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Bei einem Erdrutsch an der Bahnlinie Koblenz-Trier wird ein Skelett mit roten Knochen freigelegt. Im Schädel klafft ein Loch. Bodo Kröber, der Privatdetektiv von der Mittelmosel und seine Freundin Claire ermitteln, wer hinter diesem Toten steckt und wer ihn wann umgebracht hat. Während der Recherchen um das rote Skelett findet Bodo noch heraus, wer auf den Ausflugsschiffen auf der Mosel die Touristen bestiehlt und Claire stellt einen Steuerflüchtigen, der sein Geld aus Luxemburg nach Deutschland schmuggeln wollte.
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Seitenzahl: 273
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© 2013 Rhein-Mosel-Verlag Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542-5151 Fax 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-824-1 Ausstattung: Cornelia Czerny Umschlagillustration: Steffi Delfmann
Peter Friesenhahn
Das rote Skelett am Viadukt
Ein neuer Fall für Bodo Kröber
Rhein-Mosel-Verlag
***
Handlung und Personen sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen
Personen wären rein zufällig.
Als die Nadel des Seismographen der Erdbebenwarte Bensberg/Rheinland mit einem kurzen Warnton ausschlug, stand Horst Podinsky von seinem Arbeitsplatz auf und ging zu dem Gerät. Er sah auf die Skala, dann schüttelte er den Kopf und pfiff leise durch die Zähne.
»Allerhand«, murmelte er, »das war was Stärkeres.«
Er ging wieder zu seinem Rechner und verglich die Amplituden und Laufzeiten der Erdbebenwellen. Dann gab er eine Formel in eine Tabelle ein: sofort sah er, wo genau das Beben stattgefunden hatte und wie stark es gewesen war. Er sicherte das Ergebnis und schrieb einen Pressetext: »Ein Erdbeben der Stärke 4,5 auf der Richterskala wurde heute morgen um 10.40 Uhr gemessen. Es war Sekunden lang zu spüren, das Epizentrum lag in zehn Kilometern Tiefe im Neuwieder Becken.«
*
Nico Veith arbeitete in seinem neu gesetzten Weinberg. Ein leichtes Grummeln im Boden weckte ihn aus seinen Gedanken. Er schaute auf das Eisenbahnviadukt unter sich. Es war aber kein Zug da, der solche Vibrationen hätte auslösen können. Plötzlich hörte er links von sich ein Poltern, er drehte sich um und erschrak.
*
Als die Erde bebte, löste sich ein hellgrauer Schieferstein und fiel auf einen darunter liegenden größeren Stein. Der setzte sich in Bewegung und rutschte den steilen Weinberg hinunter. Auf seiner Bahn ins Tal nahm er verwelkte Rebenblätter, abgeschnittene Äste, kleinere Stücke von Bindekordel und größere Steine mit.
Immer mehr Geröll und Blattmaterial kamen hinzu. Jetzt rutschte nichts mehr, sondern es polterte schon mit großer Geschwindigkeit die steile Rebzeile hinunter. Quer liegende Äste wurden zuerst noch mit geschoben, dann aber vom schwereren Gestein überholt und in die Lawine einverleibt. Die ersten Weinbergspfähle knickten zersplitternd um und wurden mitgerissen.
Die kleine Lawine wurde immer größer, lauter und kraftvoller. Eine alte Weinbergsmauer, die ihr im Wege stand, hielt dem enormen Druck, der sich vor ihr aufbaute, nur kurze Zeit stand. Krachend stürzte sie an der schwächsten Stelle ein. Nun riss die Lawine ein Loch in die Mitte der Mauer, dabei kamen Knochen eines menschlichen Skelettes zum Vorschein und setzten sich mit in Bewegung. Die Eckstücke der alten Mauer fielen ohne den Halt der Mittelsteine in sich zusammen und vereinigten sich mit den Gebeinen.
Die groß gewordene Lawine riss auf einer Breite von sechs Metern alles mit, was sich ihr in den Weg stellte. Sie stürzte über die markanten Felsen der Falkenlay, verschüttete den Eingang der Höhle, in der sich Kasimir befand, ergoss sich dann auf das Gleisbett der Bahnlinie Koblenz–Trier und kam schließlich langsam zum Erliegen.
Kleinere Steine rutschten noch nach, einige davon rollten über die Viaduktmauer und fielen in den darunter liegenden Weinberg. Dann war es still.
*
Rudolf Meurer war Lokführer. Jedes Mal, wenn er für die Regionalbahn Koblenz–Trier eingeteilt war, freute er sich, denn diese Strecke mochte er, landschaftlich gesehen war sie einmalig. Im Moseltal verlief eine der schönsten Eisenbahnstrecken, fand er.
Gerade fuhr er an Kobern-Gondorf mit seinem Schloss Liebieg vorbei. Dann kam Treis-Karden mit seinem Dom. Schließlich kam die Cochemer Reichsburg in Sicht, der Cochemer Tunnel! Hier konnte er, wenn er Verspätung hatte, auf die Tube drücken und Zeit aufholen.
Die Leute, die er beförderte, kamen aus den Orten an der Mosel, er kannte sie fast alle.
Er bedauerte seine Kollegen, die auf ICEs mit zweihundertfünfzig Sachen durchs Land rasten. Sie mussten oft durch Röhren fahren, in denen sie nichts von der Landschaft sahen. Oder sie fuhren Strecken, auf denen man nur die Schallschutzwände rechts und links der Gleise sah.
Er sah aus dem Fenster: Rechts von ihm auf der anderen Moselseite zog gerade St. Aldegund vorbei, weiter vorne sah er den Ort Alf und die Fähre, die den Fluss querte. Lichtreflexe tanzten auf dem Wasser. Dann kamen die Signale des Bahnhofs Bullay in Sicht. Er legte seine Hand auf die Bremse und zog gleichmäßig den Hebel nach hinten. Der Zug wurde langsamer und während er einfuhr, konnte Meurer schon einige der wartenden Fahrgäste erkennen. Schließlich hielt er am Gleis eins.
Er öffnete das Fenster und rief: »Hallo Bodo, alter Schnüffler! Was hat dich denn so früh aus dem Bett getrieben?«
Bodo, der gerade einsteigen wollte, ging einen Schritt zurück, er schaute nach vorne zur Lokomotive, erkannte den Zugführer und rief lachend: »Das Gartencenter in Trier, Rudolf! Ich suche nach einer neuen Rosensorte für unsere Ranch!«
»Sonst hast du wohl nix zu tun, was?«
»Komm, gib Gas mit deinem Schüttelexpress!«, gab Bodo zurück.
Es stiegen nur wenige Fahrgäste zu. Die Pendler, die morgens nach Trier fuhren, waren schon lange bei der Arbeit. Der Zehn-Uhr-Zwanzig-Zug war ziemlich leer. Als alle eingestiegen waren, pfiff die Zugbegleiterin und hob die Kelle mit der grünen Seite in Richtung Lokomotive. Sie drehte den Türschlüssel und die Türen schlossen sich zischend.
Meurer bewegte den Fahrthebel nach vorne, brummend setzte sich der Zug in Bewegung. Das Gewirr der Gleise verlor sich schnell und die zweigleisige Strecke über die Bullayer Doppelstockbrücke kam in Sicht. Rumpelnd überquerte der Zug die wuchtige Stahlkonstruktion auf der oberen Etage in Richtung Tunnel, während auf der unteren Ebene Autos fuhren. Kurz vorm Tunneleingang befand sich eine Aussichtsplattform, auf der Spaziergänger winkten.
Meurer winkte zurück. Dann fuhr er in den vierhundert Meter langen, leicht gebogenen Prinzenkopftunnel ein. Nur in der Mitte war es kurze Zeit ganz dunkel, dann sah er schon das Licht am Tunnelende.
Der Zug fuhr aus dem Tunnel auf das Viadukt. Rudolf Meurer blinzelte, dann sperrte er erschrocken die Augen auf – und reagierte sofort: Er riss den Bremshebel ruckartig nach hinten, um die Schnellbremsung einzuleiten. Funken sprühten und ein ohrenbetäubendes Kreischen war zu hören. Erika Steffens, die Zugbegleiterin, die gerade Fahrkarten kontrollierte, verlor den Halt und schlug der Länge nach in den Wagen.
Der Zug wurde zwar langsamer, aber der Bremsweg eines Tonnen schweren Zuges ist lang.
Dieses Mal war er zu lang. Krachend fuhr die Lokomotive auf die Geröllmassen auf und neigte sich zur Seite. Die Köpfe der Fahrgäste ruckten nach vorne, diejenigen, die nicht in Fahrtrichtung saßen, schlugen mit dem Hinterkopf in die Polster der Sitze.
Einige Leute schrien. Der Zug stand. Meurer griff zum Telefon und drückte die Notfallnummer. Schwer atmend sagte er: »Regiobahn T65 bei Kilometer 33 Viadukt Pünderich auf Gerölllawine aufgefahren. Lawine bedeckt Gleiskörper, sofort Gegengleis sperren.«
*
Nico Veith sah die Gerölllawine auf die Gleise stürzen und erschrak. ›Mein Gott, wenn jetzt ein Zug …‹, er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da hörte er schon den Regionalexpress aus dem Tunnel kommen. Er fuchtelte wild mit den Armen und schrie laut: »Halt! Stopp! Vorsicht!«, als ob er damit den Zug hätte aufhalten können. Er hörte die Bremsen kreischen, sah, wie der Zug zwar langsamer wurde, dann aber im letzten Augenblick doch noch in die Gerölllawine krachte.
*
Claires Hund Bisquit, ein hellbrauner Labrador, lag hinter der Theke im Buchladen auf seiner Wolldecke. Irgendetwas bereitete ihm Unbehagen. Unruhig drehte er den Kopf hin und her, stand auf, drehte sich um sich selber und legte sich wieder hin. Plötzlich fing er an zu knurren, schließlich bellte er kurz und ungewohnt laut. Claire war irritiert – was war denn mit dem Hund los? – doch sie bediente weiter. Sie war gerade dabei, einer Kundin eine Neuerscheinung zu zeigen, als ein dumpfer Schlag das Haus erschütterte. Dann ertönte ein Ächzen, der Boden bewegte sich, die Bücher fielen aus den Regalen, die Kaffeetassen klirrten auf ihren Untertellern, der Ficus am Fenster zitterte und Bisquit jaulte auf.
Die Kundin schrie: »Ein Erdbeben! Schnell, raus auf die Straße!«
»Bisquit, komm mit!«, rief Claire und packte den Hund am Halsband.
Die beiden Frauen rannten hinaus. Aus allen Geschäften kamen Menschen, panisch und aufgeschreckt. Und noch einmal bebte die Erde und alles wackelte.
Dann war ein lautes Krachen zu hören. Voller Entsetzen starrten die Menschen in die Staubwolke, die sich vor ihnen ausbreitete: Der Schornstein eines Hauses war aus den Fugen geraten und auf ein Auto gestürzt. Schwaden von Staub wirbelten durch die Zeller Fußgängerzone.
*
Nico Veith rannte keuchend zu seiner Monorackbahn. Er startete den Motor, stieg auf, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr nach unten. Von weitem sah er, wie sich die Türen des Zuges öffneten und die Menschen auf den Gleiskörper sprangen.
Am Ende der stählernen Monorakschiene stoppte er den Motor, stieg ab und lief die letzten Meter durch den Weinberg, der oberhalb des Viadukts lag. Er kletterte über das Geländer und rannte auf dem Betonstreifen bis zu der Gerölllawine, die sich über beide Schienenstränge ergossen hatte.
Der halbe Weinberg von Paul Schier lag auf den Gleisen.
›Na dann mal los‹, dachte Nico und fing an zu klettern. Mühsam kämpfte er sich durch zerbrochene Weinbergspfähle, trat auf zersplitterte Reben, verhakte sich in einem Drahtknäuel und knickte schließlich auf einem langen, rötlich bleichen Knochen um.
Was war das? Er kannte sich mit Knochen aus, sein Großvater hatte ihn oft zur Jagd mitgenommen und er hatte auch zugesehen, wenn die erlegten Wildschweine und Rehe aufgebrochen wurden.
Das hier war kein Tierknochen. Suchend sah er sich um. Nicht weit von diesem Knochen – er glaubte, einen Oberschenkelknochen zu erkennen – lagen noch mehr rötliche Knochen. Das waren Menschenknochen!
Nico stand auf, rieb sich den schmerzenden Knöchel und setzte sich wieder in Bewegung. Da entdeckte er einen vollständig erhaltenen Brustkorb, durchsetzt von Rebenwurzeln. Nicht weit davon sah er weitere Reste eines menschlichen Skeletts – nur der Schädel fehlte.
Nico kratzte sich am Kopf und dachte nach: vorne auf dem Viadukt der verunglückte Zug mit Reisenden, die Hilfe benötigten, hier ein Skelett.
»Manchmal kommt aber auch alles zusammen!«, brummte er. Er wischte sich die Hände an der Hose ab und rutschte weiter bis zur Lok, die mit dem rechten Poller im Bergrutsch steckte. Ihr Blech war verbeult und verzogen, die Lampe eingedrückt und zersplittert. Durch den Aufprall war der Zug in Schieflage geraten.
Bodo hatte mit ein paar Fahrgästen den Zug verlassen, er stand vor dem Erdrutsch und beobachtete, wie Nico, sich mit den Händen abstützend, auf sie zu bewegte.
»Jemand was passiert?«, wollte Nico wissen, als er schließlich angekommen war.
»Sieht nicht so aus«, antwortete Bodo, »das Ding hier ist gerade noch mal gut gegangen! Stell dir vor, wir wären von der Lawine erwischt worden und dann vom Viadukt gestürzt …!«
»Dann könnt’ste jetzt die Radieschen von unten begucken!«, feixte ein Zugpassagier und schaute den Abhang hinunter. »Dreißig Meter sind das bestimmt!«
Einige der Gestrandeten standen auf dem schmalen Betonstreifen neben den Gleisen und telefonierten, andere wiederum hatten sich aufs Geländer gesetzt, auch im Zug saßen noch Leute.
Rudolf Meurer stand neben dem Zug und telefonierte mit der Einsatzleitung: »Nein, keiner verletzt«, sagte er, »deshalb brauchen wir auch keinen Staatsanwalt. Die Bundespolizei kommt sowieso. Die Zeller Polizeiinspektion habe ich schon verständigt, aber schick mal den Notfallmanager vorbei, die Lok hängt schief. Nein, wirklich, es ist nichts passiert! Nur die Erika hat ein paar Schrammen, aber alles halb so wild. Sie geht gerade durch den Zug und sagt den Leuten, wie sie hier weg gebracht werden. Also nochmal: Ihr kommt mit der Diesellok und holt die Leute ab. Dann setzt ihr sie in Bullay in den Bus nach Trier. Klar kann sich das ziehen, das wird auf jeden Fall länger dauern! Dann, als Nächstes soll der Bauzug von Cochem kommen. Schickt ihr auch einen von Trier los? Okay, ich kümmere mich jetzt wieder um die Leute!«
Auch Bodo stand auf dem Betonstreifen neben den Schienen und versuchte Claire zu erreichen, doch es meldete sich nur ihre Mailbox. Wieso ging sie nicht ran? Es war ihr doch hoffentlich nichts passiert? Bodo räusperte sich und sagte: »Hallo Claire! Wenn du irgendwas von einem Zugunglück auf der Moselstrecke hörst: das stimmt. Wenn du aber hören solltest, mir sei etwas passiert: das stimmt nicht. Ich versuch es später nochmal!«
Nico Veith ging auf Rudolf Meurer zu: »Da habt ihr aber noch mal Schwein gehabt, was?«
»Kann man sagen!«, gab Rudolf erleichtert zurück. Keinem war etwas passiert, sie würden mit einem Ersatzzug abgeholt werden, die Bautrupps waren informiert und würden die Gleise bald wieder freigeräumt haben. Und morgen, spätestens übermorgen, würde die Strecke Koblenz–Trier wieder durchgehend befahrbar sein.
»Da oben auf dem Geröllhaufen liegt ein Skelett«, sagte Nico.
Bodo, der gerade sein Handy verstaut hatte, kam näher und fragte: »Wie bitte?«
»Ein Skelett«, wiederholte Nico, »bin eben drüber gestolpert. Ein Menschenskelett. Es ist fast alles an Knochen da, nur der Schädel fehlt.«
»Was, wo?« Rudolf und Bodo drehten gleichzeitig die Köpfe und sahen zur Gerölllawine hoch.
»Das kann man von hier aus nicht sehen«, sagte Nico, »es liegt ganz oben drauf.«
»Das schau ich mir mal an«, sagte Bodo, »ich hab ja sowieso gerade nichts zu tun!«
Schon kletterte er über das Gewirr von Pfählen, Steinen, Wurzeln und Drahtschlingen nach oben.
»Ich bleib beim Zug«, sagte Rudolf Meurer kopfschüttelnd und griff zum Handy, um mit der Zentrale zu telefonieren, während Nico Bodo hinterher stieg. Als sie oben angekommen waren, zeigte er ihm die Skelettteile.
»Tatsächlich, ein menschliches Skelett«, stellte Bodo fest, »du hast recht gehabt! Hier der Brustkorb und die Schulterblätter, da das Becken, aber abgerissen von der Wirbelsäule. Am Becken sind noch die Knochen vom linken Bein … aber diese Farbe!« Bodo schob mit dem Zeigefinger seine Nase hin und her und dachte nach: »Und wo liegt der Rest?«
»Genau da vorne bin ich über den Knochen gestolpert.« Nico zeigte auf die Stelle. Sie gingen ein paar Schritte nach unten.
»Dann ist das wohl ein Knochenstück vom rechten Bein«, stellte Bodo fest, »aber wo ist der Kopf?«
Beide blickten sich suchend in dem Durcheinander um.
»Weißt du, wem der Weinberg hier gehört?«, fragte Bodo.
»Ja klar«, antwortete Nico, »der gehört dem Schiers Paul. Der wird fluchen, wenn er das hier sieht! Eine ganze Stützmauer mit Treppenstufen muss er neu machen! Mindestens achtzig Reben neu pflanzen und dazu noch achtzig neue Pfähle setzen! Das wird eine Scheißarbeit, die Steine und den ganzen anderen Kram unten vom Weg bis hier hoch übers Viadukt zu bringen. In dem seiner Haut möchte ich nicht stecken. Außerdem hat er drei Jahre Ernteausfall! Hier, in dieser guten Weinbergslage zählt jeder Liter!«
»Gute Weinbergslage? Wieso?«, fragte Bodo. »Hier scheint die Sonne doch genauso lange hin wie zweihundert Meter weiter.«
»Ja ja«, lachte Nico, »aber an der Farbe des Bodens siehst du den Unterschied! Fällt dir denn gar nichts auf?«
»Doch, klar!«, antwortete Bodo, »der Schiefer hier ist rötlicher, bräunlicher gefärbt als der hinten im Berg.«
»Genau so ist es, gut erkannt!«, lobte Nico, »das ist ein ganz anderer Boden. Hier läuft eine seltene Gesteinsader mit rotem Schiefer aus. Der Wein, der auf diesem Boden wächst – die Franzosen nennen es Terroir – der Wein hier schmeckt würziger!«
»Jetzt hast du mich neugierig gemacht«, stellte Bodo fest. »Hast du noch ein paar Flaschen davon?«
»Ja, aber wirklich nur noch ein paar!« Nico lachte und hob die Hände.
»Ich komm mal vorbei«, sagte Bodo. Er bückte sich und nahm eine Handvoll Erde, zerrieb sie zwischen den Fingern und ließ sie langsam zu Boden rieseln. Dann sah er seine Hände an und sagte nachdenklich: »Daher also die Farbe der Knochen, das Terroir hat abgefärbt.«
»Dann muss das Skelett aber schon lange im Boden gelegen haben«, sagte Nico. »Wer das wohl mal war?«
*
»Da wird sich der Reuters Egon aber freuen, wenn er das hier sieht!« Sabine Schmal lächelte strahlend und zeigte auf das verbeulte Dach des Autos, das am Schwarze-Katz-Brunnen parkte.
»Bah, was bist du gemein!«, erwiderte Claire. »Stell dir vor, der Schornstein wäre auf dein Auto gestürzt. Dann würdest du anders reden!«
»Das wird auf jeden Fall teurer als ein Knöllchen für falsches Parken!« Sabine grinste immer noch. »Was stellt er sich aber auch immer so blöd da hin! Aber jetzt mal im Ernst: ein Erdbeben, hier bei uns! So etwas habe ich noch nie erlebt! Mir ist immer noch ganz komisch.«
»Es gab schon mal eins, aber das ist schon ein paar Jahre her«, sagte Achim vom Tourismusbüro, der mit seinen Kolleginnen ebenfalls auf der Straße stand.
»Wenn man ›Erdbeben‹ hört, denkt man sofort an Länder wie Italien oder Türkei. Aber doch nicht an Deutschland!«, sagte Claires Kundin.
»Aber wir haben auch hier in Deutschland schon mal ein Erdbeben gehabt, vor dreißig Jahren, auf der Schwäbischen Alb. Das war so heftig, dass die Burg Hohenzollern schwer beschädigt wurde«, wusste Achim, »so was kann auch bei uns vorkommen. Aber nicht so schlimm wie in der Türkei, da hast du recht, Claire.«
Ein Auto raste die Moselstraße hoch und blieb am Brunnen stehen. Harry vom Wochenblatt stieg aus. Er zückte seine Kamera und ging Bilder schießend um Reuters kaputtes Auto herum.
»Ich sehe schon die Schlagzeile vor mir«, sagte Sabine, »›Erdbebenkatastrophe in Zell! Eingestürztes Gebäude begräbt Auto unter sich! Mann in letzter Sekunde gerettet!‹«
Jetzt musste auch Claire lächeln.
Harrys Handy jaulte auf. »Ja, was gibts?« Er tänzelte von einem Bein aufs andere, dann sagte er: »Was, Zug entgleist? Wo, Viadukt? Wann, eben?«, und, »Eijeijeijei«, dann, »Bin schon unterwegs!«
Claire war elektrisiert. Was hatte Harry gesagt? ›Zug entgleist, Viadukt?‹ Ihre Knie fingen an zu zittern. Bodo wollte doch heute mit dem Zug nach Trier fahren. ›Zug entgleist, Viadukt?‹ Natürlich fuhr der Zug über das Viadukt! ›Eben passiert?‹
»He, halt!«, rief sie Harry zu, der gerade im Begriff war in sein Auto zu steigen. »Was ist passiert?«
»Ich weiß noch nichts Genaues, aber anscheinend ist auf dem Pündericher Viadukt der Regionalexpress nach Trier entgleist. Ich muss da unbedingt hin!« Die Autotür fiel zu und der Wagen fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Claire stand einen Moment wie versteinert da, dann rannte sie los. Ihr Handy lag in der Buchhandlung neben der Ladenkasse: ›Ein Anruf in Abwesenheit‹. Zitternd drückte sie die Mailbox: »Hallo, Claire! Wenn du irgendwas von einem Zugunglück auf der Moselstrecke hörst: das stimmt. Wenn du aber hören solltest, mir sei etwas passiert: das stimmt nicht. Ich versuch es später nochmal.«
›Gott sei Dank‹, dachte Claire. Bodo war anscheinend nichts passiert, seine Stimme klang ruhig. Claire drückte seine Nummer.
*
»Mich interessiert, wo das Skelett vorher lag«, sagte Bodo, »es muss doch mit dem Erdrutsch heruntergekommen sein. Also muss es vorher im Wingert von Paul Schier gelegen haben.«
»Stimmt!«, sagte Nico. Er legte den Kopf in den Nacken und schaute nach oben: »Da siehst du, wo der Erdrutsch angefangen hat.«
Die Geröllmassen hatten sich wie ein umgekehrtes V ausgebreitet, oben im Felsen klaffte ein Loch. Anfangs war nur ein schmaler Streifen frischer, rötlicher Schiefererde zu sehen, dann wurde der Streifen breiter und tiefer. Zu beiden Seiten der Mulde hingen Rebwurzeln in der Luft. Etwa in der Mitte des abgerutschten Teils war eine Felswand.
»Darauf stand die Trockenmauer«, erklärte Nico, »die hat noch einer meiner Vorfahren gebaut. Damals wussten sie noch, wie das Mauern ohne Zement ging.«
Bodos Handy klingelte. Er sah kurz auf das Display, dann nahm er das Gespräch an: »Hallo Claire! Hast du meine Nachricht bekommen? Ja, nix passiert, keinem. Der Zug ist auf dem Pündericher Viadukt in einen Erdrutsch gefahren. Es wird eine Weile dauern bis wir hier abgeholt werden. Wie? Was sagst du? Ein Erdbeben hier bei uns? Wir haben nichts bemerkt! Sogar Schornsteine sind runtergekommen? Was, so heftig? Ich werd verrückt! Ist dir was passiert? Nein! Und die Buchhandlung, alles in Ordnung? Was macht der Hund? Schlechte Laune, kann ich verstehen! Okay, bis bald, ich melde mich wieder.«
Bodo steckte das Handy ein, pfiff durch die Zähne und sagte zu Nico: »Das war meine Freundin, sie hat das mit dem Zugunglück schon gehört. Ich habe sie beruhigt, es ist ja nichts passiert. Aber sie sagte mir gerade, dass es ein Erdbeben gegeben hat, hier bei uns. In Zell ist sogar ein Schornstein eingestürzt.«
»Ein Erdbeben?«, fragte Nico. »Das ist ja interessant! Als ich eben noch im Wingert stand, habe ich ein Grummeln in der Erde gehört, ich hab mir nichts dabei gedacht. Und dann ging plötzlich alles so schnell: das Rumoren, der Erdrutsch, der Zug! Kann denn ein Erdbeben einen Erdrutsch auslösen?«
»Wenn Häuserwände wackeln, warum sollten dann Felswände nicht wackeln«, sagte Bodo, »und dann löst sich ein Stein und eins kommt zum andern. Wenn im Himalaja ein Schmetterling mit den Flügeln schlägt, kann das auf der anderen Seite der Erde eine Katastrophe auslösen.«
»Das mag ja sein! Aber ein Erdbeben als Auslöser für einen Erdrutsch scheint mir plausibler als ein chinesischer Schmetterling.« Nico lachte.
»Wer weiß?«, meinte Bodo rätselhaft. »Aber hör mal, wir sagen dauernd Erdrutsch! Die Steine sind gerutscht, die Pfähle sind auch gerutscht. Die Skelettknochen sind mitgerutscht, wir sagen immer nur: ›gerutscht‹. Mir fällt da was ein. Als ich jung war, habe ich einen Film gesehen: ›Wie einer auszog das Fürchten zu lernen‹, hieß der. Darin hat jemand mit einem Schädel gekegelt. Die Knochen waren die Kegel und der Schädel war die Kugel. Was tut eine Kugel? Sie rollt. Sie rutscht nicht, sie rollt!« Bodo war plötzlich ganz aufgeregt: »Komm mal mit! Ich glaube, wir müssen weiter unten suchen! Wenn wir den Schädel finden wollen, müssen wir runtergehen!«
»Moment, ich pfeif grad meinem Hund. Wenn ich den mit in den Weinberg nehme, geht er immer auf Karnickeljagd, das ist seine Lieblingsbeschäftigung.«
Nico formte Zeigefinger und Daumen zu einem Kreis und steckte die Finger in den Mund. Ein kurzer schriller Pfiff ertönte. Dann suchte er den Weinberg mit den Augen ab. Er pfiff noch einmal durchdringend und sagte schließlich: »Der kommt schon wieder, wenn er Hunger hat.«
*
»Bist du bescheuert Gabi?«, schrie Egon Reuter. »Du willst mir wirklich eine Knolle wegen Falschparkens machen? Du siehst doch, was mit meinem Auto passiert ist! Total kaputt, und da willst du mir … ich glaub, du spinnst!«
»Egon, du weißt genau, dass du hier nicht parken darfst! Wie oft habe ich ein Auge zugedrückt, wenn ich vorbei kam und deine Karre hier stand. Aber jetzt kann ich nicht so tun, als ob dein Auto nicht da wäre! Kaputt oder nicht, das spielt keine Rolle. Fünf Euro sind fällig.«
Die Angestellte der Verbandsgemeinde tippte die Tasten ihres kleinen Rechners, druckte den Beleg aus und wollte ihn Egon Reuter überreichen, doch der riss abwehrend beide Hände hoch. Er sah in die Gesichter der Umstehenden und rief mit vor Wut bebender Stimme: »Sagt doch auch mal was! In was für einem Bürokratenstaat leben wir eigentlich? Das ist doch nicht normal: Mein Auto ist total im Arsch, und die Dame will mir ein Knöllchen für falsches Parken machen. Die Tussi, die blöde! Die tickt doch nicht mehr richtig!«
»Vorsicht, Egon«, sagte die Politesse in ruhigem Ton. »Vorsicht! Sonst zeige ich dich auch noch wegen Beleidigung an! Zeugen habe ich ja genug. Das wird dann aber richtig teuer!«
Siegesgewiss schaute sie in die Gesichter der Leute, die immer noch in Gruppen auf der Straße standen und über das Erdbeben redeten.
»Selber schuld, Egon«, sagte Sabine schnippisch, »du stellst dein Auto auch immer dermaßen blöd hin, dass keiner vorbeikommt!«
»Aber jetzt, in dieser Situation! Das Auto hat, so viel ich sehe, Totalschaden. Lass gut sein, Gabi, das war doch höhere Gewalt mit dem Schornstein«, meinte Achim.
Ein anderer meinte: »Gabi, wenn du, wie du sagst, öfter mal ein Auge zugedrückt hast beim Egon, dann können wir jetzt auch mal ein Auge zudrücken! Wir sehen dich überhaupt nicht mehr!« Er drehte sich einmal um sich selber, dann schaute er die Umstehenden an: »Sehen wir hier eine Gabi? Die dem armen, geschädigten Egon ein Knöllchen verpassen will? Ich sehe keine Gabi! Seht ihr eine?«
»Nööö«, johlte die Menge, »keine Gabi zu sehen!« – »Wer ist Gabi?« –
Innerlich vor Wut kochend, aber nach außen die Ruhe selbst, stieg Gabi auf das Schornsteingeröll und klemmte den Strafzettel, da die Frontscheibe und beide Scheibenwischer kaputt waren, an den Heckscheibenwischer von Egons Auto. Dann ging sie wortlos zur Moselpromenade.
Claires Kundin kam noch einmal zurück in die Buchhandlung: »Da sind wir ja gerade noch mal mit dem Schrecken davongekommen!«, meinte sie. Dann fragte sie vorsichtig: »Was habe ich da eben gehört? Ein Zugunglück auf der Moselstrecke?«
»Ja, der Regionalexpress von Koblenz nach Trier ist auf eine Gerölllawine aufgefahren. Es ist aber keinem was passiert. Mein Freund saß im Zug, wir haben schon telefoniert.« Claire bückte sich, hob die herabgefallenen Bücher auf und stellte sie wieder in die Regale. Beim letzten Buch stutzte sie und lachte laut: »Das passt jetzt aber wie die Faust aufs Auge!« Sie drehte den dicken Bildband zu ihrer Kundin: »Schöne Eisenbahnstrecken in Deutschland.«
*
Bodo und Nico stiegen über das Geländer zur Bergseite des Viadukts. Nico sagte: »Da vorne, im zweiten Viaduktbogen ist ein Durchgang, da führt auch der Pfad nach unten. Mann, was haben wir hier früher alles hoch geschleppt: Düngersäcke, Pfähle, Handwerkszeug. Und dann im Herbst die Trauben in der Hotte runtergetragen, das war eine elende Plackerei! Die Monorackbahnen heute sind ein Segen: So können wir wieder mehr Weinberge bewirtschaften.«
Sie gingen jetzt unter dem Bogen hindurch und noch ein paar Meter weiter bergab, dann standen sie genau unterhalb der Gerölllawine. Auch hier in diesem Weinberg lagen Steine und waren Pfähle umgefallen, aber der Schaden war geringer. Sie schauten nach oben zum Viadukt, wo das Geröll heruntergekommen war, dann drehten sie sich um. Nico zeigte nach unten: »Du nimmst diese Weinbergszeile, ich gehe die andere.«
Den Blick auf den Boden gerichtet, gingen sie langsam den steilen Berg hinab. Immer wieder musste sich Bodo an Weinbergspfählen festhalten, denn seine Schuhe hatte er heute morgen für die Trierer Fußgängerzone ausgesucht und nicht für einen steilen Weinberg. Er rutschte mehrmals aus und setzte sich auf den Hosenboden. »Junge, ist das steil hier«, schimpfte er. Dabei glitt er wieder aus und fiel mit der Hand in ein Eisenteil.
Er setzte sich auf, am Handballen hatte er eine tiefe Schnittwunde. »Himmel, Arsch und Zwirn! Hose versaut, Schuhe verschrammt, Hand aufgeschlitzt, mit dem Zug entgleist!«, jammerte er. »Was ist das nur für ein Tag?«
Er saugte den Dreck aus der Wunde und spuckte das Speichel-Blut-Gemisch auf den Boden. Dann zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche und verband seine Hand notdürftig.
Das Eisenteil, in das er gefallen war, war ziemlich verrostet. Wann hatte Bodo eigentlich seine letzte Tetanusspritze bekommen?
»Hey, Bodo, was ist los?«, rief Veith von unten, »wo bleibst du?«
»Hier oben!«, rief Bodo zurück. »Meine Schuhe sind wohl eher für den Tanzboden als für den Weinberg geeignet!«
Nico lachte, als er Bodo unter dem Stock sitzen sah. Er rief: »Bleib sitzen, ich komme hoch!«
In seinen Arbeitsschuhen mit den groben Stollen kam er Schritt für Schritt näher. Dabei suchte er aufmerksam den Boden ab. Plötzlich blieb er stehen: »Hier ist was, Bodo!« Er kniete auf den Boden, dabei stützte er sich mit der linken Hand ab und bückte sich, bis seine linke Gesichtshälfte fast auf der Erde lag. Dann langte er mit der rechten Hand unter den Weinbergsdraht in die nächste Zeile. »Ich hab ihn, Bodo! Ich hab den Schädel!« Er richtete sich auf und hielt ihn triumphierend in die Höhe: »Du hattest recht, Bodo! Der Totenkopf ist bis hier unten hingekullert.«
Er stand auf und ging zu Bodo, der sich am Pfahl hochgezogen hatte. Gemeinsam betrachteten sie den Schädel. »Genau so rötlich wie die anderen Skelettteile«, bemerkte Bodo.
»Aber guck mal hier«, Nico drehte den Schädel nach links, sodass Bodo das Loch an der Schädelseite sehen konnte, »was ist denn dem passiert?«
»Der hat ein Loch im Kopf«, sagte Bodo trocken, »gib mal her!«
Nico reichte Bodo den Schädel, dabei sah er das blutdurchtränkte Taschentuch an seiner Hand.
»Du blutest ja«, stellte er fest.
»Ich bin bloß auf ein verrostetes Eisenteil gefallen. Halb so schlimm, ich habe eine gute Heilhaut.« Bodo besah sich den Schädel, zeigte auf das Loch und sagte: »Bei dem hier heilt nix mehr!«
Er drehte den Schädel um und fuhr mit dem Finger so in das Loch, dass er oben herausschaute.
»Bodo, lass den Quatsch! Das war ja schließlich mal ein Mensch.« Nico war entsetzt.
»Das ist kein Quatsch! Ich wollte nur prüfen, ob das Loch frisch ist. Also, ich meine, ob der Schädel beim Aufprall kaputt gegangen ist oder ob das Loch so alt wie der Schädel ist.«
»Und, was meinst du?«, fragte Nico interessiert.
»Hmm … wenn das Loch frisch, also durch den Aufschlag entstanden wäre, müssten die Kanten scharf sein. Sind sie aber nicht! Sie sind stumpf, abgerundet. Und sie haben die selbe Struktur wie der Rest. Also ich sag mal, das Loch ist so alt wie der Schädel. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat der hier sich das Loch nicht selber in den Kopf gehauen. Da hat jemand nachgeholfen!«
»Wie?«, meinte Nico. »Das heißt, wir stehen hier und haben den Kopf von einem Ermordeten in der Hand?«
»Genau das heißt es«, antwortete Bodo. »Es könnte aber auch sein, dass er verunglückt ist. Von einer Weinbergsmauer gestürzt … beim Arbeiten im Weinberg von einem Stein getroffen … oder von einer Gerölllawine verschüttet worden … was weiß ich! Aber ich weiß, dass es Zeit wird, die Polizei zu rufen.«
»Mein Handy ist in der Jacke, die oben am Stock hängt«, sagte Nico, aber Bodo winkte ab. »Egal, wie tot jemand ist, ob frisch tot oder skelett-tot, Hauptsache: tot. Am besten, wir legen den Kopf wieder da hin, wo du ihn gefunden hast. Die Polizei will sich sicher selbst einen Eindruck verschaffen.« Bodo nahm sein Handy.
»Jetzt haben wir aber unsere Fingerabdrücke auf dem Schädel hinterlassen«, sagte Nico nachdenklich.
Bodo lachte: »Ach, du meinst, die Polizei verdächtigt uns, den hier so zugerichtet zu haben?«
»Was einem alles so in den Sinn kommt«, meinte Nico kopfschüttelnd. »Wer mag das nur gewesen sein? Meinst du, die Polizei kriegt das raus?«
»Keine Ahnung, wird man sehen.«
Bodo tippte die ›110‹ und sagte: »Hallo, hier ist Bodo Kröber. Ich wollte einen Leichenfund, nein, einen Skelettfund melden. Wo? Auf dem Eisenbahnviadukt, kurz nach dem Prinzenkopftunnel. Was? Nein, da hat sich keiner auf die Schienen gelegt. Nein, kein Selbstmörder! Das Skelett ist mit der Gerölllawine auf die Gleise gerutscht. Was? Sie sagen es! Genau da, wo der Zug entgleist ist! Ja, danke, wir bleiben hier. Bis gleich!«
*
Harry raste die Serpentinen hinauf zum Reiler Hals. Als er oben war, bog er in einen asphaltierten Wirtschaftsweg ein und fuhr in Richtung Viadukt. Von hier aus konnte er den Zug schon sehen. Er hörte im Radio das Zeitzeichen für die Nachrichten und stellte lauter.
»Sie hören die Nachrichten bei SWR 4, am Mikrofon: Markus Mönnig. Ein Erdbeben der Stärke 4,5 auf der Richterskala wurde heute morgen in unserem Sendegebiet gemessen. Es war Sekunden lang zu spüren. Das Epizentrum lag in zehn Kilometern Tiefe im Neuwieder Becken. Zahlreiche besorgte Anrufer aus Westerwald, Eifel und dem Rhein-Mosel-Gebiet meldeten sich bei Polizei und Feuerwehr. Vermutlich durch das Erdbeben wurde auf der Bahnstrecke Koblenz-Trier ein Erdrutsch verursacht. Ein Regionalexpress fuhr in die Geröllmassen und entgleiste. Personen wurden dabei nicht verletzt. An mehreren Gebäuden entstanden Risse, vereinzelt stürzten Schornsteine vom Dach. Der Geologe Dr. Syndermann betonte, dass Erdbeben in unserer Region häufiger vorkommen, da unser Gebiet nahe zweier tektonischer Erdplatten liegt. Die Nachricht, dass ein altes Fachwerkhaus im Ort Landkern durch das Erdbeben eingestürzt sei, erwies sich als Falschmeldung. Koblenz: Vor dem Amtsgericht musste sich ein Mann …«
Harry stellte das Radio ab und grinste. Wer kannte nicht das alte, heruntergekommene Fachwerkhaus in Landkern? Darüber könnte er auch mal wieder einen Artikel schreiben.
Er parkte seinen Wagen auf dem Moseluferweg. Dann stieg er aus und machte ein paar Fotos vom Zug. Durch sein Teleobjektiv sah er mehrere Menschen neben dem Zug stehen, und vor dem Zug die Geröllmassen. Er stieg in seinen Wagen und fuhr weiter, bis er sich genau unterhalb der Unglücksstelle befand. Hier stieg er wieder aus und suchte einen Weg nach oben, doch er fand nur eine kaputte Weinbergstreppe mit losen Eisenklammern. Er schulterte seine Fototasche und kletterte auf die Stützmauer.
Von der anderen Seite näherten sich zwei Polizeifahrzeuge, die unterhalb des Tunnels anhielten. Polizisten stiegen aus und erklommen den Pfad, der unter dem ersten Viaduktbogen nahe am Tunneleingang vorbeiführte.
Bodo und Nico waren wieder zu den Zugpassagieren gestoßen, die mittlerweile auch die Nachricht vom Erdbeben gehört hatten.
»Liegt da wirklich ein Skelett auf dem Geröll?«, wollte Lokführer Rudolf Meurer wissen.
»Ja, tatsächlich«, sagte Nico Veith, »ein menschliches Skelett, aber ohne Kopf. Der Schädel ist über die Kante gerollt, der liegt da unten im Weinberg und hat ein Loch im Kopf.«
»Im Zug sitzt ein alter Mann«, sagte Meurer, »als er hörte, dass ihr hier, an dieser Stelle ein Skelett gefunden habt, hat er gesagt: ›Das kann nur der Copilot sein.‹ «
»Was für ein Copilot? Wovon spricht der alte Mann, was meint er damit?«, fragte Bodo.
»Geh rein und frag ihn selber! Der packt den Sprung aufs Gleisbett nicht mehr.« Rudolf Meurer wies auf ein Abteilfenster, hinter dem ein zerknittertes Gesicht lächelte.