menschen so zu moralischen Grundsätzen und ethischen Normen.
Wahrscheinlich, so die Theorie weiter, hat sich mit der Zeit auch eine weitere Komponente entwickelt, die erklären könnte, warum Menschen anderen helfen, auch wenn klar ist, dass diese den Gefallen niemals erwidern können. Beispielsweise dann, wenn man einem sterbenden Menschen zur Seite steht oder aber wandernden Bettlern Unterstützung gewährt. Die Betroffenen sind offensichtlich nicht in der Lage, sich zu revanchieren. Dennoch: Außenstehende sehen die Taten und kommen zu einer anerkennenden Bewertung. So gelangten wahrscheinlich besonders altruistische Menschen durch ihre sozial ausgerichteten Taten zu Ansehen in ihrer jeweiligen Gruppe und genossen dadurch Vorteile, die es ihnen erlaubten, ihre Gene weiterzuverbreiten. Dies ist auch heute noch so. Menschen, die besonders großzügig und hilfsbereit sind, erfahren viel Anerkennung. Der HEILIGE MARTIN ist Legende, und die höchste Ehre, die die katholische Kirche für besonders altruistische Menschen zu vergeben hat, ist die Selig- und die Heiligsprechung. Auf politischer Ebene gibt es den Friedensnobelpreis. Das Bedürfnis nach Anerkennung ist eine enorme Triebfeder, und Menschen sind bereit, sehr viel dafür zu tun. Wer will keine Anerkennung?
Warum gibt es dann Menschen, die ihre Spenden gerne anonym tätigen? Vielleicht haben sie einfach ein so gutes Selbstwertgefühl, dass sie die Anerkennung der anderen nicht brauchen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die meisten von uns großzügiger sind, wenn sie sich beobachtet fühlen. So bewirkt beispielsweise ein Poster mit zwei Augen, das über einer Spendenschale angebracht wird, dass die Menschen mehr Geld hineinlegen, als wenn das Poster nicht dort hinge. Wenn die Reinigungskraft in der öffentlichen Toilette direkt neben dem Tellerchen sitzt, ist die Rate der »Spender« ganz sicher höher, als wenn sie nicht zu sehen ist.
LEIDER GIBT ES ABER AUCH Anerkennung für nicht-altruistische Verhaltensweisen. So genießen Menschen mit sehr viel Macht ebenfalls Anerkennung, selbst wenn sie diese skrupellos und keineswegs in einer kooperativen Weise ausüben. Altruismus ist nämlich nicht das einzige Kennzeichen, das der menschlichen Spezies zu überleben geholfen hat. Im Laufe der Jahrtausende wurden noch andere Verhaltensweisen und Fähigkeiten ausgeprägt. Auch Menschen, die besonders innovativ und neugierig sind, die besonders stark sind oder die besonders skrupellos sind, haben in der Vergangenheit ihre Gene weitergeben können. Der amerikanische Wahlkampf im Jahr 2020 zeigte sehr schön, wie gespalten die Menschen reagieren, wenn sie sich zwischen zwei Vorgehensweisen entscheiden sollen: zwischen kaltem Egoismus auf der einen und Bereitschaft zur Integration auf der anderen Seite. Der Wahlausgang hätte auch anders sein können, und es gibt keine Garantie dafür, dass sich Menschen in verschiedenen Ländern der Welt nicht auch immer wieder für die Machtvariante und gegen die Bereitschaft zur Kooperation entscheiden. Doch selbst egoistische Machtmenschen kommen ohne Kooperation nicht wirklich weiter. Ohne soziale Fähigkeiten wären Menschen nicht imstande, gemeinsam Großprojekte durchzuführen. Jede Zivilisation – in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart – basiert darauf, dass viele Menschen miteinander kooperieren. Wann Menschen kooperieren und wann sie eher egoistische Verhaltensweisen an den Tag legen, ist Thema der Spieltheorie, die sich seit einigen Jahrzehnten intensiv mit diesem Thema befasst.
IN DER PRAXIS
Falls Sie sich für Evolution und menschliche Entwicklung interessieren, empfehle ich Ihnen die Bücher der US-amerikanischen Soziobiologin und Anthropologin SARAH BLAFFER HRDY. In ihrem extrem spannenden Buch Mütter und Andere (Berlin 2010) beschreibt sie, wie die ersten Menschen sich zunehmend von anderen Menschenaffen unterschieden, weil für sie soziale Beziehungen immer wichtiger wurden. HRDY glaubt, dass dies vor allem darauf zurückzuführen ist, dass sich innerhalb kleiner Gruppen Helfer fanden, die bei der Versorgung der Kleinsten einsprangen und so die Überlebenschance von Kindern erhöhten, die ja im Vergleich zu anderen Tieren eine extrem lange Zeitspanne abhängig von Erwachsenen bleiben. Die natürliche Selektion bewirkte, dass Babys, die es besser verstanden, andere für sich einzunehmen, eine höhere Chance hatten zu überleben, und dass Menschen, die sich in andere hineinversetzen konnten und die als Gruppe solidarisch agierten, sich am Ende durchsetzten.
Ebenfalls sehr empfehlenswert ist HRDYS früheres Buch Mutter Natur. Die weibliche Seite der Evolution (Berlin 2002), das den »Mutterinstinkt« evolutionär erklärt und mit vielen Mythen und falschen Annahmen aufräumt.
Schauen Sie sich die faszinierende Arte-Dokumentation Wie Tiere fühlen im Internet an!
DIE SPIELTHEORIE UNTERSUCHT anhand von mathematischen Modellen, wie Menschen Entscheidungen treffen. Welche Strategie eignet sich am besten, wenn einzelne Teilnehmer den möglichst größten Gewinn machen wollen, und welche Strategie ist besser, wenn es darum geht, dass möglichst alle Teilnehmer einen Gewinn erzielen? Die Erkenntnisse der Spieltheorie haben Relevanz für die Wirtschaftswissenschaft (zum Beispiel für die Wettbewerbstheorie oder bei Entscheidungen, die mit Marktregulierung und Preisfestlegung zu tun haben), für die Auktionstheorie (wie kann man Bieterverhalten voraussehen, welches Design birgt die Aussicht auf größte Gebote?), für die Politikwissenschaft (zum Beispiel im Bereich der Konfliktforschung oder der Umweltpolitik) und natürlich auch für die Psychologie: Wie verhalten sich Menschen, und warum? Was veranlasst sie zu kooperieren und wann verhalten sie sich egoistisch? Um herauszufinden, wie Menschen sich in bestimmten Situationen entscheiden, werden in Studien verschiedene Szenarien durchgespielt und untersucht. Ein solches Szenario ist das sogenannte Prisoner’s Dilemma (das Gefangenendilemma). Es war ursprünglich von MERRILL FLOOD und MELVIN DRESHER entwickelt und dann von ALBERT W. TUCKER in den 1950er-Jahren modifiziert worden. Zwei Personen sollen sich in dem Spiel vorstellen, sie seien zusammen bei einer Straftat erwischt worden, die ihnen zwei Jahre Gefängnisstrafe einbringen könnte. Sie werden nun getrennt voneinander verhört und haben keine Möglichkeit, sich auszutauschen. Ihnen wird von der Staatsanwaltschaft, der nur Beweise für eine geringere Straftat vorliegen, vorgeschlagen, dass sie die andere Person verraten. Dann kämen sie selbst ohne Strafe davon. Wenn allerdings kein Schuldiger gefunden wird, dann würden beide Gefangenen jeweils ein Jahr Haft verbüßen müssen, da genügend Beweise für kleinere Delikte vorliegen. Spieler A hat somit die Möglichkeit, Spieler B zu verraten und selbst freizukommen – allerdings nur, wenn Spieler B nicht das Gleiche tut, denn dann müssen beide für zwei Jahre ins Gefängnis. Verrät Spieler A Spieler B nicht, dann ist auf jeden Fall die einjährige Haftstrafe sicher. Die Frage hinter dieser Studie war also gewissermaßen, ob Menschen egoistisch handeln und andere verraten, um sich selbst zu retten, oder ob sie solidarisch beziehungsweise kooperativ denken, selbst wenn dies für sie einen Nachteil bietet.
Es zeigte sich, dass Menschen verschiedene Möglichkeiten ausprobieren – auch einmal egoistisch handeln – dass aber die kooperative Vorgehensweise im Allgemeinen vorgezogen wird.
Dies ergibt durchaus Sinn, denn egoistisches Handeln mag zwar einen momentanen Vorteil bringen, vergibt aber auf lange Sicht gesehen die Chancen, die eine kooperative Vorgehensweise voraussetzen. Im wirklichen Leben stehen wir jeden Tag vor der Entscheidung: kooperieren oder nicht?
Martha ist sehr gut in Matheund hat ihre Hausaufgaben in der Tasche. Ihr Freund Noah hat die Aufgaben nicht gemacht und bittet sie darum, ihn abschreiben zu lassen. Was soll Martha tun? Wenn sie ihn abschreiben lässt und der Betrug fliegt auf, bekommen beide eine Sechs. Wenn es nicht auffällt, bekommen beide eine gute Note. Dafür »schuldet« Noah ihr dann etwas. Vielleicht lädt er sie zu seinem Geburtstag ein. Wenn sie ihn nicht abschreiben lässt, bekommt nur sie eine gute Note. Aber ihre Freundschaft mit Noah erleidet vielleicht einen Dämpfer.
Martha könnte viele Aspekte bedenken: Würde ihre Lehrerin ihr trotz des Betrugs insgeheim Anerkennung für ihre Hilfsbereitschaft zollen oder verachtet sie Regelbrecher? Gäbe es Alternativen? Könnte sie beispielsweise Noah bei der Lösung der Aufgaben helfen? Wenn sie ihn doch abschreiben lässt, sollte sie ihm vorschlagen, ein oder zwei Fehler einzubauen, damit der Betrug nicht auffällt? Gibt es Bereiche, in denen Noah ihr überlegen ist und in denen er den Gefallen erwidern kann? Welche Auswirkung hätte Marthas Entscheidung auf ihren Status innerhalb der Klassengemeinschaft? Was würden ihr ihre Eltern raten?
SPÄTERE VARIATIONEN des Gefangenendilemma-Spiels ersetzen die zu erwartenden Strafen mit Belohnungen. Gerade dann, wenn das Spiel wiederholt wird, sodass die Spieler sich eine Strategie ausdenken können (und nichts anderes ist ja das wahre Leben: Man probiert immer wieder Dinge aus und testet, ob sie sich auf lange Sicht bewähren), zeigt sich, dass der kooperative Ansatz langfristig größeren Erfolg hat. Dies ist die These von ROBERT AXELROD, der Variationen des Gefangenendilemmas spielen ließ und in seinem Buch The Evolution of Cooperation (1984) daraus Schlüsse für die evolutionäre Entwicklung von Kooperation zog. Er beschreibt gewisse Verhaltensregeln, die Spieler beachten müssen, um im Spiel erfolgreich zu sein. Sie müssen nett sein, das heißt, der pure Egoist schneidet am Ende nicht gut ab. Sie dürfen sich aber nicht alles gefallen lassen, denn sonst werden sie immer wieder über den Tisch gezogen. Sie sollten verzeihen können, denn sonst verlieren die anderen Spieler ihre Bereitschaft zur Kooperation. Und viertens, sie dürfen nicht von Neid getrieben sein.
Manche Spieltheoretiker glauben, dass sie mit Abwandlungen des Spiels und immer neuen Computersimulationen die wichtigsten Fragen der Evolution klären können: Wie entstand Sprache? Wie formieren sich Gruppen und Netzwerke? Wann lohnt sich Kooperation für Gesellschaften und wann lohnt sie sich nicht? Einer, der solche Fragen stellt, ist MARTIN NOWAK, ein ursprünglich aus Österreich kommender Professor für Mathematik und Biologe an der Universität Harvard, dessen unrühmliche Verbindungen zu JEFFREY EPPSTEIN ihn 2020 vorerst seinen Job gekostet haben. Sein Buch Kooperative Intelligenz (2013) heißt im Original SuperCooperators.4 Er hält die Menschen nämlich für Superkooperatoren, ähnlich wie Bienen und Ameisen, denen durch Zusammenarbeit ja ebenfalls Unglaubliches gelingt. Allerdings ist der Mechanismus der Kooperation nicht so einfach, wie das Gefangenendilemma vielleicht suggeriert. Es kooperieren ja nicht nur zwei Seiten miteinander, sondern es finden unzählige Kooperationen zwischen Menschen, Gruppen und ganzen Netzwerken statt. NOWAK ließ Computer Spielvariationen so lange wiederholen, bis sich Muster bildeten und sich Gewinner hervortaten. Manchmal erstarkten die Kooperatoren (also die Spieler, die kooperierten), manchmal die Defektoren (die Spieler, die sich egoistisch verhielten). Wenn die Spiele lange genug liefen und alle Defektoren besiegt schienen, entstanden plötzlich neue Defektoren, also neue Regelverletzer, und das ganze Spiel begann wieder von vorn. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass die Entwicklung zyklisch verläuft. Tiere, Menschen, Nationen, Gene: Alle Organismen tendieren zur Kooperation, doch es ist genauso jederzeit möglich, dass die Entwicklung umkippt und alles wieder von vorne beginnt. Trotzdem ist NOWAK überzeugt: »Die Spieltheorie kann die Welt retten.« Denn er glaubt herausgefunden zu haben, wie man das Spiel so lenken kann, dass die Kooperation gestärkt wird. Nicht durch Strafen, denn die führen nur zu einer Spirale von Vergeltung. Im Computerspiel gewinnen immer die, die von der Möglichkeit der Strafe keinen Gebrauch machen, zumindest in NOWAKS Computersimulationen.5 Was also motiviert Menschen dazu, sich kooperativ zu verhalten?
Zum einen nennt NOWAK die Belohnung, zum anderen die Transparenz. Das bedeutet zum Beispiel im großen Klimaspiel, das ja von uns allen, also von Milliarden Menschen gespielt wird, dass mehr Menschen und Staaten sich nachhaltig verhalten würden, wenn einerseits die Gründe für eine nachhaltige Umweltpolitik klar benannt würden und wenn andererseits die Klimasünder zur Rechenschaft gezogen würden. Vielleicht mit entsprechenden Warnhinweisen nicht nur auf Waschmaschinen, sondern auch auf Autos und in Vorgärten, oder gar mit einer Schandliste der schlimmsten CO2-Verursacher. Dann wäre es nicht mehr weit zu einer Art Sozialkreditsystem, wie es derzeit in China ausprobiert wird. Regelkonformes Verhalten und Regelverletzungen aller Unternehmen und Firmen, auch der ausländischen, werden dort versuchsweise in 28 Städten öffentlich gemacht. Für die Unternehmen mit roten Einträgen (so wird konformes Verhalten notiert) winken Vergünstigungen (zum Beispiel schnellere Genehmigungen), für die Regelbrecher sind Sanktionen vorgesehen. Wenn wir das nicht wollen, müssen wir andere Wege finden, wie »Defektoren« zur Rechenschaft gezogen werden können!
Die Spieltheorie hat also den Anspruch, evolutionäre Entwicklungen erklären zu können und darüber hinaus auch Hinweise abzuleiten, wie man das »Spiel«, also das Leben, besser machen kann. Die Spieltheorie ist sicherlich nicht unumstritten, aber sie liefert einen klaren Beweis dafür, dass Kooperation eine erfolgreiche Lebensstrategie ist und dass der Mensch die Bereitschaft zur Kooperation mit sich bringt. Egoismus ist möglich, verschafft aber meist nur einen kurzzeitigen Vorsprung und ist auf lange Sicht gesehen nicht erfolgreich.
Kehren wir noch einmal zu AXELRODS These zurück, dass man langfristig am besten fährt, wenn man nett ist, sich also an die Regeln hält. Für das wahre Leben bedeutet das beispielsweise, dass Kriminelle, die sich nicht an die Regeln halten, zwar die Chance auf hohe finanzielle Gewinne haben, aber auch Gefahr laufen, im Gefängnis zu enden. Und in jedem Fall mit der Angst leben müssen, erwischt zu werden und gewissermaßen immer am Rand der Gesellschaft zu leben. Wer wiederum zu nett ist, sich also immer breitschlagen lässt und nie nein sagt, wer seine eigenen Interessen aus dem Blick verliert, wird weniger respektiert und kommt selbst nicht mehr zum Zug. Die dritte Bedingung besagt, dass man auch verzeihen können muss. Wenn andere die Regeln missachten und sich wenig kooperativ verhalten, sollte man dies anmahnen, um die eigenen Interessen zu vertreten. Man sollte aber keine großen Strafoder Racheaktionen durchführen, denn sonst gerät man in einen Kampf darum, wer recht hat, oder man erschafft sich einen dauerhaften Feind. Feindschaft ist nicht gut für das gemeinsame Spiel, das Leben heißt. Die vierte Regel besagt, dass Neid und Ungerechtigkeit die Motivation zur Kooperation schmälern. Hier scheint mir eine mögliche Antwort auf die Frage zu liegen, woran unsere Gesellschaft krankt. Es gibt einfach zu viele Menschen, die glauben, dass sie nicht das bekommen, was ihnen zusteht. »Die anderen bereichern sich, die Flüchtlinge bekommen das Geld noch hinterhergeworfen, die Politiker denken nur an ihre eigenen Vorteile« und viele ähnliche Vorwürfe kommen dann hoch. Wer den Glauben an die Gerechtigkeit verloren hat, tritt aus dem kooperativen Spiel aus. Wer Neid fühlt, glaubt nicht mehr daran, dass das Spiel fair ist, und sieht also auch keinen Sinn mehr darin, sich kooperativ, also hilfsbereit und altruistisch zu verhalten.
Eine Gesellschaft, die zulässt, dass Mitglieder sich unfair behandelt fühlen und die Gemeinschaft verlassen, läuft Gefahr, sich selbst zu zerstören.
BLEIBEN WIR NOCH EINEN MOMENT bei der Spieltheorie und denken in großen, globalen Dimensionen. Welches Land wird am Ende des Spiels als bestes dastehen? Es geht um politische Macht, aber auch um Geld und Stärke. Leider geht es aber auch um das Überleben der Natur, so wie wir sie kennen. Jedes Land hat im Spiel die Möglichkeit, egoistisch zu sein und sich nur um die eigenen Interessen zu kümmern (»My Land First«). Es kann aber auch auf Kooperation setzen, um Bündnispartner zu finden, die zur Stelle sind, wenn es selbst einmal Hilfe benötigt oder von Dritten angegriffen wird. So könnte Land A entscheiden, die Industrieproduktion rücksichtslos hochzufahren und alle Maßnahmen zum Klimaschutz zu ignorieren. Dann wird dieses Land viel Geld verdienen und die Bürger des Landes hätten davon wirtschaftliche Vorteile. Die anderen Länder hätten dann die Möglichkeit, ihre Maßnahmen zum Klimaschutz zu verschärfen, sodass die Klimakatastrophe trotzdem abgewendet werden kann. Dann hat das Spiel einen klaren Gewinner: Land A. Oder aber die anderen Länder fahren nun ihrerseits die Produktion hoch und schädigen das Klima ebenfalls. Dann verlieren am Ende alle, auch Land A. Dann gäbe es noch die Variante, dass alle Länder kooperieren und gemeinsam versuchen, das größere Ziel zu erreichen: das Überleben der Menschheit.
So könnte die Spieltheorie uns daran erinnern, dass auch im ganz großen Spiel, auf globaler Ebene, Kooperation die bessere Variante ist. Um noch einmal auf den amerikanischen Wahlkampf von 2020 zurückzukommen: Die Erkenntnisse der Spieltheorie hätten höchstwahrscheinlich keinen Einfluss auf die Wähler gehabt, die sich für die nicht-altruistische Variante entschieden haben. Nicht, weil sie sich ja auch sonst wenig für die Wissenschaft interessieren, sondern weil sie anscheinend felsenfest davon überzeugt sind, dass Egoismus (»America First«) die bessere Option ist. Sie halten nichts von internationalen Verbindungen, die sie nur als Verpflichtungen und nicht als Chancen sehen. Es ist tragisch, dass heute so viele Menschen an internationalen Bündnissen und Abkommen zu zweifeln beginnen. Als ob wir ihnen nicht zu verdanken hätten, dass wir zumindest in der westlichen Welt seit so vielen Jahrzehnten größtenteils in Frieden leben. Das ist alles andere als selbstverständlich. Natürlich gibt es trotzdem zu viele Kriege und zu viele Konflikte. Aber Bündnisse wie NATO, UNO oder EU haben mit hoher Wahrscheinlichkeit viele Kriege verhindert. Internationale Kooperation ist unabdingbar in einer Zeit, in der Waffen zur Verfügung stehen, die ganze Kontinente auslöschen könnten. Ja, die Globalisierung birgt viele Gefahren und global agierende Firmen nutzen die geschaffenen Verbindungen skrupellos aus. Staaten räumen diesen Firmen viel zu viele Rechte ein und binden sie nicht in das System der auf Gegenseitigkeit beruhenden Partnerschaft ein. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir ohne internationale Kooperation die Natur, die Erde und mit ihr die Menschheit nicht werden retten können.
IN DER PRAXIS
Ein Buch, das sich an Laien wendet, dabei allerdings schon ein ziemliches Interesse an mathematischen Gedankengängen und Formeln voraussetzt, ist die 314 Seiten dicke Spieltheorie für Dummies (Weinheim 2016). Es erklärt die Spieltheorie in ihrer ganzen Komplexität und gibt dazu noch zahlreiche Beispiele, Tipps und Bezüge zum echten Leben.
Wenn Sie glauben, Spieltheorie sei eine Spielerei und nicht wirklich relevant im wirklichen Leben, überlegen Sie einmal, wie viel das Wissen darüber, wie Menschen denken und sich entscheiden, für Firmen wie Google, Amazon und Facebook wert ist! Diese und andere Firmen tun alles, um herauszufinden, wie das menschliche Gehirn auf Impulse reagiert und wie es zu beeinflussen oder, um ein etwas hässlicheres Wort zu benutzen, zu manipulieren ist.6Jede Wissenschaft kann in den Dienst der Allgemeinheit gestellt werden, genauso kann sie aber denen dienen, die spezielle Interessen durchsetzen wollen. Überlegen Sie sich also gut, wie Sie das Wissen um Ihre speziellen Interessen und Vorlieben, Ihre persönliche Art der Entscheidungsfindung, schützen können, und hinterlassen Sie möglichst wenig Spuren im Netz!
Eine der bekanntesten Persönlichkeiten im Zusammenhang mit der Spieltheorie ist der Mathematiker JOHN NASH, der genial, aber auch psychisch krank war. Er erhielt 1994 zusammen mit zwei weiteren Wissenschaftlern den Wirtschaftsnobelpreis. Im Jahr 2001 erschien die Verfilmung seines Lebens, A Beautiful Mind, mit RUSSEL CROWE in der Hauptrolle.
DIE MODERNE WISSENSCHAFT HAT erstaunlich viele Wege gefunden, durch Messungen von physiologischen Vorgängen im Körper, also von Herzschlag, Gehirnströmungen, Blutdruck, Hormonausschüttungen oder auch durch die exakte Aufnahme von Mikroemotionen, die in der Mimik abzulesen sind, genauen Aufschluss darüber zu erlangen, was sich da eigentlich in uns abspielt, während wir Entscheidungen treffen oder gefühlsmäßig reagieren. Wir können sehen, welche Gehirnareale aktiviert werden, wenn soziale Interaktionen ausgeführt werden, und welche Hormone etwa beim Lachen oder beim Küssen ausgeschüttet werden. So lässt sich – um noch einmal auf die Bindungstheorie zurückzukommen – beweisen, dass Kinder, die äußerlich ganz unbeteiligt scheinen, wenn ihre Mutter den Raum verlässt, in Wirklichkeit hohem Stress ausgesetzt sind, da der Adrenalinspiegel sprunghaft ansteigt. Bei Erfolgserlebnissen kommt der Neurotransmitter Dopamin zum Einsatz, im Volksmund auch Glückshormon genannt. Dementsprechend könnte man das Hormon Oxytocin auch als »Bindungshormon« benennen, denn es wird ausgeschüttet, wenn Menschen sich besonders nah sind und vertrauensvollen Umgang pflegen.
Es ist davon auszugehen, dass diese physiologischen Vorgänge und das tatsächliche Verhalten eines Menschen in einer Wechselwirkung stehen. Das Gefühl von Nähe und Gemeinschaft führt zur Ausschüttung von Oxytocin, aber umgekehrt würden wir Nähe und Gemeinschaft gar nicht suchen, wenn es Oxytocin nicht gäbe. Es ermöglicht zum einen, dass wir uns als Teil einer sozialen Gruppe fühlen können. Es beeinflusst die Aktivitäten der Amygdala, auch Mandelkern genannt, also des Teils im Gehirn, der Gefahren erkennt und Situationen emotional bewertet. Erst dadurch können wir Vertrauen aufbauen. Und drittens macht es die Entstehung von Empathie und Mitgefühl erst möglich.7 Wer unter einer posttraumatischen