Freiraum - Svenja Gräfen - E-Book

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Svenja Gräfen

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Beschreibung

Vela und Maren führen eine glückliche Beziehung und leben einen modernen Großstadtalltag, sie hegen einen gemeinsamen Kinderwunsch. Dann will Maren ausbrechen und ein anderes Leben führen; am Rande der Stadt, in einem Haus mit vielen anderen. Hier gibt es keine Mietanpassungen und keine Preiserhöhungen auf Milch und Käse. Hier ist auch Theo, um den in der Gemeinschaft alles kreist. So wie er versuchen auch Vela und Maren ihren neuen Platz zwischen Hoffnung, Zukunftsangst und dem Gefühl von Erwachsenwerden zu finden. Svenja Gräfen zeichnet mit großem Einfühlungsvermögen und einer scharfen Beobachtungsgabe ein neuartiges Bild unseres modernen Welt.

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Freiraum

Die Autorin

Svenja Gräfen, geboren 1990 und aufgewachsen in Rheinland-Pfalz, ist Schriftstellerin und feministische Aktivistin. Sie steht mit Texten auf der Bühne, hält Vorträge und leitet Workshops. 2018 wurde sie zum Klagenfurter Literaturkurs eingeladen und ist Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. Sie lebt in Leipzig und Berlin. »Freiraum« ist nach »Das Rauschen in unseren Köpfen« ihr zweiter Roman.

Das Buch

»Svenja Gräfen nähert sich in dieser Geschichte über das Private dem Politischen und fragt: Wie wollen wir leben?« Julia Wolf Eigentlich führen Vela und Maren eine glückliche Beziehung, sie hegen einen gemeinsamen Kinderwunsch. Aber all ihre Träume zerbröseln zunehmend an den Anforderungen der Großstadt.Maren will ausbrechen und ein alternatives Leben führen; am Rande der Stadt, in einem Haus mit vielen anderen, ohne Mieterhöhungen und permanente Konkurrenz. Hier kreist alles um Theo. So wie er versuchen Vela und Maren ihren Platz zwischen Hoffnung und Zukunftsangst zu finden – aber Vela spürt immer mehr, dass in dieser Gemeinschaft etwas nicht stimmt.

Svenja Gräfen zeichnet mit großem Einfühlungsvermögen und einer scharfen Beobachtungsgabe ein neuartiges Bild unserer modernen Welt.

Svenja Gräfen

Freiraum

Roman

Deutschsprachige Literatur

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-2043-4Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, MünchenTitelabbildung: © kpboonjit/shutterstock.comAutorenfoto: © Constantin TimmE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Danke an

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 1

Widmung

Für Meret.

Kapitel 2

Das ist nichts, worüber man sich lange den Kopf zerbrechen muss. Das ist etwas, das gleich auf der Hand liegt. Eine leicht zu treffende Entscheidung. Es braucht kein Abwägen, wozu? Vela und Maren wollen umziehen, schon ewig. Sie wollen so lange schon aus der Bruchbude raus. Weg von der vierspurigen Straße davor, weg von Sirenen, die gleich neben dem Kopfkissen schrillen, gefühlt. Überlegt’s euch, sagte Theo zum Abschied, überlegt’s euch in Ruhe und gebt dann Bescheid.

Und sie sind alle toll, oder nicht?, fragt Maren. Ihre Gesichtsfarbe hat sich verändert, die Veränderung scheint von Dauer zu sein: Ganz ungewöhnlich rot sind ihre Wangen. Die ganze Heimfahrt über, in der Bahn, im Treppenhaus und auch jetzt, in der Wohnung, am Tisch, im Flur, sind sie noch rot. Sie sitzen da, Vela und Maren, und trinken ein Bier, das sie sich am S-Bahnhof gekauft haben. Marens Füße auf Velas Schoß. Blicke werfen sie sich zu, ganz lang schauen sie sich an, bis Maren dann schließlich die Augenbrauen hochzieht und fragt: Also? Was meinst du?

Was ich meine?, fragt Vela. Sie legt sich den Zeigefinger ans Kinn. Tut so, als müsse sie drehen und wenden. Ihr Mund verzieht sich zu einem Grinsen, zu einem Lächeln, von selbst. Hm, ich weiß auch nicht, ich kann’s dir nicht sagen. Schau dich doch mal um hier. Haben wir’s nicht schön?

Maren lacht und trinkt einen Schluck Bier. Dann sagt sie: Natürlich wäre das krass. Wir wären nicht mehr in der Stadt.

Vela schiebt Marens Füße vom Schoß, richtet sich auf, macht den Rücken ganz grade und denkt nun tatsächlich nach. Dreht und wendet. Und gestikuliert schon, bevor sie zu sprechen beginnt: Dann ist das vielleicht einfach der Preis!

Maren: Und wir kämen ja in die Stadt, um zu arbeiten.

Vela: Und was genau nützt uns die Stadt, jetzt? Sie nützt uns nichts. Alles ist anstrengend hier. Und es ist ja auch nicht so, als würden wir vereinsamen, dort. Genau das Gegenteil.

Mich musst du nicht überzeugen, sagt Maren, die Fingerspitzen auf ihrer Brust. Ich hab immer am liebsten in WGs gewohnt.

Hey, protestiert Vela, woraufhin Maren sich schnell zu ihr hinüberbeugt, ihr die Hand auf die Wange legt: Und mit dir! Mit dir in einer WG, das wäre perfekt! Und mit einem Kind. Auch mit einem Kind. Immerhin ist da schon Eli. Und die anderen, wenn irgendwas ist, sind die anderen da.

Vela atmet aus und lehnt sich zurück. Es wäre wirklich perfekt. Das denkt sie: Dass es wirklich perfekt wäre.

Vela und Maren leeren die Flaschen, sie schlüpfen in Schuhe und Jacken und gehen noch mal raus, eine schnelle Runde, um überschüssige Energie loszuwerden. Um die Aufregung abzuschütteln. Um noch ein Bier zu kaufen, es im Gehen zu trinken, in großen Schlucken. Sie halten sich an den Händen, umarmen sich, haken sich unter, sie schauen sich an und stolpern, aber das macht nichts, sie sind sich ganz nah.

Später liegen und schlafen sie, und sie wachen auf im Wissen darum, eine Entscheidung getroffen zu haben, längst. Am Vormittag machen sie Frühstück. Mit Handtüchern über den Köpfen sitzen sie am Tisch und trinken Kaffee, essen Obstsalat mit Zimt, beißen in Brotscheiben mit aufgeschnittenen Tomaten darauf. Überschlagen sich fast in ihren Ideen, es sprudelt nur so aus ihnen heraus. Lass uns gleich anrufen, nach dem Frühstück, sagt Vela, und Maren schüttelt heftig den Kopf: Lass uns jetzt anrufen. Sie leckt ihre Finger ab, sie kaut noch und greift nach ihrem Telefon, das unter abgepacktem Maasdamer liegt. Sie hält es sich ans Ohr, Vela trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte. Und dann ist da am anderen Ende Jo.

Wir ziehen ein, ruft Maren sofort, sie schreit es fast, es ist wirklich nicht übertrieben, das mit dem Überschlagen. Von Jo ein Lachen, sie scheint etwas überrumpelt, vor allen Dingen aber freut sie sich, sie sagt: Oh Gott, wie schön! Ich dachte schon, ihr überlegt es euch anders. Ich sag gleich allen Bescheid!

Frag wann, frag, wann wir einziehen können, drängt Vela, sie hängt beinah selbst schon an Marens Telefon, sie sitzt halb auf Marens Schoß.

Psst, macht Maren, sie hört zu, konzentriert sich auf das, was ihre Schwester verkündet, dann wiederholt sie es für Vela, ganz feierlich: Ab sofort, wann immer wir wollen. Wir müssen nur aus dieser Bude hier raus.

Sie umarmen einander, sie drücken fest zu mit klebrigen Fingern, geben hohe Laute von sich vor Freude, bis Jos Stimme blechern aus dem Telefon fragt, ob alles in Ordnung ist.

Darauf Vela und Maren, synchron: Ja! Ja, es ist alles gut.

Kapitel 3

Da ist eine Kneipe. In einer der Ausgehstraßen der Stadt. Im Sommer beschweren sich Anwohnende über Lärm, über Flaschen und Scherben am Boden. In den Erdgeschossen treffen sich Leute, in der Kneipe ist jeden Abend was los. Sie ist meistens zum Bersten gefüllt. Es ist Samstag. In diesem Laden wird heute ein Geburtstag gefeiert. Eine Gruppe von gut dreißig Personen sitzt im vorderen Raum. An mehreren Tischen, darauf Gläser und Aschenbecher verteilt. Es ist noch nicht spät, kurz vor zehn, es gibt die zweite Runde Schnaps für alle. Da sitzen auch Maren und Vela, aber sie kennen sich noch nicht.

Eigentlich grenzt es an ein Wunder, dass Vela überhaupt dort ist. Vela wollte nicht kommen, denn sie ist gerade im Stress: Sie schließt jetzt in Kürze ihr Studium ab. Es sind noch Klausuren zu schreiben, Abgaben zu machen. Darauf ist sie gerade fokussiert. Das muss sein, wenn sie durchkommen will. So verbringt sie die Tage in der Bibliothek. An den Abenden sitzt sie am Schreibtisch, in ihrem kleinen Ein-Zimmer-Apartment, ihre Nächte sind kurz. Sie ist erschöpft, ausgelaugt, aber sie weiß auch, das ist jetzt der Endspurt. Sie weiß, bald wird sich ausgezahlt und gelohnt haben, was ihr in den vergangenen Jahren so viel abverlangt hat, was sie so oft die Nerven gekostet hat, die Unbeschwertheit und außerdem Geld.

Geburtstag feiert ihre Kommilitonin Elif. Sie hat am Abend, in dieser Kneipe, Glitzer im ganzen Gesicht. Elif, die zuvor darauf bestand: Vela, wenn du nicht kommst, hol ich dich persönlich zu Hause ab. Eine Einladung mit Nachdruck. Du musst, Vela, auch einfach mal abschalten. Mal was anderes erleben zwischendurch.

Und Vela, die eigentlich nie gerne ausgeht, ließ sich überreden. Schob das auf ihre angeschlagenen Nerven und sagte sich, vielleicht hat sie ja recht. Elif. Damit, dass sie mal rausmuss, abschalten und all so etwas.

Also stand sie früh auf, um sechs, an diesem Samstag, um wenigstens die Zeit vorher zu nutzen, möglichst viel herauszuholen aus dem Tag. Und deswegen ist ihr ganz schwummrig, als sie nach Stunden erstmals das Haus verlässt. Auf Menschen trifft. Nach einem ganzen Tag drinnen im Sitzen, am Schreibtisch, vorm Laptop, vor Büchern, vor Zetteln, Karteikarten, schlägt ihr plötzlich Wind ins Gesicht. Sitzt sie plötzlich in einer überfüllten U-Bahn. Sie fühlt sich wie hinter Milchglas, seltsam abgeschirmt von allen anderen, und irgendwas daran mag sie. Der Zustand hält ihr die Welt auf Distanz. Es ist Abend, gegen neun, und Vela hat noch mit niemandem gesprochen. Sie ist sich nicht sicher, ob sie heute überhaupt schon ein Wort gesagt hat. Mitten im Lärm, im U-Bahnhof, unten, dort, wo die Luft steht, wo sich Menschen drängeln und aneinander vorbeischieben, räuspert sich Vela. Sie sagt probehalber: Sorry, als sie auf der Rolltreppe jemanden überholt. Ihre Stimme beschlagen, noch nicht ganz da.

Es ist Herbst, Ende September, tagsüber letzte Anflüge von Spätsommer. Nach Sonnenuntergang ist es schon kühl. In der Kneipe staut sich eine Hitze. Dort sitzen Menschen, alle Plätze belegt, es läuft Musik aus den Achtzigern. Sie dröhnt über lauten Gesprächen, Stimmengewirr. Gerade läuft: Slave to love. Vela wird schnell zu heiß in ihrer Jeansjacke, sie zieht sie auf dem Weg zur Bar aus. Klemmt sie unter den Arm und räuspert sich erneut, bevor sie ein Bier bestellt. Sagt sich selbst dabei, in Gedanken: Maximal zwei, und dann geh ich früh nach Hause, ein, zwei Stunden, nicht länger, nur kurz. Die Geburtstagsrunde fast unüberschaubar, so viele Menschen, die Vela nicht kennt. Ein paar Gesichter aus der Uni, ansonsten weiß sie, dass Elif auch tanzt. Theater spielt? So etwas macht sie, daher kennt sie diese Leute. Ein paar von ihnen sind aufwendig geschminkt. Sie klimpern mit künstlichen Wimpern, und ihnen rieselt Glitzer übers Gesicht.

Vela hört mehrere Sprachen, sie balanciert sich an Körpern vorbei, bis zu Elif, um ihr zu gratulieren. Sie fallen sich in die Arme, Elif, aufgekratzt, große Augen, küsst Vela auf beide Wangen. Hier ist noch was frei, sagt Elif, hier ist noch Platz, wir rücken alle noch was zusammen. Vela setzt sich, sie hat einen Sitzplatz, eng zwischen anderen, die reden. Die grölen. Sie trinkt von ihrem Bier, das ihr gleich in den Magen sinkt, sie hat heute kaum was gegessen. Dieses Gefühl von Milchglas ist immer noch vorhanden, sogar mit größerer Intensität, und Vela schließt kurz die Augen. Als sie sie wieder öffnet, möchte jemand anstoßen mit ihr. Auffordernd ist da eine Flasche, jemand hält sie in der Hand, hebt sie höher und sagt dann: Hey, ich bin Maren, wie heißt du?

Ab dem Moment ist Vela gebannt. Maren, sie hat langes, dunkelblondes Haar. Das fließt ihr so über die Schultern. Und genauso fließt auch jede Bewegung: Wenn sie den Arm beugt, und trinkt. Sie streicht sich das Haar aus dem Nacken, sie redet dabei vielleicht etwas zu schnell. Aber ihre Stimme klingt fest, klingt hellwach dabei. Beim Zuhören stützt sie ihren Kopf mit der Hand. Den Ellbogen auf dem Tisch vor ihr. Sie gestikuliert im Gespräch, fällt ins Wort und lacht auf, ohne dass es ihr unangenehm zu sein scheint. Sie sitzt da, in der Kneipe, und sie ist eins mit ihrer Umgebung. Sie ist mal hier und mal da. Sie springt auf, geht aufs Klo, mit einer Leichtigkeit bahnt sie sich Wege. Sie bringt Salzstangen mit von der Bar.

Und zwischendurch schaut sie rüber zu Vela. Dann haften die Augen auf ihr – dunkel. Marens Augen sind dunkel, und sie schauen aus so einem Gesicht. Den Blick kann Vela schwer deuten, aber dringlich, durchdringend ist er. Und dann sieht sie schon wieder weg.

Vela trinkt Bier und ist dankbar für ihren Zustand: Er dämpft ihre Nervosität. Das gesteht sie sich irgendwann ein, dass es sie nervös macht, sie spürt das. Diverse Gefühle. Im Bauch, der sich so zusammenzieht, nicht auf unangenehme Art. Vela sitzt und fühlt sich irgendwie schief, aber es macht ihr nicht allzu viel aus, das liegt an der Müdigkeit, liegt am Bier. Es fällt ihr bloß schwer, Sätze zu formulieren. Ihr fallen die Worte nicht ein. Vela räuspert sich oft und ist dankbar für jede Frage, dir ihr gestellt wird, für jedes kleine Gespräch mit Elif oder mit anderen. Und während sie unsicher spricht, spürt sie die Anwesenheit von Maren, unweit von ihr, auf der anderen Seite des Tischs. Sie spürt, wie sie aufsteht und sich bewegt. Sie beugt sich zu jemandem runter, der sitzt. Spricht, und stützt sich dabei am Stuhl ab. Ihre Hand an der Lehne, und Haar fällt ihr ins Gesicht. Vela kaut eine Salzstange, als Maren sie dann wieder ansieht. Ein paar Sekunden, und dann schaut sie weg. Vela stockt. Schluckt, und spürt. Ein Kribbeln. Sie flirten. Maren flirtet mit ihr, und das wird ihr plötzlich bewusst. Ihr wird heiß, und sie fährt sich mit rascher Bewegung durchs Haar. Sie steht auf und bestellt noch ein Bier.

Es dauert, bis sie sich nähern. Bis Maren neben Vela sitzt, irgendwann. Dann streicht sie ihr über den Arm, mit weichen Fingerkuppen, weicher Hand. Sie ist nicht darum bemüht, dass es unauffällig wirkt, sie tut es einfach, als wäre es normal. Sie fragt, ob Vela noch tanzen gehen will. Nachher, später. Mit ihr und den anderen. Es gibt einen Plan. Vela spürt, wie sie schwitzt, wie es ihr hier drin zunehmend an Sauerstoff fehlt. Sie stolpert über die Silben. Verspürt den Drang, sich zu erklären. Sie sagt: Ich hab heut den ganzen Tag gelernt. Ich bin nicht so ganz auf der Höhe. Sie lacht in Ansätzen, schüttelt den Kopf.

Was sie will, das ist eigentlich: Zeit zu verbringen mit Maren. Ihre Nähe elektrisiert. Sie versucht, unauffällig zu schauen, sie kriegt nicht genug von Marens Gesicht. Ihre Schultern, die Arme, und wie das alles im Fluss ist, ihre Stimme, die dann plötzlich sagt: Ich bin eigentlich auch viel zu müde. Hey, ich kann das verstehen. Grüppchen verschwinden Richtung Toiletten, Elif kündigt schon einmal an, dass jetzt weitergezogen wird. Tanzen. Gleich brechen sie auf in einen Club. Jemand fragt Vela, ob sie mitkommen möchte. Nicht in den Club, sondern erst mal aufs Klo: Do you want some, fragt jemand, grinsend, mit Glitzer im Bart. Und kurz darauf hängt Elif an ihr dran, sie versucht ein Überreden, sie bettelt und sagt: Du musst mitkommen, Vela, wirklich, du musst mal richtig rauskommen, heute. Aber Velas ganzer Körper ist schwammig, sie ist müde und inzwischen betrunken. Maren sitzt bald wieder neben ihr, ganz nah, die Augen groß, Pupillen geweitet, sie sagt: Du kommst nicht mehr mit? Vela will, sie würde so gern, aber sie fühlt sich erschlagen. Sie ist schon zu lange wach, zu erledigt von all den Tagen zuvor, ihr sitzt so ein Schwindelgefühl im Kopf. Sie sagt: Ich glaub, ich muss wirklich schlafen. Maren nickt. In Marens Gesicht liegt Verständnis. Sie fragt dann nach ihrem Telefon und tippt etwas ein, gibt es Vela zurück, und um sie herum herrscht ein Aufbruch. Es werden Stühle gerückt und geschoben, die Geburtstagsrunde erhebt sich, und schon wieder hängt Elif an Vela: Bitte, bitte, du musst doch noch mit! Da legt Maren einen Arm um Velas Schulter, sie sagt: Elif, lass sie doch, wenn sie nicht will. Und leise zu Vela: Komm, ich bring dich hier raus. Und sie schieben sich durch die Kneipe, durch einen Raum voller Menschen schlagen sie eine Schneise. Marens Hände an Velas Schultern, sie bringt Vela zur Tür, mit ernstem Blick. Ein Bodyguardblick ist das, den sie draußen, vor der Tür, dann schnell auflöst, sie lächelt und sagt: Ich hab dich gerettet!

Ja, sagt Vela. Ja, hast du. Danke.

Sie fassen sich an den Händen. Ein paar Leute stolpern hinter ihnen aus der Tür. Maren zieht Vela zu sich heran, und dann küsst Maren Vela knapp auf den Mund. Vela denkt in diesem Moment: dass es noch als betrunkene Umarmung durchgehen könnte. Im Zweifel, wenn man das will. Dann flüstert Maren: Bring dich in Sicherheit! Bis zuletzt halten sie sich an den Händen, dann dreht Vela sich um. Sie geht die Straße entlang. Bleibt verwirrt an der Ecke stehen. In welche Richtung? Sie ist müde und jetzt wieder wach. Ist betrunken, voll Adrenalin. Dann findet sie den richtigen Weg, die richtige U-Bahn in die richtige Richtung. Bald darauf schließt sie ihre Wohnungstür auf mit zittrigen Händen. Dieselben Hände, die vorhin noch diese anderen Hände gehalten haben, diese sehr weichen Hände von Maren. Vela putzt sich die Zähne vor lauter Aufregung bloß ein paar Sekunden. Nachlässig befeuchtet sie ihr Gesicht. Sie trocknet sich die Hände, diese Hände, die vorhin noch – sie trocknet die Hände bloß an ihrer Kleidung, die sie dann noch im Bad auszieht, die nach Rauch riecht und nach Kneipe und Schweiß. In Unterhose fällt sie ins Bett und zieht die Decke über ihren Körper, rückt das Kissen unterm Kopf zurecht. Der Kühlschrank surrt. Dazu so ein Pfeifen in ihrem Ohr, vor lauter Gesprächen, vor lauter Musik. In ihr kämpft Adrenalin gegen bleierne Müdigkeit. Und verliert.

Vela schläft ein, sie schläft über Stunden, sie schläft tief und ihren Rausch aus. Das Erste, was ihre Hand satte neun Stunden später dann tut, ist nach dem Telefon zu greifen. Es liegt auf dem Boden neben dem Bett. Die noch verschlafene Vela hält sich das Telefon nah vors Gesicht, kneift ein Auge zu, um besser zu sehen auf die geringe Distanz, dann sucht sie und findet sie, sie wollte nur sichergehen und kann sich nun sicher sein: Da ist die Nummer, da ist der Name. Maren und eine Kombination von Zahlen in Velas Telefon.

Kapitel 4

Vela geht nach dem Frühstück raus in den Garten. Ein paar Schritte über die schmale Terrasse, auf die Wiese, den Pfad entlang, der gesäumt ist von Tontöpfen. Überreste von Kräutern darin. Gestrüpp. Abschüssig führt der Pfad bis zur Feuerstelle, dahinter der Gemüsegarten. Beete. Am Rand das Gewächshaus und alles umringt von Bäumen, Sträuchern. Ihr fröstelt, es ist noch frisch, aber da kommt schon die Sonne heraus. Drängt sich vorbei an ein paar zerrupften Wolken. Diese Sonne: Gefühlt acht Monate war sie nicht da. Hat Vela sie nicht gesehen. Der vergangene Winter in der Stadt war besonders düster. Besonders lang. Besonders wenig Sonnenstunden, immer wieder wurde das an verschiedenen Stellen betont. Und dazu war es nicht einmal sonderlich winterlich. Nicht so, wie man sich das vorstellt. Es hatte wenige Male geschneit, nasse Flocken, die auf den Straßen zu schnell zu Matsch wurden. Dunkelgrau. Bis auf ein paar Wochen unterm Gefrierpunkt war es nasskalt. Diese Art von Kälte, die sich unter die Kleidung frisst, die dicht an die Haut dringt. Und bleibt. Dazu war es andauernd windig, nein, stürmisch war es. Jetzt ist April, und Vela steht in einem Garten. Steht dort und reckt das Gesicht in die Sonne, die Augen geschlossen.

Das hier ist gut, denkt sie, und sie meint: den Garten, das Haus. Ihren Umzug. Vela fühlt, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. Sie öffnet die Augen, sieht sich um mit einer Vorsicht im Blick, ganz behutsam lässt sie ihn schweifen. Sie hatte noch nie einen Garten, ihre Gärten sind öffentliche Parks gewesen bisher. In Häusern wohnte sie nur zur Miete. Ihr brummt ein Gefühl durch den Körper, es breitet sich aus und wird warm. Vela, im Garten, vorm Haus. Sie wohnt hier. Ist das zu fassen? Sie wohnt hier, tatsächlich, mit Maren. Sie atmet tief ein: Das ist Landluft. Sie ist frischer und klarer als in der Stadt. Sie lauscht: Geräusche macht hier der Wind. Er raschelt durch das Geäst. Und dann, kurz ist sie irritiert, riecht sie etwas anderes, das sich mit Landluft vermengt: Zigarettenrauch. Das ist Zigarettenrauch, sicher. Sie dreht sich um.

Hey, na, sagt Darek. Er schlendert auf sie zu. Und raucht.

Hey, sagt Vela.

Willst du gleich mit mir zum Einkaufen kommen?

Willst du mir zeigen, wie das geht? Vela schmunzelt.

Darek zieht an der Zigarette. Er legt den Kopf schief: Ja! Genau so hab ich mir das gedacht. Pass auf, erstens, wir zahlen hier für unsere Einkäufe. Mit Geld.

Was du nicht sagst!

Tja, du hast wahrscheinlich gedacht, es wird getauscht – aber nichts da.

Vor Dareks Gesicht bilden sich Schwaden aus Rauch. Er kneift die Augen zusammen, und über ihnen zwitschert ein Vogel.

Ich komm gern mit, sagt Vela.

Das Auto ist ein Kastenwagen. Es ist ein Fiat Fiorino Panorama. In die Jahre gekommen, wie auch die Farbe: Ein Weiß, das wie Eierschale aussieht. Darek öffnet Vela mit großer Geste die Beifahrertür: Die Dame!, ruft er. Und Vela schüttelt den Kopf, sie lacht. Sie fragt sich aber auch: Was ist dieser Darek für einer, weshalb spielt er sich so auf? Und mit Aufspielen meint sie vor allem, dass er sich gibt, als würden sie sich schon viel länger kennen. Als wären sie alter Freund und alte Freundin. Es ist nicht so, dass er ihr unsympathisch wäre, dass sie unangenehm fände, wie er sich verhält. Ihr gegenüber. Sie fragt sich bloß, einfach so, trotzdem, Vela fragt sich oft. Darek schnallt sich an und hält ihr mit der freien Hand ein Päckchen Kaugummi hin. Möchtest du?

Nein. Vela lehnt ab. Darek zuckt mit den Schultern. Sie fahren die Straße hinunter.

Das Auto, erklärt er. Das Auto haben Theo und Karsten gebraucht gekauft vor ein paar Jahren. Läuft aber noch ganz gut.

Und das gehört also auch allen?, fragt Vela.

Ja, herzlichen Glückwunsch, sagt Darek. Er grinst Vela an: Du kannst dich jetzt Autobesitzerin nennen.

Wow, davon wusste ich gar nichts!

Das hast du quasi mit der Kaution gekauft.

Vela muss lachen. Die ist noch nicht überwiesen. Die kratzen wir grade noch zusammen.

Vor dem Kreisverkehr schaltet Darek runter und bremst. Von der Seite sieht Vela die Bewegungen seines Kiefers, er kaut. Sie nehmen die zweite Ausfahrt, nicht in den Ort hinein, sie folgen dem Schild, das alle Richtungen ausweist.

In Velas Kopf ist der Hofladen ein kleiner Stand. Wie die Stände für Erdbeeren, im Sommer. Die am Straßenrand stehen. Ein paar Bretter, ein Tisch, eine Überdachung wegen Wetter und Wind, und darauf drapiert dann die Äpfel, saisonales Gemüse, die Eier in unbedruckten Kartons, so hat sie sich das vorgestellt. Tatsächlich ist der Hofladen vielmehr ein ganzer Hof, die Verkaufsfläche ist eine komplette geräumige Scheune. Gänge, wie im Supermarkt. Mit einer riesigen Auswahl: Obst und Gemüse in großen Mengen. Kartoffeln, Spinat, Porree, es gibt schon Spargel, es gibt schon Rhabarber. Die Käsetheke ist riesig. Es wird allerhand zum Probieren angeboten, verschiedene Sorten Joghurt und Milch. Während Vela sich umsieht, studiert Darek einen Zettel, auf dem er die Schrift zu entziffern versucht. Vela? Sag mal, was soll das heißen? Kannst du das lesen?

Es ist bloß Gekrakel, wirre Striche, die sich kreuzen. Vela sagt: Hat das Eli geschrieben?

Darek grinst. Sie beide haben, das steht fest, denselben Humor. Sie präsentieren ihn nicht in der Bestform, das ist gar nicht nötig, sie witzeln bloß so herum. Nichts ist schlimmer, als zu merken, dass jemand einen Scherz nicht versteht. Auf einen Wortwitz nicht reagiert, überhaupt nicht. Vela und Darek erkennen ihre winzigen Scherze gegenseitig an. Werfen sich kurz einen Blick zu. Sie kaufen Kartoffeln, Champignons und Salat. Honig, Käse und Milch. Joghurt und Eier. Verstauen alles in Kisten im Kofferraum des Autos.

Übrigens kann ich dich auch mit in die Stadt nehmen, sagt Darek, als er sich gerade anschnallt. Zum Arbeiten. Ich fahr meistens mit dem Auto. Er dreht den Kopf zu Vela, sieht sie an: Du arbeitest doch auch abends, oder?

Und Vela: Ja, genau. Danke. Das ist nett.

Ich strenge mich an!

Was genau machst du denn eigentlich, am Theater?

An der Bar arbeite ich. So viel zu meiner Theaterkarriere. Er grinst. Aber klingt doch gut, oder? Zu sagen: Ich arbeite am Theater.

Das klingt super, sagt Vela. Du könntest auch der Intendant sein.

Fast!, sagt Darek, und dann: Ich hab Schauspiel studiert. Allerdings nicht zu Ende. Nicht fertig. Nur das Grundstudium. Und dann Zirkus. Auch nicht fertig.

Zirkus?, fragt Vela erstaunt.

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Kapitel 1

Auf dem Bahnsteig im Ort sind Vela und Maren die einzigen Menschen. Der Himmel über ihnen leuchtet stahlblau. Sie gehen durch die Unterführung, über eine Straße und dann bergauf. Da lang, erklärt Maren, geht’s rein in den Ort. Da gibt’s alles, was man so braucht. Sie kennt sich aus. Maren ist hier schon öfter gewesen. Sie greift nach Velas Hand, Vela, die ein paar Schritte hinter ihr geht.

Das Haus steht auf einem Hügel. Von der Straße aus ist es nicht gleich zu sehen. Es ist verdeckt von Bäumen und Sträuchern. Davor eine überwucherte niedrige Mauer aus Stein und ein Tor, das quietscht beim Öffnen. Dahinter ein Weg aus quadratischen Platten, zu den Seiten Gras, platt gedrücktes Grün, das sich noch vom Winter erholt. Vorbei an Büschen und Bäumchen geht es, an Mülltonnen und ein paar Rädern, und dann wird der Blick frei auf ein Gebäude.

Die Tür sieht aus wie die einer Terrasse. Ein dunkler Holzrahmen fasst Glas, und die Hand an der schmalen Klinke hat ein Mann. Er trägt Bart, er trägt einen blauen Rollkragenpullover, und er sagt: Hey! Er sagt: Hallo. Und grinst dabei. Das Grinsen wird ein Lächeln, ganz warm, und er hebt die Hand, breitet dann beide Arme aus und legt sie um Marens Körper. Als sie sich aus der Umarmung zu lösen beginnt, sagt sie: Wie absurd, dass ihr euch noch nicht kennt! Das ist Vela.

Wie schön, ruft der Mann, er ruft es ernsthaft begeistert. Und umarmt dann auch Vela, ganz herzlich, als würde es gar nicht stimmen, was Maren da gerade gesagt hat, und er riecht auch irgendwie vertraut, denkt Vela. Nicht wie eine fremde Person. Er ist ihr auf Anhieb sympathisch. Er sagt: Ich bin Theo. Kommt rein!

Und sie gehen rein, alle drei, sie gehen ins Haus, und die Tür, Glas in Holz gefasst, fällt zu.

Es ist ein Beschnuppern, eine Art Casting. Kann man das so nennen? Ein Kennenlernen. Das Haus ist ein Projekt, ein Hausprojekt, in dem Marens Schwester wohnt, zusammen mit Freund und mit Kind. Und von Jo, der Schwester, kam auch der Vorschlag, sie sagte: Es ist jemand ausgezogen bei uns, es ist was frei im Haus, ihr solltet euch das anschauen. Deswegen sind sie nun hier, in der Küche, zusammen mit Theo in einem riesigen Raum. Über den Schränken fällt Sonne durch Oberlichter, insgesamt ist es hier drin sehr hell. Es riecht nach Holz und nach Kaffee. Vela erhascht Blicke. Auf einem langen Tisch stehen Teller bereit, daneben ein Korb mit Brötchen. Geschnittenes Gemüse und Obst. Theo angelt Tassen aus einem Schrank, stellt sie auf die Kücheninsel in der Mitte, eine Platte aus Stein. Wollt ihr Kaffee, fragt er, aber jede mögliche Antwort wird übertönt von euphorischem Kreischen, weil soeben Jo den Raum betreten hat und auf Maren zufliegt. Sie fallen sich in die Arme, und im Anschluss hebt Maren ein skeptisch schauendes Kind vom Boden hoch, liebkost es, sie küsst es auf Wangen und Stirn, küsst nussbraune Löckchen, die das kleine Gesicht umrahmen. Jo begrüßt Vela, drückt sie fest an sich. Ihre Wangen berühren sich. Jo hat die gleiche weiche Haut wie ihre Schwester. Ein Duft von Lavendel und Sandelholz umgibt sie. Sie ist groß, größer als Maren. Dickes Haar in Dunkelblond reicht ihr bis knapp unters Kinn.

Wie schön, dass ihr da seid!, sagt sie.

Und Eli, Jos Kind, quietscht vergnügt auf Marens Arm.

Es wohnen mehrere Leute im Haus. Der Tisch ist eine lange Tafel, und daran ist Platz für sie alle. Für Karsten, Jos Freund, der sein Kind auf den Schoß nimmt. Für Ellen, die neben ihm sitzt und Kräutertee trinkt. Für Nat, die sich streckt, im Sitzen ihre Arme nach oben ausbreitet, und für Darek, der als Letzter dazukommt. Alle freuen sich über Vela und Maren, alle betonen, wie schön es ist, sie zu sehen, hierzuhaben an diesem Tag. Theo nähert sich mit einer Pfanne, er ruft: Achtung, das ist heiß!, dann steht eine große Menge Rührei auf dem Tisch bereit zum Verzehr.

Wir waren heut früh schon im Hofladen. Da kaufen wir immer die Eier, sagt Jo.

So, wer möchte?, fragt Theo, haben wir überhaupt genug Gabeln?

Ein paar Momente des chaotischen Organisierens, in denen Jo noch einmal aufsteht, es fehlt eine Gabel, und sie bringt auch noch eine Karaffe mit Wasser. Und will noch wer Kaffee? Es ist noch was da. Ellen ergänzt, dass es auch Kräutertee gibt, sie schaut Vela auffordernd an, die leicht den Kopf schüttelt, Danke, alles gut. Und Saft, ruft Nat, die zum Kühlschrank geht, es fehlen auch noch Gläser. Dann aber, zum Glück dampft das Ei noch auf ihren Tellern, geht’s los. Guten Appetit, lasst’s euch schmecken. Nat, Jo und Darek heben ehrfürchtig ihre Saftgläser. Kommt schon, sagt Nat. Wir stoßen an mit Multivitaminen! Dann halten sie alle, sie kauen zum Teil schon, ihre Gläser in die Höhe, außer Theo, der bloß zögernd seinen Emaillebecher hebt. Sie prosten einander zu.

Als vor ihnen bloß noch Krümel liegen auf bunten Tellern, in der Pfanne ein winziger Rühreirest längst kalt geworden ist, da tauscht Theo seinen Becher gegen ein Glas. Da entschließt er sich, einen Schluck Saft zu nehmen, und dann schlägt er die Beine übereinander. Er hält das Glas in der linken Hand, er räuspert sich und sagt dann: So, wir sind ja schließlich nicht zum Spaß hier. Er grinst. Er zwinkert Vela zu. Er sagt: Also, die Idee hier ist, tatsächlich eine Alternative zu schaffen. Freiraum. Einen Ort, an dem es um mehr geht als um so ein Nebeneinanderher. Das heißt sich umeinander zu kümmern, sich zu unterstützen. Und in erster Linie auch ein Ort, an dem man überhaupt wohnen kann.

Ellen unterbricht ihn: Vielleicht erzählst du, wie das alles hier angefangen hat? Das erklärt ja schon das meiste.

Ja, wollte ich gleich, sagt Theo. Danke, Ellen. Er fährt fort: Woanders, jedenfalls, ist das ja nicht mehr möglich. Ihr kennt das ja, in der Stadt. Wie lange sucht ihr jetzt nach einer Wohnung?

Puh, vielleicht anderthalb Jahre?, sagt Maren, sie sieht Vela an, und Vela nickt, sie fügt noch hinzu: Schon ein bisschen länger.

Theo nickt langsam. Bestätigend. Das ist alles kaputt, sagt er. Wohnen darf ja wohl keine Glückssache sein. Ist es aber inzwischen geworden. Man zahlt einen Arsch voll Miete, und am Ende wird man trotzdem rausgeworfen. Oder es wird immer teurer.

Ja, bei uns nämlich, sagt Maren.

Schon wieder?, fragt Jo.

Nicht so furchtbar viel, sagt Maren, vierzig Euro. Aber es ist jetzt das vierte Mal in drei Jahren.

Gott, wir haben einfach ein Riesenglück mit diesem Haus, sagt Ellen.

Wem gehört denn das Haus?, fragt Vela. Habt ihr das gekauft?

Das gehört zunächst mal denen, die es bewohnen, sagt Theo. Es gehört uns allen zusammen. Also, streng genommen hab ich es geerbt, aber wir haben zusammen renoviert. Wir haben Geld reingesteckt. Dieses ganze Materielle, dieses Gesülze von Besitz, und was ist jetzt mein Haus, dein Haus – das bringt uns ja einfach nicht weiter.

Darek breitet die Arme aus: Das ist hier nämlich eine Oase inmitten vom Kapitalismus, sagt er theatralisch. Theo schmunzelt, er lächelt matt: Natürlich nicht ganz. Ich meine, die meisten von uns haben Lohnarbeit. Karsten ist Lehrer. Nat ist Tischlerin, Ellen ist jetzt in dieser Gemeinschaftspraxis –

Ich bin Therapeutin, fügt Ellen hinzu.

Jo und ich sind selbstständig, sagt Theo. Jo macht jetzt bald diese Kurse, im Gemeindehaus unten im Ort.

Achtsamkeitskurse sind das, sagt Jo.

Und Darek arbeitet am Theater, in der Stadt.

Na ja, ich jobbe, sagt Darek.

Es spielt auf jeden Fall keine Rolle, wer jetzt wie viel verdient, sagt Jo. Das nimmt ganz schön den Druck. Deswegen hab ich mich überhaupt erst selbstständig gemacht.

Man weiß eben immer, die anderen sind auch noch da. Als Backup. Nat lehnt sich zurück, sie streicht sich über ihre kurzen Haare, sie lächelt. Sie lächelt Vela an.

Und, fährt Theo fort, er hebt einen Zeigefinger: Alle arbeiten ja auch hier. Im Haus. Im Haushalt. Kochen, einkaufen, putzen und so was. Wir kümmern uns alle auch mal um Eli.

Und das ist noch so ein springender Punkt, sagt Jo, mit Nachdruck, und als wäre es geplant, beginnt Eli ein Brabbeln, Eli wirft ein paar Silben, wirft Halbworte in den Raum.

Jo nimmt Eli auf den Arm. Ihr wollt doch auch Kinder, oder nicht?

Jetzt räuspert sich, Theo gegenüber, Karsten. Er richtet sich auf und trinkt rasch einen Schluck, um dann auch endlich etwas zu sagen: Für Kinder ist das perfekt. Ich bin so froh, dass Eli hier aufwächst und nicht in der Stadt.

Und die Sache mit der Betreuung, wirft Jo ein. So ist das viel einfacher. Hier ist ja immer irgendwer da.

Und dann natürlich die Langfristigkeit, sagt Karsten. Ich glaub – Theo, lass mich kurz ausreden, ich glaub, das ist ziemlich wichtig, dass schon so ein gewisses Commitment dabei ist.

Theo nickt, er nickt nachdenklich, und dann fragt er: Habt ihr da einen konkreten Plan?

Vela wird heiß im Gesicht, sie spürt das. Einen wellenartigen Anstieg der Temperatur. Marens Hand liegt auf ihrem Oberschenkel, und sie greift danach. Maren zögert einen kurzen Moment, aber sie ist keine, die herumdruckst, sie sagt dann: Also, tatsächlich ja.

Theos Lippen kräuseln sich zu einer Art Grinsen, und er sieht Maren an, Vela denkt sich: Weil er Maren schon kennt, und er fragt: Wie wollt ihr das machen?

Nat atmet gut hörbar aus in dem Moment, und ­Darek greift nach der Karaffe. Er gießt sich Wasser ins Glas. Vela schluckt und weiß kurz nicht, wie sie das einordnen soll, diese Frage, aber es fragt ja immerhin nicht irgendwer. Es fragt jemand, den sie erst eine Stunde lang kennt, aber trotzdem ist das was anderes.

Da ist eine Ärztin, die uns hilft, sagt Maren. Glück gehabt.

Und du willst es kriegen?, fragt Theo, noch immer fixiert er Maren dabei.

Genau.

Und woher kommt’s dann? Das Sperma?

Das bestellen wir in Dänemark, sagt Vela, sie sagt es eilig, schnell, bevor Maren antworten kann.

Schon witzig, oder?, sagt Maren, sie grinst: Wir bestellen uns Sperma in Dänemark, und vielleicht noch einen Couchtisch dazu.

Die anderen lachen, Theo lacht in Ansätzen, er schüttelt den Kopf dabei. Na, gut, sagt er. Gut, dass es so was wie Dänemark gibt. Als Möglichkeit. Für euch.

Sie nicken. Maren pflichtet bei: Ja! Total.

Dann bewegt sich Theo, er steht auf und sagt: Kommt, ich zeig euch mal den Rest.

Sie gehen durch Räume. Theo öffnet Türen und führt sie treppauf und treppab. Ein bisschen ist es so, wie Vela es manchmal imaginiert hat: Eine Besichtigung von lichtdurchflutetem Wohnraum, großflächig. Zimmer, bei denen es nicht allzu viel Vorstellungskraft braucht, um sie sich mit ihren Möbeln bestückt und bewohnt auszumalen. Bei denen sie sich nicht gleich eingeengt fühlt. Ein Umschauen, ein Anblick, bei dem es leicht zu kribbeln beginnt im Inneren. Das Haus ist riesig und verwinkelt. Es gibt einen Anbau und einen alten Teil, der steht bereits seit Jahrzehnten. Direkt aus der Küche, aus dem Gemeinschaftsraum führt eine Wendeltreppe hinauf in Theos Reich: sein Schlafzimmer unterm Dach. Von einem kleinen Balkon aus, mit großer Geste lädt Theo Maren und Vela ein, ihn zu betreten, blickt man auf den Garten und weiter ins Tal hinein. Mit einer sagenhaften Aussicht wachsen hier in wärmeren Monaten Chilischoten. Theo fasst vorsichtig in Blumenkästen, in denen es jetzt noch winterlich aussieht, karg. Sie schauen in den Garten, Bäume stehen da, zwei schmale Birken sehen sie von hier aus, eine Eiche, noch treibt nichts Knospen, noch grünt es nicht. In ein paar Wochen sieht’s schon ganz anders aus, sagt Theo. Maren, du kennst das ja.

Er lehnt sich über das Geländer und deutet auf Sträucher: Stachelbeere, Johannisbeere, Brombeere.

Baut ihr auch Gemüse an?, fragt Vela, die sich, zugegeben, bisher noch nicht sonderlich für Gemüseanbau und Gärtnerei interessiert hat. Die keinerlei Gewächs vom anderen unterscheiden könnte. Aber vielleicht kommt ein solches Wissen, kommt ein grundlegendes Interesse daran mit der Möglichkeit.

Klar, sagt Theo und freut sich über die Frage, freut sich darüber, noch mehr zeigen, preisgeben zu können.

Sie gehen zurück, die Treppe hinunter. Durch den Flur, an einem Badezimmer vorbei. Vorbei an Nats Zimmer, an Dareks, an Rumpelkammern. Da muss noch was getan werden, im Sommer, spätestens im Herbst. Im Anbau befindet sich ein Wohnzimmer, ein Zimmer für Eli, eins für Karsten und Jo. Das Obergeschoss im Anbau ist ganz Arbeitsraum, ist ein Studio. Ein riesiger Schreibtisch, zwei Meter breit. Hier arbeitet Theo. Plant Landschaft. Plant Gärten und Bepflanzung am Computer. Theo ist Landschaftsarchitekt. Die Auftragslage ist gerade ganz gut, sagt er. Er deutet auf stapelweise Papier.

Das Zimmer, das frei ist, hat zwei große Fenster. Knapp dreißig Quadratmeter fasst der Raum, und hinter der Tür steht ein Kleiderschrank, aus, wie Theo weiß, den Sechzigern, von seinen Großeltern. Die Holzdielen, Lärche, sind etwas staubig. Theos Knie knacken, als er sich hinunterbeugt, mit zwei Fingern über das helle Holz fährt, zur Probe. Abgeschliffen, sagt er, haben wir den erst letztes Jahr, da haben wir den ganzen Raum renoviert. Maren nickt und strahlt und geht zum Fenster, öffnet es. Die Fensterbänke sind breit und tief genug, um darauf zu sitzen.

Ganz am Anfang haben Ellen und ich hier geschlafen, sagt Theo. Dann wollten später Nat und Micha rein, aber tja! Theo richtet sich auf, er klatscht in die Hände, reibt sie aneinander, ehe er fortfährt: Jetzt hat uns Micha verlassen.

Wo ist er denn eigentlich hin?, fragt Maren.

Theo zuckt leicht mit den Schultern. Ist in Italien. Er arbeitet da für eine NGO. Das ging alles ziemlich schnell, aber: euer Glück! Theo lächelt. Sie lächeln zurück.