Das Rätsel der Trinität - Michael Debus - E-Book

Das Rätsel der Trinität E-Book

Michael Debus

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Beschreibung

Ein Rätsel für unsere Zeit Vater, Sohn und Heiliger Geist - was hat uns diese Dreifaltigkeit heute zu sagen? Michael Debus skizziert aus anthroposophischer Perspektive die Bedeutung des Begriffs der Trinität sowie seine Geschichte als kirchliches Dogma und zeigt, dass er ein Rätsel darstellt, dessen Lösung erst die gegenwärtige Menschheit zu finden vermag und die einen Weg in die Zukunft des Christentums weist.

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Michael Debus

Das Rätsel der Trinität

Annäherungen an ein Gottesverständnis der Zukunft

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Vorwort

I. IM VORFELD – STUFEN UND FORMEN IM GOTTESVERSTÄNDNIS

1. Erkenntnis-Not mit dem dreieinigen Gott

2. Polytheismus und Monotheismus

3. Polytheismus und Monotheismus in der Biografie

4. Das Kommen des Messias

5. Jesus und der Messias

6. Die ersten Christen

7. Christus und der Logos

II. DER WEG ZUM DOGMA

8. Aszendenz- und Deszendenz-Christologie

9. Nicäa 325 – das erste Konzil

10. Konstantinopel 381 – das zweite Konzil

11. Ungetrennt und Unvermischt

III. DER WEG VOM DOGMA IN DIE ZUKUNFT

12. Entwickelt sich Gott?

13. Weltengrund und Vatergott

14. Logos – Christus – Sohnesgott

15. Christus und das Weltenwort

16. Der Heilige Geist

17. Augustinus und die Relationen

18. Die Relationen und die Trinität

19. Der Vatergott

20. Der Sohnesgott

21. Der Geistgott

22. Zusammenfassung

IV. DIE TRINITÄT IM ERNEUERTEN KULTUS

23. Credo

24. Menschenweihehandlung

25. Epistel zur Trinität

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Vorwort

Der Gedanke der Trinität scheint in unmittelbarem Widerspruch zu stehen zum Gedanken des einen Gottes. Kann da das Christentum unter den Religionen tatsächlich noch als monotheistisch gelten? Im Islam, dieser eindeutig monotheistischen Religion, wird dem Christentum der Monotheismus klar aberkannt: «Allah ist der einzige Gott. Gepriesen sei er! Er ist erhaben darüber, einen Sohn zu haben.»* Man muss aber davon ausgehen, dass in den Entwicklungsprozess der Menschheit auch das sich entwickelnde Erkenntnisvermögen einbezogen ist. War die Logik im antiken Griechenland noch auf ein strenges «Entweder – Oder» gegründet, hat sich in der Neuzeit – sehr deutlich etwa in der Philosophie Hegels – ein neues Verstehen der Wirklichkeit entwickelt, in dem Polaritäten nicht mehr nur im Sinne von «entweder – oder» verstanden werden können, sondern wo auch die «These» und «Antithese» genannte Polarität in der «Synthese» zusammengefasst wird als eine Einheit.** Da zeigt sich ein neuer Ausgangspunkt für den Weg des Verstehens, der über die bisher noch begrenzte Trinitäts-Erkenntnis hinausführen kann. Diesem Aspekt für ein «Gottesverständnis der Zukunft» möchte die vorliegende Arbeit gewidmet sein. Das geschieht im Rahmen der ersten drei Themenbereiche und wird abschließend noch einmal zusammengefasst in den Kapiteln 18–22.

Dem folgt ein vierter und eigenständiger Themenbereich. Er gründet sich auf die vorangehenden Kapitel zur weiterführenden Betrachtung von Trinitäts-Motiven im erneuerten Kultus der Christengemeinschaft. Gewisse Grunderfahrungen und Grundkenntnisse werden hier vorausgesetzt. In diesem Sinne kann dieser letzte Abschnitt gegebenenfalls auch als «Anhang» verstanden werden.

Abschließend möchte ich noch allen meinen Dank aussprechen, die auf ganz unterschiedliche Weise das Entstehen dieser Arbeit unterstützt und mitgetragen haben. Namentlich möchte ich Margrethe und Trond Solstad danken, die es ermöglichten, dass in einer sehr hilfreichen Umgebung der wesentliche Teil dieser Arbeit entstehen und abgeschlossen werden konnte.

Stuttgart, im Juni 2023 Michael Debus

* Sure 4,171

** Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I, Frankfurt am Main 1986.

I.

IM VORFELD – STUFEN UND FORMEN IM GOTTESVERSTÄNDNIS

1.

Erkenntnis-Not mit dem dreieinigen Gott

Das Christentum ist von Anfang an verbunden mit dem Gedanken der Trinität, dem Bild des «dreieinigen» Gottes. Schon das allererste Konzil, das im Jahre 325 in Nicäa abgehalten wurde, beschäftigte sich ausschließlich mit diesem Thema und formulierte zuletzt dazu eine «dogmatische Definition», die erste in der Geschichte der christlichen Kirche. In der Folgezeit wurden bestimmte Einzelheiten dieses Dogmas deutlicher beschrieben, einiges wurde neu hinzugefügt. Inhaltlich war dieser Prozess im 5. Jahrhundert abgeschlossen. Seither gilt für die gesamte Christenheit1 eine klare dogmatische Definition, wie die göttliche Trinität zu verstehen ist. Dennoch gibt es in der neueren Zeit zunehmend Stimmen, welche den Gedanken des dreieinigen Gottes in Frage stellen. Im Folgenden seien einige Beispiele dafür genannt, einschließlich der überraschend davon abweichenden Stimme Rudolf Steiners:

Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832):

«Ich glaubte an Gott und die Natur und an den Sieg des Edlen über das Schlechte; aber das war den frommen Seelen nicht genug, ich sollte auch glauben, daß Drei Eins sei und Eins Drei. Das aber widerstrebte dem Wahrheitsgefühl meiner Seele; auch sah ich nicht ein, daß mir damit auch nur im mindesten wäre geholfen gewesen.»2

Immanuel Kant (1724–1804):

«Aus der Dreieinigkeitslehre, nach dem Buchstaben genommen, läßt sich schlechterdings nichts fürs Praktische machen, wenn man sie gleich zu verstehen glaubte, noch weniger aber, wenn man inne wird, daß sie gar alle unsere Begriffe übersteigt … So ist ein solcher Glaube, weil er weder einen besseren Menschen macht, noch einen solchen beweiset, gar kein Stück der Religion.»3

Jürgen Moltmann (* 1926, protestantischer Theologe):

«Muß man, um den ‹menschlichen›, den ‹gekreuzigten Gott› zu verstehen, Gott trinitarisch denken?»4

Karl Rahner (1900–1968, katholischer Theologe):

«Man kann den Verdacht haben, daß für den Katechismus des Kopfes und des Herzens (im Unterschied zum gedruckten Katechismus) die Vorstellungen des Christen von der Inkarnation sich gar nicht ändern müßten, wenn es keine Dreifaltigkeit gäbe.»5

Rudolf Steiner (1861–1925):

«Wer das Kreuz auf Golgatha schaut, der muß zugleich die Trinität schauen, denn der Christus zeigt in Wirklichkeit in seinem ganzen Verwobensein mit der irdischen Menschheitsentwickelung die Trinität.»6

Da kann sich nun die Frage stellen: Wie mag sich heute eine nicht im Voraus dogmatisch festgelegte Beziehung zu «Gott» bilden und wie ließe sie sich beschreiben? Goethe, der auf der einen Seite so distanziert dem kirchlichen Dogma gegenüberstand, dass er seinem Freund Lavater einmal schrieb, er sei «zwar kein Widerkrist, kein Unkrist aber ein dezidirter Nichtkrist»7, hatte zugleich ein klares Bewusstsein vom Wesen einer «höheren Welt». Das lässt er Faust, den Repräsentanten des modernen Menschen, gleich zu Anfang des Faust-Dramas in der ersten Szene (Studierzimmer) aussprechen. Faust hat alles studiert, er hat eine umfassende Kenntnis von allem, was man «heute» (zu seiner Zeit) wissen kann. So ist er «gescheidter als alle die Laffen, / Doctoren, Magister, Schreiber und Pfaffen». Doch zugleich ist ihm «auch alle Freud’ entrissen, / Bilde mir nicht ein, was rechts zu wissen.» So sucht er jetzt etwas ganz anderes, einen Weg zum Eigentlichen, das man kennen sollte. «Es möchte kein Hund so länger leben, / Drum hab’ ich mich der Magie ergeben, / Ob mir durch Geistes Kraft und Mund / Nicht manch Geheimnis würde kund; / Daß ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält.» (V. 365–383)

Damit ist die eigentliche Frage ausgesprochen – die Frage nach dem, «was die Welt im Innersten zusammenhält». Das ist eine religiöse Frage. Die äußeren Dinge und Tatsachen lassen sich beschreiben und erklären mit dem Wissen, das man in dieser Welt erlernen kann. Was aber aus der unüberschaubaren Fülle der Einzelheiten ganz verschiedener Natur schließlich eine Ganzheit macht, eine in sich zusammenhängende Welt, das sind, so kann das erlebt werden, Kräfte ganz anderer Art, «Schöpferkräfte», durch welche die Welt erst wirklich in Erscheinung getreten ist, und von denen zugleich das ausgeht, was sie «im Innersten zusammenhält» und so zu einer Einheit macht. Hinter der Einheit der Welt steht der eine Schöpfer. Wir sehen: Faust hat sich ein umfassendes Wissen dieser Welt erworben, das ihm Sicherheit gibt: «Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel, / Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel …» Aber dennoch erlebt er eine Unsicherheit: Eine große Sehnsucht erfüllt ihn nach einem ganz anderen Wissen von jenen Kräften, den Schöpferkräften, in denen sich der Schöpfer äußert, der «die Welt im Innersten zusammenhält».

Das religiöse Erleben als Ausdruck einer Beziehung zur höheren Welt, zu «Gott», hat bei Faust einen besonderen Charakter, der sich als fragende Sehnsucht äußert, «ob mir durch Geistes Kraft und Mund / Nicht manch Geheimnis würde kund». Er sucht das Geistige, das die Sinneswelt im Innersten zusammenhält. Goethes Faust ist ein Repräsentant des modernen Menschen, zugleich aber auch ganz individuell ein in seiner geistigen Entwicklung fortgeschrittener Mensch. Entsprechend entfaltet sich bei ihm dann das geistige Erleben und Handeln. Um dies besser verstehen zu können, wollen wir zuerst den Blick auf die Vorstufen innerhalb dieser Entwicklung richten.

2.

Polytheismus und Monotheismus

Vom Kopf bis zum Fuß

Bin ich Gottes Bild

Vom Herzen bis in die Hände

Fühl ich Gottes Hauch

Sprech ich mit dem Mund

Folg ich Gottes Willen

Wenn ich Gott erblick

Überall, in Mutter, Vater,

In allen lieben Menschen

In Tier und Blume

In Baum und Stein,

Gibt Furcht mir nichts

Nur Liebe zu allem

Was um mich ist.

Rudolf Steiner8

Das ursprüngliche religiöse Erleben geht von der natürlichen Umgebung aus, in die sich der Mensch eingebettet, von der er sich getragen und in bestimmten Momenten auch herausgefordert fühlt. Das Wetter, die Tages- und Jahreszeiten, die Pflanzenwelt und die Tiere sind entscheidende Bestandteile des menschlichen Lebens, sogar Grundlage der menschlichen Existenz überhaupt. Dieser ganze Kosmos, einschließlich des Menschen, ist einmal ins Dasein getreten durch das schöpferische Wirken höherer Wesen. Zu diesen Schöpfer-Wesen, zu den Göttern, erhebt der Mensch den Blick im «polytheistischen» religiösen Erleben. Da findet sich zuletzt der Ursprung der Religion in all den verschiedenen Formen, die sie dann im Altertum angenommen hat. Noch in der Spätantike findet sich bei den verschiedenen Völkern der für die jeweilige Kultur maßgebende Götterhimmel. Einige Namen aus der umfassenden griechischen Götterwelt seien als Beispiele genannt:

Aphrodite

Göttin der Liebe und der Schönheit

Apollon

Gott des Lichtes, des Frühlings, der Musik, des Gesanges, der Dichtkunst

Ares

Gott des Krieges

Athene

Göttin der Weisheit

Demeter

Göttin des Ackerbaus

Helios

Gott des Feuers und der Schmiedekunst

Hermes

Gott der Fruchtbarkeit, des Handels; Götterbote und Begleiter der Toten

Pan

Wald- und Weidegott; Beschützer der Herden, der Hirten und der Jäger

Poseidon

Gott des Meeres; Erreger der Erdbeben

Selene

Mondgöttin

Zeus

Gott des Himmels, des Lichtes und des Blitzes

Der zitierte Spruch Rudolf Steiners hat erkennbar einen polytheistischen Charakter: «Gott» wird überall geschaut, «in Mutter, Vater, / In allen lieben Menschen, / In Tier und Blume, / In Baum und Stein …» In dieser Weise Gott in den verschiedenen Erscheinungen der Sinneswelt konkret zu erleben ist die Grundlage der Erfahrung einer Vielheit von Göttern.

Eine ganz andere Orientierung zeigt dieser Spruch:

Der Sonne liebes Licht,

Es hellet mir den Tag;

Der Seele Geistesmacht,

Sie gibt den Gliedern Kraft;

Im Sonnen-Lichtes-Glanz

Verehre ich, o Gott

Die Menschenkraft, die Du

In meine Seele mir

So gütig hast gepflanzt,

Daß ich kann arbeitsam

Und lernbegierig sein.

Von dir stammt Licht und Kraft,

Zu dir ström’ Lieb’ und Dank.

Rudolf Steiner9

Hier wird Gott nicht in den Erscheinungen der Sinneswelt «erblickt», sondern unmittelbar als ein «Du» angesprochen, das dem einzelnen Menschen gegenüber als handelnder Gott erscheint: «Im Sonnen-Lichtes-Glanz / Verehre ich, o Gott, / Die Menschenkraft, die Du / In meine Seele mir / So gütig hast gepflanzt.» Das «Handeln Gottes» richtet sich auf die Beziehung des Menschen zum Kosmos, zwischen der «Seele» des Menschen und dem «Sonnen-Lichtes-Glanz». Diese Erfahrung des einen Gottes und einer keimhaften Ich-Du-Beziehung zu ihm, entspricht dem Wesen des Monotheismus.

Im Geschichtsverlauf findet sich das Urbild der monotheistischen Religion beim alttestamentlichen Volk Israel. Dessen Monotheismus entsteht erst durch den «Bund»10, den Gott Jahve mit ihm schließt. Der erste Akt dieses Bundes besteht darin, dass das Volk Israel aus Ägypten auswandern soll. Mose als der von Jahve Berufene und Beauftragte führt die Israeliten auf einer vierzig Jahre währenden Wüsten-Wanderung endlich in das neue Land Kanaan. Zuvor war Ägypten mit seiner Mysterienkultur für etwa 400 Jahre der polytheistisch geprägte Lebensraum dieses Volkes gewesen.11

Dann folgt der nächste Akt dieses Bundes. Mose empfängt auf dem Berg Sinai in der Wüste die Zehn Gebote, zunächst als das Fundament einer ganz neuen Beziehung von Mensch zu Gott und von Gott zu Mensch, die wir Monotheismus nennen. Der Weg allerdings, den das Volk gehen soll, vom Polytheismus Ägyptens hin zum strengen Monotheismus vom Berg Sinai, verlangt eine fast übergroße innere Umformung jedes einzelnen Menschen mit immer wieder sich ereignenden Rückfällen.12 Dieser Prozess bedarf der langen Zeitspanne von vierzig Jahren und einer Umgebung, die keinerlei polytheistische Anregung durch «Tier und Blume, Baum und Stein» bietet, sondern wo überall ganz einheitlich Wüstensand ist. Und dann gehören diejenigen, die in Ägypten die vierzigjährige Wanderung begannen, – mit wenigen Ausnahmen – nicht mehr zu denen, die dann im neuen Land ankommen. Und entsprechend sind diejenigen, die ankommen, erst in der Wüste auf dem Weg geboren worden. So ist das Volk ein ganz anderes geworden. Als eindeutige Monotheisten im Sinne der Gebote Jahves13 folgen die Israeliten als das «auserwählte Volk»14 einem anderen Zeitgeist als die übrigen Völker dieser Periode. Und dann wird Polytheismus für das Erleben der Israeliten sogar noch das charakteristische Merkmal «heidnischer» Religionen mit ihrem scharf abzulehnenden «Götzendienst».

So führen die religiösen Orientierungen des Polytheismus und des späteren Monotheismus auch zu einer grundlegenden Differenzierung im kulturellen Leben der damaligen Zeit. Das uralte geistige Erbe jener Völker, die Gott in der Welt polytheistisch erleben, findet ja zugleich auch seinen Ausdruck in den Mysterienstätten des Altertums, wo die «Eingeweihten» aus dem Götter-Kosmos die Kulturimpulse empfangen, welche für die weitere Menschheitsentwicklung notwendig sind.

Der monotheistische Weg zu Gott ist ein anderer. Er führt ins Innere der Seele. Das «Du» zu Gott wird zum wahren «Ich» des Menschen. Als Mose von Gott den Auftrag bekommt, das Volk Israel aus Ägypten zu führen, stellt er die Frage nach dem Namen, dem wahren Wesen Gottes, dem Du. Darauf empfängt er die ganz neue Gottes-Offenbarung des Ich, die immer mehr die Menschen erfüllen soll.15 Mose fragt Gott: «Siehe, wenn ich zu den Söhnen Israel komme und ihnen sage: Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt, und sie mich fragen: Was ist sein Name? Was soll ich dann zu ihnen sagen? Da sprach Gott zu Mose: Ich bin, der ich bin. Dann sprach er: So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: ‹Der Ich bin› hat mich zu euch gesandt.» (2 Mose 313–15)

Zuletzt machen wir uns noch bewusst, dass die beiden verschiedenen Wege der Gottes-Erfahrung verbunden sind mit zwei im Grundsatz entsprechend verschiedenen Formen des Zeiterlebens. Das «zyklischen Zeiterleben» gründet sich auf die Erfahrung von Zeitenkreisen, von Zeitenrhythmen, von immer wiederkehrenden Erlebnissen. Vordergründig sind das Erlebnisse mit der äußeren Welt, dem Jahreslauf mit den immer wiederkehrenden Jahreszeiten, dem Tag-Nacht-Rhythmus und anderen Naturrhythmen. Das zyklische Erleben der Zeit und die polytheistische Erfahrung von Gott zeigen sich verwandt. In einer Veröffentlichung der Universität Linz finden sich entsprechende Ausführungen:

«In den meisten älteren (Hoch)Kulturen wurde Zeit über natürliche Zeitgeber beeinflusst. Im alten Ägypten z.B. gab es vier grundlegende Richtwerte zur Zeiterfassung. Dies waren der Lauf der Sonne, der den Tagesablauf regelte, der Mondzyklus, der rituelle und religiöse Feste beeinflusste, die Nilüberschwemmung, die den Neubeginn des landwirtschaftlichen Jahres bedeutete sowie das Auftauchen des Sirius, des hellsten Fixsterns am Himmel. Die Wiederkehr der Ereignisse und auch der Glaube an die Wiedergeburt weisen auf ein an der Natur orientiertes rhythmisches Zeiterlebnis hin.»16

Das «lineare Zeiterleben» geht dagegen nicht von einem Kreislauf aus, sondern von der Linie Vergangenheit → Gegenwart → Zukunft. Alle Ereignisse haben eine Ursache in der Vergangenheit und eine Wirkung in der Zukunft. Das entspricht dem monotheistischen Ich-Erleben des Menschen, das immer eine Erfahrung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist. Im alten Ägypten finden wir «ein an der Natur orientiertes rhythmisches Zeiterlebnis», was sich besonders bei den entsprechend eingerichteten Festen zeigt. Die jüdischen Feste dagegen werden zwar zu bestimmten Jahreszeiten gefeiert, sind aber keine Naturfeste, sondern beziehen sich immer auf historische Ereignisse, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Passah (Frühjahr): Das Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten, also die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei, wie im 2. Buch Mose geschildert.

Laubhüttenfest (Herbst): bezieht sich auf ein Ereignis während der Wüstenwanderung (Auszug aus Ägypten), als das Wohnen in Laubhütten während der Festzeit vorgeschrieben wurde. (3 Mose 2333–43)

Chanukka (November/Dezember): Fest zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten Tempels in Jerusalem im Jahr 164 v. Chr.

3.

Polytheismus und Monotheismus in der Biografie

Schon viele Jahre vor Gründung der ersten Waldorfschule 1919 machte Rudolf Steiner grundlegende Ausführungen für eine menschengemäße Pädagogik, die methodisch von den alterstypischen Entwicklungsschritten des heranwachsenden Kindes ausgeht. Die Grundlage gibt zunächst der Blick auf die Jahrsiebte und die damit verbundenen übergeordneten Erziehungsmotive für die entsprechende Altersstufe.

So kann etwa mit entsprechender Einfühlung in den ersten Lebensjahren bis zur Schulreife eine Art «nachahmende», zugleich auch «suchende» Hingabe des Kindes an seine Umgebung wahrgenommen werden, wodurch sich allmählich das eigene «Ich», mit der Geste des sich unterscheidenden «Anders-Seins», herausbildet. Für diese Jahre des ersten Lebensjahrsiebts nennt Rudolf Steiner «Nachahmung und Vorbild die Zauberworte der Erziehung»17. Dann folgt das zweite Jahrsiebt, in dem das Schulkind immer stärker die Umwelt auf sich selbst bezieht, sie verstehen und entsprechend sich eingliedern will. Die Motive sind «für die jetzt in Rede stehenden Jahre: Nachfolge und Autorität. Die selbstverständliche, nicht erzwungene Autorität muß die unmittelbare geistige Anschauung darstellen, an der sich der junge Mensch Gewissen, Gewohnheiten, Neigungen herausbildet, an der sich sein Temperament in geregelte Bahnen bringt, mit deren Augen er die Dinge der Welt betrachtet».18 Für das erste und zweite Jahrsiebt können wir so die von Rudolf Steiner auch später wiederholt genannten pädagogischen Motive nennen: Nachahmung (Vorbild) und Autorität (Nachfolge).

Für das dritte Jahrsiebt ändert sich das. Steiners Art der Charakterisierung ist mehr beschreibend, sogar «umschreibend». Das dritte Jahrsiebt ist keine einfache Fortsetzung der vorangegangenen Epochen, sondern ein tiefer biografischer Einschnitt. Die bisher maßgebende äußere Führung soll immer mehr sich in innere Führung verwandeln, die wichtige äußere Autorität soll zur Biografie-verantwortenden inneren Autorität werden. Man könnte sogar sagen: Der eigene Weg, die eigentliche Biografie beginnt erst jetzt wirklich. Entsprechend differenziert sind Steiners Charakterisierungen dieser biografischen Epoche, in der das Richtige geschehen kann, «wenn die Erziehung … so eingerichtet wird, daß gerade mit aller Bewußtheit hingearbeitet wird auf die allgemeine Menschenliebe, wenn Weltanschauungsfragen, wenn die ganze Erziehung, die auf die sogenannte Einheitsschule folgen soll, aufgebaut wird auf Menschenliebe, überhaupt auf Liebe zur äußeren Welt.»19 An anderer Stelle betonte er, «wie vom vierzehnten bis vierundzwanzigsten Lebensjahre das selbständige Urteil am Menschen arbeiten muß.»20 Unter den verschiedenen Annäherungen an das pädagogische Motiv des dritten Jahrsiebts wären also selbstständiges Urteil und Liebe zur äußeren Welt zwei Beispiele.

Wir haben die Beziehung untersucht, die zwischen zyklischem und linearem Zeiterleben auf der einen und Polytheismus und Monotheismus auf der anderen Seite in dem Sinne besteht, dass mit dem Polytheismus tendenziell auch ein zyklisches Zeiterleben verbunden ist, mit dem Monotheismus aber eher ein historisch-lineares Zeiterleben. Wir wollen diesen Zusammenhang jetzt ausweiten auf die biografischen Epochen, die wir betrachtet haben, insbesondere auf die ersten beiden Jahrsiebte. In der oben genannten Studie der Universität Linz findet sich auch ein Zusammenhang zwischen den ersten Lebensepochen und einem entsprechenden Zeitbewusstsein:

«Das Zeitbewusstsein des Menschen ist auf jeden Fall keine angeborene Fähigkeit, sondern wird im Laufe des Lebens erlernt. Diese Entwicklung verläuft in drei Stufen:

1. Naives Zeiterleben

Das Kleinkind erfasst Zeit nur als das, was es gerade erlebt …

2. Zeitwissen

Etwa im Schuleintrittsalter fängt das Kind an, mit zeitlichen Ordnungsbegriffen umzugehen und erlernt das Lesen der Uhr.

3. Zeiterfahrung und -reflexion

Als Jugendlicher beginnt man schließlich über die eigene Zeitlichkeit, die philosophische Zeit und schließlich über die Zeitlichkeit des Lebens nachzudenken. Zeit … wird zur Erfahrung über sich selbst und das Universum.»21

Was hier «Naives Zeiterleben» genannt wird, fügt sich zusammen mit dem Erziehungsmotiv des ersten Jahrsiebts, wie es Rudolf Steiner benannt hat: Nachahmung. Ebenso können wir das «zyklische Zeiterleben» damit verbinden, wenn man zugrunde legt, dass es ein «an der Natur orientiertes rhythmisches Zeiterlebnis»22 ist. Ganz entsprechend stellt das zweite Jahrsiebt dar, was hier in Bezug auf das Zeiterleben mit «Zeitwissen» überschrieben ist und die Entfaltung des «linearen Zeiterlebens» andeutet («Das Kind fängt an, mit zeitlichen Ordnungsbegriffen umzugehen und erlernt das Lesen der Uhr.»).

Da wir den Zusammenhang von zyklischem und linearen Zeitbewusstsein mit Polytheismus und Monotheismus schon betrachtet haben, können wir jetzt noch den dritten Schritt machen und die ersten beiden Lebensjahrsiebte als biografischen Ort sehen für eine jeweils charakteristische Gottesbeziehung mit zuerst polytheistischer und dann monotheistischer Tingierung. Wir konnten zu Beginn den Spruch von Rudolf Steiner «Vom Kopf bis zum Fuß / Bin ich Gottes Bild …» schon mit einem polytheistischen Welterleben in Verbindung bringen. So überrascht es nicht, dass Rudolf Steiner diesen Spruch «für jüngere Kinder» gegeben hat, also im Wesentlichen für das erste Jahrsiebt, in dem das Kind entsprechend die Welt in einer Stimmung «zyklischen Zeiterlebens» erlebt.

Den nächsten Spruch («Der Sonne liebes Licht, / Es hellet mir den Tag …») haben wir einer monotheistischen Grundstimmung zugeordnet, was wir jetzt ergänzen können durch ein lineares Zeiterleben. Das entwickelt sich, wie wir inzwischen gesehen haben, im zweiten Jahrsiebt, der ersten Periode der Schulzeit. Da gibt es dann den «einen» Lehrer, der die Klasse führt.23 So ist es wieder verständlich, dass dieser Spruch als Morgenspruch für die unteren Klassen gegeben wurde.