Das Prinzip von Hell und Dunkel - Peter Schmidt - E-Book

Das Prinzip von Hell und Dunkel E-Book

Peter Schmidt

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Beschreibung

Doktor Wargas jagt nach einem nuklearen und bakterielogischen Schlagabtausch der Weltmächte durch die verlassenen Häuserschluchten der Städte – immer auf der Flucht. Denn er ist einer der unerwünschten Überlebenden jener Spezies, die vor der großen Katastrophe dort gelebt haben. Sogenannte Purificateurs, "Reiniger" oder "Säuberer", sind ihm mit ihren Gehirnwellenblockierern auf den Fersen, weil er noch zur alten gescheiterten Rasse der aggressiven, selbstsüchtigen Bewohner des Planeten gehört. WEGA – weltgrößter Gen-Konzern – hat nach dem Dritten Weltkrieg den "perfekten" Menschen geschaffen. Und der ist harmonischer, friedlicher, weniger egoistisch – und auf das Wohl des anderen bedacht …

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Peter Schmidt

Das Prinzip von Hell und Dunkel

Science-Fiction-Thriller

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

PRESSESTIMMEN

ÜBER DEN AUTOR

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WEITERE TITEL

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Doktor Wargas jagt nach einem nuklearen und bakterielogischen Schlagabtausch der Weltmächte durch die verlassenen Häuserschluchten der Städte – immer auf der Flucht. Denn er ist einer der unerwünschten Überlebenden jener Spezies, die vor der großen Katastrophe dort gelebt haben. Sogenannte Purificateurs, „Reiniger“ oder „Säuberer“, sind ihm mit ihren Gehirnwellenblockierern auf den Fersen, weil er noch zur alten gescheiterten Rasse der aggressiven, selbstsüchtigen Bewohner des Planeten gehört. WEGA – weltgrößter Gen-Konzern – hat nach dem Dritten Weltkrieg den „perfekten“ Menschen geschaffen. Und der ist harmonischer, friedlicher, weniger egoistisch – und auf das Wohl des anderen bedacht …

Ungekürzte, überarbeitete Neuauflage der gedruckten Fassung im Wilhelm Heyne Verlag, München. Copyright © 2014 Peter Schmidt

PRESSESTIMMEN

„Thriller mit Tiefgang“

(Rheinischer Merkur)

„Peter Schmidt nimmt die Wirklichkeit als Anlass, als Spielmaterial. Und er spielt damit, wie nur Kinder, Narren oder Dichter spielen können: konsequent bis ins Detail, unerbittlich bis zur Grausamkeit. Es ist tatsächlich ein Spiel: als ob, oder auch: was wäre wenn.“

(Rudi Kost)

„Schmidts Bücher machen bewusst, auf welche Weise und in welchem Maße destruktive Energien von Menschen in den politischen Alltag eingehen.“

(Professor Peter Nusser, Berlin)

ÜBER DEN AUTOR

Peter Schmidt, geboren im westfälischen Gescher, Schriftsteller und Philosoph, gilt selbst dem Altmeister des Spionagethrillers John le Carré als einer der führenden deutschen Autoren des Spionageromans und Politthrillers. Darüber hinaus veröffentlichte er mehrere SF-Thriller („2999 – Das Dritte Millennium“, „GEN CRASH“, „Die fünfte Macht“), aber auch Medizinthriller („Endorphase-X“), Wissenschaftsthriller, Kriminalkomödien, Psychothriller und Detektivromane.

Bereits dreimal erhielt er den Deutschen Krimipreis („Erfindergeist“, „Die Stunde des Geschichtenerzählers“ und „Das Veteranentreffen“). Für sein bisheriges Gesamtwerk wurde er mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet.

Schmidt studierte Literaturwissenschaft und sprachanalytische und phänomenologische Philosophie mit Schwerpunkt psychologische Grundlagentheorie an der Ruhr-Universität Bochum und veröffentlichte rund 40 Bücher, darunter mehrere Sachbücher.

1

Doktor Wargas sah prüfend zum Schachteingang hinauf. Er führte den Zahnstocher zwischen die Zähne. Es war einer der Gegenstände, die sie Relikte nannten und jetzt kaum noch zu finden …

Wie bei den meisten Dingen des täglichen Lebens musste man lange in den ausgeplünderten Geschäften danach suchen. Die warme Mittagssonne schob sich über den Dachfirst und schien ihm ins Gesicht. Abgehängt, dachte er zufrieden. Keine Spur von seinen Verfolgern …

Er musterte die obersten Leitersprossen. Manchmal machte das Spiel ihm sogar Spaß. Alter Fuchs, du hast sie wieder mal abgehängt! Diese Halbsynthetischen – so nannte er sie scherzhaft für sich selbst – haben nicht halb soviel Grips wie wir Relikte aus der Vorzeit.

Der Schacht endete oben in einer schmalen Betonbrücke mit rostigem Geländer. Verrostet wie alles aus Eisen, das so lange Zeit ohne Anstrich überdauert hatte. Sie spannte sich zwischen den grauen Wänden eines höher gelegenen Wohnblocks. Ihr Ende war von der Straße aus sichtbar, und es gab keinen anderen Weg hinunter – keinen, den er kannte …

Er würde jeden Verfolger auf der Brücke oder am Schachteinstieg entdecken. Spätestens aber, wenn er die Leiter herabstieg …

Dann hatte er noch immer genügend Zeit, um durch die Seitenstraßen zu verschwinden, wo es zahllose aufgebrochene Läden und Warenhäuser gab, ein Labyrinth, in dem sie ihn niemals finden würden. Niemals …

Trotzdem war es sicherer, noch eine Weile abzuwarten. Außerdem übertrieb er. Ihre Intelligenz unterschied sich nicht von der früherer Generationen; eher im Gegenteil. Sie kontrollierten die Stadtruinen in Dreiergruppen, und manchmal kehrten sie unerwartet zurück und nahmen einen in die Zange.

Wargas setzte sich auf eine Mülltonne an der Häuserwand und betrachtete seine gedrungene, kurzbeinige Gestalt in der zerbrochenen Schaufensterscheibe. Dies hier war einmal die lichtumstrahlte Fassade eines Supermarktes gewesen: jetzt spross aus den Wandritzen gelbes Gras, und durch die leeren Fensteröffnungen pfiff der Wind.

Sein kahler Schädel glänzte vor Schweiß. Sie hatten ihn morgens in den Ruinen der Ruhr-Universität aufgestöbert, wo er sich gerade über die wissenschaftliche Videothek hermachte, und dann treppauf, treppab gejagt, wie schon so oft.

Dabei verlor er mindestens zwei Kilo. Nicht nur aus Angst, sondern weil sie zäh und ausdauernd waren, trainiert bis in jede Muskelfaser, obwohl sie mit ihren gewöhnlichen grauen Straßenanzügen, den altmodischen Hüten oder blauen Schirmmützen wenig sportlich wirkten.

Eher wie alternde Agenten aus der Vorzeit; was daran lag, dass sie meist die Erfahreneren, die alten gewieften Hasen für die Jagd in den gesperrten Bezirken einsetzten.

Sonnenlicht fiel durch eine eingebrochene Decke ins Innere des Ladens, als das Gewölk wieder aufriss, und brachte ihn und das Bild der gegenüberliegenden Straßenzeile zum Verschwinden.

Eine graue Fassadenreihe mit Wohnungen, die sehr abgewohnt und wie vieles in dieser zusammengewachsenen Industriemetropolis schon nach dem zweiten Kriege erbaut worden waren: einförmige Hauswände, verschmutzt von der Patina der Abgase, mit ebenso einförmigen Fenstern, in denen jetzt nur noch vereinzelte, zerrissene Gardinen hingen. Fensteröffnungen wie tote Augen – wie leere Blicke, die der Vergangenheit nachtrauerten.

Wargas Gedanken kehrten zu seiner Gestalt in der Schaufensterscheibe zurück, dem untersetzten Mann auf der Mülltonne, der plötzlich wieder erschien, als sich Wolken vor die Sonne schoben.

Obwohl er dreiundfünfzig Jahre alt war und einen deutlichen Bauchansatz besaß, fühlte er sich ihnen körperlich noch immer gewachsen. Er benötigte nicht einmal eine Brille.

Er hatte viel von seinem Übergewicht verloren, seit er sich vor ihnen auf der Flucht befand, und wenn ihm nicht gerade wieder einmal die Silberoxidbatterien ausgingen (er fand jetzt nur noch überlagerte Batterien, wenn er die Bestände der Geschäfte durchstöberte), fühlte er sich sogar wohler als zur alten Zeit, bevor hier alles durch einen Abkömmling der Meningokokken vor die Hunde gegangen war.

Damals, geraume Zeit, bevor er sich ganz seinem Lieblingsgebiet, der Neurochirurgie am örtlichen Krankenhaus gewidmet hatte, er betrieb noch eine gutgehende Praxis, war ihm im täglichen Umgang mit seinen Patienten immer deutlicher geworden, wie wenig sich mit seiner ärztlichen Kunst ausrichten ließ, wenn man keine stärkeren Mittel gegen den chemischen Schmerz einsetzte als jene, die ihnen gewöhnlich auf Rezept zur Verfügung standen.

Er tastete nach dem kleinen silbernen Gefühlsabschalter im Schädelknochen über seinem rechten Ohr.

Es war ein kaum acht Millimeter dicker Stift, der gerade so weit herausragte, dass man seinen Schalter mit den Fingerspitzen bequem drehen konnte; seine Kappe war geriffelt. „Optisch garantiert nicht störend“, hatte es auf den Reklameplakaten geheißen (manchmal stieß er an den Anschlagsäulen noch auf solche Plakate). Vorausgesetzt, man besaß genügend Haare über den Ohren.

Wenn er die passende Silberoxidbatterie fand, ließ es sich auch für einen der alten Generation aushalten, weil es weniger eine Frage der Verträglichkeit als der unangenehmen Empfindungen war: der Gerüche vor allem.

Man setzte der Nahrung schon seit langer Zeit chemische Neutralisatoren zu. WEDAs „neuer Mensch“ empfand die atmosphärischen Belastungen als normal; er hätte für all das nichts weiter als ein verständnisloses Lächeln aufgebracht, nahm Doktor Wargas an.

Wenn er dem, was er über die Neuen herausgefunden hatte, glauben durfte. Sie wussten nichts von der Vergangenheit, jedenfalls nicht viel. Man hielt sie sorgsam vor ihnen geheim.

Für Wargas war das Ding eine Notwendigkeit; er würde sich nie an den Gestank gewöhnen können, nicht in hundert Jahren, davon war er überzeugt. Und er hätte diese Ruinenstadt sogar verlassen und sich ins freie Land gewagt, wo sie ihre neuen Gartenstädte, ihre „Blumenorte“ bauten, um irgend jemandem aus der alten Generation, dessen Leiche er aufstöberte oder ausgrub, seinen Apparat aus dem Schädel zu operieren, wenn es darauf ankam.

Schon früher war es nur eine Erleichterung für die Besserverdienenden gewesen, das sogenannte gemeine Volk hatte sich den Luxus eines Gefühlsabschalters nie leisten können, vorausgesetzt, es wollte nicht für viele Jahre auf Dinge des täglichen Gebrauchs verzichten, von Luxusgütern ganz zu schweigen.

Allerdings hatten kurz vor dem Dritten Weltkrieg einige Leasing-Firmen damit begonnen, gegen langfristige Verträge Geräte zu vermieten; zu horrenden Mietgebühren, versteht sich.

Selbst die Kommunisten waren schließlich auf den Geschmack gekommen: nach anfänglicher Skepsis, und sie hatten ihre wertvollen Devisen für den Kauf der neuen Technologie geopfert, denn es war ein Ausweg, und es schien ihnen sogar der einzig gangbare Weg, die Fehler der Planerfüllung zu überspielen, ohne sofort eine Subkultur abhängig machender Tranquilizer und bewusstseinsaufhellender Drogen zu riskieren, wie in den westlichen Großstädten.

Anfangs hatte es Schwierigkeiten mit den feinen Silberdrähten gegeben, die vom Bereich des Ohrknochens in das limbische System, den Sitz der Emotionen, und von dort weiter in die höheren Zentren des Kortex führten, weil sie bei heftigen Bewegungen rissen.

Schon bei der zweiten Generation gab es diese Schwierigkeiten nicht mehr, von der Energiequelle abgesehen, auf die solche Geräte immer angewiesen sein würden. Sie erzeugten auch keine Apathie oder Müdigkeit wie die Vorgängermodelle. Das alles hatte man längst mit Bravour aus der Welt geschafft – ebenso, wie sich ihre Erfinder samt ihrer revolutionären Entdeckung gegen alle unangenehmen Einflüsse der Zivilisation schließlich aus der Welt geschafft hatten.

Alter Spötter, dachte er. Du solltest dich hier nicht über die Unzulänglichkeiten der Vergangenheit lustig machen.

Es war eine üble Angewohnheit und während der langen einsamen Abende in den verlassenen Häusern der Riesenstadt sein einziger Zeitvertreib; er kannte die Filme der Videotheken jetzt auswendig; außerdem gab es kaum noch brauchbare Zwölf-Volt-Batterien.

P-Meningokokkus – eine in der DNS vom natürlichen Bakterienstamm weiterentwickelte Art –‚ sie besaß damals für die Strategen der bakteriologischen Kriegsführung den unschätzbaren Vorteil, durch eine Synthese aus Pneumokokken und Meningokokken Gehirnhaut- und Lungenentzündung gleichzeitig zu übertragen (eine Super-Super-Infektion) – „P-Meningokkos“, wie er ihn fast liebevoll nannte, hatte nicht mehr als einige wenige Resistente übriggelassen, und angesichts dieser neuen Spezies war es völlig unangebracht, sarkastisch zu sein.

Kein Zweifel, dass man in Lyon jetzt endlich die fehlerbehaftete Phase A mit ihren lächerlichen dreiundzwanzig Klon-Typen überwunden hatte und ein ganz respektables menschliches Wesen produzierte: harmonisch, friedlich, intelligent, kreativ – vor allen Dingen aber differenziert.

Es war ihnen gelungen, durch geringfügige Veränderung der Erbmasse immer verschiedenartigere Menschentypen zu erzeugen, die in ihrer Vielfalt fast den früheren glichen. Allerdings, ohne ihre Fehler und Schwächen zu besitzen.

Jeder Erzieher, jeder Lehrer oder Psychologe, jeder Politiker oder Friedensforscher der alten Zeit wäre an dem Vorsatz gescheitert, sei es durch Erziehung und Umerziehung, durch gesellschaftliche Normen oder Appelle auch nur ein halbwegs so intaktes Wesen wie das gegenwärtige zu schaffen.

Erst durch einige recht simple Einsichten in den Zusammenhang von Charakteranlagen und Gen-Chirurgie (für die WEDA in Lyon als erste Firma der Medizingeschichte den Nobelpreis in Biologie erhalten hatte), war es gelungen, den alten Evolutionstraum zu verwirklichen.

Wargas bezweifelte keinen Moment, dass es der richtige, der einzige Weg war, eine neue Phase in der Evolution, die sich der Mittel der Technik und der modernen Medizin bediente, um das zu erreichen, was durch freien Willen, durch Einsicht, Aufklärung und Appelle nie möglich gewesen wäre.

Er hatte einige Zeit gebraucht, bis er begriff, wie ungewöhnlich die Entwicklung in der Tat verlief – Wächter und Melanchton im ehemaligen Debattierklub des Krankenhauses, vor allem Melanchton, hätten ihre helle Freude daran gehabt, ihn zu widerlegen, aber sie waren tot, der eine von einer schnell verlaufenden Lungenentzündung hinweggerafft, der andere ein Opfer seiner entzündeten Gehirnhaut.

Es war auch nicht ganz einfach zu verstehen, auf den ersten Blick in den Augen der Alten recht zweifelhaft wenn nicht sogar obskur:

Nach all den Zwischenstufen biologischer und geistiger Art, über die tierische Existenz, über Moral und Religion (erbärmlicher Krücken, wenn man sah, was sie angerichtet hatten), schließlich über das Zeitalter der Aufklärung, den neuzeitlichen Atheismus und die Periode liberaler Rechtsstaaten, sollte sich die Natur nun plötzlich der ärztlichen Kunst und medizinischen Technik bedienen?

Gewiss war das vorausgegangene Stadium an seinen eigenen Schwächen zugrunde gegangen. Es hatte an den letzten Zielen scheitern müssen wie alle vorhergegangenen Entwicklungsstufen, weil es von Anfang an nur Durchgang war – und weil es den alten Werten nicht mehr über den Weg traute.

Nach all diesen Phasen was das Unfassliche geschehen und ein Wachstum eingeleitet worden, das den gewöhnlichen Mitteln der Mutation und Selektion niemals offengestanden hätte.

Man bewegte sich auf den Trümmern der Vergangenheit, für die man nur Verachtung übrig hatte, aber sie bildeten das Fundament.

Wargas interessierten die geschichtsphilosophischen Hintergründe brennend; leider gab es niemanden außer dem imaginären Partner seiner Selbstgespräche, den er von ihrer Wichtigkeit hätte überzeugen können.

Er glaubte den ganzen scheinbar wirren und hilflos tastenden Evolutionsstrang plötzlich überschauen zu können. Schon das allein, diese Einsicht, rechtfertigte es, zu überleben. Er nahm an, dass WEDA in Lyon, dass die führenden Köpfe dort, die „Eierköpfe“, die man niemals oder nur ganz selten zu Gesicht bekam, sich über das alles im klaren waren wie er selbst. Er hoffte es. Er setzte es voraus.

„Wir leben in einer uneinigen, verstörten, verwirrten Welt“, hatte es noch vor zwei Jahren geheißen; nun war sie offensichtlich auf dem besten Wege, die Fehler der Vergangenheit abzuwerfen.

2

Er ging unter den überhängenden schwarzen Armen einer Lichtreklame hindurch und im Schatten der löchrigen Markisen weiter, die vor den Schaufenstern ausgefahren waren – manche mit herabhängenden Streifen, so als habe jemand versucht, sie feinsäuberlich an den gelben, roten und weißen Farbstreifen aufzutrennen; einige ihrer Enden rollten sich vor ihm in der Bordsteinrinne.

Nur wenige Schaufensterscheiben waren in der Reihe noch heil.

Wie überall sah man das gewohnte Durcheinander aus aufgerissenen Kartons und verstreuten Waren: Farbeimern, billigem Spielzeug, Toilettenartikel. Quarzuhren in bunten Plastikgehäusen.

Vor ihm auf dem Gehsteig stand ein Kinder-Dreirad. Es erinnerte ihn daran, dass er Vera Melanchton einige Blumen auf ihr kümmerliches Grab in den Höfen am Depot stellen würde. Kunststoffblumen, die der Wind verwehte, so, wie er alle ihre Vorgängerinnen verweht hatte.

Das Depot lag am Bahnhof. Irgendwo in der Nähe würde er auch übernachten. Er wechselte ständig den Platz, weil es zu riskant war, wieder in die Wohnung zurückzukehren.

Es ließen sich immer Spuren entdecken, sie brauchten nur genau hinzusehen. Eine frisch geöffnete Konservendose, Kaffeefilter, die noch feucht waren, geronnene Milch; dann die Lagerstatt, das Feuer, Ölkannen, noch warme Herde, weil es weder Gas noch Strom zum Kochen gab. Ein halb aufgerauchter Zigarettenstummel (keiner der Neuen rauchte) konnte ihn ebenso verraten wie die Petroleumlampe, deren Glühstrumpf neu aussah.

Nur wenn er in die Bergwerke ging, kehrte er manchmal zurück. Dort unten in ein paar hundert Metern Tiefe kam so leicht niemand hin; man musste die Förderkörbe durch Handkurbeln bewegen oder sich an Seilleitern hinunterlassen. Im Winter hielten sich die Temperaturen, was je nach Tiefe das Heizen erleichterte oder überflüssig machte, und es gab genügend Lampen und immer noch taugliche Akkus, mit denen man die kleinen elektrischen Schienenautos betreiben konnte, um durch Sohlen und Strecken zu fahren, soweit sie nicht überflutet waren, und irgendwo aus einem anderen Schacht ans Tageslicht zu kommen, einem Ort, den er noch nicht kannte.

Obwohl es gefährlich war, hatte er sich in einigen Häusern Depots angelegt, kleinere und größere: für Dinge des täglichen Bedarfs, Kerzen, Zündhölzer, Sicherheitsnadeln, auch Lebensmittel, die er nicht erst mühsam zusammensuchen musste, wenn er Appetit bekam. Vieles war ohnehin verdorben, überlagert.

Schokolade bekam einen weißlichen Belag und schmeckte muffig, Konservendosen blähten sich auf, wenn sich Gase entwickelten, oder rosteten durch; das Schlimmste von allem aber war, dass es kein frisches Brot gab; nur eingetrockneten Zwieback, Dosen-Graubrot aus Militärbeständen und gelegentlich etwas Knäckebrot, das sich aus mysteriösen Gründen frisch gehalten hatte – vielleicht, weil es in seiner Aluminiumfolie von der Sonne, die durch die eingestürzten Lagerdecken schien, nachgeröstet worden war.

In der Nähe eines dieser größeren Depots würde er sich heute nacht einrichten, wenn er Veras Grab besucht hatte. Weit genug vom Bahnhof entfernt, wo sie zuerst nachforschten, weil sie meist vom Zentrum ausgingen und dann erst in die Randbezirke ausschwärmten.

Er blieb stehen, weil ihm die Seite gefiel, die er in der Universitätsbibliothek aus einem alten Roman gerissen hatte; er nahm das gefaltete Papier heraus und warf einen Blick darauf, dabei beschattete er seine Augen mit der Hand, denn die Sonne brannte stärker als in früheren Zeiten. Er hatte sich nie an ihr neues grelles Licht gewöhnen können.

„Fortschritt wird vielleicht von Historikern wahrgenommen; er kann nicht von denen empfunden werden, die wirklich in diesen vermeintlichen Vorwärtsgang verwickelt sind. Die Jungen werden in die fortschreitenden Umstände hineingeboren, die Alten nehmen sie binnen weniger Monate oder Jahre für gegeben. Fortschritte werden nicht als Fortschritte empfunden …“

Nun, das war diesmal anders (Wargas ließ das Blatt achtlos fallen; es interessierte ihn nicht mehr). Für frühere Zeiten mochte es stimmen. Jetzt galten andere Gesetze. Selbst die Neuen empfanden sich als Fortschritt. Nicht, dass man es ihnen eingeredet hätte. Sie benötigten keine Ideologie. Wenigstens an dem gemessen, was vor ihrer Zeit üblich gewesen war.

Vor ihm ragte ein schiefer Eisenträger aus dem Boden, etwa zwei Stockwerke hoch.

Er stand in der Mitte eines kleinen Platzes neben der Straßenkreuzung, rostbraun, im Profil etwas breiter als gewöhnliche Eisenträger, aber ohne jede Zierde, das Ende glatt abgetrennt, und war so postiert, dass man ihn sehen musste, wenn man aus dem Bahnhof kam. Er schien das musische Verständnis der Stadtväter belegen zu wollen.

Schrottabfall oder ein Meisterwerk der modernen Kunst?

Nicht weit entfernt davon war das Arbeitsamt. Es hatte in den letzten Jahren vor dem Krieg, als sich die Wirtschaftskrise zuzuspitzen begann, zwei Seitenflügel anbauen müssen, um den Andrang zu bewältigen. Doktor Wargas erinnerte sich noch deutlich, wie viel Kritik es wegen dieser „Skulptur“ gegeben hatte, die manche für den überspannten Geschmack eines avantgardistischen Bildhauers hielten, der vielleicht doch nichts weiter war als ein geschickter Spieler mit der Dummheit jener sogenannten Kunstverständigen ...

Jetzt unterschied sich das Ding nicht mehr von den rostigen Eisenträgern des Häuserblocks, der hinter ihm zerfiel. Eine graue Gebäudereihe, einförmige, zerschossene Fassaden, mit Büros und Geschäften im Untergeschoss, deren Inventar ein emsiges Ameisenheer von Sammlern schon in den ersten mageren Monaten nach dem Kriege abtransportiert hatte, um dann nie wieder zurückzukehren und die Stadt ihrem Schicksal zu überlassen, dem Staub und Rost und der Trostlosigkeit – sah man von den „Säuberern“ ab, deren Aufgabe es war, ihn und die anderen Überlebenden zu jagen.

Sie streiften weiter in ihren altmodischen Anzügen durch die Straßenschluchten: wie schemenhafte Gestalten einer überlebten Zeit.

Fast alle Eingänge waren ohne Türen, in den Zwischenetagen fehlten Geländer, und die Aufzugsschächte besaßen keine Fahrstühle. Das machte ihnen die Arbeit leicht. In der Kleidermode war die neue Ordnung bemerkenswert konservativ, wenn nicht steril.

Keine Spur von den bunten synthetischen Stoffen, den zahllosen Farben und Formen, die man sich vorgestellt hätte. Wegs Anweisung – eigentlich war es gar keine Anweisung im strengen Sinne des Wortes, sondern nur eine Empfehlung – lautete, die alten Kleiderbestände aus den Textilfabriken der Vorzeit zu nutzen, solange ihre vollautomatisierten Werke in der nördlichen Industriezone noch im Aufbau waren.

Eine Zone der Roboter, in der sich alles mit geisterhafter Präzision bewegte, von Kontrollrobotern kontrolliert, die ihrerseits von Kontrollrobotern kontrolliert wurden (er nahm an, dass es irgendwo ein Ende hatte und dass jemand an einem Monitor saß, ein menschliches Wesen, das den obersten der Kontrollroboter kontrollierte).

Immerhin war damit der alte marxistische Anspruch fast befriedigt worden, den Menschen von der mechanischen Arbeit so weit freizustellen, dass er seinen eigentlichen Bedürfnissen leben konnte, was immer das war; seiner Kreativität, seinen Ideen und seiner Schöpferkraft.

Im ersten Jahr nach dem Kriege hatten die Purificateurs, die „Reiniger“ oder „Säuberer“, wie sie anfangs von WEDA in Lyon genannt wurden (bis man auf die Idee verfiel, das Märchen vom „Seelenaustausch“ zu verbreiten), noch mit schweren Waffen auf alles geschossen, was sich in den Häusern der gesperrten Zone bewegte und nicht dem Appell nachgekommen war, sich zur Auswertung und Einstufung seiner Erbanlagen in das Laborzentrum der neuen Gartenorte zu begeben. Daher die eingestürzten Häuser, die zerschossenen Fassaden und eingefallenen Decken.

Denn der bakteriologische Krieg hatte die Städte unbeschädigt gelassen und nur ihre Lebewesen betroffen: Menschen und Säugetiere. Selbst die Rattenplage war bei einer Inkubationszeit von wenigen Tagen oder Stunden für den P-Meningokokkus ein leichter Gegner gewesen.

Schon bald waren WEDAs Purificateurs jedoch dazu übergegangen, weniger Lärm zu veranstalten, und statt mit Panzerfäusten und Granatwerfern Dächer und Fassaden zu beschädigen – ihr Donner war bis in die grünen Täler jenseits der Ruhr zu hören –‚ durchkämmten sie jetzt das Gelände nach einzelnen Überlebenden mit einer geradezu freundlich erscheinenden Waffe, die sie „Seelenaustauscher“ nannten.

Seiner Ansicht nach ein simpler Gehirnwellenblockierer …

Doktor Wargas war überzeugt, dass es höchstens noch drei oder vier Überlebende in der alten Ruhr-Metropole gab, wenn überhaupt.

Er war seit vier langen Monaten niemandem mehr begegnet. Die letzte war ein verrücktes altes Mädchen gewesen. Sie kauerte hoch droben im Fenster eines ausgeräumten Kaufhauses: ein Bein um das glaslose Fensterkreuz geschlungen, das andere von der Fensterbank baumelnd, während sie mit der linken Hand ihr strähniges, gelbes Haar im Nacken zurecht schob, als sie ihn unten auf der Straße entdeckte.

Er erkannte sofort, dass es keine der Neuen sein konnte.

Und dann – sie winkte ihm gerade zu wie eine alternde Hure, die mit ihren Tageseinnahmen weit im Rückstand war, zeigte verzerrt lächelnd (eine Grimasse, die verführerisch sein sollte) auf ihre geschminkten Lippen und schien etwas zu krächzen, das er wegen der Höhe nicht verstand –‚ rissen sie unvermittelt vier, fünf graubekleidete Arme aus dem Inneren der Etage zurück ... ihre Beine kippten nach hinten über die Fensterbank, und sie war verschwunden.

Wargas fand sie später in einem der seitlichen Treppenhäuser, die bei Feuer als Fluchtwege gedient hatten. Als er ihren Kopf drehte und in ihr altes Gesicht sah, entdeckte er, dass es eine seiner früheren Patientinnen aus der neurochirurgischen Abteilung des Krankenhauses war. Wertloses Material für die Säuberer.

Keinerlei Anlass, sich mit ihrem Erbgut zu beschäftigen und jene Informationen auszustanzen, die ihre Verrücktheit und ihre Fallsucht verschuldet hatten.

Es gab genügend andere. Es gab die besten Erbsubstanzen, die jemals existiert hatten, und sie wurden ständig verfeinert und abgewandelt, übertragen und wieder verfeinert.

Er erinnerte sich, dass sie an einer speziellen Form der Epilepsie gelitten hatte, verbunden mit anderen Bewusstseinsstörungen (unheilbarer Fall), und er hatte Durchtrennung des Corpus Callosum empfohlen, das den Kortex in zwei Hemisphären trennt, um die Symptome zu mildern, was schließlich doch nichts weiter bewirkt hatte als eine Trennung des intuitiven und des diskursiven Bewusstseins. Irgendwann hatte ihr intuitives, gefühlshaftes Bewusstsein endgültig über das begriffliche gesiegt, es dorthin geschickt, wohin es vielleicht auch gehörte: nämlich zum Teufel. Seitdem lebte sie ihren Sehnsüchten und Begierden.

Wargas rechnete sich aus, dass man dieser Komplikation – allerdings ein ungewöhnlicher Fall – mit dem Gefühlsabschalter beikam. Was wäre dann gewesen?

Sie hatten sie mit dem Gehirnwellenblockierer getötet. Einem zwei Finger dicken Metallhelm voller Elektronik, der einem einfach über den Kopf gestülpt wurde und einen sanften Tod garantierte. schließlich waren es keine Barbaren.

Wargas kannte das Gerät aus ihren Nachrichtensendungen. Es war über Bildschirm vorgeführt worden, um es populär zu machen. Man empfahl es als Lösung, wenn ein Neuer entdeckte, dass sich in seine Gene ein Fehler eingeschlichen hatte (was gelegentlich vorkam) und er Verhaltensweisen produzierte, die ihm und der Gesellschaft schaden konnten. Angeblich war es ein Seelenaustauscher, der den Geist des Toten dem Zentrallaboratorium von WEDA in Lyon zu führte, oder den Seelenbanken in einem der anderen Zentren. Eine Behauptung, die sicher in das Reich der Fabel gehörte.

Doktor Wargas konnte sich nicht vorstellen, dass die Entwicklung, und sei es auch zu einem noch so späten Zeitpunkt, so weit fortschreiten würde, dass dies möglich war.

Die Nahtstelle von Physiologie und Bewusstsein blieb unerforschbar. Es war eine Grenze der Erkenntnis, ein Geheimnis, das sich die Schöpfung nie entreißen lassen würde. Also würde es auch nie verfügbar sein, um damit seine Spielchen zu treiben. Es gehörte in das Reich der Wunschträume.

Die Begegnung einige Tage zuvor war ein kaum weniger seltsamer Knabe gewesen. So, als sei der Rest der Welt, die verbotene Randzone, jetzt nur noch von skurrilen Gestalten bevölkert.

Der Doktor war ihm zwischen den Kleiderständern eines Herrenausstatters weit oben im Nordwesten der Stadt begegnet. Plötzlich hatten sie sich Auge in Auge gegenübergestanden.

Ein stoppelbärtiger Mann mit rasiertem Kopf (wahrscheinlich hatte er in irgendeinem Frisiersalon ein Haarschneidegerät aufgetrieben und sich wegen der Kopfläuse den Schädel kahlgeschoren). Sie musterten sich verblüfft und erkannten im selben Moment, dass sie keine Purificateurs sein konnten. Der andere trug ein buntgemustertes Hemd, wie es früher in den Staaten Mode gewesen war. „Hallo“, sagte er mit deutlichem amerikanischen Akzent.

Er war etwa vierzig Jahre alt, besaß ein hageres Kinn und hatte stark gerötete Augen, die vermutlich von der grellen Sonne entzündet waren.

„Sie haben die Katastrophe überlebt?“, fragte er. Als sei das eine Frage! Wargas nickte nur.

Obwohl sie keinen Grund hatten, sich gegenseitig umzubringen oder einander zu misstrauen, schielte Wargas abwechselnd zur Hand des anderen in der Jackentasche und nach der umgehängten Leinentasche, ob sich darin vielleicht eine Waffe befände.

„Ich war hier auf Besuch bei deutschen Verwandten, als es passierte

Wargas nickte ein weiteres Mal.

„Drüben in den Staaten wäre ich jetzt zu atomarem Staub zerfallen.“ Er zeigte unbestimmt auf die andere Rheinseite und lächelte schwach. „Oder ein radioaktiv verseuchtes Monster. Hier habe ich das Virus überlebt.“

„Es waren Bakterien“, berichtigte Wargas.

„Diese Reise war meine Rettung.“ Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Sie leben nicht in der Rheingegend, oder? Wir wären uns schon irgendwann über den Weg gelaufen.“

„Bin hier nur auf Kleidersuche“, bestätigte der Doktor. „Weiter im Zentrum ist alles ausgeplündert.“

Der Amerikaner zeigte durch die Scheiben auf ein braunes Backsteingebäude mit außen umlaufenden Etagengängen und vollständig erhaltenen Geländern. „Die Säuberer kommen selten hierher. Ich wohne in der Fabrik drüben, unter dem Dach. Es ist ziemlich sicher. Das Gebäude ist ein – wie sagt man in Ihrer Sprache – Schweizer Käse? Durchlöchert, meine ich. Es gibt genügend Schlupflöcher, durch die man fliehen kann, wenn sie kommen. Vielleicht sollten Sie mich einmal besuchen?“

Er schwieg und blickte ihn erwartungsvoll an.

„Schon möglich“, nickte Wargas. „Falls ich wieder in diese Gegend komme.“

Zu zweit war es gefährlicher als allein. Zwei Personen machten einfach mehr Lärm als eine, bewegten sich in entgegengesetzten Richtungen, hinterließen mehr Spuren. Vor allen Dingen aber sprachen sie miteinander, und ihre Stimmen hallten aus den Fenstern und durch die leeren Straßenschluchten.

„Die Winterabende sind jetzt sehr lang. Wir könnten eine Partie Schach spielen.“

„Ich werde kommen.“ Wargas nickte. „Irgendwann im Dezember.“

Der andere nickte ebenfalls, nahm die Kleiderstapel, die er auf der Theke säuberlich gefaltet zurechtgelegt hatte, schob sie in einen danebenliegenden Kleiderbeutel und hängte sich das Ganze samt seiner Leinentasche über die Schulter. „Bis dann“, sagte er und verschwand durch die Hintertür.

Wargas beobachtete, wie er vorsichtig nach rechts und links die Straße hinunterstarrte, den Kopf vorgeschoben wie ein witterndes Tier, und dann das Pflaster überquerte – noch einmal aus alter Gewohnheit nach links und rechts blickend, als könnte irgendein Fahrzeug kommen …

Immerhin zeigte der Tod der Frau, wie vorsichtig er sein musste. Man hatte das ganze Stadtgebiet zur verbotenen Zone erklärt. Wegen „Seuchengefahr“.

Aber der wirkliche Grund war ein anderer. Sie fürchteten sich vor der Vergangenheit! Sie wollten verhindern, dass die Neuen aus Zeitungen, Büchern oder Filmen erfuhren, was in der alten Zeit wirklich getrieben worden war.

Sie glaubten zwar an die Macht der Gene, aber sie trauten der Verführungskraft der Worte alles mögliche zu.

Es war ja vorstellbar, dass eines ihrer Blumenkinder auf andere Gedanken kam, von den Freuden der Geschlechtlichkeit erfuhr, die ihnen für immer verschlossen bleiben sollten, oder von der Gewalttätigkeit, Zügellosigkeit und Genusssucht der alten Generation. Ihrem Zynismus, ihren Lügen und Selbsttäuschungen, ihren uneinholbaren Idealen, ihrer Bequemlichkeit und Raffsucht, ihrem Misstrauen – ihren Verrücktheiten, die so verbreitet gewesen waren, dass man sie für normal gehalten hatte.

3

Der Doktor blickte zum Himmel. Es würde bald dunkel sein. Er brauchte noch Plastikblumen.

Nachts durch die Treppenhäuser einer leeren Stadt zu steigen, eine Taschenlampe in der Hand, Korridore voller offener Türen entlang, hinter denen sich diese Kerle mit ihren altmodischen Hüten und Schirmmützen verbargen, zerrte zwar nur an seinen Nerven, wenn er den Gefühlsabschalter zurückdrehte oder auf Null stellte, aber es machte auch blind für alles Schöne auf dem Weg.

So weit war die Technik dieser Dinger nie fortgeschritten, dass sie negative Gefühle, Stimmungen oder Emotionen ausfilterten, die positiven aber zuließen.

Es gab nur ein Entweder-Oder. Man beraubte sich aller Gefühle oder schaltete ihre Intensität herunter.

Doch die Welt, sowohl jene der Sinneswahrnehmungen wie auch die der Gedanken und Erinnerungen, verlor dann jeden Reiz. Man war noch in der Lage, die Zweckmäßigkeit oder den Sinn seines Handelns abzuschätzen; doch es blieb eine bloß intellektuelle Einsicht. Ein kalter Gedanke.

Wahrnehmung, als fotografiere man die Dinge ab; Gerüche ohne Reiz oder Abstoßung; Laute nicht mehr als geordnete Folgen von Tönen; selbst Schmerzempfindungen verloren ihre negative Gefühlstönung und wurden zu bloßen Empfindungen dieser oder jener Art: Von Druck, Spitzigkeit, Kontakt. Kälte zum Beispiel blieb eine „kalte“ Empfindung, aber man fror nicht, litt nicht darunter.

Ein Zustand, der leichtsinnig machte. Man riskierte mehr.

Das Bewusstsein war nicht getrübt, ganz im Gegenteil: weil die Emotionen fehlten – Wünsche, Ängste, Hoffnungen, Trauer oder Eifersucht, befand man sich in jenem Zustand klarer, reiner Bewusstheit, der das Ziel vieler Religionen gewesen war.

Doktor Wargas dachte voller Resignation daran, dass Vera Melanchton von alledem eine überreichliche Portion besessen hatte. Bei aller Verliebtheit, die ihn jetzt noch manchmal plagte: es war realistischer, sich das einzugestehen.

Daran änderte auch der Umstand nichts, dass ihr Tod ihn tief getroffen hatte. Sicher bedauerte er wie niemand sonst auf der Welt, dass sie auf diese makabere Weise getrennt worden waren – durch einen winzigen Unterschied in der Abwehrkraft, eine simple Verschiedenheit in der Basenfolge der DNS, die nur unter dem Elektronenmikroskop sichtbar gewesen wäre.

Vielleicht waren ihre offenkundigen Schwächen der Grund dafür, dass sie sich wie er als Ärztin am Krankenhaus für Zellbiologie interessiert hatte und nach Lyon gefahren war, um sich über WEDAs Zukunftsprognosen zu informieren und als eine der ersten für eine Genuntersuchung zur Verfügung zu stellen.

Nicht, weil sie die Absicht gehabt hätte, sich zu verändern, was nicht möglich war, sondern um dem Geheimnis ihrer „bösen“ Neigungen auf die Spur zu kommen, ihren Launen, Sprunghaftigkeiten, ihrem Hang zur Eifersucht und Kleinlichkeit.

Doktor Melanchton, ihr Vater, hatte diese Besessenheit, die er einen „pseudowissenschaftlichen Spleen“ nannte, im Debattierklub des Krankenhauses gründlich kritisiert; er pflegte kein gutes Haar daran zu lassen.

Wie er denn auch in seiner Tochter nie viel mehr als eine etwas bessere Operationsschwester gesehen hatte, die ihm mit den Instrumenten nur deshalb so geschickt zur Hand ging, weil sie seine Arbeitsweise und seine Gewohnheiten von Jugend auf kannte.

Melanchton, ein heller, blässlicher Typ, dünn und hoch wie eine Bohnenstange, war schon in jungen Jahren faltig wie ein Sechzigjähriger gewesen. Eher das Äußere eines leptosomen Mathematikers als eines Arztes.

Sein schmales Gesicht sah wenig vertrauenerweckend aus, es strahlte mit seinem verbissenen Zug um den Mund nicht gerade jene Zuversicht aus, die Patienten in eine der Heilung förderliche Stimmung versetzte. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass er und seine ebenso blässliche Frau eine so dunkelhäutige sinnliche, kleine Person hätten zeugen können. Spiel der Gene, dachte Wargas seufzend.

Ein Mädchen von dieser Agilität! Alles, was sie tat, verfolgte sie mit brennendem Interesse, vereinnahmend und immer in Gefahr, die Beherrschung zu verlieren, wenn man ihr widersprach. Es gab keine Halbheiten, weder im Guten noch im Bösen. Und jedes Scheitern, auch das geringste, bedeutete eine Katastrophe. Der Doktor hatte den Eindruck, ihr hervorstechendster Zug sei gewesen, dass sie sich nie zu einer gelasseneren Haltung hatte durchringen können.

Er betrat den Hauseingang, vor dem so viel Bauschutt lag, dass er ihn mit zwei großen Schritten umrunden musste und dabei eine blecherne Tonne streifte, deren Deckel scheppernd gegen die Hauswand schlug. Lärm, dachte er ärgerlich. Überall Lärm und Getöse. Jedes Geräusch bedeutete Gefahr.

Nach einem raschen Blick an der Fassade hinauf wandte er sich der Tür zu. Sie hing in einer Angel. Er stieß dagegen, und sie bewegte sich und schlug innen gegen die Flurwand – kam jedoch sofort wieder zurück. Ein trocken quietschendes Geräusch, als mahle der Rost des Scharniers auf Stein

Wargas stieß noch einmal mit dem Fuß dagegen, behielt ihn aber jetzt auf dem Boden, damit sie nicht zurückschlagen konnte, und sah in den dunklen Flur. Er erinnerte sich, dass es oben ein ganzes Lager asiatischer Stoffblumen gab, weitaus besser als Plastikblumen; irgendeine vergessene Lieferung. Im ersten Stock. Ein Raum voller Kartons mit japanischen Schriftzeichen, Waren, die noch niemand entdeckt hatte oder die für wertlos befunden worden waren.

Er ging bis zur nächsten Tür – vorsichtig, jeder Schritt ein zögerndes Tasten durch die Finsternis –‚ sie war nur angelehnt, und drückte sie auf.

Licht flutete durch ein großes Bürofenster an der Stirnwand herein und erhellte auch den Flur und das Geländer mit einem Teil des Treppenabsatzes. Das Büro selbst war bis auf einige nackte Möbel aus hellem Holz leer.

Er wandte sich wieder dem Flur zu. Eine ausgeräumte Holzkiste stand im Weg; daneben lagen Kleider ausgebreitet: wertloses Zeug. Lumpen, vor Schmutz starrend.

Anscheinend war jemand nach seinem letzten Besuch hier gewesen und hatte sich im Schutze des Hausflurs neu eingekleidet. Gegenüber, zwischen dem eingestürzten Autosalon und der Wäscherei, gab es ein Bekleidungsgeschäft. Neben den Lumpen – einer roten Strickjacke und dunklen Flanellhosen, wie sie Frauen trugen – lagen zwei zerbrochene Taschenspiegel. Gleich zwei ... dachte er. Muss eine sehr eitle Person gewesen sein.

Er dachte in der Vergangenheitsform. Vielleicht war sie längst tot. Ja, das war wahrscheinlich.

An der Wand gegenüber hing eines der alten grünen Plakate (sie hatten Grün dazu gewählt, eine Farbe, die Beruhigung ausstrahlen sollte!). Es war der Aufruf, sich zur Untersuchung seiner Gene im Laborzentrum einzufinden. Er lautete:

Letzter Aufruf an alle Personen unter 26 Jahren, die sich noch in der Stadt versteckt halten!

Es besteht der begründete Verdacht, dass Sie die bakteriologische Katastrophe überlebt haben, weil Ihre Erbanlagen von den WEDA-Laboratorien bereits auf eine erhöhte Widerstandskraft gegen die Erregerart P-Neiseria meningitidis (P-Meningokokken) eingestellt wurden. In diesem Fall beglückwünschen wir Sie. Sie haben nichts zu befürchten. Ältere Anwohner werden gebeten, sich zwecks Bestimmung ihrer Charaktereigenschaften (DNS-Test) unverzüglich in der Abteilung Seelenaustausch einzufinden. Zuwiderhandlung wird mit schweren Strafen geahndet.

Wargas griff schnaufend nach der abstehenden Ecke am oberen rechten Rand des Plakates und riss es herunter

Trockener Verputz rieselte auf seine Schuhe. Es roch nach verschimmeltem Kleister.

WEDA hatte bereits vor Jahren als „Angebot gegen die fortschreitenden Umweltbelastungen „ eine Gen-Behandlung befürwortet, die Erbanlagen von Ungeborenen in einem sehr frühen embryonalen Stadium so zu verändern vermochte, dass sie eine erhöhte Widerstandskraft besaßen. Schwangere Frauen waren nach anfänglichem Zögern in Scharen zu WEDAs aus dem Boden schießenden Laboratorien gekommen, um ihre ungeborenen Kinder behandeln zu lassen.

Sie waren dann auch deutlich weniger krankheitsanfällig – was das Stockholmer Nobelpreiskomitee zu der ungewöhnlichen Entscheidung veranlasst hatte, WEDA als Gemeinschaftsleistung für seine bahnbrechende Entdeckung den Nobelpreis in Zellbiologie zu verleihen. Er ging zum ersten Mal in der Medizingeschichte an eine Firmengruppe.

Als der Krieg ausbrach, waren über drei Millionen unter fünfundzwanzig Jahre alte Menschen gegen den bakteriologischen Angriff gefeit gewesen; entlang der wie mit einem Lineal schräg durch Mitteleuropa gezogenen Linie von WEDA-Laboratorien. Es bewies, was einzelne Firmen, wenn sie die wirtschaftliche Macht und Überlegenheit eines bedeutenden Konzerns besaßen, erreichen konnten. WEDAs Eierköpfe hatten Europa vor dem Untergang gerettet.

Geruch von verwestem Fleisch hing in der Luft, als er auf dem Treppenabsatz anlangte. Sicher eine Ratte, die man bei der großen Säuberungsaktion einige Monate nach Kriegsende übersehen hatte.

Hinter der hölzernen Wandverkleidung, nahm er an.

Sie waren gezwungen gewesen, Leichen und Tierkadaver wegen des Gestanks einzusammeln, sie in dichte Lehmgruben zu werfen und mit Kalk zu bestreuen. Später, als das zu mühselig wurde, war man dazu übergegangen, alles zu verbrennen.

Doktor Wargas hielt es für sicher, dass ein großer Teil des Staubs, der jetzt noch auf die Stadt herunterrieselte, von diesen Leichenverbrennungen stammte. Die Schwerkraft brachte ihn herunter und Sturm und Wind jagten ihn wieder in die Atmosphäre hinauf – und so fort in unaufhörlichem Kreislauf.

Früher waren es Autos, Hauskamine, Werksschlote und Kokereien gewesen, jetzt besorgten das die Leichen. Denn die automatischen Werke im Norden produzierten mit ausgeklügelten Filtersystemen.

WEDA in Lyon hatte strenge Richtlinien erlassen; aber wie Wargas aus den Nachrichten wusste, hätten sich die Konstrukteure der Neuen ohnehin an das Gebot der Reinerhaltung von Luft, Wasser und Boden gehalten. Es lag in ihrer Natur. (Was sich allerdings bei den Flussläufen nahe der Werke nur selten durchhalten ließ.) Sie besaßen zwar eine weitaus größere Widerstandsfähigkeit gegen chemische Einflüsse als der alte Mensch – in dieser Beziehung übertrafen sie sogar alle Erwartungen –‚ doch ihr angeborenes Ordnungs- und Sauberkeitsbedürfnis hinderte sie daran, etwas zu entwerfen oder zu konstruieren, das irgendwann unabsehbare Folgen haben könnte.

Es war eine fremde, neue Welt. Doktor Wargas interessierte sich brennend für sie. Er hatte es aber nie gewagt, die neuen Blumenorte zu betreten, um sich das Wunder aus nächster Nähe zu besehen. Leider verbreiteten sein Armee-Empfänger und der kleine Fernsehapparat, die er in einem sicheren Versteck aufbewahrte, viel zu wenig Nachrichten aus dem Alltag der Neuen.

Es verwunderte nicht weiter, da sie ihn selbst am besten kannten und nicht noch einmal vorgeführt bekommen wollten, was sie ohnehin schon wussten. So beschäftigten sich denn auch die Nachrichten hauptsächlich mit Fragen der „genetischen Stabilität“, mit dem Vergleich der Charaktereigenschaften von

„Bruderpaaren“ oder dem „Einfluss des Lebensweges und persönlichen Schicksals auf ererbte Eigenschaften“.

Eher vorsorglich behandelte man die Vergangenheit mit ausgewählten Einzelheiten, vor allen Dingen hinsichtlich der Umstände, die zur Entwicklung von WEDA geführt hatten. Er empfand es als wohltuend, dass man keinerlei Personenkult trieb. Nie erschien einer von WEDAs Eierköpfen auf dem Bildschirm und präsentierte sich als Retter der Welt, etwa der oberste Eierkopf (Wargas bezweifelte, dass es überhaupt einen obersten Eierkopf gab, sie schienen sich demokratisch zu einigen, ihr Vorstand besaß nur die Weisung, den äußeren Ablauf der Beratungen zu leiten). Freundliche, meist kahlköpfige Gesichter aus der alten Zeit, jeder ein Spezialist in seinem Fach, eine Kapazität, eine Koryphäe. Er erinnerte sich, dass der Älteste, ein rosiger und offenbar sehr alter Mann, seine Hände zitterten beim Sprechen, einmal während einer Studiosendung geäußert hatte, das Leben unter ihnen spiele sich wie in einem Kloster ab: in äußerster Bescheidenheit und innerer Einkehr. Sie besäßen kein persönliches Eigentum und strebten es auch nicht an.

Er beteuerte mit wissendem Lächeln (in dem schon der Argwohn lag, man könnte ihm nicht glauben), dass er, obwohl der alten „fehlerhaften Generation“ angehörend, ganz seinen Ideen lebe. Das sei Erfüllung genug.

Danach wurde das Bild WEDAs eingeblendet. Ein vierzig Stockwerke hohes, dunkles Backsteingebäude. Endlose Reihen kleiner Fenster, hinter denen ihre Denkerzellen lagen, nur unterbrochen von den größeren Fenstern der Zentrallabors; und über und unter ihnen in der ganzen Breite verlaufende Simse, ebenfalls aus dunkel patiniertem Backstein, die ihm von weitem den Eindruck eines gigantischen geriffelten Blocks verliehen.

In seiner Düsternis besaß es tatsächlich Ähnlichkeit mit einer Klosterburg früherer Zeit, und man malte sich leicht aus, obwohl das Innere nie gezeigt wurde, wie ihre Geistesarbeiter sich in den Wandelgängen bewegten, die Arme auf dem Rücken verschränkt, tief in Gedanken versunken, ihre Köpfe grüblerisch vorgebeugt, wissenschaftliche Formeln wie lateinische Litaneien murmelnd ...

Und über alledem, über der dunklen Steinburg und ihren wandelnden Bewohnern, wie ein Regenbogen der erlauchte Glanz des Nobelpreises.

Es gab keine Ermahnungen oder Ratschläge in den Sendungen. Lediglich Richtlinien, deren Nutzen jedermann einsah, und an die man sich hielt, weil man sie einsah. Ein Umstand, der den Doktor immer wieder verblüffte. Es waren eher Informationen als Appelle.

Ein Teil der Nachrichten betraf Erkundungsreisen nach Australien, Afrika und Asien. Aber sie ergaben selten Neues. Das Ergebnis war immer das gleiche: die Radioaktivität verminderte sich nur geringfügig, sie lag ähnlich hoch wie in den Staaten. Der günstigste Platz für eine Neubesiedlung war Neuseeland.

Wäre Europa nicht von den Raketen verschont geblieben, weil einige Militärstrategen – man wusste bis heute nicht, von wem, jede Seite beschuldigte die andere – es angesichts der Weltkrise für wünschenswert gehalten hatten, einen sogenannten „bakteriologischen Zwischenfall“ zu provozieren, der es ihnen erlaubte, sich hinter der Version vom „Angriff der Gegenseite“ zu verschanzen und „zurückzuschlagen“ (ein Minutenspiel der Raketen, es würde auf immer das Geheimnis jener Leute an den Frühwarnschirmen bleiben, wo die ersten Startsignale aufgeblitzt waren), dann gäbe es heute nicht einmal mehr dieses armselige Völkchen von vier Millionen zwischen Bremen und Marseille, zwölf über das Land zwischen der Nordseeküste und dem Mittelmeer verstreuten Zentren von etwas mehr als dreihunderttausend Einwohnern, dachte er.

Nichts weiter als ein besiedelter Streifen, vierzig Kilometer breit, wie ein über den Atlas gelegtes Lineal schräg durch Mitteleuropa, der sich die großen Flussläufe zunutze machte: Teile des unteren Rheins, der Mosel, Saone und Rhone und die Einzugsgebiete ihrer Nebenflüsse, weil ihr Wasser jetzt rein von jeder Nutzung durch Fabriken war.

Allerdings ließ es sich auch bei ausgeklügelter Filtertechnik in den Industriezonen nicht vermeiden, Flüsse und Seen wie bisher in Kloaken zu verwandeln.

Das alte Problem. Tribut an den Fortschritt. Aber es schadete niemandem, nicht einmal der Fauna: man begann jetzt sogar, Kaninchen und andere Kleinsäuger in den Genen anzupassen, um ihre Widerstandskraft gegen chemische Belastungen zu erhöhen.

Er hielt sich die Nase wegen des penetranten Kadavergestanks zu und drückte die Klinke des Lagerraums.

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