Das Ritual der Rache - Andrea Camilleri - E-Book

Das Ritual der Rache E-Book

Andrea Camilleri

4,6
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im Umland von Vigàta liegt ein Toter in einem Plastiksack. In dreißig Teile zerstückelt, der Schuss in den Nacken deutet auf Rache wegen Verrats hin. Commissario Montalbano fühlt sich an eine Geschichte aus dem Evangelium erinnert: an den Verrat des Judas. Die blühende Fantasie eines Commissario? Oder die Tat eines bibelfesten Mafioso?

Mörderische Raffinesse, mediterranes Flair und ein Feuerwerk an temperamentvollen Dialogen - Andrea Camilleri versprüht nachhaltig das Lebensgefühl seiner sizilianischen Heimat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 302

Bewertungen
4,6 (48 Bewertungen)
34
9
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

CoverTitelImpressumEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnAnmerkung

Andrea Camilleri Das Ritual der Rache

Commissario Montalbano vermisst einen guten Freund

Roman Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

Titel der italienischen Originalausgabe: »Il Campo del Vasaio«

Für die Originalausgabe: Copyright © 2008 by Sellerio Editore, Via Siracusa 50, Palermo / Italy

Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau Umschlagmotiv: © corbis/Anne Belov E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-8387-1501-8

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Eins

Lautes, unablässiges Klopfen an der Haustür weckte ihn auf. Ein verzweifeltes Hämmern mit Händen und Füßen. Eigentümlich war nur, dass keiner klingelte. Er blickte zum Fenster: Durch die geschlossenen Läden drang nicht die frühe Morgendämmerung, draußen herrschte noch tiefe Dunkelheit. Oder besser gesagt, durch das Fenster fiel gelegentlich ein tückischer Blitz, in dessen Licht das Zimmer zu erstarren schien, gefolgt von einem Donnern, das die Scheiben klirren ließ. Tags zuvor hatte das Gewitter angefangen, und es wurde immer heftiger. Jedoch, und das war merkwürdig, war das Tosen des Meeres nicht zu hören, das inzwischen den Strand bis unterhalb der Veranda verschlungen haben musste. Er tastete suchend nach dem Fuß der Nachttischlampe, drückte auf den Knopf, der klick machte, doch das Licht ging nicht an. War die Birne durchgebrannt oder gab es keinen Strom? Er stand auf, und ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Durch den Fensterladen drangen nicht nur Blitze, sondern auch schneidend kalter Wind. Der Lichtschalter für die Deckenlampe ließ ebenfalls kein Licht aufflammen. Vielleicht war der Strom wegen des Gewitters ausgefallen.

Das Klopfen hörte nicht auf. In diesem Aufruhr meinte er auch eine Stimme zu hören, die verzweifelt nach ihm rief.

»Ich komm ja schon, ich komm ja schon!«, rief er.

Weil er nackt geschlafen hatte, suchte er nach etwas, das er sich überwerfen konnte, doch er fand nichts. Er war sich sicher, dass er die Hose über den Stuhl am Fußende des Bettes gelegt hatte. Vielleicht war sie hinuntergefallen. Aber er konnte nicht noch weitere Zeit mit Suchen vergeuden. Er ging zur Haustür.

»Wer ist denn da?«, fragte er, ohne zu öffnen.

»Bonetti-Alderighi. Machen Sie auf, schnell!«

Er war völlig überrumpelt, ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Der Polizeipräsident? Was hatte das denn zu bedeuten? Oder sollte das ein blöder Streich sein?

»Einen Augenblick.«

Er holte schnell die Taschenlampe, die er in der Schublade des Esszimmertischs aufbewahrte, knipste sie an und öffnete. Wie versteinert blieb er stehen, als er den Polizeipräsidenten völlig durchnässt vom Regen vor sich sah. Bonetti-Alderighi trug einen schwarzen Hut und einen Regenmantel, dessen linker Ärmel zerrissen war.

»Lassen Sie mich durch.«

Montalbano trat zur Seite, und der andere ging an ihm vorbei. Der Commissario folgte ihm automatisch, fast wie ein Schlafwandler, und vergaß, die Tür zu schließen, die nun im Sturmwind schlug. Sobald Bonetti-Alderighi in Reichweite des erstbesten Stuhls war, setzte er sich, oder vielmehr: Er brach auf ihm zusammen. Vor Montalbanos erschütterten Blicken vergrub er sein Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.

Mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs vor dem Abheben rasten die Fragen durch Montalbanos Kopf. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, sie formten sich und vergingen derart rasch, dass es ihm unmöglich war, auch nur eine von ihnen klar und deutlich festzuhalten. Er war nicht einmal in der Lage, den Mund aufzumachen.

»Können Sie mich in Ihrem Haus verstecken?«, fragte ihn der Polizeipräsident mit ängstlicher Dringlichkeit.

Verstecken? Wieso musste sich der Polizeipräsident verstecken? Wollte er untertauchen? Was hatte er verbrochen? Wer war hinter ihm her?

»Ich … ich verstehe nicht, was …«

Bonetti-Alderighi sah ihn fassungslos an.

»Ja, was denn, Montalbano, Sie wissen noch gar nichts?«

»Nein.«

»Die Mafia hat heute Nacht die Macht übernommen!«

»Was sagen Sie da?!«

»Was hatten Sie denn gedacht, wie es in unserem unglücklichen Land weitergehen würde? Ein nettes Gesetz hier, ein nettes Gesetz da, und am Ende landen wir dort, wo wir jetzt stehen. Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«

»So… sofort.«

Ihm war gleich klar, dass der Polizeipräsident nicht mehr ganz bei sich war. Vielleicht hatte er ja einen Autounfall gehabt und redete nun wirres Zeug, weil er unter Schock stand. Am besten, er rief im Polizeipräsidium an. Vielleicht war es auch besser, einen Arzt zu rufen. Jedenfalls durfte der arme Kerl zunächst keinen Verdacht schöpfen. Daher musste er fürs Erste auf Bonetti-Alderighi eingehen.

Er betrat die Küche, drückte aus Gewohnheit wieder auf den Lichtschalter, und das Licht ging an. Er füllte ein Glas, kehrte zurück und hielt an der Tür inne, wie gelähmt. Eine der heutzutage üblichen Skulpturen, die den Titel »Männlicher Akt mit Glas in der Hand« hätte tragen können.

Das Zimmer war zwar hell, aber Bonetti-Alderighi war verschwunden. An seiner Stelle saß ein vierschrötiger kleiner Mann mit einer Schiebermütze auf dem Kopf, den er sofort erkannte. Totò Riina! Er war aus dem Gefängnis entlassen worden! Demnach war Bonetti-Alderighi also gar nicht übergeschnappt. Das, was er ihm gesagt hatte, war die schlichte Wahrheit!

»Bonasira«, sagte Riina in breitestem Sizilianisch. »Verzeihen Sie Zeit und Umstände meines Besuchs, aber ich bin in Eile, und draußen wartet ein Hubschrauber auf mich, der mich gleich nach Rom bringt, wo ich die Regierung zusammenstellen werde. Den einen oder anderen Namen habe ich schon: Bernardo Provenzano, stellvertretender Ministerpräsident, einen der Caruana-Brüder als Außenminister, Leoluca Bagarella als Verteidigungsminister … Zu Ihnen komme ich mit einer Frage, die Sie, Montalbano, mir jetzt sofort mit Ja oder Nein beantworten müssen. Wollen Sie mein Innenminister werden?«

Doch bevor Montalbano antworten konnte, tauchte Catarella im Zimmer auf. Er musste durch die offen stehende Tür hereingekommen sein. Er hielt den Revolver in der Hand und zielte auf den Commissario. Dabei liefen ihm dicke Tränen über das Gesicht.

»Dottori, wenn Sie jetzt Ja sagen zu diesem Verbrecher da, dann bring ich Sie persönlich selbst um!«

Doch durch das Reden hatte er sich ablenken lassen, und schneller als eine Schlange glitt Riina auf ihn zu, entwand ihm den Revolver und schoss. Das Licht im Zimmer erlosch und …

Montalbano erwachte. Das einzig Echte an seinem Traum war das Gewitter, in dem die offen gelassenen Fensterläden schlugen. Er stand auf, machte sie zu und legte sich wieder hin, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. Vier Uhr morgens. Er wollte wieder einschlafen, doch hinter hartnäckig geschlossenen Augenlidern fand er sich wieder im Zwiegespräch mit Montalbano zwei.

Was sollte dieser Traum bedeuten?

Wieso willst du eine tiefere Bedeutung darin erkennen, Montalbà? Kommt es nicht häufiger vor, dass du beschissene Träume hast, ’tschuldigung, Träume ohne Hand und Fuß?

Das behauptest du, dass sie weder Hand noch Fuß haben, weil du nicht mehr Verstand hast als ein Stück Vieh. Du siehst das so, aber geh mal zu Herrn Freud und erzähl ihm davon, dann wirst du schon sehen, was der da alles herausliest!

Warum sollte ich zu Herrn Freud gehen und ihm meine Träume erzählen?

Weil du, wenn du es nicht schaffst, dir den Traum zu erklären oder ihn dir deuten zu lassen, nicht mehr einschlafen kannst.

Okay, von mir aus. Dann frag.

Was hat dich am meisten erschreckt von all dem, was du geträumt hast?

Der Umstand des fliegenden Wechsels.

Welcher?

Dass auf Bonetti-Alderighis Platz Totò Riina saß, als ich aus der Küche zurückkam.

Drück dich genauer aus.

Dass auf dem Platz des Polizeipräsidenten, des Vertreters des Gesetzes, die Nummer eins der Mafia saß, der Boss aller Gesetzesgegner.

Du sagst mir also gerade, dass du in deinem Zimmer, in deinem Haus, inmitten all deiner Besitztümer sowohl das Gesetz beherbergt hast als auch die Verkörperung all dessen, was außerhalb des Gesetzes steht.

Ja, und?

Kann es nicht sein, dass die Demarkationslinie zwischen Gesetz und Gesetzlosigkeit in dir jeden Tag etwas mehr verschwimmt?

Jetzt red keinen Stuss!

Dann betrachten wir es doch mal von einer anderen Seite. Worum haben sie dich gebeten?

Bonetti-Alderighi hat mich gebeten, ihn zu verstecken. Er hat mich um Hilfe gebeten.

Und das hat dich erstaunt?

Natürlich!

Und worum hat dich Riina gebeten?

Sein Innenminister zu werden.

Und das hat dich erstaunt?

Na ja, schon …

Hat dich das genauso erstaunt wie die Bitte des Polizeipräsidenten, ihm zu helfen? Oder mehr? Oder weniger? Antworte ehrlich.

Na ja. Weniger.

Wieso hat dich das weniger erstaunt? Ist es denn normal für dich, dass ein Mafiaboss dich bittet, für ihn zu arbeiten?

Nein, das ist doch gar nicht die Frage. Riina war in diesem Augenblick ja kein Mafiaboss mehr, sondern jemand, der Ministerpräsident werden sollte! Und in seiner Eigenschaft als künftiger Ministerpräsident hat er mich gebeten, mit ihm zusammenzuarbeiten!

Halt. Hier geht es um zwei verschiedene Dinge. Entweder denkst du, die Tatsache, dass er Ministerpräsident wird, löscht alle seine früheren Verbrechen aus, einschließlich der Morde und Massaker, oder du gehörst zu den Bullen, die unter allen Umständen demjenigen dienen, der an der Macht ist, ohne sich darum zu scheren, wer er eigentlich ist, ob er ein anständiger Mensch ist oder ein Verbrecher, ob er Faschist ist oder Kommunist. Zu welcher der beiden Kategorien zählst du dich?

So nicht! Da machst du es dir zu einfach!

Wieso?

Weil Catarella aufgetaucht ist!

Und welche Bedeutung siehst du darin?

Dass ich Riinas Vorschlag tatsächlich abgelehnt habe.

Aber du hast doch nicht einmal den Mund aufgemacht!

Das Nein habe ich durch Catarella gesagt. Er taucht auf, zielt mit dem Revolver auf mich und sagt zu mir, er würde mich umbringen, wenn ich einwillige. Catarella steht doch für mein Gewissen.

Was heißt das denn nun wieder, was dir da gerade herausgerutscht ist? Catarella soll dein Gewissen sein?

Wieso denn nicht? Erinnerst du dich, was ich dem Journalisten geantwortet habe, der mich eines Tages fragte, ob ich an Schutzengel glaube? Ich habe Ja gesagt. Und da hat er mich gefragt, ob ich jemals einen gesehen hätte. Und ich habe gesagt, ich würde meinen jeden Tag sehen. Hat er auch einen Namen?, fragte der Journalist. Und ich sofort: Er heißt Catarella. Das habe ich natürlich im Spaß gesagt. Aber hinterher, bei genauerem Nachdenken, habe ich begriffen, dass das gar nicht so sehr als Spaß gemeint war, sondern dass eigentlich sehr viel Wahrheit darin lag.

Was folgt daraus?

Dass die ganze Geschichte andersherum ausgelegt werden muss. Die Szene mit Catarella heißt doch, dass ich, statt Riinas Vorschlag anzunehmen, vor allem bereit war, mich zu erschießen.

Montalbà, bist du sicher, dass Freud sie so gedeutet hätte?

Soll ich dir was sagen? Dieser Freud kann mir mal im Mondschein begegnen! Und jetzt lass mich schlafen, ich bin müde.

Als er aufwachte, war es schon nach neun. Zwar waren keine Blitze mehr zu sehen und auch kein Donner mehr zu hören, doch das Wetter draußen musste ekelhaft sein. Wer zwang ihn eigentlich aufzustehen? Die beiden alten Narben verursachten ihm Beschwerden, und auch irgendein Zipperlein, unerfreulicher Begleiter des Alters, war zusammen mit ihm wach geworden. Lieber noch ein paar Stunden schlafen. Er stand auf, ging ins Esszimmer, zog den Telefonstecker heraus, legte sich wieder hin, deckte sich zu und schloss die Augen.

Kaum eine halbe Stunde später schlug er sie wieder auf. Grund dafür war das ununterbrochene Schrillen des Telefons. Aber wie zum Teufel konnte es so schrillen, wo er doch sicher war, dass er den Stecker herausgezogen hatte? Wenn es also nicht das Telefon war, woher kam dann das Klingeln? Von der Türglocke natürlich, du Vollidiot! Er hatte das Gefühl, als würde in seinem Kopf so etwas wie Motoröl herumwirbeln, dickflüssig und klebrig. Er entdeckte seine Hose auf dem Boden, zog sie über und ging fluchend die Tür öffnen. Da stand Catarella, ganz außer Atem.

»Ah, Dottori, Dottori …«

»Hör zu, kein Wort, nicht sprechen. Ich sage dir, wann du den Mund aufmachen darfst. Ich leg mich jetzt hin, du gehst in die Küche, machst mir einen starken Espresso, gießt ihn in eine große Tasse, rührst drei Löffelchen Zucker hinein und bringst ihn mir. Und dann erzählst du mir, was du mir zu erzählen hast.«

Als Catarella mit der dampfenden Tasse zu ihm zurückkehrte, musste er ihn wach rütteln. In den zehn Minuten war Montalbano wieder fest eingeschlafen. Was ist eigentlich los?, fragte er sich, während er den Espresso trank, der ihm wie dünne Malzkaffeebrühe vorkam. Heißt es nicht, dass man im Alter für gewöhnlich eher weniger Schlaf braucht? Aber wie kommt es dann, dass ich mehr Schlaf brauche, je älter ich werde?

»Dottori, wie ist der Espresso?«

»Hervorragend, Catarè.«

Und er lief ins Bad, um sich den Mund auszuspülen, sonst hätte er sich übergeben müssen.

»Catarè, ist die Sache dringend?«

»Wie man’s nimmt, Dottori.«

»Dann warte, bis ich geduscht und mir was angezogen habe.«

Frisch und angekleidet ging er in die Küche und machte sich einen Espresso, der diesen Namen verdiente.

Als er wieder im Esszimmer war, fand er Catarella vor der Glastür, die auf die Veranda führte. Er hatte die Fensterläden geöffnet.

Es goss in Strömen. Das Meer war bis unterhalb der Veranda vorgedrungen, die hin und wieder beim Sog einer allzu heftigen Welle ruckelte.

»Darf ich jetzt reden, Dottori?«, fragte Catarella.

»Ja.«

»Dottori, sie haben einen Toten gefunden.«

Na, was für eine Entdeckung! Da musste wohl die Leiche von jemandem wieder aufgetaucht sein, der den weißen Tod gestorben war, wie die Journalisten das nannten, wenn jemand plötzlich spurlos verschwand. Aber warum musste man dem Tod überhaupt eine Farbe geben? Der weiße Tod! Als gäbe es auch einen grünen, einen gelben und so weiter. Wenn man dem Tod wirklich eine Farbe geben wollte, dann konnte es nur Schwarz sein, Pechschwarz.

»Frisch von heute?«

»Das haben sie mir nicht gesagt, Dottori.«

»Und wo hat man ihn gefunden?«

»Auf dem Land, Dottori. Ortsteil Pizzutello.«

Na klar! Eine unwegsame, gottverlassene Gegend voller Geröllfelder und Gestrüpp, wo eine Leiche heimisch werden konnte, ohne jemals entdeckt zu werden.

»Ist schon einer von unseren Leuten hingefahren?«

»Jaja, Dottori. Fazio und Dottori Augello sind schon vor Ort.«

»Und warum bist du dann hergekommen und gehst mir auf die Nerven?«

»Dottori, ich bitte um Verständigung und Vergebnis, aber Dottori Augello hat mich angerufen und mir gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass Ihre Anwesenheit persönlich selbst am Ort unverzichtbar wäre. Und weil das Telefon, das von Ihnen also, nicht geantwortet hat, bin ich mit dem Jippi gekommen, um Sie abzuholen.«

»Warum mit dem Jeep?«

»Weil das Auto nicht an den Ort daselbst gelangen kann, Dottori.«

»Na gut, fahren wir.«

»Dottori, er hat mir auch noch gesagt, ich soll Ihnen sagen, dass es besser ist, wenn Sie Stiefel anziehen und Ihren Kopf mit einem Hut bedecken und einen Regenmantel anziehen.«

Montalbanos von einem Feuerwerk an Flüchen und Verwünschungen begleiteter Gefühlsausbruch ließ Catarella vor Schreck erstarren.

Nichts deutete darauf hin, dass der sintflutartige Regen vorhatte nachzulassen. Sie fuhren praktisch blind, denn die Scheibenwischer schafften es nicht, das Wasser beiseitezuschieben. Außerdem war der letzte Kilometer vor der Stelle, wo man die Leiche gefunden hatte, ein Mittelding zwischen einer Achterbahn und einem gerade stattfindenden Erdbeben der Stärke sieben auf der Richterskala. Die schlechte Laune des Commissario lud sich mit zentnerschwer lastendem Schweigen auf, das Catarella so nervös machte, dass er es fertigbrachte, auch nicht eine einzige der Vertiefungen auszulassen, die der Regen in kleine Seen verwandelt hatte.

»Hast du auch den Rettungsring dabei?«

Catarella antwortete nicht, er wäre am liebsten selbst der Tote gewesen, den sie sich nun anschauen wollten. Montalbanos Magen musste sich irgendwann umgestülpt haben, sodass er wieder den ekelhaften Geschmack der Malzkaffeebrühe im Mund hatte, die Catarella ihm zubereitet hatte.

Endlich hielten sie, der göttlichen Vorsehung sei Dank, neben dem anderen Jeep, mit dem Augello und Fazio gekommen waren. Nur dass weit und breit keine Spur von Augello oder von Fazio oder von irgendeiner Leiche zu sehen war.

»Spielen wir vielleicht Verstecken?«, erkundigte sich Montalbano.

»Dottori, mir wurde gesagt, dass ich anhalten soll, sobald und wenn ich ihren Jippi sehen würde.«

»Mach dich mal bemerkbar.«

»Wie soll ich mich denn bemerkbar machen, Dottori?«

»Wie sollst du dich wohl bemerkbar machen, Catarè? Mit der Klarinette? Oder dem Tenorsaxophon? Hup einfach mal!«

»Die Hupe hupt nicht, Dottori.«

»Dann bedeutet das wohl, dass wir hier bis in die Nacht warten müssen.«

Er zündete sich eine Zigarette an. Als er fertig geraucht hatte, traf Catarella eine Entscheidung.

»Dottori, ich werde sie suchen gehen. Weil der Jippi ja nun da steht, wo er steht, würde ja die Möglichkeit bestehen, dass sie sich möglicherweise ganz nahe hier in der Nähe aufhalten.«

»Nimm meinen Regenmantel.«

»Nein, Dottori, das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil, Dottori, der Regenmantel ein ziviles Kleidungsstück ist, und ich bin in Uniform.«

»Wer sieht dich hier denn schon?«

»Dottori, Uniform bleibt Uniform.«

Er öffnete die Tür, stieg aus, sagte »Ah!« und war weg. Er war so schnell verschwunden, dass Montalbano Angst hatte, Catarella könnte in einen Graben voller Wasser gestürzt sein und würde jetzt ertrinken. Eilig stieg auch er aus, und im Nu schlitterte er auf dem Hintern etwa zehn Meter einen schlammigen Abhang hinunter, an dessen Ende Catarella nun stand und aussah wie eine Skulptur aus frischem Ton.

»Ich hab den Jippi direkt am Rand des Abhangs geparkt und hab es nicht bemerkt, Dottori.«

»Das hab ich verstanden, Catarè. Und wie kommen wir jetzt wieder hoch?«

»Haben Sie gesehen, dass linker Hand ein Weg abgeht, Dottori? Ich gehe vor und Sie folgen mir vorsichtig hinterher, Dottori, denn es ist sehr rutschig.«

Nach fünfzig Metern ging der Weg in eine Rechtskurve über. Der dichte Regen machte auch auf kurze Distanz jede Sicht unmöglich. Plötzlich hörte Montalbano, dass ihn von oben jemand rief.

»Dottore, hier sind wir.«

Er hob den Blick. Fazio stand auf einer Art Anhöhe, zu der man gelangte, wenn man drei in die Erde gegrabene Stufen hochstieg. Er schützte sich mit einem riesigen rot-gelben Regenschirm, wie Schäfer ihn haben. Wo hatte er den nur aufgetrieben? Um die drei Treppen hinaufzusteigen, brauchte Montalbano Catarella, der ihn von hinten schob, und Fazio, der ihn mit der Hand hochzog. Das ist doch nichts mehr für mich, dieses Leben, dachte er bitter. Die Anhöhe war ein winziger Platz vor dem mannshohen Eingang zu einer Grotte. Kaum war der Commissario drinnen, hielt er inne.

In der Grotte war es warm, ein Feuer brannte in einem Kreis aus Steinen, vom Gewölbe hing eine Petroleumlampe herunter, wie man sie an Karren hängt, und spendete ausreichend Licht. Ein Mann um die sechzig mit Pfeife im Mund und Mimì saßen auf Hockern aus Zweigen und spielten Karten auf einem Tischchen, das ebenfalls aus Zweigen geflochten war. Hin und wieder tranken sie einen Schluck Wein aus einer auf dem Boden stehenden Flasche. Eine Schäferidylle. Und das umso mehr, als von der Leiche auch nicht die geringste Spur zu sehen war. Der Sechzigjährige grüßte ihn, Mimì nicht. Seit einem Monat hatte Mimì der gesamten Schöpfung den Krieg erklärt.

»Den Toten hat dieser Herr da entdeckt, der mit Dottor Augello Karten spielt«, sagte Fazio und deutete auf den Mann. »Er heißt Pasquale Ajena, und dieses Stück Land hier gehört ihm. Er kommt jeden Tag her. Und er hat sich die Grotte ein wenig eingerichtet, weil er hier drinnen isst, sich ausruht oder die Landschaft betrachtet.«

»Darf ich die ganz bescheidene Frage äußern, wo zum Teufel der Tote ist?«

»Wie es aussieht, Dottore, befindet er sich ungefähr fünfzig Meter weiter unten.«

»Was soll das heißen ›Wie es aussieht‹? Ihr habt ihn noch nicht gesehen?«

»Nein. Pasquale Ajena hat uns gesagt, dass die Stelle praktisch unerreichbar ist, wenn der Regen nicht aufhört.«

»Aber hier hört der Regen frühestens, allerfrühestens heute Abend auf.«

»In einer Stunde werden die Wolken aufreißen«, schaltete sich Ajena entschieden ein. »Garantiert. Danach sehen wir weiter.«

»Und was machen wir hier so lange?«

»Haben Sie heute Morgen schon etwas gegessen?«, fragte Ajena.

»Nein.«

»Wollen Sie ein Stück frischen Käse mit einer schönen Scheibe Weizenbrot von gestern?«

Montalbano ging auf der Stelle das Herz auf, und ein Hauch von Fröhlichkeit hielt Einzug.

»Warum nicht?«

Ajena stand auf, öffnete einen großen Sack, der an einem Nagel hing, zog ein Stück Brot heraus, einen ganzen Käselaib und eine weitere Flasche Wein. Er schob die Karten beiseite und stellte alles auf das Tischchen. Dann zog er aus einer Hosentasche eine Art Klappmesser, öffnete es und legte es neben das Brot.

»Bedienen Sie sich.«

Das taten sie.

»Wollen Sie mir denn nicht wenigstens sagen, wie Sie die Leiche gefunden haben?«, fragte Montalbano mit vollem Mund.

»Oh nein!«, brach es aus Mimì Augello hervor. »Zuerst muss er das Spiel zu Ende spielen. Ich habe noch kein einziges gewonnen!«

Mimì verlor auch dieses Spiel und wollte seine Revanche und danach eine weitere Revanche. Montalbano, Fazio und Catarella, der sich vor dem Feuer trocknete, verschlangen den Käse, der so unglaublich zart war, dass er auf der Zunge zerging, und tranken die ganze Flasche aus.

So verfloss eine Stunde.

Und dann rissen die Wolken auf, wie Ajena es vorhergesagt hatte.

Zwei

»Er war hier«, sagte Ajena und schaute den Abgrund vor sich hinunter. »Das versteh ich nicht.«

Auf einem schmalen Pfad standen sie Ellbogen an Ellbogen dicht gedrängt nebeneinander. Sie blickten nach unten auf ein steil abfallendes, fast schon schluchtartiges Gelände. Doch eigentlich war es kein Gelände, sondern eine Anhäufung von graufarbigen und gelblichen Tonplatten, die kein Wasser aufnahmen, bedeckt oder, besser gesagt, überzogen von einer Patina, die Rasierschaum von tückischer Konsistenz glich. Es war klar, dass man nur einen Fuß daraufzusetzen brauchte, um dann zwanzig Meter weiter unten zu landen.

»Er war ganz genau hier«, wiederholte Ajena.

Und jetzt war er es nicht mehr. Dieser Tote auf großer Fahrt, dieser Tote auf Wanderschaft.

Während des Abstiegs zu der Stelle, wo Ajena die Leiche entdeckt hatte, war es nicht möglich, auch nur ein Wort zu wechseln, denn sie hatten im Gänsemarsch gehen müssen. Vorneweg Pasquale Ajena, der sich auf einen Schäferstab stützte, hinter ihm Montalbano, der sich mit einer Hand auf seine Schulter stützte, hinter ihm Augello, der sich auf Montalbanos Schulter stützte, und schließlich Fazio, der sich auf Augello stützte.

Montalbano erinnerte sich, etwas Ähnliches auf einem berühmten Gemälde gesehen zu haben. War es Bruegel? Oder Bosch? Doch jetzt war nicht der Augenblick, an Kunst zu denken.

Catarella, der der Letzte nicht nur in der hierarchischen Rangordnung, sondern auch in dieser Reihe war, hatte nicht den Mut, sich auf seinen Vordermann zu stützen, und so rutschte er ein ums andere Mal auf dem Schlamm aus, stieß dann gegen Fazio, der gegen Augello stieß, der gegen Montalbano stieß, der wiederum gegen Ajena stieß, und alle riskierten es, wie die Betrunkenen hinzustürzen.

»Hören Sie, Ajena«, sagte Montalbano nervös. »Sind Sie wirklich sicher, dass das hier die Stelle war?«

»Das alles hier gehört mir, Commissario, und ich komme jeden Tag hierher, bei Regen wie bei Sonnenschein.«

»Wollen wir dann mal reden?«

»Wenn Sie Lust haben zu reden, reden wir«, sagte Ajena und zündete seine Pfeife an.

»Die Leiche befand sich Ihrer Meinung nach hier?«

»Sind Sie taub? Was soll das heißen, meiner Meinung nach? Genau hier hat sie gelegen«, antwortete Ajena und deutete mit der Pfeife auf die ersten Tonplatten, die nur wenig von seinen Füßen entfernt waren.

»Sie lag also im Freien.«

»Sagen wir mal Ja und sagen wir mal Nein.«

»Erklären Sie das genauer.«

»Signor Commissario, hier besteht alles aus Ton, seit jeher heißt dieser Ort hier ›Critaru‹, Tonhang, und daher …«

»Was bringt Ihnen denn so ein Stück Land ein?«

»Ich verkaufe den Ton an die, die daraus Vasen machen, Trinkkrüge, Getreidekrüge …«

»Also gut, erzählen Sie weiter.«

»Na ja, wenn es nicht regnet, und hier regnet es selten, heute ist eine Ausnahme, ist der Ton ganz mit Erde bedeckt, die vom Hang oben herunterrutscht. Man muss etwa vierzig Zentimeter graben, bis man auf den Ton stößt. Hab ich mich deutlich ausgedrückt?«

»Ja.«

»Doch wenn es regnet, wenn es richtig heftig regnet, schwemmt das Wasser die daraufliegende Erde weg, und der Ton kommt zum Vorschein. So war’s heute Morgen: Das Wasser hat die Erde fortgespült und den Toten freigelegt.«

»Sie sagen also, dass die Leiche in der Erdschicht vergraben war und der Regen sie wieder an die Oberfläche gebracht hat?«

»Genau das, mein Herr. Ich bin hier vorbeigekommen, um zur Grotte hinaufzusteigen, und da sah ich den Sack.«

Auf der Stelle erklangen im Chor die Stimmen von Montalbano, Augello, Fazio und sogar von Catarella.

»Was für ein Sack?«

»Ein großer Sack, schwarz, aus Plastik, ein Sack, wie man ihn für den Müll benutzt.«

»Wie konnten Sie sehen, dass da drin eine Leiche war? Haben Sie ihn geöffnet?«

»Den musste man nicht erst öffnen. Der Sack war ein bisschen aufgerissen, und aus dem Loch guckte ein Fuß mit fünf abgehackten Zehen heraus. Eigentlich fand ich es auch schwierig, das als Fuß zu erkennen.«

»Abgehackt, haben Sie gesagt?«

»Abgehackt oder von irgendeinem Hund angefressen.«

»Verstehe. Und was haben Sie dann gemacht?«

»Ich bin weitergegangen und zur Grotte gekommen.«

»Und wie haben Sie dann das Kommissariat angerufen?«, fragte Fazio.

»Mit dem Handy, das ich eingesteckt hatte.«

»Wie spät war es, als Sie den Sack gesehen haben?«, schaltete sich Augello ein.

»Müsste so um sechs heute Morgen gewesen sein.«

»Und Sie haben über eine Stunde gebraucht, um von hier bis zur Grotte zu gelangen und uns anzurufen?«, beharrte Augello.

»Entschuldigen Sie mal, was geht Sie das eigentlich an, wie viel Zeit ich gebraucht habe?«

»Sehr viel geht mich das an!«, versetzte Mimì angriffslustig.

»Wir haben seinen Anruf um zwanzig nach sieben erhalten«, erklärte Fazio ihm. »Eine Stunde und zwanzig Minuten nachdem er den Sack entdeckt hatte.«

»Was haben Sie gemacht? Haben Sie noch schnell jemanden angerufen und ihm gesagt, dass er den Toten abholen soll?«, fragte Augello, der plötzlich wie einer dieser neunmalklugen, mit allen Wassern gewaschenen Detektive aus amerikanischen Filmen auftrat.

Voller Besorgnis wurde Montalbano klar, dass Mimì kein Theater spielte.

»Wieso denn das? Was fällt Ihnen ein? Ich habe mit niemandem geredet!«

»Dann sagen Sie uns doch, was Sie in dieser einen Stunde und zwanzig Minuten gemacht haben.«

Mimì hatte ihn wie ein Tollwütiger angeblafft und ließ nun nicht mehr locker.

»Ich hab darüber nachgedacht.«

»Sie haben eineinhalb Stunden darüber nachgedacht?«

»Jawohl.«

»Worüber?«

»Ob ich anrufen soll oder nicht.«

»Und weshalb?«

»Weil man, wenn man mit euch Bul…, hmm, zu tun hat, immer den Kürzeren zieht.«

»Wollten Sie etwa gerade Bullen sagen?«, fragte Mimì, rot im Gesicht, und holte aus, um ihm einen Faustschlag zu versetzen.

»Lass gut sein, Mimì!«, sagte Montalbano.

»Hören Sie«, fing Augello wieder an, der es darauf anlegte, ihn zu provozieren und einen Streit vom Zaun zu brechen, »wenn man zur Grotte gelangen will, gibt es zwei Wege, einen nach oben und einen nach unten. Richtig?«

»Völlig richtig.«

»Warum haben Sie uns nur den Weg nach unten gezeigt? Damit wir uns das Genick brechen?«

»Weil ihr den Weg nach oben niemals geschafft hättet. Der ist wegen dem Regen nur noch Schlamm und Matsch.«

Man hörte ein dumpfes Donnern. Sie alle blickten zum Himmel auf, die Wolken zogen sich wieder zu statt weiter aufzureißen. Und alle dachten das Gleiche: Wenn die Leiche nicht bald gefunden wurde, würden sie allesamt noch einmal bis auf die Haut nass werden.

»Wie erklären Sie sich, dass die Leiche nicht mehr da ist?«, trat Montalbano dazwischen.

»Tja«, sagte Ajena. »Entweder ist der Sack vom Regen zusammen mit der Erde den Abhang hinuntergespült worden, oder irgendjemand ist gekommen und hat ihn mitgenommen.«

»Ach was!«, sagte Mimì. »Wenn jemand hierhergekommen wäre, um den Sack wieder mitzunehmen, hätte er doch eine Spur im Schlamm hinterlassen! Aber man sieht keine Spur! Nichts!«

»Was soll das denn bitte heißen?«, erwiderte Ajena. »Wie wollen Sie nach all dem Regen noch Spuren finden?«

An diesem Punkt der Diskussion trat Catarella aus einem unerklärlichen Grund einen Schritt vor. Und das war der Beginn seiner zweiten Rutschpartie an diesem Morgen. Er hatte nur einen halben Fuß auf den Ton setzen müssen, um einen Spagat wie ein Kunstrollschuhläufer hinzulegen: einen Fuß auf dem Pfad, den anderen auf einer Tonplatte. Fazio, der neben ihm stand, versuchte noch, ihn schnell zu packen, aber er schaffte es nicht mehr. Im Gegenteil, mit der Bewegung, die er machte, gab er ihm unbeabsichtigt sogar noch einen heftigen Stoß. Daraufhin stand Catarella einen Augenblick mit weit geöffneten Armen da, machte dann eine halbe Drehung, wandte den Rücken ab, und seine beiden Füße glitten nach vorne.

»Ich hab das Gleichgewicht verloren!«, verkündete er der Stadt und dem Erdkreis mit Gebrüll.

Danach stürzte er gewaltig auf seinen Hintern, und so, auf einem unsichtbaren Schlitten sitzend, gewann er an Fahrt. Dabei fiel Montalbano plötzlich wieder eine physikalische Regel ein, die er in der Schule gelernt hatte und die besagte: Motus in fine velocior, die Bewegung wird zum Ende hin schneller.

Dann sahen sie, wie Catarella nach hinten fiel, rücklings ausgestreckt auf dem Ton lag und mit der Geschwindigkeit eines Bobfahrers losraste. Die Fahrt endete zwanzig Meter weiter unten, am Ende des Abhangs, bei einem riesigen Strauch, in den Catarellas Körper zunächst wie ein Geschoss einschlug, um dann zu verschwinden.

Keiner der Zuschauer machte den Mund auf. Alle standen da, als hätte dieses Schauspiel sie mit einem Bann belegt.

»Organisiert Hilfe«, wies Montalbano die anderen nach einer Weile an.

Die ganze Sache war ihm derart an die Nieren gegangen, dass er nicht einmal mehr lachen konnte.

»Wie kann man ihn da unten rausholen?«, fragte Augello Pasquale Ajena.

»Wenn man diesen Pfad hier runtergeht, kommt man in der Nähe von der Stelle raus, wo Ihr Kollege gelandet ist«, antwortete Ajena.

»Dann mal los.«

Doch in diesem Augenblick tauchte Catarella aus dem Strauch auf. Bei der Rutschpartie hatte er Hose und Unterhose verloren und hielt nun schamvoll die Hände vor seine intimsten Teile.

»Was ist los mit dir?«, rief Fazio.

»Nichts. Den Sack mit der Leiche habe ich gefunden. Er ist hier.«

»Gehen wir runter?«, fragte Mimì Augello Montalbano.

»Nein. Wir wissen ja jetzt, wo er ist. Du, Fazio, gehst Catarella entgegen. Du, Mimì, wartest in der Grotte auf sie.«

»Und du?«, fragte Augello.

»Ich nehme den Jeep und fahre zurück nach Marinella. Mir reicht’s.«

»Aber entschuldige mal. Was ist mit der Ermittlung?«

»Welche Ermittlung denn, Mimì? Wenn der Tote frisch gewesen wäre, hätte unsere Anwesenheit vielleicht was gebracht. Aber bei dem da, weiß der Teufel, wann und wo man den umgebracht hat. Wir müssen den Ermittlungsrichter anrufen, den Gerichtsmediziner und die Spurensicherung. Mach das jetzt gleich, Mimì.«

»Aber von Montelusa bis hierher brauchen die doch mindestens, allermindestens zwei Stunden!«

»Und in zwei Stunden wird wieder starker Regen einsetzen«, schaltete sich Ajena ein.

»Umso besser«, sagte Montalbano. »Sollen wir vielleicht die Einzigen sein, die total aufgeweicht werden?«

»Und was mach ich in diesen zwei Stunden?«, fragte Mimì finster.

»Karten spielen.«

Dann, als er sah, dass Ajena weg war, sagte Montalbano:

»Warum hast du Catarella angerufen und ihm gesagt, dass meine Anwesenheit hier unbedingt erforderlich wäre?«

»Weil es mir so vorkam …«

»Mimì, dir kam gar nichts vor. Der einzige Grund, weshalb du mich hierhaben wolltest, war, dass du mir auf den Sack gehen wolltest und ich ebenfalls bis auf die Haut nass werden sollte.«

»Salvo, du hast es doch gerade selbst gesagt: Warum sollten also nur ich und Fazio durchweicht werden, während du noch in der Falle liegst?«

Montalbano wurde klar, wie viel Wut in Mimìs Worten steckte. Das war nicht als Scherz gemeint. Was war nur mit ihm los?

Montalbano fuhr nach Marinella zurück, als es wieder angefangen hatte zu regnen. Die Zeit zum Mittagessen war längst überschritten, zudem hatte der Vormittag an der frischen Luft ihm ordentlich Appetit gemacht. Er ging ins Bad, wechselte den völlig durchnässten Anzug und stürzte in die Küche. Adelina hatte ihm einen Nudelauflauf vorbereitet und als Hauptgericht Kaninchen nach Jägerart. Das machte sie nur ganz selten, doch wenn sie es für ihn kochte, traten ihm vor lauter Freude immer Tränen in die Augen.

Fazio kehrte ins Kommissariat zurück, als es dunkel wurde. Vorher musste er noch zu Hause vorbeigefahren sein, um sich zu waschen und umzuziehen. Doch es war nicht zu übersehen, dass er müde war. Der Tag am Critaru war nicht leicht gewesen.

»Und Mimì?«

»Der ruht sich aus, Dottore. Er hat leicht erhöhte Temperatur.«

»Und was ist mit Catarella?«

»Der hatte mehr als nur leicht erhöhte Temperatur. Mindestens achtunddreißig. Er wollte trotzdem kommen, aber ich habe ihn angewiesen, sich ins Bett zu legen.«

»Habt ihr den Müllsack geborgen?«

»Soll ich Ihnen was sagen, Dottore? Als wir mit der Spurensicherung, dem Ermittlungsrichter, mit Dottor Pasquano und den Bahrenträgern zum Critaru zurückgekehrt sind und es wieder in Strömen regnete, war der Sack nicht mehr in dem Gestrüpp, wo Catarella ihn gesehen hatte, wie er sagte.«

»Ach, was für ein Affentheater mit diesem umtriebigen Toten! Und wo war er dann?«

»Regen und Schlamm hatten ihn zehn Meter weiter runtergespült. Doch der Sack hatte an einer Stelle einen Riss, und so sind ein paar Teile …«

»Teile? Was denn für Teile?«

»Bevor der Tote in den Müllsack gesteckt wurde, ist er zerstückelt worden.«

Dann hatte Ajena doch richtig gesehen: Die Zehen waren abgehackt worden.

»Und was habt ihr gemacht?«

»Wir mussten warten, bis Cocò aus Montelusa eintraf.«

»Cocò? Wer ist das? Kenne ich nicht.«

»Das ist ein Hund, Dottore. Ein unglaublich tüchtiger Spürhund. Er hat fünf Teile gefunden, darunter auch den Kopf, die aus dem Müllsack gerutscht waren und sich überall verteilt hatten. Dann hat Dottor Pasquano gesagt, dass über den Daumen gepeilt alles von dem Toten da sein müsse. Und danach konnten wir endlich zurückfahren.«

»Hast du den Kopf gesehen?«

»Ja, schon, aber das bringt gar nichts. Von dem Gesicht ist nichts mehr übrig. Es wurde völlig zerstört, indem man an die zehn Mal darauf eingeschlagen hatte mit einem Hammer oder einer Keule, jedenfalls mit irgendetwas Schwerem.«

»Man wollte verhindern, dass er gleich erkannt wird.«

»Ganz sicher, Dottore. Denn ich habe auch den Zeigefinger der rechten Hand gesehen, der abgehackt wurde. Man hat die Fingerkuppen verbrannt.«

»Und weißt du, was das bedeutet?«

»Ja, schon, Dottore. Der Tote war als Vorbestrafter erfasst, daher hätte man ihn über seine Fingerabdrücke identifizieren können. Deshalb ist man so vorgegangen.«

»Hat Pasquano herausgefunden, wann er ermordet wurde?«

»Vor mindestens zwei Monaten. Aber er sagt, dass er sich das bei der Obduktion noch genauer anschauen muss.«

»Weißt du, wann er die macht?«

»Morgen früh.«

»Und in den zwei Monaten hat niemand diesen Herrn als vermisst gemeldet?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten, Dottori. Entweder er wurde gemeldet, oder er wurde nicht gemeldet.«

Montalbano sah ihn voller Bewunderung an.

»Bravo, Fazio! Weißt du, wer Signor de La Palisse war?«

»Nein, Dottore. Wer war das?«

»Einer, der kurz vor seinem Tod noch am Leben war.«

»Aber nein, Dottore! Ich war doch noch gar nicht fertig!«

»Dann erzähl weiter, einen Augenblick lang hatte ich schon befürchtet, Catarella hätte dich angesteckt.«

»Ich wollte sagen, dass es durchaus eine Vermisstenanzeige geben kann. Aber da wir nicht wissen, wer der Tote ist …«

»Verstehe. Wir können nichts anderes tun, als bis morgen zu warten und dann zu hören, was Pasquano uns dazu sagen wird.«

In Marinella erwartete ihn das Klingeln des Telefons. Es läutete, während er beim Versuch, die Tür zu öffnen, mit dem Schlüssel im Schloss herumstocherte.

»Ciao, amore, wie geht es dir?«

Es war Livia, und ihre Stimme klang fröhlich.

»Ich hatte einen ziemlich heftigen Vormittag. Und du?«

»Bei mir war’s wunderbar. Ich war gar nicht im Büro.«

»Ach, nein? Und warum nicht?«

»Ich hatte keine Lust. Es war so ein herrlicher Morgen. Arbeiten zu gehen wäre eine Todsünde gewesen. Eine Sonne wie bei euch da unten, mein lieber Salvo.«

»Und was hast du so gemacht?«

»Ich war spazieren.«

»Klar, du kannst dir das ja leisten.«

Es war ihm einfach so herausgerutscht, und Livia verzieh es ihm nicht.