Das Rauschen in unseren Köpfen - Svenja Gräfen - E-Book

Das Rauschen in unseren Köpfen E-Book

Svenja Gräfen

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Beschreibung

»Svenja Gräfens Sprache ist kunstvoll und von einer eigentümlichen Schönheit.« Benedict Wells Lene lebt mit ihrer besten Freundin in einer WG in einer großen Stadt, ihre liebevolle Familie und der Freundeskreis geben Halt. Als sie Hendrik begegnet, scheint ihr Glück perfekt. Sie plant eine gemeinsame Zukunft, doch Hendriks Vergangenheit schleicht sich in ihr Leben ein. Da ist seine zerrüttete Familie, sein bisweilen merkwürdiges Verhalten. Und Klara. »Die Abende, die Nächte gehörten uns. Wir gingen nicht raus. Wir hatten hier alles, was wir brauchten, das heißt: uns. Wir hätten uns auch in einer Bar gehabt, im Kino, in einem Restaurant; aber eben nicht so, wir hätten uns teilen müssen mit einer ganzen Welt, die nach Aufmerksamkeit schrie.« »Svenja Gräfen erzählt eine kleine Weltbewegung: Wer schon mal verliebt war, weiß es ja: Die Liebe ist – wenn auch nur für eine Zeit – alles. Wie wir's nicht planen können, nichts im Leben, das erzählt Gräfen tastend und ernst.« Nora Gomringer

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Das Buch

»Wir hatten hier alles, was wir brauchten, das heißt: uns, und wir hätten uns auch in einer Bar gehabt, im Kino, in einem Restaurant, auf der Straße; aber eben nicht so, wir hätten uns dann teilen müssen mit einer ganzen Welt, die nach Aufmerksamkeit schrie.« Lene studiert, wohnt mit ihrer besten Freundin in einer WG und hat ein enges Verhältnis zu ihrer Familie. Als sie Hendrik kennenlernt, scheint ihr Glück perfekt. Doch während sie eine Zukunft mit ihm plant, beginnt Hendriks Fassade zu bröckeln. Seine Vergangenheit schleicht sich in die Beziehung und drängt sich zwischen die beiden. Da ist der mysteriöse Tod seines Vaters, der die Familie zerrüttet hat. Und da ist Klara – seine erste große Liebe.

Die Autorin

Svenja Gräfen, geboren 1990, ist freie Autorin und Poetry Slammerin. Sie studierte Kultur- und Medienbildung, schreibt im Netz über Popkultur und Feminismus und lebt in Berlin.www.svenjagraefen.de

Svenja Gräfen

Das Rauschen in unseren Köpfen

Roman

Ullstein fünf

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ISBN 978-3-8437-1493-8

© 2017 © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München Titelabbildung: © bulia/shutterstock.com Foto der Autorin: Melanie Hauke, Berlin

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»Of all the people, I hoped it‘d be you to come and free me, take me away, show me my home, where I was born, where I belong.« (Foals – Blue Blood)

Prolog

Mir wird mulmig.

Ich laufe die große Straße entlang, eine Nieselregenschicht auf meinen Haaren. Neben mir rauschen vierspurig Autos vorbei, sie werfen grelles Scheinwerferlicht in die Tristesse. Ich habe die letzten Tage verschlafen verbracht, gefühlt bloß so halb bei Bewusstsein, hindurch geschlichen bin ich durch sie; und jetzt wird mir mulmig, unangekündigt, von einem Moment auf den anderen.

Es ist nicht mehr weit bis nach Hause, ich will noch kurz zum Gemüsehändler. Jetzt kommt mir ein Schwindel dazwischen, er wandert mir durch die Glieder, den Kopf, er zerrt mir von innen an den Ohren.

Ich laufe weiter, ich schaue mich um, ich mache normale Dinge, so etwas wie husten, mich an der Nase kratzen, in ein Schaufenster schauen; im Gehen wühle ich in meiner Jackentasche, als wollte ich einen Kaugummi herausklauben, ich räuspere mich, ich fahre mir durch die Haare und über die Nieselregenschicht. Ich gucke nach rechts und links, bevor ich die Straße überquere, ich schaue kurz aufs Handy, auf die Uhr, ich bin ganz beschäftigt.

Ich stehe draußen vor den Ständen mit den Gemüsekisten. Neben der Waage hat sich der Gemüsehändler eingerichtet, eine rote Schürze um die Hüfte. Er grüßt und lächelt und nickt zu und wiegt ab. Die Leute reichen ihm Zucchini und Tomaten in grünen Plastiktüten. Er legt sie auf die Waage und klebt Preisschilder drauf. Mit ganz lässigen Handbewegungen und wie nebenbei, er guckt gar nicht hin.

Ich stehe da, und an mir vorbei gehen Leute mit Regenschirmen in den Händen und mit Köpfen zwischen den Schultern, manche von ihnen rennen, manche von ihnen eilen, einige tragen Kapuzen.

Ich stehe da und mache weiterhin normale Dinge, so etwas wie mir die Tomaten anschauen, die Ingwerstücke, die Avocados. Ich befühle die Mangos und hebe den Kopf leicht an, lächele, als ich versehentlich jemanden berühre, eine Hand, die nach Äpfeln greift. Der Gemüsehändler sagt seine Sätze, und ich schaue mich lieber noch einmal um, lieber noch einmal aufs Handy. Ich bin ganz beschäftigt.

Dann gehe ich in den Laden hinein, ohne grüne Tüten in den Händen, ich laufe am Kühlregal entlang und starre auf Produkte. Ich verstehe nicht, was los ist, ich habe ein Brennen im Magen, meine Hände sind schweißfeucht, was ist das, ein Herzinfarkt, eine Unterzuckerung, ein Problem?

Ich konzentriere mich; ich konzentriere mich darauf, nicht aufzufallen. Ich sage: Entschuldigung, als mir jemand im Weg steht in einem engen Gang, links und rechts Dosen mit eingelegtem Gemüse; ich lächele in Ansätzen. Dann nehme ich zwei verschiedene Gläser mit Oliven in die Hände, ich vergleiche die Preise, ich tu zumindest so. Ich mache ein kritisches Gesicht. Die Leute, die mich sehen, müssen denken, dass ich hier wohl gerade einkaufe, ganz normal.

Aber mir klopft das Herz wie verrückt, im ganz falschen Takt, alles ist irgendwie aufgeladen, wie elektrisiert, ich hab ein Gefühl so wie Wasser in den Ohren. Alles wirkt weit entfernt, die Geräusche von der Kasse, die Gespräche, ein Lachen, das Messerschärfen hinter der Fleischtheke, alles ist verschwommen, die Zahlen auf den Preisschildern, die Oliven in ihren Gläsern.

Ich atme immer weiter, was bleibt mir anderes übrig, ich denke: Nicht umfallen; ich denke: Ich bin noch nie umgefallen, nirgendwo, einfach so. Ich schließe die Augen, ich öffne sie wieder, ich atme, so stehe ich da, die beiden Gläser in zittrigen Händen, fünf Sekunden, zwei Minuten, drei Minuten, acht Minuten, und warte ab: dass sich etwas verändert, etwas verbessert, dass sich irgendetwas tut.

Es tut sich nicht viel.

Und dann stelle ich die Gläser zurück ins Regal, einfach irgendwohin, ich gehe wieder nach draußen, meine Haut kühlt sich allmählich ab, und ich setze einen Fuß vor den anderen, konzentriert, langsam, eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht, bis ich an der Straße stehe und auf meine leeren Hände schauen kann, ganz in Ruhe.

Ich stehe noch, aufrecht, ich liege nicht drinnen im Olivenwasser, ich taumele die letzten Meter, ich taumele die Treppe hoch, ich komme oben an, in der Wohnung, die leer liegt und düster, ich setze mich aufs Bett in Jacke und Schuhen und atme weiter, ein aus, ein aus, was bleibt mir auch anderes zu tun?

1

Als ich Hendrik traf, vergaß ich für einen Moment, dass es je eine Zeit gegeben hatte, in der er noch keine Rolle spielte. Es kam mir surreal vor, dass ich viele Jahre ohne ihn gelebt haben musste, offensichtlich, ein ganzes junges Leben lang, dass wir viele Kilometer voneinander entfernt aufgewachsen waren und in den Ferien manchmal etwas zeitversetzt auf dieselben Meere geschaut haben könnten.

Wir freuten uns jedes Mal, wenn wir eine Überschneidung fanden, und deuteten sie als eine Art Zeichen, als einen frühen Hinweis, und manchmal malten wir uns aus, was gewesen wäre, wenn wir uns früher kennengelernt, bei einer von wenigen kleinen Gelegenheiten schon den Blick des anderen erwischt und festgehalten hätten.

Es gab dieses eine Jahr, zum Beispiel, in dem unsere Familien in der Weihnachtszeit Urlaub in Dänemark machten. Meine Familie und ich fuhren später noch einige Male hin und mieteten eines der Ferienhäuser an der Küste, mit Kamin und Sauna, und einmal gab es sogar einen kleinen Whirlpool, und dann feierten wir Weihnachten auf dem Land, spazierten am Strand entlang und schnappten dänische Wortfetzen auf.

Und in diesem einen Jahr, ich glaube, ich war elf und Jaro dreizehn, da war auch Hendrik über Weihnachten in Dänemark, bei seinen Großeltern, nur wenige Kilometer von unserem Ferienhaus entfernt. Wir fanden das durch einen Zufall heraus, später dann.

Da hätten wir uns doch wirklich über den Weg laufen können, am Strand vielleicht oder in dem kleinen Städtchen, wann immer wir warm eingepackt in viele Lagen Jacken und Mützen und Schals einen Spaziergang, wann immer Jaro und ich uns einen Spaß daraus machten, die Leute auf Dänisch zu grüßen, Hej, und so zu tun, als würden wir dort wohnen, als würde sich unser Aufwachsen und Größerwerden und unsere ganze Welt in dieser kleinen Stadt in Dänemark abspielen.

Vielleicht sind wir sogar aneinander vorbeigelaufen, vielleicht haben Jaro und ich den Hund seiner Großeltern gestreichelt, dem etwas Schnee im Fell klebte, vielleicht standen wir im Supermarkt an der Kasse hinter einer kleinen, blonden Frau, die seine Mutter war. Vielleicht war da gleich neben, hinter oder nur ein paar Meter vor uns, in den Straßen und auf der Strandpromenade, ein Junge, ein bisschen älter als ich und ein bisschen jünger als Jaro, der blonde, wirre Haare unter seiner Mütze versteckte und in dessen Leben nicht mehr ausreichend Gleichgewicht vorhanden war.

Während wir festlich Käsefondue aßen und uns vor dem Kamin die Wollpullover auszogen, uns gegenseitig beschenkten und unser Vater Fotos mit der analogen Kamera schoss, die später zu Hause im Flur aufgehängt wurden, saß Hendrik nur wenige Kilometer von uns entfernt und versuchte die Sprache seiner Großeltern zu verstehen, überprüfte jedes fremde Wort nach Spuren, nach Anhaltspunkten und Wahrheiten und roch beim Abendessen den Schnaps, den der Nachbar von gegenüber selbst brannte und in regelmäßigen Abständen in kleine Flaschen abgefüllt vor die Tür stellte.

So legten wir später unsere Leben aufeinander, glichen sie ab und markierten die Überschneidungen (wenige), wir versuchten, die Geschichten so sauber übereinanderzukleben, als hätte es nie zwei, sondern immer nur ein Leben gegeben, als hätten wir unsere Vergangenheit geteilt.

2

Es war ein Zufall; bloß durch einen Zufall standen wir nebeneinander im U-Bahnhof und warteten. Eine Werbetafel, in der drei Plakate einander abwechselten, quietschte im Takt. Ein älterer Mann telefonierte lautstark. Ein Kleinkind quengelte in seinem Wagen, die Mutter dahinter warf ihren Blick genervt nach oben.

Es war das zweite Mal, dass wir aufeinandertrafen, aber das wusste nur ich. Das erste Mal war ein paar Tage her, das Wetter hatte sich gedreht seitdem. An diesem Tag war es wie ein Aufatmen, ein blauer Himmel hatte sich groß gespannt, man merkte, dass es allmählich wärmer bleiben könnte. Vor ein paar Tagen war es noch windig gewesen, vereinzelt hatte es grelle Sonnenstrahlen an einem düsteren Himmel gegeben, zwischendurch hatte es in kleinen Schüben gehagelt.

Vor ein paar Tagen hatte ich mein Fahrrad mit der kaputten Gangschaltung runter zur U-Bahn getragen. Auf der Treppe herrschte ein Gedränge, es war gerade Stoßzeit, später Nachmittag. Ich schob mich an den Menschen vorbei, an den Aktenkoffern und Rucksäcken, konzentriert darauf, niemanden mit dem Rad zu berühren, nirgendwo anzuecken. Ein Mann im Trainingsanzug sprang die Treppe herunter, zwei, drei Stufen auf einmal und eng an mir vorbei, er stieß dabei so gegen meine Schulter, dass ich ein bisschen zur Seite taumelte. Nicht viel, aber genug, um in diesem Moment jemand anderen am Schienbein zu streifen mit dem einen Pedal. Jemanden, der mir entgegenkam, der die Treppe nach oben stieg. Ich sah eine weinrote Wollmütze und unter der Mütze blondes, wirres Haar, gelockt. Für einen Sekundenbruchteil erwischte ich den Blick, sah ich die müden Augen, sah ich, wie eine Hand die Mütze zurechtrückte. Er wirkte, als würde er gar nicht verstehen, was das gerade gewesen war, etwas Spitzes am Schienbein, irgendetwas aus der Realität, er schaute erst zur Seite, als ich schon einige Stufen weiter unten war, den Hals noch in die andere Richtung gedreht. Ich hätte mich gern entschuldigt, ihm etwas zugerufen, aber er drehte den Kopf wieder nach vorn, ehe er weiter nach oben stieg, mitgezogen wurde von den eilenden Menschen.

Und nun standen wir hier nebeneinander im U-Bahnhof, zufällig, er trug die weinrote Mütze, darunter die hellblonden Haare, ich erkannte ihn.

Die U-Bahn kündigte sich mit einem Luftzug an, sie kam rauschend zum Halten und wir stiegen ein; der ältere Mann stieg ein, die Mutter schob den Kinderwagen mit dem quengelnden Kleinkind hinein. Er und ich saßen uns gegenüber. Das Kleinkind begann, die Einkäufe aus dem Kinderwagen zu werfen. Die Mutter räumte alles Stück für Stück wieder ein, das Kind begann ein zweites Mal zu werfen, so sind die Spielregeln; und da müssen wir grinsen, er und ich, und da treffen sich unsere Blicke und behalten sich einfach, bis zur Endstation.

Hier schließt sich der Kreis, sagte ich, als wir nebeneinander ausstiegen, und bereute es sofort. Das konnte doch bloß ich verstehen, er wusste gar nichts von einem Kreis oder wie er zu schließen wäre, er hatte mich doch gar nicht gesehen. Er schaute fragend, irritiert, aber unsere Blicke blieben verhakt, also sagte ich, ich hätte ihn mit dem Fahrrad gestoßen, am Bein, vor ein paar Tagen an jenem Bahnhof. Ich biss mir auf die Lippe und fühlte, wie mein Gesicht zu glühen begann, ich trennte die Verbindung unserer Blicke, ich schaute auf den Boden, warf dann den Kopf zur Seite, als müsste ich den Ausgang suchen.

Wir liefen nebeneinander her, nahmen die Rolltreppe ans Tageslicht, er sagte: So, du hast mich also mit dem Fahrrad gestoßen. Er sagte es gespielt vorwurfsvoll, er grinste. Und ich wusste gar nicht, was ich dem Arzt sagen sollte, als er es mir fast amputiert hätte. So eine Verletzung kommt ja nicht von selbst!

Uns schlug der Wind entgegen, er kühlte mein Gesicht. Tut es noch weh?, fragte ich.

Es geht, sagte er, und: Du musst das aber schon wiedergutmachen, du musst mich zum Kaffee einladen.

In Ordnung, sagte ich, und wir liefen weiter die große Straße entlang, vorbei an der Kneipe, die nachmittags schließt, vorbei an Spätkauf neben Spätkauf, vorbei an der Bäckerei, vorbei am Gemüsehändler, dann bogen wir ein, liefen bis zur Nummer 30 und stiegen die Stufen hinauf bis in den dritten Stock, er neben mir her wie ein Hund, als wäre er mir zugelaufen.

In der Wohnung roch es nach frisch gewaschener Wäsche. Die Tür zu Hannas Zimmer stand offen, sie hatte vergessen, das Licht auszuschalten. Er schaute sich im Flur um, als wollte er den Raum auswendig lernen, und ich dachte, wie verrückt. Wie verrückt, dass er jetzt einfach mitgekommen ist. Er zog sich die Jacke aus, er trug einen dunkelblauen Pullover, dünner, verwaschener Stoff.

Willst du was trinken?, fragte ich und dachte dann an den Kaffee, stimmt ja. Ich hängte meine Jacke an die Garderobe, ging ein paar Schritte nach rechts, um das Licht in Hannas Zimmer auszuschalten.

Er ignorierte die Frage; schön, sagte er, mit wem wohnst du hier?

Ich sagte, ich wohne hier mit Hanna, mit meiner besten Freundin.

Er lächelte und nickte und dann streckte er plötzlich seine Hand aus, er hielt sie mir auffordernd hin. Hendrik, sagte er.

Lene, sagte ich. Wir lachten, weil wir das bisher vergessen hatten; wir hatten vergessen, uns einander vorzustellen.

Wir saßen in der Küche und tranken Kaffee. Er mit Milch und Zucker, ich schwarz. Um uns herum verhielt sich der Raum, wie er es immer tat. Der Kühlschrank begann sein Summen und hörte nach einer Zeit wieder auf. Neben der Spüle standen ein paar benutzte Tassen, Teller, eine Pfanne. Das Sieb im Becken war schmutzig, Essensreste klebten darin, Salatfetzen. Der Kaffeesatz verfing sich immer, wir vergaßen das so oft, Hanna und ich, wir spülten, wir machten sauber, aber dieses Sieb vergaßen wir so oft.

Hendrik griff in seine Hosentasche und zog ein Päckchen Tabak heraus, Filter und Blättchen. Er steckte sich einen Filter zwischen die Lippen. Kann ich hier rauchen, fragte er.

Ich deutete auf die Balkontür. Da draußen. Kann ich mir auch eine drehen?

Mit der Kaffeetasse in der einen Hand und einer Zigarette in der anderen traten wir an die Steinmauer, die das Geländer war, und schauten nach unten. Pflastersteine. In Tontöpfen an der Mauer vertrocknete Blumen. Lavendel, ein paar Kräuter, die den Winter nicht überstanden hatten, natürlich nicht. Auf dem kleinen Tischchen ein überfüllter Aschenbecher, eine Schachtel Streichhölzer, durchweicht. Hendrik reichte mir sein Feuerzeug. Wir rauchten.

Er erzählte, er sei erst seit drei Monaten in der Stadt. Vorher habe er in einer anderen gewohnt, in Hamburg. Jetzt bin ich hier, sagte er, er lächelte, er zog lange an seiner Zigarette. Wie lange wohnst du schon hier?, fragte er.

Ich bin hier geboren.

Er nickte, gespielt anerkennend, in dieser hübschen Wohnung?

Meine Eltern wohnen am Stadtrand, sagte ich, ich pustete Rauch aus, ich räusperte mich, um zu fragen: Was machst du?

Er breitete die Arme aus, legte den Kopf schief. Ich mache es auf jeden Fall professionell.

Wir lachten, ich schüttelte den Kopf, wir zogen an den Zigaretten.

Ich arbeite als Kellner, sagte er dann, ich hab vor fünf Wochen angefangen, ein paar Straßen von hier.

Sagt man noch Kellner? Heißt das nicht: Servicekraft?

Meinetwegen bin ich auch eine Servicekraft.

Mischst du auch Cocktails?

Das, auf jeden Fall, heißt mixen.

Als wir die Zigaretten ausdrückten, hörte ich den Schlüssel in der Tür, dann stand Hanna in der Wohnung, sie winkte in die Küche, zog sich die Schuhe aus und kam zu uns auf den Balkon.

Hanna, sagte sie, und Hendrik sagte seinen Namen, sie schüttelten sich die Hände, und dann holte sie eine Flasche Wein aus dem Regal, ich weiß noch: rot und 3 Euro 75, halbtrocken. Wir taten gerne so, als würden wir uns auskennen; wir füllten drei Gläser und stießen an, es war kurz nach neunzehn Uhr, es war die richtige Zeit für Wein.

Ich wusste nichts zu diesem Zeitpunkt; mein Bild setzte sich zusammen aus seinen Haaren, der Mütze, dem Pullover, den hellen Augen, seinem Grübchen am Kinn, seinen Witzen, seinem Grinsen, seinem Namen, der lautete Hendrik, und so saß er in unserer Küche, so saßen wir dort zu dritt, als wäre es nie anders geplant gewesen.

Nach zwei Gläsern Wein entschuldigte sich Hanna, sie müsse noch ein Referat fertig machen, dieses elende Semester, sie verabschiedete sich von Hendrik und ließ uns allein. Wir füllten unsere Gläser auf, es blieb kurz still, dann räusperte er sich und begann zu erzählen.

Er erzählte von einem winzigen Ort an der Küste, er erzählte vom Meer und von Schiffen und Kränen und Möwen. Ich sah ihn an und ich hörte ihm zu, und auf einmal meinte ich, den Geschmack von salzigem Wasser im Mund zu haben. Ich glaubte, dass da Sand kleben könnte in seinen Haaren, ich hätte gern seine Hände angefasst, um zu fühlen, ob sie rau waren oder nicht. Er tat das gerne, das merkte ich sofort, er machte sich Gedanken über den Aufbau seiner Geschichten, er legte Pausen ein, in denen er langsam ein, zwei Schlucke trank, und er fuhr sich beiläufig mit der Hand durch die wirren Haare.

Er erzählte vom Bootfahren und von jeder Menge Wasser, wie er als Kind den Möwen hinterhergejagt war, mit eisverschmiertem Mund und tränenden Augen vom Wind.

Um kurz nach zehn zogen wir uns die Jacken noch mal an, Hendrik drehte uns zwei Zigaretten, als wir durchs Treppenhaus liefen. Wir waren angetrunken und hungrig, wir wussten, der Abend könnte womöglich zerfallen, wenn wir jetzt nicht für Essen sorgten, also liefen wir ein paar Meter, um die Ecke, weiter, ich hustete, ich rauchte, Hendrik balancierte auf einem kleinen Mäuerchen, die Zigarette zwischen seinen Lippen.

Wir kauften Falafel und noch eine Flasche Wein, vor dem Laden zögerten wir, dann ging Hendrik wieder rein und kam mit einer weiteren zurück. Zur Sicherheit, sagte er.

Wir saßen in der Küche, die jetzt ein wenig nach Knoblauchsoße roch, wir saßen dort bei schwachem Licht und so lange, bis die letzte Bahn längst losgefahren war. Er hätte den Nachtbus nehmen können, aber ich fragte ihn, ob er bei uns schlafen wollte, ich betonte aus irgendeinem Grund das uns und fragte dennoch mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ich nicht gleich aufstehen konnte, weil mir für einen kurzen Moment schwindelig wurde.

Dann lagen wir nebeneinander. Jeder von uns unter seiner eigenen Decke, zwischen uns eine klare Linie, als wäre da ein Widerstand in der Mitte des Bettes. Draußen surrten die Autos, hupte jemand, hörte man einen Krankenwagen, und Hendrik bewunderte jedes Mal die blauen Schatten, die an die Wand geworfen wurden.

Er erzählte weiter, mehr, aber leiser und langsamer mit der Zeit, bis seine Worte von der Schläfrigkeit aufgefressen wurden. Ich konzentrierte mich aufs Einschlafen, ich versuchte es fest, und dabei sah ich ihn vor mir als kleinen, blonden Jungen in Gummistiefeln und im Friesennerz, ich konnte mir all die Geschichten vorstellen: er auf der Autorückbank unterwegs nach Italien, seine Eltern, der Vater mit kräftigen Händen und Bart und einem braungebrannten Gesicht, die Mutter schön und blond und mit dem Rest dänischen Akzent, der nicht verschwinden wollte.

Ich hätte mich gern zu ihm umgedreht, ihn angefasst, und es hätte mich nicht gewundert nach diesem Tag, diesem Abend, aber ich zögerte trotzdem, und der Wein drückte meinen Körper sanft in die Matratze hinein.

Hendrik überlegte vielleicht selbst schon eine Weile, aber dann legte er den Kopf ein bisschen schief, in meine Richtung, die Augen bloß halb geöffnet und mit schweren Lidern, und fragte, den rechten Arm schon leicht angehoben, ob er mich umarmen dürfe.

Ich antwortete nicht, sondern wühlte meine eigenen Arme unter der Decke hervor, und wir umarmten uns, im Liegen, ein bisschen unbeholfen, sehr fest. Sein Körper glühte und er roch nach alldem: nach Wind und Sonne und Wasser und ganz leicht, ganz unbestimmt auch nach Zuhause.

3

Früher waren wir meistens zu dritt. Jaro, Hanna und ich. Wir liefen durch die Straßen, vorbei an Reihenhäusern und Vorgärten, bis die Gebäude höher und die Fahrspuren breiter wurden, bis man ein monotones Rauschen hören und mehr von der Stadt erahnen konnte, an deren Rand wir lebten.

Hanna gehörte mit einer Selbstverständlichkeit zu uns, seit sie sich zu Beginn der achten Klasse neben mich gesetzt hatte. Zuerst liefen wir zusammen von der Schule nach Hause, wir stellten fest, dass unsere Wege fast identisch waren. Wir freundeten uns an, wie man das so macht mit dreizehn, vierzehn, und immer öfter verbrachte sie die Nachmittage bei uns und blieb am Abend auf der Terrasse sitzen, während unsere Mutter Salat anmachte und unser Vater kleine Steaks grillte, eins für mich, eins für Jaro und eins für Hanna.

So ergab es sich, so führte eins zum andern, wir blieben danach zu dritt draußen sitzen an den Wochenenden; Jaro und ich waren uns ohnehin nah, und er und Hanna verstanden sich sofort, sie verstanden sich hervorragend.

Ich sagte: Das ist mein Bruder, und das ist meine beste Freundin, und Jaro sagte: Das ist meine Schwester, und das ist meine beste Freundin. Und Hanna sagte: Das ist mein bester Freund und das meine beste Freundin.

Immer häufiger fuhren wir in die Stadt hinein, wir nahmen den Bus und dann die U-Bahn, wir fuhren Kilometer, um Orientierung zu gewinnen, um uns ein Bild von dem Ort zu machen, der unser Zuhause war. Wir liefen durch die Parks und tranken Cola, wir flanierten entlang der Geschäfte, wir berieten uns gegenseitig beim Einkaufen.

Noch früher hatten unsere Eltern Ausflüge mit Jaro und mir gemacht, Familienausflüge an Sonntagen, wir waren im Zoo und in Theatervorstellungen für Kinder. Manchmal zogen unsere Eltern uns an den Händen in Museen, in denen sie sich Bilder und Fotografien und Skulpturen ansahen, während wir uns in großen Hallen versteckten und ermahnt wurden, dass wir nicht rennen sollten. Wir machten Bootsfahrten und gingen essen, und unser Vater sagte immer: Sonntags sind wir auch Touristen hier.

Die Stadt, die wir nun selbst kennenlernten, war eine andere. Wir gingen nicht in die Museen, nicht in all die abgetrennten Räume, für die man Eintritt zahlen muss, wir wollten all das entdecken, was nichts kostete und einfach so bereit lag, die Parks und Grünflächen, auf denen im Sommer nur schwer ein freier Platz zu finden war, wenn überall Decken und Matten lagen und es nach Grillkohle roch. Wir saßen inmitten von riesigen Familien, die Feste feierten, aus vielen Richtungen kam Musik, Gitarren und Trommeln und manchmal ein Saxophon.

Wir streiften auf Flohmärkten herum, Hanna und ich verbrachten ganze Tage dort und suchten nach Schals und Mützen, nach Lederstiefeln und Büchern. Wir schmiegten uns ins Gedränge und aßen Crêpes, im Winter tranken wir heiße Schokolade, wir stiegen nur ungern in die Bahn zurück ans andere Ende. Wann immer wir Anzeigen fanden von leeren Wohnungen, die vermietet werden sollten, spürten wir ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, wir wollten schnell mit der Schule fertig werden und dann in unsere eigene Wohnung ziehen, weit genug weg vom Stadtrand und von den Vorgärten, in eine der gepflasterten Straßen mit den hübschen Balkonen und den Geschäften im Erdgeschoss.

Wir erzählten das beim Abendessen, und unsere Stimmen überschlugen sich fast, wir fielen uns gegenseitig ins Wort, mein Vater lächelte ein wenig in sich hinein, als würden wir ihn amüsieren. Ich wusste, dass er auch in die Stadt gezogen war, als er jung war, er hatte sich kilometerweit von seinem alten Zuhause entfernt, um hier zu wohnen. Er kam mit neunzehn her, um zu studieren, um in den großen Bibliotheken zu sitzen, um größere Wege mit dem Fahrrad zurücklegen zu können. Er hatte vorerst in einem winzigen Zimmer im Dachgeschoss gewohnt und sich später gemeinsam mit Kommilitonen eine größere Wohnung gesucht, in der er abends oft am Küchentisch saß und Bücher vor sich hatte, er las und lernte mit einem Eifer, als hätte er gewusst, dass er in den ersten paar Semestern sehr konsequent und fleißig sein musste, dass er später genug Ablenkung haben würde.

Meine Eltern hörten sich unsere Pläne an, ich weiß noch, Hannas Mutter saß an diesem Abend auch auf der Terrasse, sie nickten alle und gaben uns Bestätigung, mein Vater versprach, uns bei der Wohnungssuche zu helfen, und Jaro starrte bloß seinen Teller an.

4

Das Meer: immer noch einige Kilometer zu weit entfernt, um zu Fuß zu gehen. So waren es richtige Ausflüge, eine knappe halbe Stunde im Auto, hinaus aus dem Ort und dann über schmale Wege und am Ende entlang der Dünen bis zu einem der großen Parkplätze, auf denen die Fahrzeuge verlorengingen. Der Wind schlug beim Aussteigen ins Gesicht und man orientierte sich neu, die Augen zusammengekniffen, den salzigen Geruch in der Nase, drüben das kleine Restaurant, in dem es mittags Pommes gab und Fisch, dann die paar Stufen aus Stein, ein Deich, grasbewachsen an den Seiten, und immer die Aufgeregtheit, ob das Wasser schon da war oder nicht.

Sie suchten nach Muscheln und Krebsen, im Watt oder dort, wo die Wellen sacht aufschlugen, im Sommer mit Hüten auf dem Kopf und im Winter in Gummistiefeln. Sie versuchten die Schiffe am Horizont zu erkennen, sie zu unterscheiden, Container- und Kreuzfahrtschiffe, Segelboote, Fischkutter. So zogen die Stunden an ihnen vorbei und machten sich nur durch das Wasser bemerkbar, das mehr oder weniger wurde, je nachdem.

Manchmal fuhren sie noch ein paar Kilometer weiter, in eines der Städtchen, die im Sommer die Touristen anlockten mit bunten Fahnen und Geschäften an der Strandpromenade, mit toten Fischen auf Eis in den Schaufenstern und riesigen Maschinen, aus denen man Softeis zapfen konnte. In den meisten Fenstern hingen Schilder, die für freie Zimmer warben; jeder schien dort seine eigene Pension zu haben.

Dann stapften sie in festen Schuhen durch den Sand, vorbei an den nummerierten Strandkörben, die mit Brettern verschlossen waren, sie strichen sich die Haare aus den Gesichtern, bis sie am Hafen angekommen waren. Hendrik lief über die Holzstege, versuchte, in die kleinen Fenster zu schauen, schätzte die Höhe von Segelmasten, manchmal durfte er vorsichtig in eines der kleinen Boote hinein-klettern und an der Pinne sitzen. Auf den größeren Booten fasste er das Steuerrad an, strich über das glänzende, glatte Holz und bewegte das Ruder unter Wasser, dann hörte man oft ein Quietschen und ein Knarzen. Wenn es besonders stürmisch war, fühlte sich das Schaukeln manchmal so an, als wäre man auf hoher See.

Wenn genug Zeit da war, lernte er, wie man Seemannsknoten machte, und bei den Anglern durfte er sich die Fische in den Eimern anschauen, die sich noch bewegten und kämpften, bevor sie viel später dann auf dem Eis drapiert wurden.

Die Schuhe voller Sand suchte er die Terrassen der wenigen Restaurants ab, die außerhalb der Hauptsaison geöffnet hatten, bis er seine Eltern irgendwo sitzen sah, mit Sonnenbrillen und in bunten Windjacken.

Die Leute, die ihn auf die Boote steigen ließen, fragten manchmal nach den Eltern und warum ein kleiner Junge ganz alleine so nah am Wasser unterwegs war. Dann erzählte er immer die Geschichte, so oft, bis sie mehr nach einer Legende klang: wie sein Vater ihn ein paar Wochen lang mit dem Auto in einen größeren Ort gefahren hatte, in dem es ein Hallenbad gab. Der Vater trank in großen Zügen aus einer Flasche Mineralwasser, wenn er am Nachmittag aus der Firma kam, und warf dann eine Sporttasche in den Kofferraum seines Volvo, und weil gerade kein Schwimmkurs angeboten wurde, an dessen Ende man sich ein Abzeichen an die Badehose nähen durfte, brachte er es Hendrik selbst bei. Er ließ ihn Gegenstände vom Grund hinaufholen und machte vor, wie er die Arme zu bewegen, wie er zu atmen hatte. Woche für Woche, bis Hendrik alleine die Bahnen schwimmen und tauchen konnte, denn mit fünf Jahren musste man das in dieser Gegend, meinte sein Vater. Auf den Rückfahrten roch es im Auto nach Chlor, und die Haare trockneten an der Heizungsluft, während leise das Radio lief und sich manchmal die Blicke trafen im Rückspiegel, wenn sein Vater über-prüfen wollte, ob er schon eingeschlafen war von dem dumpfen Schaukelgefühl, das Schwimmen hinterlässt.

Deshalb durfte er das, allein am Wasser herumlaufen und sich die Segel anschauen: weil er wusste, was im Notfall zu tun wäre, weil er nicht untergehen würde. Und für diese Freiheit, die ihm sein Vater mit all den abendlichen Schwimmstunden geschenkt hatte, war Hendrik ihm so dankbar, dass er trotzdem vorsichtig blieb, kein Risiko einging, dass er auf den nassen Holzplanken umso mehr aufpasste, nicht auszurutschen.

Und auch, wenn der Vater später immer in Korbstühlen auf den Terrassen saß, vor sich eine Tasse Tee, die er seit Stunden zu trinken schien, lief er Hendrik manchmal unbemerkt ein Stück hinterher, um zu beobachten, wie sehr sein Sohn aufpasste, wie sehr er schätzte, was der Vater ihm beigebracht hatte, und während die Mutter in einer Zeitschrift blätterte und gegen den Wind ankämpfte, stand der Vater für ein paar Minuten dort und fühlte sich in dieser Zeit sehr stark und wusste, dass er etwas richtig gemacht hatte, wenigstens etwas.

5

Als Hendrik und ich uns kennenlernten, wechselte die Jahreszeit. Vorher war es April gewesen, ein anstrengender April, so einer, wie er im Buche steht, auf keine Temperatur war Verlass gewesen und auf keine Farbe am Himmel. Täglich fünf Klimazonen, sagte irgend-jemand oder: Ein ganzes Jahr in bloß einem Tag, verrückt.

Es fühlte sich beinahe so an, als hätten wir ein Dokument mit kleingedruckten Buchstaben unterschrieben und uns die Hand darauf gegeben, denn wie selbstverständlich sagte Hendrik, als er die Wohnung verließ: Bis bald.

Und im Anschluss hätten wir eigentlich beide zu tun gehabt, Hendrik hatte von der Arbeit erzählt, von den langen Schichten, und auf meinem Schreibtisch sammelten sich Listen, die abzuhaken gewesen wären. Und normalerweise, normalerweise ist es doch auch nicht so: dass man sich sofort anruft, dass man, kaum aus der Tür, neue Nummern wählt und Stimmen hören will, die man gerade erst kennengelernt hat.

Aber wir trafen uns trotzdem, einen Tag später.

In einem kleinen Café bestellten wir heiße Schokolade, die klebrig an den Tassen und an unseren Händen haftete, und konnten kaum reden. Wo vorher mit einer Leichtigkeit seine Geschichten gewesen waren, wo wir uns mit einer Vertrautheit verstanden hatten, da suchten wir jetzt nach Worten, die angemessen gewesen wären, die ausgereicht hätten, und fanden sie nicht. Nach einer Weile fiel uns auf, dass wir den Tag über kaum gegessen hatten, dass die schwere Süße der heißen Schokolade ein Hungergefühl ausgelöst hatte, also bestellten wir zusammen eine Portion Pommes. Das Kauen und Schlucken schien noch unmöglicher als Reden, wir quälten uns mit frittierten Kartoffelstücken, wir zermalmten weiche Masse in unseren Mündern, minutenlang, und dann konnten wir schließlich nicht anders als uns anzugrinsen; wir merkten, dass da gar keine Worte nötig waren.

Ich ging auf die Toilette und schaute mein gerötetes Gesicht im Spiegel an; ich zupfte an meinen Haaren und dachte: Das ist größer, das ist so viel größer als alles, was ich bisher gekannt habe. Und dann dachte ich: Wie absurd. Wie absolut absurd, es war ein Zufall, bloß ein Zufall, dass wir da gemeinsam gestanden hatten im U-Bahnhof, vorgestern. So etwas passiert doch nicht einfach. Das ist nicht die Art und Weise, wie man jemanden kennenlernt, man lädt doch nicht zu sich nach Hause ein nach fünf Minuten, man bleibt doch nicht einfach aneinander hängen.

Man lernt sich doch vorsichtig kennen, im geschützten Rahmen, bei Freunden, auf einer Party, in der Bibliothek. Man verbringt die Zeit mit Banalitäten, wie heißt du, was machst du, wohin, ach so, na dann. Und man küsst sich vielleicht, sogar schon nach Minuten, aber es passiert doch nie irgendetwas, man schläft miteinander, womöglich, aber dabei bleibt es dann, kein lauter Knall, kein Verschwinden aller Zweifel, keine stehengebliebene Zeit, keine große Veränderung. Und schließlich trifft man sich bloß noch, um sich zu rechtfertigen für nichts, man bestellt Getränke aus Höflichkeit und hält sich an den Löffeln fest und verbrennt sich die Zunge.

Als ich von der Toilette zurückkam, saß Hendrik da, schaute kurz auf, er lächelte flüchtig; in der Zwischenzeit hatte man unseren Tisch abgeräumt.

Wir bezahlten und trugen unsere Jacken durch das Café, wir öffneten die Tür und traten auf die Straße, wo uns zum ersten Mal eine Luft entgegenschlug, die man als mild bezeichnen konnte.

Ich wusste, da würde nun noch kein Abschied kommen an der nächsten Ecke oder Bushaltestelle, wir liefen nicht, wir flanierten den Gehweg entlang, bogen hier und da ab, unbestimmt und ziellos, und unsere Gesichter ließen sich bloß allmählich herunterkühlen, während wir proportional dazu die Worte wiederfanden.

Hanna ist nett, sagte Hendrik.

Hanna ist auch die Freundin meines Bruders.

Ein hübsch eingesetzter Genitiv.

Oder?

Ich hab mal Germanistik studiert, drei Semester lang.

Und vorzeitig abgeschlossen?

Ich bin einfach nicht mehr hingegangen.

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