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Sizilianische Sommer sind heiß - und mörderisch, wenn man der Wahrheit zu nahe kommt. Alle machen Urlaub - bis auf Commissario Montalbano. Als er auf der Suche nach einem vermissten Feriengast eine alte Villa durchforstet, macht er eine grauenvolle Entdeckung: In einem Koffer findet er die Leiche einer Frau, die seit Jahren als vermisst gilt. Kurz darauf nimmt eine geheimnisvolle Unbekannte Kontakt zu ihm auf, die der Toten zum Verwechseln ähnlich sieht ...
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Seitenzahl: 291
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Andrea Camilleri, 1925 in dem sizilianischen Küstenstädtchen Porto Empedocle (Provinz Agrigento) geboren, arbeitete lange Jahre als Essayist, Drehbuchautor und Regisseur sowie als Dozent an der Accademia d’arte drammatica Silvio D’Amico in Rom. Dort lebt er mit seiner Frau Rosetta in dem Stadtteil Trastevere im Obergeschoss eines schmucken Palazzo, wobei er seinen Zweitwohnsitz in Porto Empedocle in Sizilien nie aufgegeben hat. Sein literarisches Werk, in dem er sich vornehmlich mit seiner Heimat Sizilien auseinandersetzt, umfasst mehrere historische Romane, darunter »La stagione della caccia«, 1992, »Il birraio di Preston«, 1995, und »La concessione del telefono«, 1998, sowie Kriminalromane. In seinem Heimatland Italien bricht er seit Jahren alle Verkaufsrekorde und hat auch bei uns ein begeistertes Publikum gefunden. Mit den Romanen um den Commissario Salvo Montalbano eroberte er auch die deutschen Leser im Sturm, und seine Hauptfigur gilt inzwischen weltweit als Inbegriff für sizilianische Lebensart, einfallsreiche Kriminalistik und südländischen Charme und Humor.
Andrea Camilleri
Die schwarze Seele des Sommers
Commissario Montalbanoblickt in den Abgrund
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Copyright © 2006 by Sellerio Editore di Elvira Giorganni, Palermo / Italy
Originalverlag: Sellerio Editore, Palermo
Titel der Originalausgabe: LA VAMPA D’AGOSTO
Copyright © 2008 für die deutschsprachige Ausgabe:
Bastei Lübbe AG, Köln
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
Textredaktion: Konstanze Allnach
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-0323-7
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Er schlief so fest, dass ihn nicht einmal Kanonendonner hätte aufwecken können. Das heißt, Kanonendonner zwar nicht, wohl aber das Klingeln des Telefons.
Ein Mensch, der in unseren Tagen in einem zivilisierten Land wie dem unseren (haha!) sein Leben fristet, hält, wenn er mitten im Schlaf Geschützfeuer wahrnimmt, dieses mit Sicherheit für ein Gewitter, für Salven beim Fest des Schutzheiligen oder für Möbelrücken bei den netten jungen Leuten eine Etage höher und schläft wunderbar weiter. Doch das Läuten des Telefons, der Klingelton des Handys, die Türglocke, nein, die nicht, die sind allesamt Klänge von Lockrufen, bei denen der zivilisierte Mensch (haha!) gar nicht anders kann, als aus den Tiefen des Schlafs auf sie zu reagieren und zu antworten.
Und folglich richtete Montalbano sich im Bett auf, sah auf die Uhr, blickte zum Fenster, begriff, dass es sehr heiß werden würde, und ging ins Esszimmer, wo das Telefon wie wild klingelte.
»Salvo, wo warst du denn? Seit einer halben Stunde versuche ich dich zu erreichen!«
»’tschuldige, Livia, ich war unter der Dusche und hab nichts gehört.«
Erste Lüge des Tages.
Wieso hatte er gelogen? Weil er sich schämte, Livia zu sagen, dass er noch geschlafen hatte, oder weil er nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte, wenn er ihr sagte, dass er von diesem Anruf aufgeweckt worden war? Wer weiß.
»Hast du dir die Villetta angesehen?«
»Also wirklich, Livia! Es ist doch gerade mal acht Uhr!«
»Tut mir leid, aber ich würde einfach so gern wissen, ob sie überhaupt in Frage kommt …«
Die Sache hatte vor zwei Wochen angefangen, als er sich genötigt sah, Livia mitzuteilen, dass er in der ersten Augusthälfte, anders als geplant, nicht von Vigàta wegkonnte, weil Mimì Augello wegen irgendwelcher Probleme, die bei seinen Schwiegereltern aufgetreten waren, seinen Urlaub früher nehmen musste. Das wirkte sich dann aber doch nicht so verheerend aus, wie er befürchtet hatte. Livia mochte Beba, Mimìs Frau, und auch Mimì selbst. Sie hatte zwar ein bisschen herumgequengelt, das schon, aber Montalbano war überzeugt, dass die Angelegenheit damit erledigt war. Doch er irrte sich, und zwar gründlich. Während des Telefongesprächs am folgenden Abend war Livia nämlich ganz unerwartet mit einem Plan herausgerückt.
»Such ganz schnell ein Haus, zwei Schlafzimmer und ein Wohnzimmer, direkt am Meer, irgendwo da in der Gegend.«
»Ich versteh nicht recht. Müssen wir etwa von Marinella wegziehen?«
»Wie dumm du dich doch anstellst, Salvo, wenn du den Dummen spielst! Ich hab von einem Haus für Laura, ihren Mann und ihr Kind geredet.«
Laura war Livias beste Freundin und engste Vertraute in allen Lebenslagen.
»Kommen sie her?«
»Ja. Hast du was dagegen?«
»Überhaupt nichts, du weißt doch, dass ich Laura und ihren Mann sympathisch finde, allerdings …«
»Erklär mir dieses ›allerdings‹.«
Mein Gott, wie viel Aufhebens!
»Ich dachte nur, dass wir endlich mal ein bisschen mehr Zeit für uns allein haben würden und …«
»Hahaha!«
Ein Lachen wie das von der bösen Stiefmutter in »Schneewittchen und die sieben Zwerge«.
»Und was soll jetzt dieses Lachen?«
»Weil du doch genau weißt, dass lediglich ich es bin, die hier Zeit für sich allein hat, verstehst du, während du dich den ganzen Tag und vielleicht auch noch die Nacht im Kommissariat hinter dem neuesten Mordfall verschanzt!«
»Ach, komm schon, Livia! Hier, im August, bei dieser Hitze, warten auch die Mörder ab, bis es Herbst wird.«
»Soll das ein Witz sein? Soll ich jetzt lachen?«
Und so hatte die lange Suche nach einem Haus begonnen, unterstützt durch die wenig zielführende Hilfe von Catarella.
»Dottori, ich hätte da eine Wohnung gefunden, wie Sie eine suchen, im Ortsteil Pezzodipane.«
»Aber der Ortsteil Pezzodipane liegt doch zehn Kilometer vom Meer entfernt!«
»Das stimmt zwar, aber dafür gibt’s da einen künstlichen See.«
Oder:
»Livia, ich hätte da eine wirklich hübsche kleine Wohnung in einer Art Wohnanlage, die liegt dort, wo …«
»Kleine Wohnung? Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, ein Haus!«
»Ist eine kleine Wohnung denn nicht auch ein Haus? Und wenn nicht, was ist es denn dann? Etwa ein Zelt?«
»Nein, eine Wohnung ist kein Haus. Ihr Sizilianer stiftet ständig Verwirrung und nennt eine Wohnung Haus, während ich ein Haus meine, wenn ich Haus sage. Muss ich mich noch deutlicher ausdrücken? Du sollst eine Villetta für eine Familie suchen.«
In den Maklerbüros in Vigàta hatte man ihn ausgelacht.
»Und Sie erwarten, dass Sie heute, am 16. Juli, noch für Anfang August eine Villetta am Meer finden? Die sind doch alle längst vermietet!«
Man sagte ihm, er solle seine Telefonnummer dalassen: Falls zufällig irgendjemand im letzten Augenblick absage, würde man ihn benachrichtigen. Und das Wunder geschah genau zu dem Zeitpunkt, als er schon alle Hoffnung aufgegeben hatte.
»Hallo, Dottor Montalbano? Hier ist das Maklerbüro Aurora. Gerade ist eine Villetta, wie Sie sie suchen, frei geworden. Sie befindet sich in Marina di Montereale, Ortsteil Pizzo. Aber Sie müssten umgehend vorbeikommen, wir schließen nämlich gleich.«
Er hatte ein Verhör mittendrin abgebrochen und war davongestürzt. Auf den Fotos wirkte die Villetta genau so, wie Livia sie sich vorstellte. Mit Signor Callara, dem Inhaber des Maklerbüros, war er so verblieben, dass dieser am nächsten Morgen gegen neun bei ihm vorbeikommen und ihn abholen würde, damit er die Villetta besichtigen konnte, die in der Gegend von Montereale stand, keine zehn Kilometer von Marinella entfernt.
Montalbano dachte daran, dass zehn Kilometer Straße nach Montereale im Hochsommer sowohl fünf Minuten Autofahrt wie auch zwei Stunden bedeuten konnten, je nach Verkehr. Na, dann war’s eben so, Livia und Laura mussten sich mit dem zufriedengeben, was noch verfügbar war, friss, Vogel, oder stirb.
Kaum im Auto, fing Signor Callara an zu reden und hörte gar nicht mehr auf. Er begann bei der jüngsten Geschichte des Hauses, erzählte, wie und warum die Villetta an einen gewissen Jacolino vermietet worden war, einen Angestellten aus Cremona, der die reguläre Kaution bezahlt hatte. Doch genau am Abend zuvor hatte dieser Jacolino im Büro angerufen und gesagt, dass die Mutter seiner Frau einen Unfall hatte, weshalb sie nicht mehr von Cremona wegkonnten. Und daher habe man vom Maklerbüro aus ihn, Montalbano, angerufen.
Danach ging Signor Callara zur Vergangenheitsaufarbeitung über und erzählte in allen Einzelheiten, wie und warum die Villetta erbaut worden war. Ungefähr vor sechs Jahren hatte ein aus Montereale stammender Siebzigjähriger namens Angelo Speciale, der aber sein ganzes Leben in Deutschland gearbeitet hatte, sich entschlossen, diese Villetta für sich bauen zu lassen, um dort nach der Rückkehr in seinen Geburtsort mit seiner Frau den Lebensabend zu verbringen. Diese deutsche Frau, die Gudrun hieß, war vorher Witwe und hatte einen Sohn namens Ralf. Klar? Klar. Angelo Speciale, der in Begleitung seines Stiefsohns Ralf nach Montereale gekommen war, hatte einen ganzen Monat lang nach dem richtigen Bauplatz gesucht, ihn dann gefunden, ihn gekauft, sich vom Landvermesser Spitaleri den Bauplan ausarbeiten lassen und über ein Jahr darauf gewartet, dass der Bau fertig wurde. Ralf war immer bei ihm gewesen.
Anschließend waren sie nach Deutschland zurückgekehrt, um die Möbel und alles Übrige nach Montereale zu verfrachten. Doch dann hatte sich etwas Eigentümliches ereignet. Weil Angelo Speciale nicht gerne flog, reisten sie mit dem Zug. Als der in den Kölner Bahnhof einfuhr, suchte Signor Speciale jedoch vergeblich nach seinem Stiefsohn, der im Bett über ihm mitgereist war. Im Abteil befand sich zwar Ralfs Koffer, doch von ihm selbst keine Spur. Der Schlafwagenschaffner sagte, er habe ihn an den vorherigen Bahnhöfen nicht aussteigen sehen. Kurz gesagt: Ralf war verschwunden.
»Hat man ihn dann wiedergefunden?«
»Ach, woher denn, Dottore mio! Von dem jungen Mann hat man seitdem nie wieder etwas gehört.«
»Aber Signor Speciale ist dann doch dort eingezogen?«
»Nein, das ist ja das Verrückte! Dazu kam es gar nicht! Kaum einen Monat nach seiner Rückkehr nach Köln ist der arme Signor Speciale die Treppe runtergefallen, verletzte sich am Kopf und starb, der Unglückselige.«
»Und Signora Gudrun, die nun zweifache Witwe, hat die dann hier gewohnt?«
»Was sollte sie denn hier, die Arme, ohne Mann und ohne Sohn? Sie rief uns vor drei Jahren an und sagte uns, wir sollten die Villetta für sie vermieten. Und seit drei Jahren vermieten wir sie, allerdings nur im Sommer.«
»Und das restliche Jahr über nicht?«
»Zu abgeschieden, Dottore. Sie werden es ja selbst sehen.«
Es war wirklich abgeschieden. Man gelangte dorthin, indem man von der Provinzialstraße auf einen ansteigenden Weg abbog, an dem nur ein rustikales Häuschen, ein weiteres, noch rustikaleres Häuschen und am Ende schließlich die Villetta standen. Es war ein von der Sonne verbrannter Landstrich, auf dem es fast keine Bäume und Sträucher gab. Doch wenn man zur Villetta kam, die auf einer Art Anhöhe ziemlich weit oben stand, veränderte sich der Ausblick schlagartig. Welche Pracht! Unterhalb, rechts und links, lag der goldene Strand, auf dem vereinzelt ein paar Sonnenschirme aufgestellt waren, und vor den Augen erstreckte sich ein klares Meer, endlos und einladend. Die Villetta, die ganz ebenerdig gebaut war, hatte wie gewünscht zwei Schlafzimmer, ein großes mit Ehebett und ein kleineres mit einem kleinen Bett, und ein Wohnzimmer mit großen Fenstern, von denen aus man nur Himmel und Meer sah. Auch ein Fernsehgerät gab es darin. Die Küche war geräumig und mit einem riesigen Kühlschrank ausgestattet. Und es gab zwei Bäder. Dazu eine Terrasse, die nicht mit Gold aufzuwiegen war, wie geschaffen, um dort zu Abend zu essen.
»Einverstanden«, sagte der Commissario. »Wie viel kostet sie?«
»Sehen Sie, Dottore, eigentlich vermieten wir solche Häuser nicht für zwei Wochen, aber weil Sie es sind …«
Und dann nannte er eine Summe, bei der einen der Schlag treffen konnte. Montalbano ließ sich nicht aus der Fassung bringen, immerhin war Laura ziemlich reich und mochte auf diese Art dazu beitragen, die Armut des Südens ein wenig zu lindern.
»Einverstanden«, sagte er ein weiteres Mal.
Angesichts der Tatsache, dass die Dinge so gut liefen, beschloss Signor Callara, noch einmal nachzulegen.
»Natürlich wären da zusätzlich …«
»Natürlich wären da zusätzlich keine weiteren Kosten«, sagte Montalbano, der sich nicht für dumm verkaufen lassen wollte.
»Einverstanden, einverstanden.«
»Wie kommt man zum Strand runter?«
»Schauen Sie, Sie gehen durch das Törchen an der Terrasse, und zehn Meter weiter beginnt eine Treppe aus Tuffstein, die Sie nach unten führt. Es sind fünfzig Stufen.«
»Würden Sie eine halbe Stunde auf mich warten?«
Signor Callara sah ihn verwirrt an.
»Wenn’s denn wirklich nur eine halbe Stunde ist …«
Einmal ausgiebig in diesem Meer zu schwimmen, das ihn geradezu aufzufordern schien, das hatte Montalbano vom ersten Augenblick an im Sinn gehabt, in dem er es gesehen hatte. Und das tat er nun in der Unterhose.
Während seiner Rückkehr über die fünfzig Stufen, die er hochsteigen musste, hatte die Sonne ihn bereits getrocknet.
Am Morgen des 1. August fuhr Montalbano zum Flughafen von Punta Raisi, um Livia, Laura und ihren dreijährigen Sohn Bruno abzuholen. Guido dagegen, Lauras Mann, wollte mit allem Gepäck im Autoreisezug kommen. Bruno war ein Kind, das keine zwei Minuten still sitzen konnte. Laura und Guido waren ein bisschen besorgt darüber, dass der Kleine nicht sprach und nur über Gesten kommunizierte. Er kritzelte nicht mal was, wie alle Kinder seines Alters, doch dafür verstand er es meisterhaft, der gesamten Schöpfung gehörig auf die Nerven zu gehen.
Sie fuhren nach Marinella, wo Adelina bereits das Mittagessen für die ganze Gesellschaft vorbereitet hatte. Doch die Haushälterin war, als sie eintrafen, nicht mehr da, und Montalbano wusste, dass er sie während der zwei Wochen, die Livia in Marinella war, auch nicht mehr zu Gesicht bekommen würde. Livia empfand Adelina gegenüber eine tiefe und obendrein voll und ganz erwiderte Abneigung.
Guido tauchte gegen eins auf. Sie aßen zusammen, und gleich darauf setzte Montalbano sich mit Livia ins Auto, um den Lotsen für Guidos Auto zu spielen, in dem seine ganze Familie saß. Als Laura die Villetta sah, war sie derartig begeistert, dass sie Montalbano um den Hals fiel und ihn küsste. Auch Bruno gab durch Zeichen zu verstehen, dass er vom Commissario auf den Arm genommen werden wollte. Und kaum war er in Höhe seines Gesichts, spuckte der Kleine ihm das Bonbon, das er gerade lutschte, ins Auge.
Sie verabredeten, dass Livia am nächsten Vormittag Laura mit Salvos Auto besuchen würde, um den ganzen Tag zu bleiben, und er würde sich von einem Dienstwagen abholen lassen.
Abends, nach der Arbeit im Kommissariat, würde Salvo sich nach Pizzo bringen lassen und mit den anderen entscheiden, wohin sie zum Essen gehen wollten.
Für Montalbano war diese Lösung hervorragend, weil er auf diese Weise mittags in Enzos Trattoria genüsslich all das vertilgen konnte, was er gerne mochte.
Die Probleme in der Villetta in Pizzo fingen bereits am Vormittag des dritten Tages an. Livia, die zu ihrer Freundin gefahren war, fand alles in einem chaotischen Zustand vor: Die Kleider waren aus dem Schrank gezogen und auf die Terrassenstühle gelegt, die Matratzen an die Wand unter den Schlafzimmerfenstern gelehnt, die Küchenutensilien auf den kleinen Vorplatz vor der Eingangstür geworfen worden. Bruno, der nackt war, hielt den Gartenschlauch in der Hand und sorgte dafür, dass die Anziehsachen, die Matratzen und Betttücher tüchtig durchgeweicht wurden. Er versuchte auch, Livia vollzuspritzen, sobald er sie auftauchen sah, doch Livia, die ihn gut genug kannte, wich ihm geschickt aus. Laura lag ausgestreckt auf einem Liegestuhl neben der Terrassenmauer und hatte die Stirn mit einem feuchten Tuch bedeckt.
»Was ist denn hier los?«
»Warst du schon im Haus?«
»Nein.«
»Sieh es dir von der Terrasse aus an, geh bloß nicht hinein.«
Als Erstes bemerkte Livia, dass der Fußboden beinahe schwarz geworden war.
Als Zweites bemerkte sie, dass der Fußboden sich bewegte, und zwar in alle Richtungen.
Danach bemerkte sie nichts mehr, weil sie begriffen hatte, was da vor sich ging. Sie stieß einen gewaltigen Schrei aus und flüchtete von der Terrasse.
»Das sind ja Tausende von Schaben!«
»Heute, ganz früh am Morgen«, sagte Laura, der es die Luft abschnürte, mühevoll, »bin ich wach geworden und in die Küche gegangen, um ein Glas Wasser zu trinken. Da habe ich sie gesehen, allerdings waren es da noch nicht so viele … Ich habe Guido geweckt, wir haben versucht, in Sicherheit zu bringen, was wir konnten, aber dann ging’s einfach nicht mehr. Sie kamen aus einer Ritze im Wohnzimmerfußboden …«
»Und wo ist Guido jetzt?«
»Er ist nach Montereale gefahren und hat mit dem Bürgermeister gesprochen, der sehr zuvorkommend war. Er wird jeden Augenblick zurück sein.«
»Aber warum hat er denn nicht Salvo angerufen?«
»Er hat gesagt, er fände es nicht angemessen, wegen einer Schabeninvasion gleich die Polizei zu rufen.«
Eine Viertelstunde später kehrte Guido zurück, gefolgt von einem Auto der Gemeindeverwaltung mit vier Müllmännern, die mit Sprühflaschen und Besen bewaffnet waren.
Livia nahm Laura und Bruno mit nach Marinella, während Guido in Pizzo blieb, um die Schädlingsvernichtung und die Säuberungsarbeiten im Haus zu koordinieren. Um vier Uhr nachmittags tauchte auch er in Marinella auf.
»Sie sind genau durch diese Ritze im Fußboden gekrochen. Wir haben zwei ganze Flaschen da hineingesprüht und sie dann zugemauert.«
»Hoffentlich gibt’s nicht noch andere Ritzen«, sagte Laura, die nicht besonders überzeugt zu sein schien.
»Sei ganz beruhigt, wir haben überall genau nachgesehen«, sagte Guido im Brustton der Überzeugung. »Das wird nicht mehr vorkommen. Wir können ganz beruhigt nach Hause fahren.«
»Aber weshalb sind sie nur da rausgekrochen …«, warf Livia ein.
»Einer von diesen Herren hat mir erklärt, dass die Villetta gestern Nacht eine unmerkliche Absenkung erfahren haben muss, die diese Öffnung zur Folge hatte. Und so sind die Schaben, die sich unter der Erde befanden, nach oben gewandert, weil sie der Geruch der Nahrungsmittel, unsere Anwesenheit oder wer weiß was sonst angezogen hat.«
Am fünften Tag kam es zur zweiten Invasion. Doch diesmal waren es keine Schaben, sondern winzige Mäuse. Als Laura aufstand, sah sie im gesamten Haus an die fünfzehn, sie waren ganz klein, sogar richtig niedlich. Sie schossen rasend schnell zur Fenstertür der Terrasse hinaus, sobald sie sich bewegte. In der Küche fand sie zwei weitere, die Brotkrumen fraßen. Doch anders als die meisten Frauen hatte Laura keine besondere Angst vor Mäusen. Guido rief wieder den Bürgermeister an, fuhr nach Montereale und kehrte mit zwei Mausefallen zurück, hundert Gramm pikantem Käse und einem freundlichen und geduldigen roten Kater, der nicht einmal dann aggressiv wurde, als Bruno versuchte, ihm ein Auge auszureißen.
»Aber wie kommt es nur, dass nach den Schaben jetzt auch noch die Mäuse herauskommen?«, fragte Livia Montalbano, als sie sich gerade hingelegt hatten.
Montalbano hatte keine Lust, über Mäuse zu reden, denn Livia lag nackt neben ihm.
»Tja, weißt du, dieses Haus war ein Jahr lang unbewohnt, und daher …«, lautete seine etwas vage Antwort.
»Vielleicht hätte man es mal putzen, durchfegen und desinfizieren müssen, bevor Laura dort eingezogen ist …«, sagte Livia.
»Das könnte ich jetzt auch gut gebrauchen«, unterbrach Montalbano sie.
»Was?«, fragte Laura irritiert.
»Das Zweite, was du genannt hast.«
Und er umarmte sie.
Am achten Tag fand die dritte Invasion statt. Wieder war es Laura, die als Erste aufstand und den Vorfall bemerkte. Sie sah etwas aus den Augenwinkeln, machte auf der Stelle einen Satz in die Luft, und ohne zu wissen, wieso und weshalb, fiel sie wieder gerade auf den Küchentisch zurück und kniff die Augen fest zusammen. Dann, als sie sich hinreichend sicher fühlte, öffnete sie sie wieder, zitternd und schwitzend, und blickte auf den Fußboden.
Dort spazierten ganz gemächlich an die dreißig Spinnen vorüber, die wie eine repräsentative Auswahl ihrer Gattung aussahen: Eine war flach und behaart, eine andere bestand lediglich aus einem kugelförmigen Kopf auf unendlich langen Beinen wie die einer Katze, eine dritte war rötlich und groß wie eine Krabbe, eine vierte glich haargenau der Schwarzen Witwe …
Laura, die von den Schaben nicht besonders beeindruckt gewesen war und sich auch vor den Mäusen nicht geekelt hatte, verlor den Verstand, sobald sie eine Spinne sah.
Sie litt an dem, was man mit dem schwierig auszusprechenden Wort Arachnophobie bezeichnet, oder einfach ausgedrückt: an einer sich jeder Vernunft entziehenden, unkontrollierbaren Angst vor Spinnen.
So kam es, dass sie, während sich ihr die Haare sträubten, einen gewaltigen Schrei ausstieß und ohnmächtig vom Tisch zu Boden fiel.
Im Fallen schlug sie mit dem Kopf auf, der sofort anfing zu bluten.
Guido war schlagartig wach, stand eilig auf und stürzte seiner Frau zu Hilfe. Doch er hatte Ruggero – so hieß der Kater – nicht bemerkt, der aus der Küche gerannt war, weil ihn zuerst Lauras Schrei und dann ihr Sturz erschreckt hatten.
Jedenfalls war es so, dass Guido waagerecht über den Fußboden schlitterte, bis sein Kopf einem Prellbock gleich am Kühlschrank aufschlug.
Als Livia wie üblich vorbeikam, um mit ihren Freunden zum Baden zu gehen, fand sie sich in einem Feldlazarett wieder.
Laura und Guido hatten beide einen verbundenen Kopf. Bruno hingegen hatte den linken Fuß bandagiert, weil er, als er aus dem Bett kletterte, das Wasserglas vom Nachttisch gestoßen hatte und dann in die Scherben des zerbrochenen Glases getappt war. Sprachlos vor Entsetzen bemerkte Livia, dass auch Ruggero, der Kater, ein bisschen humpelte, was eine Folge des Zusammenpralls mit Guido war.
Endlich kam die bereits bekannte Mannschaft der Müllmänner an. Geschickt hatte sie der Bürgermeister, der inzwischen ein Freund der Familie geworden war. Während Guido die Arbeiten beaufsichtigte, erklärte die noch immer verstört wirkende Laura Livia leise:
»Dieses Haus mag uns nicht.«
»Aber nicht doch! Ein Haus ist ein Haus, es kann einen weder mögen noch nicht mögen.«
»Ich sage dir, dieses Haus mag uns nicht!«
»Hör auf damit!«
»Dieses Haus ist verhext!«, beharrte Laura mit glänzenden Augen, als ob sie Fieber hätte.
»Laura, ich bitte dich, red nicht so einen Unsinn. Ich verstehe ja, dass dir die Nerven durchgegangen sind, aber …«
»Weißt du, ich denke gerade wieder an all die Filme, die ich über verfluchte Häuser gesehen habe, über Häuser, die von höllischen Geistern bewohnt waren.«
»Aber das sind doch alles Fantastereien!«
»Wirst schon noch sehen, dass ich recht habe.«
Am Morgen des neunten Tages fing es heftig an zu regnen. Livia und Laura gingen ins Museum von Montelusa, Guido wurde vom Bürgermeister eingeladen, das Salzbergwerk zu besuchen, wohin er auch Bruno mitnahm. In der Nacht regnete es noch stärker.
Am Vormittag des zehnten Tages goss es wie aus Kübeln. Laura rief Livia an und sagte ihr, sie und Guido würden mit Bruno ins Krankenhaus fahren, weil eine der Schnittwunden am Fuß anfing zu eitern. Livia entschloss sich, diese Situation dazu zu nutzen, Ordnung in Salvos Sachen zu bringen. Am späten Abend hörte der Regen auf, und alle waren überzeugt, dass der folgende Tag klar und heiß sein würde, ein idealer Tag zum Schwimmen.
Ihre Vorhersage hatte sich bewahrheitet. Das Meer verlor das Grau und gewann wieder seine Farben zurück; der Sand, der noch nass war, hatte eine bräunliche Tönung, doch innerhalb von zwei Stunden würde die Sonne ihn wieder golden werden lassen. Vielleicht war das Wasser ein kleines bisschen frisch, doch zum Mittag würde es bei der Hitze, die schon morgens um sieben herrschte, zur warmen Brühe werden. Das war genau die Temperatur, die Livia mochte, während sie bei Montalbano nur Ekel hervorrief. Er hatte dann nämlich das Gefühl, als würde er in die Wanne eines Thermalbads steigen, und hinterher, wenn er wieder herauskam, fühlte er sich saft- und kraftlos.
Um halb zehn kam Livia nach Pizzo und erfuhr, dass der frühe Vormittag normal verlaufen war, sie hatten weder Schaben noch Mäuse, noch Spinnen gesichtet. Laura, Guido und Bruno waren bereit, zum Strand hinunterzugehen.
Sie gingen durch das Törchen an der Terrasse, als sie das Telefon klingeln hörten. Guido, der Ingenieur in einem auf Brückenbau spezialisierten Unternehmen war, erhielt seit zwei Tagen telefonische Rückfragen aus Genua wegen eines Problems, das er Montalbano zu erklären versucht hatte, obwohl es sich dessen Verständnis entzog. Daher sagte er:
»Geht schon voraus, ich komme nach.«
Und er ging ins Haus, um den Anruf entgegenzunehmen. »Ich muss dringend noch mal auf die Toilette«, sagte Laura zu Livia.
Und auch sie ging hinein, gefolgt von Livia. Denn bekanntermaßen ist Pipimachen ansteckend, es genügt, wenn einer muss, dann müssen im Nu auch alle anderen. Livia ging ins andere Bad.
Als alle fertig waren, fanden sie sich wieder auf der Terrasse ein. Guido verschloss die Glastür, und sie gingen los. Er verriegelte das Törchen und nahm den Sonnenschirm, denn er war der Mann, daher musste er ihn tragen. Sie wandten sich zur Tufftreppe, die zum Strand hinunterführte. Doch bevor sie hinabstiegen, blickte Laura sich um und fragte dann:
»Wo ist denn Bruno?«
»Vielleicht ist er schon alleine hinuntergeklettert«, sagte Livia.
»Oh mein Gott, das kann Bruno doch gar nicht alleine, ich muss ihn immer an der Hand halten!«, sagte Laura leicht beunruhigt.
Sie beugten sich vor, um nachzuschauen. Von dort aus sah man zwanzig Stufen, dann machte die Treppe eine Biegung. Bruno war nicht zu sehen.
»Es ist unmöglich, dass er weiter gekommen ist«, sagte Guido.
»Geh und sieh nach, ich fleh dich an! Vielleicht ist er hingefallen!«, sagte Laura, die langsam nervös wurde.
Unter Lauras und Livias Blicken stieg Guido eilig hinunter, verschwand hinter der Biegung und erschien keine fünf Minuten später erneut an der Kurve.
»Ich bin die ganze Treppe hinuntergegangen. Da ist er nicht. Geht ins Haus und sucht ihn, vielleicht haben wir ihn ja eingeschlossen«, rief er und keuchte schwer.
»Wie sollen wir das machen? Du hast doch die Schlüssel!«, sagte Laura.
Guido, der sich weiteres Steigen gern erspart hätte, kam fluchend herauf, schloss das Törchen und die Glastür auf. Und sofort schallte es im Chor:
»Bruno! Bruno!«
»Dieser Bengel bringt es fertig, sich einen Tag lang unter einem Bett zu verstecken, nur um uns zu ärgern«, sagte Guido, dem allmählich der Geduldsfaden riss.
Sie suchten im ganzen Haus nach ihm, unter den Betten, im Kleiderschrank, auf dem Kleiderschrank, unter dem Kleiderschrank, in der Besenkammer, nichts. Und Livia sagte irgendwann:
»Und von Ruggero ist auch nichts zu sehen.«
Das stimmte. Der Kater, der ihnen sonst immer zwischen den Beinen herumstrich, wie Guido genau wusste, schien ebenfalls verschwunden zu sein.
»Wenn wir nach ihm rufen, kommt Ruggero in aller Regel oder er miaut. Vielleicht sollten wir ihn auch rufen«, sagte Guido.
Das war ein logischer Gedanke: Weil der Kleine noch nicht sprach, war der Einzige, der irgendwie antworten konnte, der Kater.
»Ruggero! Ruggero!«
Keinerlei Katzenantwort.
»Dann muss Bruno draußen sein«, sagte Laura.
Sie gingen hinaus und suchten rings ums Haus alles ab und kontrollierten auch das Innere der beiden geparkten Autos. Nichts.
»Bruno! Ruggero! Bruno! Ruggero!«
»Vielleicht ist er die kleine Straße entlanggegangen, die zur Provinzialstraße führt«, gab Livia zu bedenken.
Lauras Reaktion folgte auf der Stelle.
»Aber wenn er bis dahin kommt … Oh mein Gott, der Verkehr da ist doch ungeheuerlich!«
Daraufhin stieg Guido ins Auto, fuhr im Schritttempo die kleine Straße in Richtung Provinzialstraße hinunter und schaute nach rechts und nach links. Er kam bis zur Einmündung in die andere Straße, kehrte um und sah, dass jetzt vor der Tür des rustikalen Häuschens ein alter Mann saß, nachlässig gekleidet, mit einer schmutzstarrenden Schiebermütze auf dem Kopf. Er blickte derart konzentriert auf die Erde, dass es aussah, als würde er Ameisen zählen.
Guido hielt an und beugte sich zum Fenster hinaus.
»Ach, bitte …«
»Heh?«, sagte der Mann, als er den Kopf hob und blinzelte, wie jemand, der gerade aufwachte.
»Haben Sie zufällig einen kleinen Jungen vorbeikommen sehen?«
»Wen?«
»Ein Kind von drei Jahren.«
»Wieso?«
Was ist das denn für eine dämliche Frage?, dachte Guido, dessen Nervenkostüm inzwischen einigermaßen strapaziert war. Aber er antwortete:
»Wir finden ihn nicht mehr.«
»Au je!«, sagte der alte Mann und machte ein besorgtes Gesicht, ehe er sich anschickte, ins Haus zu gehen.
Guido war völlig perplex.
»Was bedeutet das Au je, bitte?«
»Au je bedeutet au je und sonst nichts. Ich hab diesen kleinen Jungen nicht gesehen, und überhaupt weiß ich gar nichts und will über diese Sache auch nichts wissen«, sagte der Mann resolut, ging ins Haus und schloss die Tür. »Oh nein! Hören Sie!«, sagte Guido wütend. »Das ist doch keine Art zu antworten! Sie sind ein Flegel!«
Er war in der Stimmung, einen Streit vom Zaun zu brechen und ein bisschen Dampf abzulassen. Er stieg aus dem Wagen, ging zu dem Häuschen und klopfte an die Tür. Er trat gegen sie, doch das nutzte gar nichts, die Tür blieb zu. Fluchend stieg er wieder in den Wagen, fuhr los, kam an dem anderen Haus vorbei, das freundlicher aussah, offenbar war es unbewohnt, fuhr weiter und kehrte dann zur Villetta zurück.
»Nichts?«
»Nichts.«
Laura umarmte Livia und fing an zu weinen.
»Habt ihr’s nun gesehen? Hab ich euch nicht gesagt, dass das hier ein verfluchtes Haus ist?«
»Nimm dich zusammen, Laura, ich bitte dich!«, sagte ihr Mann.
Das Einzige, was er damit erreichte, war, dass Laura noch heftiger weinte.
»Was können wir tun?«, fragte Livia.
Guido traf eine Entscheidung.
»Ich rufe Emilio an, den Bürgermeister.«
»Wieso ausgerechnet den Bürgermeister?«
»Ich lasse mir die Mannschaft schicken. Oder irgendeinen Polizisten. Je mehr es sind, die ihn suchen, umso besser. Meinst du nicht?«
»Warte. Ist es nicht besser, wenn wir Salvo anrufen?«
»Vielleicht hast du recht.«
Ungefähr zwanzig Minuten später traf Montalbano mit einem von Gallo chauffierten Dienstwagen ein, der eine Fahrt hingelegt hatte, die eines Indianapolis-Rennens würdig war.
Als der Commissario aus dem Wagen stieg, wirkte er leicht mitgenommen und vergrätzt, aber so sah er immer aus, wenn er mit Gallo im Auto gefahren war.
Livia, Guido und Laura erzählten ihm die Geschichte alle gleichzeitig, sodass es Montalbano unglaublich viel Konzentration kostete, überhaupt etwas zu verstehen. Dann hielten sie inne und warteten auf seine erlösenden Worte, und das in der gleichen Haltung wie jemand, der mit einem Gnadenbeweis der Madonna von Lourdes rechnet.
»Könnte ich ein Glas Wasser haben?«, lautete dagegen die heiß ersehnte Antwort.
Er musste erst wieder zu sich kommen, sowohl wegen der großen Hitze als auch wegen Gallos tollkühner Fahrerei. Während Guido das Wasser für ihn holte, sahen die beiden Frauen ihn enttäuscht an.
»Wo könnte er deiner Ansicht nach stecken?«, fragte Livia.
»Woher soll ich das wissen, Livia? Schließlich bin ich kein Zauberer! Jetzt schauen wir mal, beruhigt euch, die ganze Aufregung bringt mich völlig durcheinander.«
Guido brachte ihm das Wasser. Montalbano trank es aus. »Könnt ihr mir erklären, was wir hier draußen tun, in dieser Hitze?«, fragte er. »Sollen wir etwa alle einen Sonnenstich bekommen? Lasst uns doch reingehen. Du kommst auch mit, Gallo.«
Gallo stieg aus dem Auto, und alle folgten Montalbano gehorsam.
Doch kaum waren sie im Wohnzimmer, verlor Laura, wer weiß, warum, von einem Augenblick auf den anderen die Nerven. Zuerst stieß sie einen ungeheuer lauten Klagelaut aus, dass man meinen konnte, es wäre die Sirene der Feuerwehr, und danach brach sie in verzweifeltes Weinen aus. Ihr war plötzlich ein Gedanke gekommen.
»Er ist entführt worden!«
»Versuch, einen kühlen Kopf zu bewahren, Laura«, ermahnte Guido sie.
»Aber wer soll ihn denn entführt haben?«, fragte Livia.
»Was weiß denn ich? Zigeuner! Schausteller! Beduinen! Ich spüre, dass man ihn entführt hat, meinen armen kleinen Jungen!«
Montalbano kam ein böser Gedanke: Wenn jemand ein so schreckliches Kind wie Bruno entführt hat, bringt er es mit Sicherheit am nächsten Tag zurück. Doch dann fragte er Laura:
»Und weshalb hat man dann deiner Meinung nach auch Ruggero entführt?«
Gallo sprang vom Stuhl auf. Er wusste zwar, dass ein Kind verschwunden war, denn das hatte ihm der Commissario gesagt; aber als sie eingetroffen waren, war er im Auto sitzen geblieben und hatte daher nichts von dem mitbekommen, was sie Montalbano erzählt hatten. Und jetzt stellte sich heraus, dass es zwei Entführte gab? Er sah seinen Vorgesetzten fragend an.
»Das ist ein Kater, mach dir keine Sorgen.«
Dass man auf den Kater zu sprechen kam, hatte eine wunderbare Wirkung: Laura schien sich ein bisschen zu beruhigen. Montalbano wollte gerade den Mund aufmachen, um zu sagen, was jetzt zu tun sei, als Livia auf ihrem Stuhl erstarrte, die Augen weit aufriss und mit gepresster Stimme sagte:
»Oh Gott! Oh mein Gott!«
Alle sahen zuerst sie an, dann folgten sie der Richtung ihres Blicks.
Auf der Türschwelle zum Wohnzimmer saß Ruggero und leckte sich ruhig und friedlich seine Barthaare.
Laura ließ auf der Stelle ein zweites Mal die Sirene losschrillen und fing wieder an zu schreien.
»Seht ihr’s jetzt, dass es stimmt? Der Kater ist hier und Bruno nicht! Er ist entführt worden! Er ist entführt worden!«
Und gleich darauf wurde sie ohnmächtig.
Guido und Montalbano nahmen sie, brachten sie ins Schlafzimmer und legten sie aufs Bett. Livia kühlte ihr mit Eiskompressen die Stirn und hielt ihr eine Flasche mit Essig unter die Nase, doch nichts, Laura öffnete die Augen nicht.
Sie war fahl im Gesicht, hatte die Zähne fest zusammengebissen und war in kalten Schweiß gebadet.
»Bring sie nach Montereale zu einem Arzt«, sagte Montalbano zu Guido. »Und du, Livia, fahr mit ihnen.«
Nachdem Laura mit dem Kopf in Livias Schoß auf dem Rücksitz untergebracht war, schoss Guido mit einer Geschwindigkeit davon, dass sogar Gallo ihm voller Bewunderung nachblickte. Montalbano und Gallo kehrten ins Wohnzimmer zurück.
»Jetzt, wo sie uns nicht mehr auf die Nerven gehen«, sagte Montalbano zu ihm, »versuchen wir, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Und das Erste, was wir machen, ist, dass wir uns Badehosen anziehen. Sonst können wir in dieser Hitze keinen klaren Gedanken fassen.«
»Ich hab keine Badehose dabei, Dottore.«
»Ich auch nicht. Aber Guido hat drei oder vier.«
Er fand sie, und sie zogen sie an. Zum Glück waren es Stretchbadehosen, denn anderenfalls hätte der Commissario ausgesehen, als stecke er in einer schlabberigen Unterhose, und Gallo wäre wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angeklagt worden.
»Jetzt machen wir Folgendes: Ungefähr zehn Meter vom Terrassentörchen entfernt führt eine Tuffsteintreppe zum Strand hinunter. Das ist die einzige Stelle, wo sie, wenn ich das in dem Durcheinander, das sie veranstaltet haben, richtig verstanden habe, nicht gründlich nachgeschaut haben. Steig sie hinunter und bleib auf jeder Stufe stehen, der Kleine kann hingefallen und in eine Schlucht gestürzt sein.«
»Und was tun Sie?«
»Ich versuche, mich mit dem Kater anzufreunden.«
Gallo sah ihn verdutzt an, antwortete aber nichts und ging hinaus.
»Ruggero! Was für ein schöner Kater du doch bist! Ruggero!«
Der Kater rollte sich auf den Rücken, die Beine in der Luft. Montalbano kraulte ihm den Bauch.
»Ronronron«, machte der Kater.
»Na, was meinst du? Sollen wir mal nachschauen, was es im Kühlschrank gibt?«, fragte ihn der Commissario und machte sich auf den Weg zur Küche.
Ruggero, der gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden zu haben schien, folgte ihm, und während Montalbano den Kühlschrank öffnete und zwei Sardellen herausholte, strich er ihm um die Beine und stupste ihn mit dem Kopf. Montalbano nahm einen Pappteller, legte die Sardellen darauf, stellte ihn auf den Boden, wartete, bis der Kater aufgefressen hatte, und ging dann auf die Terrasse hinaus. Ruggero lief ihm nach, genau wie Montalbano vorausgesehen hatte. Er ging zur Treppe hinüber, genau rechtzeitig, um Gallos Kopf wieder auftauchen zu sehen.
»Absolut nichts, Dottore. Ich kann beschwören, dass der Kleine diese Treppe nicht runtergegangen ist.«
»Schließt du aus, dass er bis zum Strand kommen und dann ins Meer gehen konnte?«
»Dottore, ich meine gehört zu haben, dass der Kleine drei Jahre alt ist. Das hätte er niemals schaffen können, selbst wenn er gerannt wäre.«
»Dann müssen wir die Gegend eben gründlich absuchen. Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«
»Dottore, was halten Sie davon, wenn ich im Kommissariat anrufe und noch zwei, drei Leute zur Verstärkung kommen lasse?«
Der Schweiß rann Gallo bis zu den Füßen hinunter.