Das neunte Haus - Leigh Bardugo - E-Book
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Das neunte Haus E-Book

Leigh Bardugo

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Beschreibung

Campus-Leben, dunkle Magie und eine Heldin mit Kult-Potenzial: »Das neunte Haus« verbindet Urban Fantasy mit Gothic Noir zu einem unwiderstehlichen Mix. MORS VINCIT OMNIA - Der Tod besiegt alles (Wahlspruch von Haus Lethe): Acht mächtige Studenten-Verbindungen beherrschen nicht nur den Campus der Elite-Universität Yale, sondern nehmen seit Generationen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der USA – das neunte Haus jedoch überwacht die Einhaltung der Regeln. Denn die Macht der Verbindungen beruht auf uralter, dunkler Magie: So können die Mitglieder der »Skull & Bones« die Börsenkurse aus den Eingeweiden lebender Opfer vorhersagen, während Haus Aurelian durch Blutmagie Einfluss auf das geschriebene Wort nehmen kann – ebenso hilfreich für Juristen wie für Bestseller-Autoren … Als auf dem Campus von Yale eine Studentin brutal ermordet wird, sind die Fähigkeiten der Außenseiterin Alex Stern gefragt, die eben erst vom neunten Haus rekrutiert wurde: Nur Alex ist es auch ohne den Einsatz gefährlicher Magie möglich, die Geister der Toten zu sehen. Um eine Verschwörung aufzudecken, die weit über 100 Jahre zurückreicht, muss Alex ihre Fähigkeiten bis aufs Äußerste ausreizen. Die Autorin Leigh Bardugo hat mit ihren Fantasy-Bestsellern »Das Lied der Krähen« und »Das Gold der Krähen« ebenso wie mit ihrer Grisha-Trilogie auch in Deutschland bereits eine große Fangemeinde begeistert. »Der beste Fantasy-Roman, den ich seit Jahren gelesen habe, denn er handelt von echten Menschen. Die Spannweite von Bardugos Vorstellungskraft ist brillant.« Stephen King Tauche ein in die magische Welt der Bestseller-Autorin Leigh Bardugo: - »Das neunte Haus« (Alex-Stern-Reihe 1) - »Wer die Hölle kennt« (Alex-Stern-Reihe 2) - »Goldene Flammen« (Grisha-Trilogie 1) - »Eisige Wellen« (Grisha-Trilogie 2) - »Lodernde Schwingen« (Grisha-Trilogie 3) - »Das Lied der Krähen« (Krähen-Dilogie 1) - »Das Gold der Krähen« (Krähen-Dilogie 2) - »King of Scars« (»King of Scars« 1) - »Rule of Wolves« (»King of Scars« 2) - »Die Sprache der Dornen« (illustrierte Märchen aus der Welt der Grisha) - »Die Leben der Heiligen« (illustrierte Heiligen-Legenden aus der Welt der Grisha) - »Demon in the Wood. Schatten der Vergangenheit« (Graphic Novel zur Vorgeschichte des Dunklen)

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Leigh Bardugo

Das neunte Haus

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Michelle Gyo

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Acht mächtige Studenten-Verbindungen beherrschen nicht nur den Campus der Elite-Universität Yale, sondern nehmen seit Generationen Einfluss auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der USA – das neunte Haus jedoch überwacht die Einhaltung der Regeln. Denn die Macht der Verbindungen beruht auf uralter, dunkler Magie: So können die Mitglieder der »Skull & Bones« die Börsenkurse aus den Eingeweiden lebender Opfer vorhersagen, während Haus Aurelian durch Blutmagie Einfluss auf das geschriebene Wort nehmen kann – ebenso hilfreich für Juristen wie für Bestseller-Autoren …

Als auf dem Campus von Yale mehrere Studentinnen brutal ermordet werden, sind die Fähigkeiten der Außenseiterin Alex Stern gefragt, die eben erst vom neunten Haus rekrutiert wurde: Nur Alex ist es auch ohne den Einsatz gefährlicher Magie möglich, die Geister der Toten zu sehen. Um eine Verschwörung aufzudecken, die weit über 100 Jahre zurückreicht, muss Alex ihre Fähigkeiten bis aufs Äußerste ausreizen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

Die Häuser des Schleiers »Die Alten Acht«

Die Haupthäuser

Niedere Häuser

Danksagung

Leseprobe »Wer die Hölle kennt«

Für Hedwig, Nima, Em und Les –

Weil ihr mich so oft rettet.

Ay una moza y una moza

que nonse espanta de la muerte

Porque tiene padre y madre

y sus doge hermanos cazados,

Caza de tre tabacades

y un cortijo enladriado.

En medio de aquel cortijo

havia un mansanale

Que da mansanas de amores

en vierno y en verano.

Adientro de aquel cortijo

siete grutas hay fraguadas.

En cada gruta y gruta

ay echado cadenado. …

El huerco que fue liegero

se entró por el cadenado.

La Moza y El Huerco

 

 

Es gibt da ein Mädchen, ein Mädchen, das den Tod nicht fürchtet,

Denn es hat Vater und Mutter und zwölf verheiratete Brüder,

Ein Haus mit drei Etagen hoch auf einem von Mauern umgebenen Landgut.

Mitten im Gut

stand ein Apfelbaum,

der Liebesäpfel trägt,

winters und sommers.

Innerhalb des Gutes

gibt es sieben Grotten, aus Stein gehauen.

Eine jede

gesichert mit einem Schloss. …

Der Tod stahl sich leicht, wie er war,

durch das Schlüsselloch hinein.

 

- Der Tod und das Mädchen, Sefardische Ballade

Prolog

Vorfrühling

Bis es Alex gelungen war, das Blut aus ihrem guten Wollmantel zu waschen, war es bereits zu warm, um ihn zu tragen. Dabei hatte sich der Frühling nur widerwillig eingefunden; die blassblauen Morgenstunden wurden und wurden nicht heller, verwandelten sich stattdessen in feuchte, düstere Nachmittage, und hartnäckige Eisklumpen säumten wie schmutziges Baisergebäck die Straßen. Erst etwa Mitte März befreiten sich die Grasflecken zwischen den Steinpfaden des alten Campus vom Schnee, kamen nass, dunkel und matschig zum Vorschein.

Alex saß auf dem Fenstersitz in einem der Räume, die im obersten Stockwerk in der York Street Nr. 286 verborgen lagen, und las das Schriftstück mit den Richtlinien für das Haus Lethe. Sie hörte das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims und auch das Läuten der Glocke, wenn Kunden das Bekleidungsgeschäft im unteren Teil des Hauses betraten oder es verließen. Die Mitglieder von Lethe nannten die geheimen Räume über dem Laden liebevoll die »Hütte«, und in den gewerblichen Räumen darunter waren im Laufe der Zeit ein Schuhladen, ein Outdoor-Ausstatter und ein 24-Stunden-Wawa-Mini-Supermarkt mit eigener Taco-Bell-Theke untergebracht gewesen. In den Tagebüchern über die Zeit bei Lethe aus diesen Jahren fanden sich etliche Beschwerden über den Gestank nach Bohnenmus und frittierten Zwiebeln, der durch den Boden nach oben gestiegen war – bis jemand 1995 die Hütte und die Hintertreppe, die zur Gasse hinabführte, mit einem Zauber belegte, sodass es dort nun immer nach Weichspüler und Nelken roch.

Alex hatte das Schriftstück mit den Richtlinien irgendwann in den Wochen nach dem Vorfall in der Villa an der Orange Street gefunden, an den sie sich nur noch verschwommen erinnerte. Seither hatte sie nur ein einziges Mal auf dem alten Computer in der Hütte ihre Mails abgerufen, die lange Reihe mit Nachrichten von Dekan Sandow gesehen und sich wieder ausgeloggt. Sie hatte seither den Akku ihres Telefons nicht mehr aufgeladen, war nicht in ihre Kurse gegangen und hatte stattdessen dabei zugesehen, wie aus den Knubbeln an den Zweigen vor dem Fenster Blätter wuchsen. Sie hatte die Lebensmittel aus der Vorratskammer und dem Gefrierschrank aufgegessen – die besonderen Käsesorten und den geräucherten Lachs zuerst, dann die Dosen mit Bohnen und in Sirup eingelegten Pfirsichen aus den Kisten, auf denen NOTFALLRATIONEN stand. Als auch diese weg waren, hatte sie begonnen, sich Essen liefern und alles von Darlingtons immer noch aktivem Konto abbuchen zu lassen. Der Weg die Stufen hinab und wieder hinauf ermüdete sie so, dass sie sich ausruhen musste, bevor sie ihr Mittag- oder Abendessen zu sich nahm, und manchmal machte sie sich erst gar nicht die Mühe, etwas zu essen, sondern schlief in dem Fenstersitz oder auf dem Boden neben den Plastiktüten und in Folie verpackten Behältern ein. Niemand kam, um nach ihr zu sehen. Es war niemand mehr da.

Das Schriftstück war preiswert gedruckt und die Seiten waren zusammengetackert worden, und auf dem Cover war ein Schwarz-Weiß-Bild vom Harkness Tower zu sehen, unter dem Wir sind die Hirten stand. Sie bezweifelte, dass die Gründer von Haus Lethe Johnny Cash im Sinn gehabt hatten, als sie ihr Motto wählten, aber jedes Mal, wenn sie diese Worte sah, dachte sie an die Weihnachtszeit, daran, wie sie auf der alten Matratze in Lens Bude in Van Nuys lag, eine halb leere Dose Cranberrysauce neben sich auf dem Boden, wie sich das Zimmer drehte und Johnny Cash sang: »We are the shepherds, we walked cross the mountains. We left our flocks, when the new star appeared.« Sie dachte an Len, der sich umgedreht hatte, die Hand unter ihr Shirt schob und ihr ins Ohr murmelte: »Das sind vielleicht beschissene Hirten.«

Die Voraussetzungen für die Haus-Lethe-Kandidaten standen im hinteren Teil des Schriftstücks und waren zuletzt 1962 aktualisiert worden.

Hervorragende akademische Leistungen mit einem Schwerpunkt auf Geschichte und Chemie.

Sprachliche Gewandtheit und Grundkenntnisse in Latein und Griechisch.

Gute Gesundheit und Körperpflege. Regelmäßige körperliche Ertüchtigung ist erwünscht.

Gefestigter Charakter, Fähigkeit zur Diskretion.

Sollte keine Überempfindlichkeit in Bezug auf die verschiedenen Körperfunktionen hegen.

MORS VINCIT OMNIA.

Alex – die keine Grundkenntnisse des Lateinischen besaß – schlug es nach: Der Tod besiegt alles. Aber an den Rand hatte jemand mit einem blauen Kuli irrumat über das vincit gekritzelt, das Original fast unleserlich gemacht.

Unter den Richtlinien war ein Addendum vermerkt. Die Voraussetzungen wurden für zwei Kandidaten gelockert: Lowell Scott (B.A., Englisch, 1909) und Sinclair Bell Braverman (kein Abschluss, 1950), mit unterschiedlichen Ergebnissen.

Am Rand stand dort eine Notiz, in Darlingtons gezackter Sauklaue, die an ein EKG erinnerte: Alex Stern. Sie dachte an das Blut, das in der alten Villa Anderson in den Teppich gesickert war und ihn schwarz verfärbt hatte. Sie dachte an den Dekan – das Weiß des Oberschenkelknochens, der aus seinem Bein ragte, der Gestank nach Hund, der die Luft erfüllte.

Alex stellte den Alubehälter mit kalten Falafeln von Mamouns beiseite und wischte sich die Hände an ihrer Lethe-Jogginghose ab. Sie humpelte ins Bad, öffnete eine Packung Zolpidem und legte sich eine Tablette unter die Zunge. Dann hielt sie die hohle Hand unter den Hahn und sah zu, wie das Wasser über ihre Finger floss, lauschte dem düsteren Gurgeln des Abflusses. Die Voraussetzungen wurden für zwei Kandidaten gelockert.

Zum ersten Mal seit Wochen blickte sie das Mädchen in dem wasserbespritzten Spiegel an, sah zu, wie es das Tanktop hochschob, die Baumwolle mit gelbem Eiter befleckt. Die Wunde in Alex’ Seite war ein tiefes Loch und schwarz verkrustet. Der Biss hatte eine deutliche Wölbung hinterlassen, und sie wusste, dass die Wunde schlecht verheilen würde – wenn überhaupt. Mors irrumat omnia. Der Tod fickt uns alle.

Mit spitzen Fingern berührte Alex sanft die heiße, rote Haut rings um die Zahnspuren. Die Wunde hatte sich infiziert. Sie verspürte eine leichte Besorgnis, nahm ihren Selbsterhaltungstrieb wahr, aber der Gedanke, das Telefon zu ergreifen, eine Fahrt zum Ärztezentrum für Studenten zu organisieren – die Abfolge dieser Handlungen, die neue nach sich ziehen würden –, überforderte sie, und das warme, dumpfe Pochen in ihrem Körper war ihr mittlerweile zu einer fast angenehmen Gesellschaft geworden. Vielleicht würde sie Fieber bekommen, anfangen zu halluzinieren.

Sie musterte die Rundung ihrer Rippen, die blauen Venen, die wie Hauptstromleitungen unter den verblassenden blauen Flecken entlangliefen. An ihren trockenen, aufgesprungenen Lippen hafteten kleine Hautfetzen. Sie dachte an ihren Namen, der in der Randspalte des Schriftstücks vermerkt war – der dritte Fall.

»Die Ergebnisse waren ausgesprochen unterschiedlich«, sagte sie und erschrak angesichts des rauen Rasselns ihrer Stimme. Sie lachte, und der gurgelnde Abfluss schien mit ihr zu kichern. Vielleicht hatte sie ja bereits Fieber.

Im grell fluoreszierenden Schein des Badezimmerlichts fasste sie an die Bissspuren in ihrer Seite und grub ihre Finger hinein, zwickte in das Fleisch, bis der Schmerz sich wie ein Mantel über sie legte und die Ohnmacht in einer willkommenen Welle über sie hereinbrach.

Jetzt war Frühling. Aber die Probleme hatten in einer Nacht mitten im tiefsten Winter begonnen, als Tara Hutchins gestorben war und als Alex immer noch geglaubt hatte, dass sie vielleicht mit allem davonkommen würde.

Skull and Bones, die älteste der Verbindungen mit einem eigenen Ort für Versammlungen und das erste der acht Häuser des Schleiers, wurde 1832 gegründet. Die Knochenleute prahlen damit, dass sie mehr Präsidenten, Verleger, Wirtschaftsführer und Kabinettsmitglieder hervorgebracht haben als jede andere Verbindung (die Gesamtliste der Alumni entnehmen Sie bitte Anhang C), und »prahlen« trifft es wohl gut. Die Knochenleute sind sich ihres Einflusses bewusst, und so erwarten sie Ehrerbietung von Lethes Abgesandten. Doch sie würden gut daran tun, sich ihres eigenen Mottos zu erinnern: Reich oder arm, alle sind im Tode gleich. Seien Sie stets verschwiegen und diplomatisch, wie man es von Ihnen in Ihrer Stellung erwartet, aber denken Sie auch immer daran, dass es nicht unsere Pflicht ist, die Eitelkeit von Yales Besten und Klügsten zu stützen, sondern zwischen den Lebenden und den Toten zu stehen.

 

- Aus: Lethe – Abläufe und Vorschriften des Neunten Hauses

 

Die Knochenleute halten sich für Titanen unter den Degenerierten, was für ein Ding. Aber wer bin ich, kleinlich zu tun, solange die Drinks stark sind und die Mädchen hübsch?

 

- Tagebücher über die Zeit bei Lethe von George Petit (Saybrook College ’56)

1

Winter

Alex eilte über die weite, fremdartige Beinecke Plaza, ihre Schritte hallten auf den sauberen Betonplatten. Der riesige Kubus der Sammlung für seltene Bücher schien über dem Untergeschoss des Gebäudes zu schweben. Am Tag leuchtete die Täfelung bernsteinfarben wie die Waben eines Bienenstocks, glich eher einem Tempel als einer Bibliothek. In der Nacht hingegen sah das Bauwerk aus wie eine Gruft. Dieser Teil des Campus passte nicht ganz zum Rest von Yale – nirgends grauer Stein oder gotische Bögen, keine rebellischen Ausbuchtungen an den Backsteingebäuden, die laut Darlington eigentlich nicht kolonial waren, sondern nur so aussehen sollten. Er hatte Alex erklärt, warum man Beinecke so konzipiert hatte: Es sollte diese Ecke des Campus widerspiegeln und sich einfügen, doch musste Alex beim Anblick des Gebäudes eher an einen Science-Fiction-Film aus den 1970ern denken – so, als müssten hier alle Studenten Gymnastikanzüge oder zu kurze Tuniken tragen, Nahrung in Pelletform zu sich nehmen und etwas trinken, das »Extrakt« genannt wurde. Selbst die große Metallstatue – die von Alexander Calder stammte, wie sie inzwischen wusste – erinnerte sie an eine gewaltige, umgekehrte Lavalampe.

»Es heißt nur Calder«, murmelte sie vor sich hin. So redeten die Leute hier über Kunst. Nichts war von jemandem. Die Skulptur war Calder. Das Gemälde Rothko. Das Haus Neutra.

Alex war spät dran. Sie hatte den Abend voller guter Absichten begonnen, hatte ihren Essay über den modernen britischen Roman weiterschreiben wollen, um dann rechtzeitig zur Voraussage aufzubrechen. Stattdessen war sie in einem Lesesaal der Sterling Library eingeschlafen, eine Kopie von »Nostromo« in der Hand und die Füße auf eine Heizungsröhre gelegt. Um halb zehn war sie hochgeschreckt, mit Spucke im Mundwinkel. Ihr erschrecktes »Shit!« hatte sich in der Stille der Bibliothek laut wie ein Gewehrschuss angehört, und sie hatte ihr Gesicht in den Schal geschmiegt, sich die Tasche über die Schulter geworfen und war hinausgerannt.

Jetzt nahm sie eine Abkürzung durch das Commons, an der Rotunde entlang, in der die Namen der Kriegstoten in den Marmor geritzt waren und wo Steinfiguren als Mahnwachen standen: Frieden, Hingabe, Erinnerung und schließlich Mut, der außer Helm und Schild nichts trug und Alex eher an einen Stripper erinnerte als an einen Trauernden. Sie rannte die Stufen hinab und über die Kreuzung College, Ecke Grove.

Der Campus veränderte sein Aussehen von Stunde zu Stunde und Block zu Block, sodass es Alex stets so vorkam, als wäre sie zum ersten Mal hier. Heute Abend war er ein Schlafwandler, der tief und gleichmäßig atmete. Die Menschen, an denen sie auf dem Weg zum SSS vorbeikam, schienen in einem Traum gefangen, mit weichem Blick, die Gesichter einander zugewandt. Dampf stieg von den Kaffeebechern auf, die sie in den behandschuhten Händen hielten. Alex kam der gruselige Gedanke, dass die Menschen sie nur träumten: ein Mädchen in dunklem Mantel, das verschwinden würde, sobald sie erwachten.

Auch die Sheffield-Sterling-Strathcona Hall schien vor sich hinzudösen, die Kursräume waren verschlossen, die Flure lagen im Dämmerlicht der Energiesparlampen da. Alex lief die Treppe hoch in den ersten Stock. Lärm hallte von einem der Hörsäle herüber. Dort wurden jeden Donnerstagabend Filme gezeigt. Mercy hatte den Spielplan an die Tür ihres Schlafzimmers geklebt, aber Alex hatte ihn sich gar nicht erst angesehen. Ihre Donnerstage waren voll.

Tripp Helmuth lehnte lässig an der Wand neben der Hörsaaltür. Er begrüßte Alex mit müdem Nicken. Selbst im dämmrigen Licht erkannte sie seine blutunterlaufenen Augen. Ohne Zweifel hatte er vorhin geraucht. Vielleicht hatten die älteren Knochenleute ihn deshalb zum Wachdienst verdonnert. Oder er hatte sich freiwillig gemeldet.

»Du bist spät dran«, sagte er. »Sie haben schon angefangen.«

Alex ignorierte ihn und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass der Flur leer war. Sie brauchte sich bei Tripp Helmuth nicht zu entschuldigen, das würde nur schwach wirken. Also drückte sie lediglich den Daumen in die kaum sichtbare Vertiefung im Holzpaneel. Eigentlich sollte die Wandtür dann geschmeidig aufschwingen, doch sie klemmte immer. Alex stieß sie fest mit der Schulter an und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als sie aufsprang.

»Vorsichtig, Killer«, sagte Tripp.

Alex schloss die Wandtür hinter sich und folgte langsam dem schmalen Gang in die Dunkelheit hinab.

Unglücklicherweise hatte Tripp recht. Die Vorhersage hatte bereits begonnen. So leise wie möglich betrat Alex den alten Operationssaal.

Er war fensterlos und lag zwischen dem Vorlesungssaal und einem Kursraum, den die Master-Studenten für Diskussionsrunden nutzten. Ein vergessenes Überbleibsel der medizinischen Fakultät, die ihre Kurse hier im SSS abgehalten hatte, bevor sie in ein eigenes Gebäude umgezogen war. Die Leiter der Stiftung, die Skull and Bones förderten, hatten den Zugang irgendwann um 1932 versiegeln lassen und die Räumlichkeiten hinter einer neuen Wandtäfelung versteckt. Alles Fakten, die Alex in »Lethe: Ein Vermächtnis« gelesen hatte, obwohl sie eigentlich »Nostromo« hätte lesen sollen.

Niemand würdigte sie eines Blickes. Aller Augen waren auf den Haruspex gerichtet, dessen schmales Gesicht unter einer Operationsmaske verborgen war. Seine blassblaue Robe war mit Blut bespritzt, seine Finger steckten in Latexhandschuhen und bewegten sich gleichmäßig durch die Eingeweide des – Patienten? Subjekts? Opfers? Alex war sich nicht sicher, in welche Kategorie der Mann auf dem Tisch gehörte. Nein, er war kein »Opfer«. Er soll danach weiterleben. Das sicherzustellen war Teil ihrer Aufgabe. Sie würde ihn durch diese Tortur begleiten und hinterher wieder zu der Krankenhausstation bringen, von der man ihn geholt hatte. Aber was ist in einem Jahr?, fragte sie sich. In fünf Jahren?

Alex sah zu dem Mann auf dem Tisch: Michael Reyes. Zwei Wochen zuvor, als er für das Ritual ausgewählt worden war, hatte sie seine Akte gelesen. Man hatte ihm die Bauchdecke aufgeklappt und sie mit Stahlklammern fixiert. Sein Abdomen erinnerte an eine pralle, pinke Orchidee, deren Blütenmitte flauschig und rot wirkte. Und das soll keine Spuren hinterlassen? Alex verwarf den Gedanken gleich wieder. Sie musste sich um ihre eigene Zukunft sorgen. Reyes würde schon klarkommen.

Sie wandte den Blick ab, versuchte, durch den Mund zu atmen. Ihr Magen verkrampfte leicht, und sie schmeckte kupfrige Galle im Mund. Sie hatte genug üble Verletzungen gesehen, aber stets an Toten. Eine solche Wunde an einem lebenden Wesen setzte ihr weit mehr zu. Ein menschlicher Körper, den nur das regelmäßige Piepen eines Monitors am Leben hielt. Gegen Übelkeit hatte sie kandierten Ingwer in der Tasche – einer von Darlingtons Tipps –, doch konnte sie sich nicht dazu überwinden, ihn herauszuholen.

Stattdessen fokussierte sie ihren Blick auf einen Punkt in mittlerer Entfernung, während der Haruspex eine Reihe von Nummern und Buchstaben aufrief – Aktiensymbole und Kurse für Gesellschaften, die öffentlich an der New Yorker Börse handelten. Später in der Nacht würde er zum NASDAQ übergehen, zum Euronext und zum asiatischen Markt. Alex machte sich nicht die Mühe, die Zahlen zu enträtseln. Die Anweisungen zum Kauf, Verkauf oder Halten erfolgten in unverständlichem Niederländisch, in der Sprache der Geschäftswelt, der ersten Börse des alten New Yorks: die offizielle Sprache der Knochenleute. Zu der Zeit, als Skull and Bones gegründet worden war, hatten zu viele Studenten Griechisch und Latein beherrscht. Folglich hatte man sich auf eine obskurere Geschäftssprache verständigt.

»Niederländisch ist schwerer auszusprechen«, hatte Darlington ihr erzählt. »Außerdem liefert es den Knochenleuten einen Vorwand, um nach Amsterdam zu reisen.« Natürlich beherrschte Darlington Latein, Griechisch und Niederländisch. Er sprach auch Französisch, Mandarin und ganz passabel Portugiesisch. Alex hatte gerade erst mit Spanisch II angefangen. Sie hatte geglaubt, das würde ihr leichtfallen, weil sie in der Grundschule Kurse absolviert hatte und viele Ladino-Sprichworte kannte, die sie von ihrer Großmutter aufgeschnappt hatte. Sie hatte nicht mit Dingen wie dem Konjunktiv gerechnet. Immerhin konnte sie fragen, ob Gloria morgen Abend vielleicht in die Disco gehen wollte.

Das Rattern von Schüssen drang gedämpft durch die Wand. Eindeutig verärgert sah der Haruspex von dem glitschigen, pinken Wirrwarr auf, bei dem es sich um Michael Reyes’ Dünndarm handelte.

Scarface, erkannte Alex, als die Musik anschwoll und ein Chor lauter Stimmen donnerte: »Ihr wollt was von mir? Okay. Dann kommt mal, kommt her. Wollt ihr das volle Programm?« Das Publikum brüllte den Text mit wie bei der Rocky Horror Picture Show. Die Leute mussten Scarface schon hundert Mal gesehen haben. Das war einer von Lens Lieblingsfilmen. In dieser Hinsicht war er vorhersehbar: Er liebte alles Harte – er hätte sich glatt per Post einen »Wie man zum Gangster wird«-Bausatz bestellen können. Als sie Hellie an der Uferpromenade in Venice begegnet waren, hatte Alex beim Anblick ihres goldblonden Haars und der blauen Augen sofort an Michelle Pfeiffer in ihrem Satinkleidchen denken müssen. Ihr hatte nur der glatte Pony gefehlt. Heute Nacht wollte Alex allerdings nicht an Hellie denken, nicht, solange die Luft nach Blut stank. Len und Hellie waren ihr altes Leben. Sie gehörten nicht nach Yale. Und Alex ebenfalls nicht.

Trotz der Erinnerungen war sie dankbar für den Lärm, der die schmatzenden Geräusche übertönte, mit denen der Haruspex sich durch Michael Reyes’ Eingeweide wühlte. Was sah er dort? Darlington hatte gesagt, Vorhersagen seien nichts anderes, als wenn jemand in Tarotkarten oder einer Handvoll Tierknochen die Zukunft las. Allerdings sah dies hier anders aus. Und klang spezieller. Du vermisst jemanden. Du wirst im neuen Jahr Freude finden. Das waren Prophezeiungen, die Kartenleger von sich gaben – vage, tröstlich.

Alex musterte die Knochenleute, die sich in ihren Kapuzenroben um den Körper auf dem Tisch drängten. Der Schreiber, ein Student, notierte die Prophezeiungen, die an die Hedge-Fonds-Manager und privaten Investoren in der ganzen Welt gehen würden, damit die Knochenleute und ihre Alumni finanziell abgesichert wären. Frühere Präsidenten, Diplomaten, mindestens ein Leiter der CIA – alles Knochenleute. Alex dachte daran, wie Tony Montana im Whirlpool lag und seine Rede hielt: Weißt du, was Kapitalismus ist? Alex blickte zu Michael Reyes’ ausgestrecktem Körper. Tony, du hast keine Ahnung.

Sie nahm eine rasche Bewegung in den aufsteigenden Bankreihen wahr, die den Operationstisch umgaben. Zwei ortsansässige Graue befanden sich nur ein paar Plätze voneinander entfernt. Eine Frau, eine Geisteskranke, der man 1926 die Eierstöcke und den Uterus bei einer Hysterektomie entfernt hatte, wofür man ihr im Falle ihres Überlebens sechs Dollar gezahlt hätte, und ein Mann, ein Medizinstudent. Er war in einer Opiumhöhle erfroren, Tausende Meilen entfernt, irgendwann um 1880, doch kehrte er beständig an seinen alten Platz zurück und schaute hinab auf das, was auch immer sich ihm dort bot. Man nahm hier nur viermal im Jahr Vorhersagen vor, am Anfang jedes Steuerquartals, und das schien ihm zu genügen.

Darlington sagte immer, der Umgang mit Geistern sei wie U-Bahn fahren: Kein Blickkontakt. Nicht lächeln. Nicht ansprechen. Ansonsten weißt du nicht, was dir vielleicht bis nach Hause folgt. Leichter gesagt als getan, wenn das Einzige, was man sonst ansehen konnte, ein Mann war, der mit den Innereien eines anderen spielte wie mit Mah-Jongg-Steinen.

Alex erinnerte sich daran, wie entsetzt Darlington darüber gewesen war, dass sie Geister nicht nur ohne die Hilfe eines Tranks oder Spruchs sehen konnte, sondern auch noch in Farbe. Er war seltsam aufgebracht gewesen. Sie hatte das genossen.

»Welche Art von Farben?«, hatte er gefragt, die Füße vom Kaffeetisch genommen und seine schweren, schwarzen Stiefel auf den Lattenboden des Salons im Il Bastone knallen lassen.

»Einfach in Farbe. Wie ein altes Polaroidfoto. Warum? Wie siehst du sie?«

»Sie sehen grau aus«, blaffte er. »Deshalb nennt man sie ja auch Graue.«

Alex hatte mit den Schultern gezuckt, wissend, dass ihre Lässigkeit Darlington noch wütender machen würde. »Das ist keine große Sache.«

»Nicht für dich«, hatte er gemurmelt und war davongestürmt. Er hatte den Rest des Tages im Trainingsraum verbracht und sich dort verausgabt.

Alex war in diesem Moment mit sich selbst sehr zufrieden gewesen, froh, dass ihm nicht alles so leichtfiel. Doch jetzt, als sie den Saal umrundete und die kleinen Kreidemarkierungen prüfte, die die Himmelsrichtungen angaben, fühlte sie sich nur kribbelig und unvorbereitet. Dieses Gefühl begleitete sie, seit sie den Campus zum ersten Mal betreten hatte. Nein, schon länger. Seit Dekan Sandow sich zu ihr ans Krankenhausbett gesetzt, mit seinen nikotinbefleckten Händen auf die Handschellen an ihren Gelenken getippt und gesagt hatte: »Wir machen dir ein Angebot.« Aber das war die alte Alex gewesen. Die Alex von Hellie und Len. Yale-Alex hatte niemals Handschellen getragen, war niemals in einen Streit verwickelt worden, hatte nie einen Fremden im Waschraum gefickt, um die Provision für ihren Freund zusammenzubringen. Yale-Alex mühte sich ab und beschwerte sich nicht. Sie war ein gutes Mädchen, das nur mitzuhalten versuchte.

Und das dabei versagt. Sie hätte zeitiger hier sein sollen, um das Anbringen der Zeichen zu überprüfen und dafür zu sorgen, dass der Kreis sicher war. Alte Graue wie die, die über den Bänken schwebten, machten zwar meist keine Schwierigkeiten, selbst wenn Blut vergossen wurde. Trotzdem war mit den Vorhersagen mächtige Magie verbunden, und es war Alex’ Aufgabe zu überprüfen, dass die Knochenleute die Vorschriften einhielten und aufpassten. Heute jedoch schauspielerte sie. Letzte Nacht hatte sie versucht, sich die korrekten Zeichen und das Verhältnis von Kreide, Kohle und Knochen einzuprägen. Sie hatte sogar Lernkarten angefertigt, verdammt noch mal, und ihre Lektüre von Joseph Conrads »Nostromo« immer wieder unterbrochen, um sie durchzugehen.

Alex fand, die Markierungen sahen okay aus, allerdings beherrschte sie die Schutzzeichen in etwa so gut wie die moderne britische Literatur. Als sie mit Darlington der Herbstquartalvorhersage beigewohnt hatte, hatte sie da wirklich aufgepasst? Nein. Sie war zu sehr mit ihrem Ingwer beschäftigt gewesen, aufgewühlt von der Fremdartigkeit all dessen, und hatte darum gebetet, nicht kotzen zu müssen. Sie hatte geglaubt, unter Darlingtons Aufsicht jede Menge Zeit für den Lernstoff zu haben. Doch diesbezüglich hatten sie beide falschgelegen.

»Voorhoofd!«, rief der Haruspex, und eine der Knochenfrauen stürzte vor. Melinda? Miranda? Alex konnte sich nicht an den Namen der Rothaarigen erinnern, nur, dass sie in einer A-cappella-Truppe namens Whim ’n’ Rhythm sang, die nur aus Frauen bestand. Das Mädchen tupfte dem Haruspex die Stirn mit einem weißen Tuch ab und zog sich dann wieder in die Menge zurück.

Alex versuchte, nicht zu dem Mann auf dem Tisch zu sehen, dennoch huschte ihr Blick zu seinem Gesicht. Michael Reyes, Alter achtundvierzig, diagnostizierte paranoide Schizophrenie. Würde Reyes sich an etwas erinnern, wenn er erwachte? Wenn er das jemandem erzählte, würde man ihn einfach als Verrückten abtun? Alex wusste genau, wie das war. Das da auf dem Tisch könnte ich sein.

»Die Knochenleute mögen es, wenn sie so irre wie möglich sind«, hatte Darlington erklärt. »Sie denken, das liefert bessere Vorhersagen.« Als Alex ihn gefragt hatte, warum, hatte er nur geantwortet: »Je verrückter der victima, desto näher an Gott.«

»Stimmt das?«

»Nur durch das Mysterium und die Tollheit wird die Seele enthüllt«, hatte er zitiert. Dann hatte er mit den Schultern gezuckt. »Ihre Kontostände geben ihnen recht.«

»Und wir sind damit einverstanden?«, hatte Alex Darlington gefragt. »Dass Leute aufgeschnitten werden, damit Chauncey sein Sommerhaus neu einrichten kann?«

»Hab nie einen Chauncey getroffen«, sagte er. »Hoffe aber noch darauf.« Dann hatte er eine ernste Miene aufgesetzt und den Blick durch die Waffenkammer schweifen lassen. »Nichts wird dem ein Ende bereiten. Zu viele mächtige Menschen setzen auf das, wozu die Verbindungen imstande sind. Bevor Lethe existierte, hielt niemand Wache. Also kannst du vergeblich protestieren und dein Stipendium verlieren, oder du bleibst hier, machst deinen Job und bewirkst so viel Gutes wie möglich.«

Dennoch hatte Alex sich gefragt, ob das nur ein Teil der Geschichte war, ob Darlingtons Wunsch, alles zu wissen, ihn so fest an Lethe band wie jedes Pflichtbewusstsein. Doch sie hatte geschwiegen, und das würde sie auch jetzt tun.

Man hatte Michael Reyes in einem der öffentlich zur Verfügung stehenden Betten vom Yale New Haven gefunden. Für die Außenwelt sah er aus wie jeder andere Patient: ein Vagabund, der Typ, den man in die Psychiatrie, die Notaufnahmen und Gefängnisse einlieferte, mal auf Medikamenten, dann wieder ohne. Als nächster Angehöriger war sein Bruder in New Jersey aufgeführt. Der hatte stellvertretend sein Einverständnis für etwas erteilt, das man ihm als medizinischen Routineeingriff verkauft hatte, als Behandlung eines vernarbten Darms.

Reyes wurde ausschließlich von einer Schwester namens Jean Gatdula versorgt, die drei Nachtschichten in Folge arbeiten musste. Als man sie durch einen scheinbaren Planungsfehler für zwei weitere Nächte auf der Station einteilte, hatte sie nicht einmal geblinzelt, geschweige denn einen Aufstand gemacht. Womöglich hatten ihre Kollegen bemerkt, dass sie in dieser Woche immer mit einer riesigen Handtasche zur Arbeit erschien, vielleicht aber auch nicht. Darin war ein kleines Kühlgerät verstaut, in dem sie Michael Reyes Mahlzeiten mitbrachte: das Herz einer Taube für Klarheit, Geranienwurzel und ein Gericht aus bitteren Kräutern. Gatdula hatte keine Ahnung, was das Essen bewirkte oder welches Schicksal Michael Reyes erwartete. Ebenso wenig wusste sie, was aus den »besonderen« Patienten wurde, um die sie sich kümmerte. Sie wusste nicht einmal, für wen sie arbeitete, nur, dass sie einmal pro Monat einen Scheck erhielt – dringend benötigt, um die Spielschulden wettzumachen, die ihr Mann an den Blackjacktischen im Foxwoods aufhäufte.

Bildete Alex sich das nur ein, oder roch sie wirklich die gehackte Petersilie in Reyes’ Eingeweiden? Erneut verkrampfte sich ihr Magen. Sie sehnte sich nach frischer Luft und schwitzte unter den Stofflagen. Im Operationssaal war es zwar kalt, er wurde von Lüftungen gekühlt, die getrennt vom Rest des Gebäudes liefen. Dennoch gaben die großen, tragbaren Halogenstrahler, die man zur Beleuchtung nutzte, immer noch Hitze ab.

Ein leises Stöhnen erklang. Alex’ Blick huschte zu Michael Reyes, und ein schreckliches Bild kam ihr in den Sinn: Reyes erwachte, an einen Tisch gefesselt, umgeben von vermummten Gestalten, während seine Innereien heraushingen. Doch seine Augen waren geschlossen, seine Brust hob und senkte sich in gleichmäßigem Rhythmus. Das Stöhnen wurde lauter. Vielleicht war einem der Umstehenden schlecht? Keiner der Anwesenden wirkte gequält. Ihre Gesichter leuchteten unter ihren Kapuzen wie wissbegierige Monde, ihre Blicke waren auf die Prozedur gerichtet.

Dennoch schwoll das Stöhnen an, steigerte sich langsam, erfüllte den Raum und hallte vom dunklen Holz der Wände wider. Kein direkter Augenkontakt, mahnte Alex sich. Sieh nur nach, ob die Grauen – sie unterdrückte ein erschrecktes Grunzen.

Die Grauen waren nicht mehr auf ihren Plätzen.

Sie lehnten über dem Geländer, das den Operationssaal umgab, krallten die Finger ums Holz und verrenkten sich die Hälse. Sie reckten sich dem Rand des Kreidekreises entgegen wie Tiere, die ans Ufer einer Wasserstelle streben.

Sieh nicht hin, warnte Darlingtons Stimme sie. Sieh nicht zu genau hin. Ein Grauer konnte nur allzu leicht ein Band knüpfen, sich an einen Menschen koppeln. Für Alex war das umso gefährlicher, weil sie die Geschichte dieser Grauen kannte. Sie waren schon so lange da, dass Generationen von Lethe-Vertretern ihre Vergangenheit dokumentiert hatten. Nur ihre Namen tauchten in keinem Dokument auf.

»Wenn du einen Namen nicht kennst«, hatte Darlington erklärt, »kannst du ihn nicht denken und kommst nicht in Versuchung, ihn auszusprechen.« Ein Name schaffte Intimität.

Sieh nicht hin. Aber Darlington war nicht hier.

Der Geist der Frau war nackt, auf ihren kleinen Brüsten war Gänsehaut zu sehen. Sie führte eine Hand zu ihrer offenen Bauchwunde, berührte das Fleisch liebevoll wie eine Frau, die andeutete, dass sie schwanger war. Man hatte sie nicht wieder zugenäht. Der Junge – denn er war ein Junge, mager und mit weichen Zügen – trug eine labbrige flaschengrüne Jacke und eine fleckige Hose. Graue erschienen stets so wie im Moment ihres Todes. Der Anblick der beiden nebeneinanderstehenden Gestalten hatte etwas Obszönes, die eine nackt, der andere bekleidet.

Die Grauen hatten jeden Muskel angespannt, die Augen aufgerissen, und ihre Lippen klafften auseinander. Die schwarzen Löcher ihrer Münder glichen Höhlen, und daraus erhob sich die trostlose Totenklage, nicht wirklich ein Stöhnen, sondern eher unmenschliche Laute. Alex dachte an das Wespennest, das sie eines Sommers in der Garage unter der Einzimmerwohnung ihrer Mutter gefunden hatte, das blindwütige Summen der Insekten an einem dunklen Ort.

Der Haruspex rezitierte weiter auf Niederländisch. Ein Knochenmann hielt dem Schreiber ein Glas Wasser an die Lippen, während der seine Aufzeichnungen fortsetzte. Der Geruch nach Blut, Kräutern und Scheiße hing schwer in der Luft.

Zentimeter um Zentimeter beugten sich die Grauen vor, zitternd, die Münder so weit geöffnet, als wären die Kiefer ausgerenkt. Der ganze Raum schien zu vibrieren.

Aber nur Alex konnte sie sehen.

Deshalb hatte Lethe sie hergeholt, deshalb hatte Dekan Sandow dem Mädchen in Handschellen widerstrebend das einmalige Angebot gemacht. Und doch sah Alex sich um und hoffte darauf, dass noch jemand anderes die Situation begriff und seine Hilfe anbot.

Sie trat einen Schritt zurück, ihr Herz raste in ihrer Brust. Graue waren fügsam, unscharf, vor allem so alte Graue. Zumindest dachte Alex das. Zählte das zu den Lektionen, zu denen Darlington noch nicht gekommen war?

Sie durchforstete ihr Hirn nach den paar Beschwörungen, die er ihr im letzten Semester beigebracht hatte. Schutzzauber. Notfalls konnte sie Todesworte nutzen. Würden sie bei Grauen in diesem Zustand wirken? Sie hätte Salz in ihre Taschen packen sollen, Karamellbonbons, um sie abzulenken, irgendwas. Grundlagen, sagte Darlington in ihrem Kopf. Leicht zu bewerkstelligen.

Das Holz unter den Fingern der Grauen begann, sich zu biegen und zu ächzen. Jetzt sah das rothaarige A-cappella-Mädchen auf, fragte sich offenbar, wo das Ächzen herkam.

Das Holz würde splittern. Die Zeichen waren wohl nicht korrekt angebracht worden; der Schutzkreis würde nicht halten. Alex sah zu den nutzlosen Knochenleuten in ihren lächerlichen Roben. Wenn Darlington hier gewesen wäre, hätte er gekämpft, sichergestellt, dass die Grauen in Schach gehalten wurden und Reyes in Sicherheit wäre.

Die Halogenlampen flackerten, flammten wieder hell auf.

»Fick dich, Darlington«, hauchte Alex und drehte sich auf dem Absatz um, um wegzulaufen.

Bumm.

Der Raum erbebte. Alex stolperte. Der Haruspex und die Knochenleute sahen mit finsteren Mienen zu ihr herüber.

Bumm.

Ein Geräusch, als klopfte etwas aus der anderen Welt an. Etwas Großes. Etwas, das nicht hindurchkommen sollte.

»Ist unser Dante betrunken?«, murmelte der Haruspex.

Bumm.

Alex öffnete den Mund, um ihnen zuzuschreien, dass sie fliehen sollten, bevor die unsichtbare Barriere nachgab, die das Ding zurückhielt.

Schlagartig verklang das Stöhnen. Der Monitor piepte. Die Lichter summten.

Die Grauen waren wieder auf ihren Plätzen, ignorierten einander, ignorierten Alex.

Die Bluse unter Alex’ Mantel war schweißdurchtränkt. Sie roch den eigenen sauren Angstschweiß. Die Halogenlampen leuchteten nach wie vor heiß und hell. Der Saal pulsierte vor Wärme wie ein Organ, durch das Blut strömte. Die Knochenleute blickten verdutzt drein. Nebenan lief der Nachspann.

Alex konnte die Stelle sehen, an der die Grauen die Brüstung umklammert hatten, weiße Holzsplitter standen dünn wie Maisfäden ab.

»Tut mir leid«, sagte sie. Dann beugte sie sich vor und kotzte auf den Steinboden.

 

Als sie Michael Reyes endlich zusammennähten, war es beinahe drei Uhr morgens. Der Haruspex und die meisten Knochenleute waren vor Stunden gegangen, um sich das Ritual abzuwaschen und sich für eine Party vorzubereiten, die bis weit nach dem Morgengrauen andauern würde.

Der Haruspex würde vielleicht direkt nach New York zurückfahren, auf den geschmeidigen Ledersitzen einer schwarzen Limousine. Oder er blieb für die Festivitäten und suchte sich jemand Willigen, eine Studentin, einen Studenten oder auch beides. Man hatte Alex versichert, es sei eine Ehre, sich um den Haruspex zu »kümmern«, und vielleicht wäre dem auch so gewesen, sofern man high und betrunken genug war. In jedem Falle aber klang es danach, als würde man an den Kerl verschachert, der die Rechnung zahlte.

Die Rothaarige – die, wie sich herausstellte, Miranda hieß wie die Figur aus »Der Sturm« – hatte Alex geholfen, das Erbrochene aufzuwischen. Sie war wirklich nett gewesen, und Alex hatte fast ein schlechtes Gewissen gehabt, weil sie ihren Namen vergessen hatte.

Man hatte Reyes auf einer Trage aus dem Gebäude gebracht, umgeben von einem Schleierzauber, der ihn unter der schützenden Plastikplane wie einen Haufen Büromaterial hatte aussehen lassen. Was die Sicherheit der Verbindung betraf, war das der riskanteste Teil des nächtlichen Unterfangens gewesen. In puncto Voraussagen war Skull and Bones erstklassig, jedoch in nichts anderem, und die Mitglieder der Verbindung Manuscripts waren natürlich nicht daran interessiert, einer anderen Verbindung ihren Zauber zu verraten. Die Magie, die Reyes’ Schleier band, wankte bei jeder Erschütterung, die Trage kam immer wieder zum Vorschein, und das Piepsen der medizinischen Ausrüstung und der Ventilator waren ebenfalls zu hören. Falls jemand näher in Augenschein genommen hätte, was da den Gang hinabgerollt wurde, hätten die Bones in ernsthaften Schwierigkeiten gesteckt – gleichwohl bezweifelte Alex, dass sie sich daraus nicht hätten freikaufen können.

Sie wollte nach Reyes sehen, sobald er wieder auf der Station war, und dann erneut in einer Woche, um sicherzugehen, dass er sich erholte und es keine Komplikationen gab. Nach Voraussagen war es schon zu Todesfällen gekommen, allerdings erst einmal, seit Lethe 1898 gegründet worden war, um die Verbindungen zu überwachen. Eine Gruppe Knochenleute hatte aus Versehen einen Vagabunden getötet, während einer hastig geplanten Notfallvoraussage nach dem Börsensturz 1929. In den darauffolgenden vier Jahren waren Voraussagen verboten gewesen, und man hatte Skull and Bones damit gedroht, dass sie bei einem Verstoß ihre gewaltige Gruft aus rotem Stein auf der High Street verlieren würden. »Deshalb existieren wir«, hatte Darlington gesagt, als Alex die Aufzeichnungen von Lethe durchblätterte, in denen sowohl der Name jedes victima aufgelistet war als auch das Datum der jeweiligen Voraussage. »Wir sind die Hirten, Stern.«

Dann hatte Alex auf einen Eintrag am Rand von »Lethe: Ein Vermächtnis« gezeigt, und er war erschauert. »Wofür steht KWTV?«

»Keine weiteren toten Vagabunden«, hatte er mit einem Seufzer geantwortet.

So viel zur edlen Mission von Haus Lethe. Gleichwohl fühlte Alex sich heute Nacht nicht sonderlich überlegen, schließlich war sie nur Sekunden davon entfernt gewesen, Michael Reyes im Stich zu lassen, um ihren eigenen Arsch zu retten.

Alex ließ zahlreiche Witze über ihr erbrochenes Dinner über sich ergehen, das aus gegrilltem Hühnchen und Twizzlers bestanden hatte. Sie blieb im Saal, um zu gewährleisten, dass die verbliebenen Knochenleute die – wie sie hoffte – richtige Prozedur zum Desinfizieren des Saals befolgten.

Sie nahm sich vor, später noch einmal wiederzukommen und Knochenstaub im Saal zu verstreuen. Durch solche Andenken von Toten ließen sich die Grauen am besten fernhalten. Deshalb zählten Friedhöfe zu den am wenigsten heimgesuchten Orten der Welt. Sie dachte an die offenen Münder der Geister, das schreckliche Dröhnen von Insekten. Etwas hatte versucht, sich einen Weg in den Kreidekreis zu bahnen. Zumindest schien es so. Graue – Geister – waren harmlos. Meistens. Es erforderte viel, bis sie eine Form im Diesseits annehmen konnten. Konnten sie den letzten Schleier durchdringen? Körperlich werden, etwas berühren? Schaden anrichten? Ja. Alex wusste, dass sie dazu imstande waren. Aber nur unter größten Schwierigkeiten.

In diesem Saal hatten Hunderte von Voraussagen stattgefunden, und Alex hatte noch nie gehört, dass dabei Graue in die körperliche Form übergewechselt wären und eingegriffen hätten. Warum hatten sie es heute versucht?

Falls sie es versucht hatten.

Das größte Geschenk, das Lethe Alex gemacht hatte, war nicht das Vollstipendium in Yale – der Neuanfang, der sie von ihrer Vergangenheit befreit hatte –, sondern das Wissen, die Gewissheit, dass die Dinge, die sie sah, echt waren und es immer gewesen waren. Doch hatte sie zu lange mit dem Zweifel an ihrer geistigen Gesundheit gelebt, als dass sie jetzt einfach damit aufhören konnte. Darlington hätte ihr geglaubt. Er glaubte ihr immer. Nur dass Darlington weg war.

Nicht für immer, sagte sie sich. In einer Woche würde der Neumond aufsteigen, und Lethe würde ihn nach Hause holen.

Alex strich mit den Fingern über das zersplitterte Geländer und sann darüber nach, wie sie die heutige Voraussage in den Aufzeichnungen von Haus Lethe beschreiben würde. Dekan Sandow prüfte alle Einträge, und sie war nicht erpicht darauf, mit irgendetwas Außergewöhnlichem seine Aufmerksamkeit zu erregen. Immerhin war nichts Schlimmes vorgefallen, mal davon abgesehen, dass man einem hilflosen Mann die Eingeweide neu sortiert hatte.

Als Alex aus dem Durchgang in den Flur trat, richtete sich Tripp Helmuth aus seiner lässigen Haltung auf. »Sind die da drin bald fertig?«

Alex nickte und nahm einen tiefen Atemzug der vergleichsweise frischen Luft. Sie wollte schnell nach draußen.

»Ziemlich eklig, was?«, fragte Tripp mit einem Grinsen. »Wenn du möchtest, kann ich dir ein paar Infos weitergeben, wenn die Vorhersagen transkribiert sind. Bisschen das Studentendarlehen aufbessern.«

»Was zur Hölle weißt du schon von Studentendarlehen?«, platzte es aus ihr heraus. Darlington hätte das nicht gebilligt. Alex sollte zivil, unnahbar und diplomatisch bleiben. Und sie war sowieso eine Heuchlerin. Lethe hatte dafür gesorgt, dass sie den Abschluss ohne dräuenden Schuldenberg machen würde – wenn sie es wirklich durch die vier Jahre voller Examen, Hausarbeiten und Nächten wie dieser schaffte.

Tripp hob ergeben die Hände und lachte betreten. »Hey, ich versuche nur klarzukommen.« Tripp war im Segelteam, ein Knochenmann in dritter Generation, ein Gentleman und Gelehrter, ein reinrassiger Golden Retriever – doof, glänzend und teuer. Er war zerzaust und rosig wie ein gesundes Baby, sein Haar sandfarben, seine Haut immer noch gebräunt von der Insel, auf der er die Winterferien verbracht hatte. Er strahlte die Lässigkeit eines Menschen aus, der immer sehr gut gewesen war und es stets sein würde, ein Junge mit tausend zweiten Chancen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er eifrig.

»Alles in Ordnung«, sagte sie, obwohl das nicht stimmte. Sie spürte noch immer den Nachhall dieses summenden Stöhnens, das ihre Lungen erfüllte und in ihrem Schädel dröhnte. »Ist nur stickig da drin.«

»Ja, oder?«, bestätigte Tripp versöhnlich. »Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, die ganze Nacht hier draußen stehen zu müssen.« Er klang nicht überzeugt.

»Was ist mit deinem Arm passiert?« Alex sah eine Bandage unter seiner Windjacke hervorlugen.

Er schob den Ärmel hoch und enthüllte ein fettiges Zellophanpflaster, das auf seinem Unterarm klebte. »Ein paar von uns haben sich heute Tattoos machen lassen.«

Alex sah genauer hin: Eine stolzierende Bulldogge brach durch ein großes blaues Y. Das Machojungs-Äquivalent von best friends forevah!

»Nett«, log sie.

»Hast du auch eins?« Er beäugte sie mit schläfrigem Blick, als versuche er, die winterlichen Stofflagen zu durchdringen – wie die Loser beim Ground Zero, die mit ihren Fingern über die Umrisse auf ihrem Schlüsselbein und ihrem Bizeps gestrichen hatten. Was bedeutet das da?

»Nö. Nicht mein Ding.« Alex schlang sich den Schal um den Hals. »Ich sehe morgen auf der Station nach Reyes.«

»Hm? Oh, richtig. Gut. Wo ist Darlington eigentlich? Überlässt er dir schon die Scheißjobs?«

Tripp tolerierte Alex, versuchte, nett zu ihr zu sein, weil er von jedem den Bauch gekrault haben wollte, Darlington hingegen mochte er tatsächlich.

»Er ist in Spanien«, sagte sie wie aufgetragen.

»Nett. Sag ihm buenos días.«

Wäre Alex imstande gewesen, Darlington etwas mitzuteilen, dann wäre das komm zurück gewesen. Sie hätte es auf Englisch und Spanisch gesagt. Und sie hätte den Imperativ genutzt.

»Adíos«, sagte sie zu Tripp. »Genieß die Party.«

Vor dem Gebäude zog Alex sogleich die Handschuhe aus, wickelte zwei klebrige Ingwerbonbons aus und schob sie sich in den Mund. Sie war es leid, an Darlington zu denken, aber der Geruch nach Ingwer und die Hitze, die er in ihrer Kehle aufsteigen ließ, erweckten ihn nur umso strahlender zum Leben. Sie sah seinen ausgestreckten Körper vor dem großen Steinkamin in Black Elm. Er hatte die Stiefel ausgezogen, sein Kopf ruhte in seiner Armbeuge, und die Zehen wippten im Takt der Musik, die durch den Raum schwebte, etwas Klassisches, das Alex nicht kannte, voller Waldhörner, die nachdrückliche Klangwellen in die Luft malten.

Alex hatte neben ihm auf dem Boden gesessen, die Arme um die Knie geschlungen, den Rücken an den Fuß eines alten Sofas gelehnt, und versucht, sich zu entspannen und nicht auf seine Füße zu starren. Sie sahen so nackt aus. Er hatte die schwarzen Jeans hochgekrempelt, um die Nässe von seiner Haut fernzuhalten, und die schlanken, weißen Füße mit den feinen Härchen auf den Zehen hatten dafür gesorgt, dass sie sich ein wenig unanständig fühlte. Wie ein Perverser, der von einem zarten Knöchel in den Wahnsinn getrieben wurde.

Fick dich, Darlington. Zornig zog sie sich die Handschuhe wieder an.

Einen Moment lang stand sie wie erstarrt da. Sie sollte diesen Ort verlassen und ihren Bericht für Lethe schreiben, damit Dekan Sandow ihn prüfen konnte. Am liebsten jedoch wäre sie in ihr Zimmer gelaufen, das sie sich mit Mercy teilte, hätte sich auf das untere Etagenbett geworfen und vor dem Unterricht so viel Schlaf nachgeholt wie möglich. Um diese Zeit brauchte sie sich keine Ausreden für ihre neugierige Mitbewohnerin auszudenken. Aber wenn sie in einer Unterkunft von Lethe schlief, würden Mercy und Lauren herausfinden wollen, wo und mit wem sie die Nacht verbracht hatte.

Darlington hatte vorgeschlagen, einen Freund zu erfinden, um ihre langen Abwesenheiten und eine späte Heimkehr zu rechtfertigen.

»Wenn ich das mache, werde ich irgendwann einen Jungen hervorzaubern müssen, der mich bewundernd anstarrt«, hatte sie frustriert erwidert. »Wie bist du damit die letzten drei Jahre durchgekommen?«

Darlington hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Meine Mitbewohner haben gedacht, ich wäre ein Womanizer.«

Alex hatte ihre Augen so sehr verdreht, dass sie fast in die entgegengesetzte Richtung hätte blicken können.

»Schon gut, schon gut. Ich sagte ihnen, dass ich in einer Band wäre mit ein paar UConn-Jungs, und dass wir oft auftreten.«

»Spielst du überhaupt ein Instrument?«

»Natürlich.«

Cello, Kontrabass, Gitarre, Klavier und etwas, das man Oud nannte.

Hoffentlich schlief Mercy tief und fest, wenn Alex ins Zimmer kam, dann konnte sie reinhuschen, sich ihren Korb mit den Duschsachen holen und unbemerkt den Flur zum Bad durchqueren. Das war immer ganz schön schwierig. Jedes Mal, wenn man mit dem Schleier zwischen dieser und der anderen Welt hantierte, hinterließ das einen Gestank wie das elektrische Knistern von Ozon nach einem Sturm, gepaart mit dem fauligen Geruch eines Kürbisses, den man zu lange auf der Fensterbank gelassen hatte. Das erste Mal, als sie den Fehler gemacht hatte, ungeduscht ins Zimmer zurückzukommen, hatte sie tatsächlich behaupten müssen, in einen Müllhaufen gefallen zu sein, um den Gestank zu erklären. Mercy und Lauren hatten wochenlang darüber gelacht.

Alex dachte an die schmuddelige Dusche im Wohnheim … und dann an die breite Badewanne mit Löwenfüßen im makellos sauberen Badezimmer vom Il Bastone, an das Himmelbett, das so hoch war, dass sie auf die Matratze hüpfen musste. Angeblich hatte Lethe Unterschlupfe und Verstecke auf dem ganzen Campus von Yale, aber man hatte Alex bislang nur die Hütte und Il Bastone gezeigt. Die Hütte lag näher an Alex’ Wohnheim und ihren Kursräumen, war jedoch nur eine schäbige Zimmerflucht über einem Kleiderladen, in der immer Darlingtons Chipstüten und Proteinriegel lagen, ein Ort, an dem man auf der schlecht gefederten Couch mal ein kurzes Nickerchen machen konnte. Il Bastone war etwas Besonderes: eine dreistöckige Villa, fast eine Meile vom Zentrum des Campus entfernt und Lethes Hauptquartier. Oculus würde heute Abend dort warten, mit angezündeten Lampen und einem Tablett mit Tee, Brandy und Sandwiches. Diese Tradition hielt sie aufrecht, auch an Abenden, wenn Alex nicht auftauchte. Aber der Preis für diesen ganzen Luxus bestünde darin, dass sie sich mit Oculus befassen müsste, und heute Abend würde sie ihr Schweigen einfach nicht ertragen. Besser, sie kehrte mit dem Gestank ihrer nächtlichen Arbeit ins Wohnheim zurück.

Alex überquerte die Straße und kürzte durch die Rotunde ab. Es fiel ihr schwer, sich nicht immer wieder umzusehen und an die Grauen zu denken, die am Rand des Kreises gestanden hatten, die Münder zu weit aufgerissen, schwarze Gruben, aus denen das leise Insektengeräusch gedrungen war. Was wäre geschehen, wenn das Geländer zerborsten wäre? Hätte sie die Kraft oder das Wissen gehabt, um sie abzuhalten? Pasa punto, pasa mundo.

Alex schlang den Mantel enger um sich und vergrub ihr Gesicht im Schal, ihr Atem feucht auf der Wolle, während sie an der Beinecke Library vorbeieilte.

»Falls du mal während eines Feuers im Gebäude eingeschlossen wirst, solltest du wissen, dass ihm im Brandfall der Sauerstoff entzogen wird«, hatte Lauren behauptet. »Das dient dem Schutz der Bücher.«

Alex wusste, dass das Blödsinn war. Darlington hatte das bestätigt. Er hatte die Wahrheit über das Gebäude gekannt, all seine Facetten: Es war dem platonischen Ideal nachempfunden (das Gebäude war ein Tempel), und man hatte es in denselben Größenverhältnissen errichtet, die manche Schriftsetzer für den Aufbau ihrer Seiten nutzten (das Gebäude war ein Buch). Der verbaute Marmor stammte aus Vermont (das Gebäude war ein Grabmal). Der Eingang war so geschaffen, dass jeweils nur eine Person hindurchtreten konnte, durch eine Drehtür wie ein Bittsteller. Alex dachte daran, dass Darlington stets weiße Handschuhe getragen hatte, wenn er seltene Manuskripte anfasste; seine langen Finger hatten ehrfürchtig auf den Seiten geruht. Genauso ging Len mit Bargeld um.

In der Beinecke gab es ein Zimmer, verborgen im … Ihr fiel das Stockwerk nicht mehr ein. Und selbst wenn es ihr eingefallen wäre, hätte sie es nicht betreten. Ihr fehlte der Mut, in den Patio hinabzusteigen, mit einem Finger das geheime Muster auf das Fenster zu zeichnen und in die Dunkelheit zu treten. Diesen Ort hatte Darlington gemocht. Es gab keinen magischeren als ihn. Und nirgends auf dem Campus fühlte Alex sich mehr wie eine Hochstaplerin.

Sie wollte auf die Uhr ihres Handys schauen, in der Hoffnung, es wäre erst kurz nach drei. Wenn sie es schaffte, bis um vier geduscht im Bett zu liegen, bekäme sie noch immer gut dreieinhalb Stunden Schlaf, ehe sie für den Spanischunterricht quer über den Campus laufen musste. Solche Rechnungen stellte sie jeden Abend an, jeden Augenblick. Wie viel Zeit für den Versuch, ihre Arbeit zu schaffen? Wie viel Zeit für Schlaf? Es reichte nie. Sie kam nur gerade so durch, streckte ihr Budget, hatte immer etwas zu wenig Zeit, und dann stieg Panik in ihr auf, klebte ihr an den Fersen.

Alex sah auf das leuchtende Display und fluchte. Es war von Nachrichten überschwemmt. Sie hatte das Telefon während der Voraussage auf lautlos gestellt und vergessen, es wieder anzumachen.

Die Nachrichten stammten alle von derselben Person: Oculus, also Pamela Dawes, die Studentin, die die Lethe-Sitze verwaltete und als Forschungsassistentin arbeitete. Auch Pammie genannt, wenn auch nur von Darlington.

Ruf an.

Ruf an.

Ruf an.

Sie hatte die Nachrichten exakt im Viertelstundenabstand geschickt. Entweder folgte Dawes einer Art Protokoll, oder sie war sogar noch verkrampfter, als Alex gedacht hatte.

Alex erwog, die Nachrichten einfach zu ignorieren. Doch es war Donnerstagnacht, die Nacht, in der sich die Verbindungen trafen, und das bedeutete, dass irgendein kleiner Scheißer etwas Schlimmes angestellt hatte. Gut möglich, dass die gestaltwandelnden Idioten von Wolf’s Head sich in eine Herde Büffel verwandelt und einen Haufen Studenten niedergetrampelt hatten, die gerade vom Brandford gekommen waren.

Sie trat hinter eine Säule des Beinecke-Kubus, um sich vor dem Wind zu schützen, und rief Dawes zurück.

Sie nahm beim ersten Klingeln ab. »Oculus hier.«

»Dante antwortet«, erwiderte Alex und fühlte sich wie ein Trottel. Sie war Dante. Darlington war Vergil. So würde es in Lethe bis zum Abschlussjahr laufen, bis Alex den Titel des Vergil annahm, um dann selbst einen Frischling zu betreuen. Als Darlington die Codenamen genannt hatte – er bezeichnete sie als »Ämter« –, hatte sie genickt, sein Lächeln erwidert und so getan, als würde sie den Witz verstehen. Später hatte sie nachgeschlagen und entdeckt, dass Vergil Dantes Führer bei dessen Abstieg in die Hölle gewesen war. Noch mehr Humor von Haus Lethe, der an sie verschwendet war.

»Man hat eine Leiche in der Sporthalle gefunden«, sagte Dawes. »Der Centurion ist vor Ort.«

»Eine Leiche.« Alex fragte sich, ob sie vor Müdigkeit außerstande war, die menschliche Sprache zu begreifen.

»Ja.«

»Wie in ›ein Toter‹?«

»Ja-ha.« Dawes gab sich zwar Mühe, gelassen zu klingen, trotzdem schwang in ihrer Antwort ein gereizter Unterton mit.

Erbost presste Alex den Rücken an die Säule. Die Kälte des Steins drang durch ihren Mantel, und sie spürte, wie ihr Körper Adrenalin ausschüttete.

Willst du mich verarschen?, hätte sie am liebsten gefragt. Denn genauso fühlte sie sich, verarscht. Wie damals, als sie das schräge Kind war, das mit sich selbst redete und sich verzweifelt nach Freunden sehnte. So sehr, dass sie zustimmte, als Sarah McKinney flehte: »Kannst du mich am Tres Muchachos nach der Schule treffen? Vielleicht kannst du dort mit meiner Oma reden. Wir sind da oft hingegangen, und ich vermisse sie so.« Alex war die Kleine, die ganz allein vor einem der übelsten mexikanischen Restaurants im übelsten Food Court im Valley gestanden hatte, bis sie ihre Mom hatte anrufen müssen, damit die sie abholte, weil Sarah nicht auftauchte. Natürlich war niemand gekommen.

Das hier ist echt, rief sie sich ins Gedächtnis. Und Pamela Dawes mochte vieles sein, aber kein Sarah-McKinney-mäßiges Arschloch.

Was bedeutete, dass tatsächlich jemand tot war.

Und sie sollte deshalb etwas unternehmen?

»Äh, war es ein Unfall?«

»Möglicherweise Mord.« Dawes schien genau auf diese Frage gewartet zu haben.

»Okay«, sagte Alex. Etwas Besseres fiel ihr nicht ein.

»Okay«, wiederholte Dawes unbeholfen. Sie hatte ihr großes Sprüchlein aufgesagt und war bereit, die Bühne zu verlassen.

Alex legte auf und blickte über den menschenleeren, windgepeitschten Platz. Sie hatte mindestens die Hälfte von allem vergessen, was Darlington ihr vor seinem Verschwinden beizubringen versucht hatte. Eines jedoch stand fest: Mord war nicht dabei gewesen.

Wieso eigentlich nicht? Wenn man zusammen durch die Hölle ging, war Mord doch ein guter Anfang.

2

Im Herbst zuvor

Daniel Arlington rühmte sich selbst, auf alles vorbereitet zu sein, doch wenn er Alex Stern hätte beschreiben müssen, dann hätte er wohl gesagt, dass sie »eine unwillkommene Überraschung« war. Ihm fielen in Wahrheit eine Menge anderer Begriffe ein für sie, aber keiner davon war höflich, und Darlington war immer darum bemüht, höflich zu bleiben. Wäre er von seinen Eltern großgezogen worden – seinem dilettantischen Vater, seiner oberflächlichen, aber brillanten Mutter –, dann hätte er vielleicht andere Prioritäten gehabt, aber sein Großvater hatte ihn erzogen, Daniel Tabor Arlington III, der glaubte, dass die meisten Probleme mit einem starken Scotch, viel Eis und tadellosen Manieren gelöst werden konnten.

Sein Großvater hatte Galaxy Stern nie getroffen.

Darlington hatte Alex’ Zimmer im ersten Stock der Vanderbilt Hall an einem schweißtreibenden, elenden Tag in der ersten Septemberwoche aufgesucht. Er hätte darauf warten können, dass sie sich im Haus an der Orange Street meldete, aber als er selbst ein Erstsemester gewesen war, hatte seine Mentorin, die unnachahmliche Michelle Alameddine, die als sein Vergil gedient hatte, ihn in Yale und in den Mysterien von Haus Lethe willkommen geheißen, indem sie ihn in den Schlafsälen der Erstsemester auf dem alten Campus aufsuchte. Darlington war entschlossen, seine Sache gut zu machen, auch wenn mit dieser Stern alles falsch angefangen hatte.

Er hatte Galaxy Stern nicht als seinen Dante erwählt. Tatsächlich hatte sie ihn, nur aufgrund ihrer Existenz, um etwas beraubt, auf das er sich während seiner ganzen dreijährigen Laufbahn bei Lethe gefreut hatte: wenn er den Job, den er liebte, jemand Neuem übergeben würde, wenn er für eine würdige, aber noch ahnungslose Seele das Tor zu einer anderen Welt öffnen würde. Vor nur wenigen Monaten hatte er die Kisten voller Erstsemesterbewerbungen ausgekippt und sie im großen Zimmer in Black Elm sortiert, aufgeregt und entschlossen, alle Achtzehnhundert-plus-Mappen zu lesen oder wenigstens zu überfliegen, bevor er den Alumni von Haus Lethe seine Empfehlungen geben würde. Er hatte fair vorgehen wollen, unvoreingenommen und gründlich, und am Ende zwanzig Kandidaten für die Rolle des Dante auswählen. Dann hätte Lethe deren Vergangenheit gründlich auf Gesundheitsrisiken, Zeichen von Geisteskrankheiten und finanzielle Schwächen geprüft, und eine letzte Entscheidung getroffen.

Darlington hatte sich einen Plan gemacht, wie viele Bewerbungen er pro Tag ansehen musste, sodass er den Morgen immer noch für die Arbeit auf dem Anwesen zur Verfügung hätte und seine Nachmittage für seinen Job im Peabody Museum. An jenem Tag im Juli war er seinem Plan sogar voraus gewesen – bei Bewerbung Nummer 324: Mackenzie Hoffer, 800 Punkte in der mündlichen Prüfung, 720 in Mathe; neun APs in ihrem Junior-Jahr; ein Blog über den Teppich von Bayeux, der in Englisch und Französisch geführt wurde. Sie schien vielversprechend, bis er zu dem Essay über ihre Person gekommen war, in dem sie sich selbst mit Emily Dickinson verglich. Darlington hatte gerade ihre Mappe auf den Nein-Stapel geworfen, als Dekan Sandow anrief, um ihm mitzuteilen, dass die Suche vorüber war. Sie hatten ihre Kandidatin gefunden. Die Alumni waren sich einig.

Darlington hatte protestieren wollen. Zur Hölle, er hätte am liebsten etwas durch die Gegend geschmissen! Stattdessen hatte er den Stapel Mappen vor sich geordnet und gefragt: »Wer ist es? Ich habe alle Unterlagen vor mir.«

»Du hast ihre Mappe nicht. Sie hat sich nicht beworben. Sie hat nicht einmal die Highschool beendet.« Bevor Darlington seiner Entrüstung Luft machen konnte, fügte Sandow hinzu: »Daniel, sie kann Graue sehen.«

Darlington hatte innegehalten, seine Hände noch auf Mackenzie Hoffers Mappe (zwei Sommer bei Habitat für Humanity). Es war nicht nur die Tatsache, dass Sandow ihn bei seinem Vornamen genannt hatte, was nur sehr selten vorkam. Sie kann Graue sehen. Lebende konnten Tote nur sehen, wenn sie Orozcerio einnahmen, ein Elixier von unendlicher Komplexität, für dessen Herstellung großes Können und eine Konzentration auf jedes Detail erforderlich waren. Er hatte es selbst ausprobiert, als er siebzehn gewesen war, bevor er je von Lethe gehört hatte. Als er noch lediglich darauf gehofft hatte, dass mehr an dieser Welt sein könnte, als man ihn glauben machte. Seine Bemühungen hatten ihn in die Notaufnahme gebracht, und ihm war zwei Tage lang Blut aus Augen und Ohren geflossen.

»Es ist ihr gelungen, ein Elixier zu brauen?«, sagte er, sowohl begeistert als auch – das musste er zugeben – ein wenig neidisch.

Schweigen folgte, lange genug, dass Darlington das Licht am Schreibtisch seines Großvaters löschen und hinaus auf die hintere Veranda von Black Elm hatte gehen können. Von hier aus vermochte er die Häuser zu sehen, die an der Edgewood bis hinunter zum Campus lagen, und weit dahinter den Long Island Sound. Das ganze Land bis zur Central Avenue hinab hatte einst zu Black Elm gehört, war aber in kleinen Teilen verkauft worden, als das Vermögen der Arlingtons schrumpfte. Das Haus, die Rosengärten und das Wirrwarr des Labyrinths am Rande des Waldes waren alles, was übrig war – und er blieb nur hier, um sich darum zu kümmern, es zu stutzen, zu hätscheln und ins Leben zurückzuholen. Die Dämmerung setzte ein, träges Spätsommerlicht, voller Moskitos und glitzernder Glühwürmchen. Er konnte das Fragezeichen von Cosmos weißem Schwanz sehen, als die Katze sich ihren Weg durch das hohe Gras bahnte und irgendeine kleine Kreatur verfolgte.

»Kein Elixier«, sagte Sandow. »Sie kann sie einfach sehen.«

»Ah«, sagte Darlington und sah einer Drossel zu, die halbherzig am zerbrochenen Fuß dessen herumpickte, was einmal der Obeliskenbrunnen gewesen war. Sonst gab es nichts zu sagen. Auch wenn Lethe dazu geschaffen worden war, die Aktivitäten von Yales Geheimverbindungen zu überwachen, so war die zweite Aufgabe der Mitglieder jedoch, die Mysterien dessen zu enthüllen, was hinter dem Schleier lag. Jahrelang hatten sie Geschichten von Menschen dokumentiert, die tatsächlich Erscheinungen sehen konnten, manche bestätigt, manche wenig mehr als Gerüchte. Wenn der Ausschuss also ein Mädchen gefunden hatte, das das beherrschte, und sie es dazu bringen konnten, sich ihnen zu verpflichten … Nun, dann war es so. Er sollte froh sein, sie kennenzulernen.

Er wollte sich betrinken.

»Mir gefällt das genauso wenig wie dir«, sagte Sandow. »Aber du kennst die Lage, in der wir uns befinden. Das ist ein wichtiges Jahr für Lethe. Alle sollen zufrieden sein.« Lethe war verantwortlich dafür, Wache über die Häuser des Schleiers zu halten, aber es war auch abhängig von den Geldern. Nun hatten die Verbindungen aber so lange schon ohne Zwischenfälle operiert, dass es Gerüchte gab, sie wollten vielleicht überhaupt nicht mehr in ihre Schatztruhen greifen, um Lethe zu unterstützen. »Ich schicke dir ihre Mappe. Sie ist nicht … Sie ist nicht der Dante, auf den wir vielleicht gehofft hatten, aber gib dir bitte Mühe mit ihr.«

»Natürlich«, sagte Darlington, denn so reagierte ein Gentleman. »Natürlich gebe ich mir Mühe.«

Er versuchte, es auch so zu meinen. Selbst nachdem er ihre Akte gelesen hatte, selbst nachdem er das Gespräch zwischen ihr und Sandow gesehen hatte, das im Krankenhaus in Van Nuys, Kalifornien, aufgezeichnet worden war, und er ihre heisere, gebrochene Stimme gehört hatte, die wie ein Holzblasinstrument klang. Er wollte es wirklich versuchen. Sie war nackt und komatös an einem Tatort gefunden worden, neben einem Mädchen, das nicht so viel Glück gehabt hatte, das Fentanyl zu überleben, das sie beide genommen hatten. Die Einzelheiten waren noch schrecklicher und trauriger, als er sich das hätte ausmalen können, und er versuchte, Mitleid mit ihr zu haben. Sein Dante, das Mädchen, dem er die Schlüssel zu einer geheimen Welt schenken würde, war eine Kriminelle, eine Drogenkonsumentin, eine Schulabbrecherin, die nichts von dem kümmerte, was ihm etwas bedeutete. Aber er wollte es versuchen.

Und trotzdem hatte ihn nichts auf den Schock vorbereitet, als er schließlich in dem schäbigen Gemeinschaftsraum im Vanderbilt auf sie traf. Das Zimmer war klein, aber mit einer hohen Decke sowie drei großen Fenstern, die auf den hufeisenförmigen Hof hinausgingen, und zwei schmalen Türen, die in die Schlafzimmer führten.

Darlington blieb in der Tür stehen. Der Raum war übersät mit dem Chaos eines Erstsemestereinzugs: Kartons auf dem Boden, keine richtigen Möbel außer einer wackligen Lampe und einem mitgenommen wirkenden Lehnstuhl. Er war vor den Kamin geschoben worden, der längst nicht mehr funktionierte. Eine muskulöse Blondine in Laufshorts – Lauren, nahm er an (voraussichtlich Vormedizinstudium, solide Testergebnisse, Feldhockeykapitänin an ihrer Privatschule in Philadelphia) – stellte gerade einen auf Vintage gemachten Schallplattenspieler auf die breite Fensterbank, eine Plastikkiste mit Platten daneben. Der Lehnstuhl gehörte vermutlich auch ihr, in einem Umzugswagen von Bucks County nach New Haven gekarrt. Anna Breen (Huntsville, Texas; MINT-Stipendium; Chorleiterin) saß auf dem Boden und versuchte, etwas zusammenzubauen, das wie ein Bücherregal aussah. Dieses Mädchen würde nie ganz hierherpassen. Sie würde in einem Singkreis landen, oder sich vielleicht voll in Kirchenarbeit stürzen. Sie würde definitiv nicht mit ihren anderen Zimmergenossinnen Party machen.

Dann kamen zwei weitere Mädchen aus einem der Schlafzimmer geschlurft, sie trugen ungeschickt einen mitgenommen aussehenden, von der Universität zur Verfügung gestellten Schreibtisch zwischen sich.

»Müsst ihr den hier rausstellen?«, fragte Anna mürrisch.