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Charlottes Jugendjahre sind von Sorglosigkeit und Spaß geprägt. Jeder Tag ist ein Urlaubstag, das Leben an der Ostsee zeigt sich nur von seiner Sonnenseite. Als Frank und sie heiraten, glaubt sie an das große Glück für immer. Doch während sie sich zunehmend nach Geborgenheit und Sicherheit in ihrer Ehe sehnt, kennt die Party für ihn kein Ende und es treibt ihn immer öfter in fremde Arme. Zutiefst enttäuscht verlässt sie ihn, überwirft sich mit ihrem Vater und geht nach Berlin, um noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Falscher Stolz und Starrsinn halten sie davon ab, zurück zu kehren. Sie trifft Alexander, der ihr all das bietet, was Frank ihr nicht geben will. Ohne etwas von ihrem Vorleben preiszugeben, führt sie an seiner Seite ein vollkommen geordnetes, berechenbares Leben. Eine Ehe ohne Dramen, aber auch ohne Höhepunkte, doch mit dem sicheren Gefühl, dass auch am nächsten Tag alles bleibt, wie es ist. Sie kümmert sich um die Kinder, um Haus und Hof und hält ihrem Mann den Rücken frei, während er als Architekt das Geld für die Familie verdient. Alles könnte gut sein, wenn nicht eins ihrer beiden Kinder nicht seins wäre. Nach über zwanzig Jahren versöhnt sie sich mit ihrem Vater. Aber damit beginnen ihre Probleme erst richtig. Denn weder Alexander noch ihre Kinder wissen, dass es ihn gibt. Wie soll sie ihr sorgsam gesponnenes Lügennetz nur entwirren? Als dann auch noch Frank auftaucht und sie erneut in einen Strudel hemmungsloser Leidenschaft zieht und ihr die Mittelmäßigkeit ihres Lebens vor Augen führt, wird alles noch komplizierter. Und wer ist dieser Francis Morton, der einem Phantom gleich, keine Spuren hinterlässt, sich aber dennoch das Haus ihres Vaters unter den Nagel gerissen hat?
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Elke Kleist
DAS SANDDORNHAUS
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2016
Elke Kleist, 1956 geboren, lebt seit ihrer Kindheit in Prerow, wo sie zusammen mit ihrem Mann ein kleines Restaurant führt. Sie hat zwei sehr erwachsene Kinder und vier wundervolle Enkel. Vor dem Roman „Das Sanddornhaus“ sind von ihr bereits eine Sammlung von Kurzgeschichten und die Romane „Charmefaktor Hering“ und „Mit dem Nordost nach Südwest“ erschienen.
Cover
Titel
Die Autorin
Impressum
Das Sandornhaus
Danke!
Buchempfehlungen
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
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Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild © Bernd Nienkirchen
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016
Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen!
Keuchend stieß er den Spaten noch einmal in die weiche Erde. Wie Aasgeier kreisten sie Tag und Nacht um sein Haus herum, schnüffelten an allen Ecken und Enden. Sie scheuten sich nicht einmal, mit einem Metermaß über seinen Hof zu laufen, gerade so, als gäbe es ihn gar nicht.
Er ließ die lockere Erde vom Spaten auf einen länglichen Hügel rutschen. Immer wieder musste er eine Pause einlegen. Tief durchatmen. Einen letzten Spatenstich noch.
Er klopfte den Boden fest und betrachtete erschöpft, aber mit Genugtuung, sein Werk.
Gestern besaß einer sogar die Dreistigkeit, in sein Küchenfenster hineinzuglotzen! Das stelle man sich mal vor!
Sein Kopf schoss in die Höhe. Da! Da war schon wieder jemand! Er lauschte, kniff die Augen zu engen Schlitzen zusammen und starrte angestrengt in die einsetzende Dämmerung. Nein, war wohl nur die Eule. Die graue Eule, die war wahrscheinlich noch älter war als er. Sie schlief, solange er denken konnte, in der knorrigen Eiche.
Gequält streckte er seinen krummen Rücken. Na, dieser Spanner würde nicht wiederkommen. Keiner dieser Landräuber würde wiederkommen.
Dieses ganze Pack war nur hinter dem Geld her. Zornig ließ er den Spaten noch einmal in die Erde fahren. Die Gier fraß sie auf. Die maßlose Gier! Aber die da oben, die machten es ihnen ja vor.
Er merkte, wie mit der erneut aufsteigenden Wut sein Herz in der Brust zu toben begann, aber die Gedanken wollten zu Ende gedacht werden, er konnte sie nicht mehr bremsen. Sie hatten längst Besitz von ihm ergriffen.
Man brauchte doch nur den Fernseher anzumachen oder das Radio. Oder die Zeitung aufzuschlagen. Überall Verbrecher! Diese Herrn aus der Politik, die den Hals nicht vollkriegten und sich neben horrenden Diäten auch noch mit Nebenjobs und Lobbyismus die Taschen vollstopften.
Er schnaufte.
Genau, wie diese sogenannten Manager mit ihren unverschämten Gehältern, die sie rein zufällig vorher selbst festgelegt hatten. Und dann: Ab durch die Steuerlöcher!
Kein Wunder, dass am Ende jeder versuchte, sein Stück vom Kuchen abzubekommen. Egal wie, Hauptsache ordentlich groß.
Und jetzt krochen sie hier herum, um sich auch noch sein Haus einzukrallen. Meinten wohl, mit so einem alten Kauz wie ihm hätten sie ein leichtes Spiel. Wenn sie sich da mal nicht irrten. Er lachte böse. Er war zwar alt, aber nicht dämlich.
Sein Grinsen verzerrte sich unter dem plötzlich einsetzenden Schmerz zur Grimasse. Er riss die Augen weit auf und griff sich ans Herz. Ein glühender Blitz raste durch seine Brust. Er krümmte sich stöhnend zusammen und schnappte panisch nach Luft. Mit letzter Kraft wühlte sich seine linke Hand durch die Jackentasche und riss eine kleine Schachtel heraus. Am ganzen Körper bebend versuchte er, eine der winzigen weißen Tabletten zwischen die schmutzigen Finger zu bekommen, aber sie segelte wie in Zeitlupe zu Boden. Er konnte ihrem Flug nur hilflos zusehen. Er würde sie nicht wieder finden.
Jetzt nur die Ruhe bewahren! Er zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Einmal ein, einmal aus. So, ja, so ging es. Die zweite Tablette bekam er zu fassen. Hastig schluckte er sie hinunter. Er sollte sich nicht aufregen. Das wusste er. Aber es war doch alles zum aus der Haut fahren. Kraftlos ließ er sich auf einen rostigen Gartenstuhl fallen. Sie sollten ihn doch alle einfach nur in Ruhe lassen.
Er wusste nicht, wie lange er da gesessen hatte. Eine Stunde? Oder länger? Voll Verwunderung darüber, dass er wieder einmal überlebt hatte, nahm er plötzlich Schritte wahr und sah einen schwachen Lichtschein zwischen den Sanddornsträuchern heran tanzen. Er war zu erschöpft, um zu reagieren. Erst als sich eine dunkle Gestalt näherte, raffte er sich auf. „Wer zum Teufel …“, krächzte er.
„Ich bin’s, Frank.“ Zwei Bierflaschen schlugen scheppernd aneinander. „Hallo Nachbar. Bin gerade nach Hause gekommen und hab’ dich hier noch rumwirtschaften hören.“ Er reichte dem Alten ein Bier und zog sich einen zweiten, nicht weniger verrosteten Stuhl heran.
Der Alte lehnte sich erleichtert zurück und nippte an seiner Flasche. „Ich dachte schon …“, seine Stimme zitterte. „Gut, dass du da bist. Warst lange weg diesmal.“
„Alles In Ordnung mit dir?“ Frank beugte sich vor und musterte seinen Nachbarn im schwachen Licht der Taschenlampe von der Seite.
„Ja, ja, alles gut. Und bei dir?“
Frank spürte, dass absolut nichts in Ordnung war, aber er kannte den Alten lange genug. Der redete nur, wenn er es wollte.
Er lehnte sich müde zurück. „Ich hab’ das Gefühl, ich habe keine Ecke Deutschlands ausgelassen. Diese Reiserei ist der Horror.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und den stoppeligen Bart. „Aber was, verdammt noch mal, treibst du hier noch mitten in der Nacht?“
„Mitten in der Nacht?“
„Nach elf schon.“ Frank leuchtete mit seiner Taschenlampe über einen grabähnlichen Hügel. Im Kegel des Lichtes entdeckte er noch einen zweiten. „Wen hast du hier vergraben? Mein Gott, was für eine Schinderei. Wie hast du das allein geschafft?“
„Du musst nur ordentlich wütend sein“, knirschte Karl grimmig.
„Sieht ja aus wie auf dem Friedhof.“ Frank schüttelte verwundert den Kopf.
Der Alte ließ einen zufriedenen Blick über die Hügel gleiten. „Ja, auf den Gedanken könnte man kommen“, grunzte er vergnügt, wechselte aber sofort das Thema. „Erzähl’ schon, hast du die Frauen wieder um den Finger gewickelt?“ Er ließ Franks Frage unbeantwortet im Raum stehen.
Frank würde nicht mehr über die nächtliche Arbeit seines Nachbarn erfahren, und auch nicht über den Grund für dessen aschgraues Gesicht. Nicht jetzt. Er drehte die Flasche in der Hand. „Die Leute mögen das neue Buch anscheinend.“
Er wusste nur zu genau, was sein alter Freund wirklich hören wollte. „Klar, ein paar haben mir auch wieder ihre Telefonnummern zugesteckt, zwei Heiratsanträge waren wohl dabei, so ganz genau weiß ich das nicht mehr.“ Er streckte seine langen Beine weit von sich und trank sein Bier aus.
„Und, wie viele hast du diesmal rumgekriegt?“ Karl sah ihn lauernd an.
Nur gut, dass Frank so spannende Geschichten erzählen konnte. War alles drin. Land und Leute, ordentlich Verbrechen und ziemlich heiße Szenen. Eine scharfe Zunge hatte der Kerl, das musste man ihm lassen. So was mochten die Frauen. Im Gegensatz zu seinen sogenannten Holzkunstwerken in seinem Garten. Wenn das Kunst sein sollte, Prost Mahlzeit. Damit könnte er keinen Blumentopf gewinnen. Und kein Frauenherz. Obwohl, wenn die Leute wüssten, dass ein berühmter Schriftsteller sie erschaffen hatte, würden sie ihm die wohl aus den Händen reißen. So waren die Menschen nun mal. Hast du erst einen Namen, kannst du Scheiße als Bonbons verkaufen. Abgesehen davon, die Frauen schienen sich sowieso weit mehr für Frank selbst, als für seine Kunst zu interessieren, so wie die hinter ihm her waren.
Karls Lebensgeister klatschten in die Hände. Oh, er liebte diese Geschichten. Teil eines Lebens, das zwar so weit hinter ihm lag, an das er sich dennoch zu gut und zu gern erinnerte. Er war früher selber ein toller Hecht. Hatte nichts ausgelassen. Frank lebte dieses Leben. Genau so ausgiebig und intensiv. Wenn er auch nie wirklich darüber sprach, ein paar Brocken warf er Karl dann doch ab und an hin.
Er ließ sich auch diesmal darauf ein, spannte den Alten aber auf die Folter. „Ich habe übrigens ganz nebenbei die große Fischerfigur an den Mann gebracht.“
Karl runzelte die Stirn. Was? Dieses hässliche Monstrum, das Frank aus so einem verrotteten Baumstamm heraus gesägt hatte, wollte tatsächlich einer haben? Er wusste es doch, verrücktes Volk. Aber wenn sie meinten. Viel wichtiger war doch, was er sonst so erlebt hatte.
„Und die Frau des Hauses hat sich dafür erkenntlich gezeigt?“, bohrte er nach und schlug Frank auf den Oberschenkel.
„Ich fürchte, nach recht ausladenden Partys nicht nur die. Da war die Frau des Bürgermeisters von Posemuckel oder so und in der nächsten Stadt die Frau vom Literaturprofessor“, Frank lachte, „du weißt doch, wie so was immer läuft. Ich hoffe, deren Ehemänner jagen mir nicht ihre Bluthunde hinterher.“
Karl kicherte. „Waren sie gut? Haben sie es dir ordentlich besorgt?“
Frank winkte ab. An dieser Stelle endete für ihn das Spiel. „Noch ein Bier? Nach dieser Tour kann ich’s mir leisten.“ Er wollte sich gerade erheben, als über ihnen die alte Eule mit einem grellen Schrei aus dem Baum herausfuhr.
Der Alte zuckte zusammen. „Sie kommen schon wieder!“
Frank sah ihn irritiert an. „Die Eulen?“
Karl schüttelte den Kopf und erhob sich stöhnend. „Zeit schlafen zu gehen.“ Mürrisch wehrte er Franks helfende Hand ab. „Und“, fragte er, sich abwendend, „hast du schon eine neue Geschichte im Kopf?“
„Ich lasse mich gerade inspirieren“, antwortete Frank mit einem Seitenblick auf Karls nächtliche Arbeit. „Vielleicht hilfst du mir ja auf die Sprünge.“ Er nahm dem Alten die Bierflasche ab und leuchtete ihm den Weg zum Haus. Besorgt sah er ihm nach und wartete, bis er mit schlurfenden Schritten im Haus verschwunden war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Irgendetwas musste passiert sein, während er unterwegs war. Was hatte den alten Mann so verunsichert? Oder sollte er besser fragen, wer? Und was hatte das mit diesen, ja wie nun, Hügeln auf sich?
Frank schwenkte die Taschenlampe noch einmal in Richtung der seltsamen Erdhaufen, obwohl er wusste, dass ihr Licht die dichten Sträucher nicht durchdringen konnte. Er würde morgen mit Karl reden.
Karl drehte den Schlüssel zwei Mal im Schloss herum, schob einen schweren Riegel vor und hakte zusätzlich eine dicke Kette ein. Erst als er alles noch einmal geprüft hatte, trottete er in sein Wohnzimmer und ließ sich in seinen Sessel fallen.
Sein ganzes Leben wohnte er nun schon in diesem Haus. Und davor seine Eltern und davor deren Eltern. Bis vor wenigen Wochen war seine Tür Tag und Nacht unverschlossen geblieben. Nie wäre er auf den Gedanken gekommen, irgendwer könnte bei ihm eindringen. Plötzlich war alles anders.
Und jetzt auch noch das Herz. Die Attacken kamen immer öfter. Wie, um sich zu vergewissern, dass sie da waren, tastete seine Hand nach den Pillen. Erleichtert atmete er auf. Was, wenn er es nicht rechtzeitig geschafft hätte? Wenn er jetzt tot in seinem Garten liegen und ihn niemand finden würde? Seine Augenlider wurden schwer.
Ja, früher, da hatte er eine Tochter. Aber das war lange her. Manchmal fragte er sich, ob sie nicht vielleicht doch irgendwann zurückkommen würde. Eigentlich fragte er sich das jeden Tag. Aber nein, er hatte keine Tochter mehr. Basta!
Er hatte Frank, der ihm wie ein Sohn war. Das Leben war so viel einfacher mit Söhnen.
Außerdem hatte er Erna, seine alte Erna, die bei ihm nach dem Rechten sah. Sie meckerte zwar ständig mit ihm herum, weil dies und jenes nicht nach ihrem Geschmack war oder ihr sonst ‘was nicht in den Kram passte, aber im Grunde war sie eine herzensgute Seele und er wüsste nicht, wie er ohne sie klarkommen sollte.
Irgendwelche Aasgeier würden ab jetzt immer wieder hier landen, da war er sich sicher. Das war nur der Anfang. Sie würden nicht aufgeben. Die würden begeistert mit ihren Flügel klatschen, wenn er endlich schlapp machte und sie ihn weich klopfen konnten. Da warteten die doch nur darauf. Aber den Gefallen würde er ihnen auf keinen Fall tun. Er würde seine Gegenmaßnahmen treffen. Er hatte schon einen Plan. Und noch viel Platz in seinem Garten. Seine Augen fielen zu.
Charlotte schaute in die Nacht. Der Mond ließ sein silbernes Licht wie eine fein gewebte Gardine über das Land fließen. So zart, so empfindlich.
Sie brauchte sich nicht umzudrehen, sie kannte das Bild hinter sich. Ihr Mann, auf dem Rücken liegend, nur halb zugedeckt, den Kopf leicht zur Seite gedreht. Er schlief mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht. Wie immer nach dem Sex.
Und sie stand am Fenster und betrachtete den Himmel. Auch wie immer.
Erna, ihre Ersatzmutter, hatte ihr damals verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand als guten Rat mit auf den Weg gegeben, dass es da etwas gäbe, was Ehemänner nun mal immer wollten und was sie, als Ehefrau, wohl oder übel über sich ergehen lassen müsste.
Aus heutiger Sicht würde Charlotte dem zustimmen. Wenn sie es nicht besser wüsste. Aus einem anderen Leben. Einem Leben vor diesem.
Sie hatte gelernt damit umzugehen. Sie beherrschte mittlerweile die Kunst gezielter Berührungen und Bewegungen, die ihn glücklich machten und zugleich alles etwas beschleunigten. Sie tat es für ihn. Warum, das spielte keine Rolle. Sie spielte keine Rolle in diesem Teil des Stückes. Anfangs litt sie unter den unerfüllten Sehnsüchten. Inzwischen nicht mehr. Man konnte nun mal nicht alles haben. Es war, wie Erna gesagt hatte, es gehörte nun einmal dazu.
Alexanders gleichmäßiger Atem erfüllte den Raum.
Charlottes Blick wanderte zum Leuchtdisplay des Weckers hinüber und sie runzelte die Stirn. Antonia sollte längst zu Hause sein. Sie war erst sechzehn und es gab Absprachen, an die sie sich zu halten hatte. Einfach, weil man sich aufeinander verlassen können musste.
Draußen klappte eine Autotür. Das Taxi. Wenig später fiel die schwere Eingangstür krachend ins Schloss und riss das Haus kurzzeitig aus seinem tiefen Schlaf. Wie oft schon hatte sie Antonia ermahnt, etwas mehr Rücksicht zu nehmen. Andererseits liebte Charlotte dieses Geräusch. Alles in Ordnung, alle zu Hause.
Alle, außer Tim.
Charlotte strich sich fröstelnd über die Arme. Wo steckte er wohl gerade? Ging es ihm gut? Ging es ihm um alles in der Welt, gut?
Alexander quittierte die Heimkehr seiner Tochter lediglich mit ein paar lauteren Atemzügen. Väter kannten die Sorgen nicht, die Mütter, vor allem nachts, nicht losließen.
Doch in diesem Augenblick richtete er sich halb auf. „Komm ins Bett. Du wirst ja ganz kalt. Antonia ist zu Hause, was ist also noch.“ Er streckte seine Hand nach Charlotte aus.
Sie drehte sich überrascht um. „Ich dachte, du schläfst“, sagte sie leise. „Hab’ ich dich geweckt?“
Sie guckte noch einmal zum Mond hoch, als könnte der ihr Antworten geben. „Ich musste gerade an Tim denken“, flüsterte sie.
„Das tust du doch immer“, brummte Alexander ungeduldig, „nun komm schon.“
Sie schlüpfte zurück unter die Bettdecke und er zog sie an sich.
„Wird schon alles gut sein.“ Damit war das Thema für ihn erledigt.
Aber Charlotte lag noch lange wach. Ihr Sohn, der nicht seiner war, ließ sie nicht zur Ruhe kommen.
Alexander wollte ihm ein guter Vater sein. Aber seine Lebensvorstellungen, die sich von jeher in festen Grenzen bewegten, prallten immer wieder mit Tims wildem Naturell und seiner ungebremsten Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer aufeinander. Bis Tim eines Tages verschwand. Ohne abgeschlossenes Abitur, ohne das Studium, das Alexander für ihn vorgesehen hatte. Einfach so. Das war jetzt sieben Jahre, drei Monate und zwölf Tage her. Nur fünfmal war er in der Zeit zu Hause gewesen. Fünfzehn viel zu kurze Tage.
Das letzte Mal hatte er sich aus Nigeria gemeldet, wo er für eine Chemiefirma arbeitete. Dort war er glücklich.
Und sie? Sie führte eine Ehe ohne Dramen und ohne Höhepunkte. Ihr Mann liebte sie. Auf seine Art eben. Sie hatten eine gemeinsame Tochter, die ihrem Vater sehr ähnlich sah, ein schönes Zuhause und einen netten Freundeskreis. Was konnte sie mehr erwarten?
Alexander verdiente als Architekt gutes Geld, sie hielt ihm den Rücken frei. So wollte er es und sie hatte sich darauf eingelassen.
Doch es war ein Leben ohne die Menschen, die ihr vor diesem neuen Leben die wichtigsten waren. Sie hatte so entschieden und musste damit klarkommen, auch wenn sie die Sehnsucht nie losließ. Aber, da war es wieder, man konnte nun mal nicht alles haben und Schmerz gehörte, genau wie ein bisschen Glück, zum Leben.
Glück war in ihren Augen sowieso ein zu großes Wort. Zufriedenheit und Beständigkeit bestimmten ihr Leben, das musste reichen. Sie rückte noch etwas enger an ihren Mann heran und schlief in seinen Armen ein.
Die aufgehende Sonne füllte den Prerow-Strom mit goldroter Glut und überflutete die umliegenden Wiesen, lange, bevor sie selbst tatsächlich hinter dem Dünenwäldchen auftauchte und die Nacht endgültig verdrängte.
Was nutzte der schönste Sonnenaufgang, wenn man nicht aufstand?
Frank war ein Frühaufsteher. Für ihn war dieser Anblick immer wieder ein Wunder. Er saß auf seinem Balkon, die Füße auf dem kleinen Tisch vor ihm, in der Hand einen angeschlagenen Kaffeepott. Er liebte diese Morgenstunde, in der alle Ruhe und Kraft der Welt zu liegen schien.
Sein Blick schweifte von der Hohen Düne am blendenden Licht der Sonne vorbei über die Weite der Graslandschaft bis hin zum Barther Kirchturm in der Ferne. Und um dem kitschigen Bild noch eins draufzusetzen, standen drei Rehe in diesem Gemälde und machten sich über das frische Grün her.
Frank könnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Manchmal verschluckte der Alltag die Schönheit um ihn herum und degradierte sie zu einer simplen Selbstverständlichkeit. Aber spätestens nach einer dieser Reisen wurde ihm umso mehr bewusst, in was für einem Paradies er zu Hause war.
Er war diesmal lange unterwegs gewesen. Zu lange. Acht Wochen von einer Stadt in die andere. Nur aus dem Koffer leben, harte Hotelbetten, zu dünne oder zu dicke Kopfkissen, Gaststättenessen, mal besser, mal schlechter, und immer wieder dieser Erwartungsdruck. Abend für Abend. Meist volle Säle, Augenpaare, die ihn neugierig musterten, ‚Ach, das also ist der berühmte Francis Morton‘, Leute, die ihm zu sehr auf die Pelle rückten, weil sie zuvor schon in seinen Lesungen waren, man sich also kannte und damit quasi befreundet war. Am schlimmsten aber war das allabendliche Lampenfieber. Sicher, er kannte seine Texte mittlerweile fast auswendig, aber er war sich nie der Reaktion der Zuhörer sicher und fürchtete immer aufs Neue, zu versagen.
„Entspann dich, Mann. Die Leute lieben dich, sie tragen dich auf Händen“, hörte er seinen Agenten sagen. Aber was wusste der schon. Klar, die Verkaufszahlen sprachen für sich, der Andrang auf die Lesungen ließ nicht nach. Dennoch.
Das war jetzt schon sein fünfter Roman, der monatelang mit die Bestsellerliste anführte. Der sechste war fast fertig und würde genau so einschlagen. Sagte sein Agent.
Frank hatte im Schreiben seine Erfüllung gefunden. Es gab ihm den Raum, mit sich allein zu sein. Für notwendige Recherchen konnte er sich mit genau den Leuten umgeben, die tatsächlich etwas zu sagen hatten, die all die interessanten Dinge wussten, von denen er selbst keine oder zu wenig Ahnung hatte und die er dann in seinen Büchern als sein Wissen verkaufen konnte. Das Schreiben gab ihm die Möglichkeit, alles auszusprechen, was ihm am Herzen lag. Er konnte Kritik an allem und jedem üben, wie er wollte. Er durfte seine Gedanken schweifen lassen, behaupten, spekulieren, lügen, weil es ja seine Figuren waren, die in seinem Namen agierten. Er konnte über sie seine Meinung in die Öffentlichkeit tragen, ohne sich dafür rechtfertigen zu müssen. Man kann seiner eigenen Wahrheit nicht entfliehen, hatte er einmal zu einem Kollegen gesagt, auch wenn es mitunter sehr persönlich wird. Und genauso war es.
Aber bis zu dem Punkt, an dem er sich heute befand, war es ein holpriger Weg. Er dachte an die unbeschwerten Jahre der Jugend, in denen er und seine Freunde ziellos in den Tag hineinlebten.
Zeitgleich mit seiner Ehe zerbrach auch die DDR. Sie verschwand von der politischen und gesellschaftlichen Bühne, wenn auch bis heute nicht ganz aus den Köpfen der Menschen.
Es war der Aufbruch in ein völlig neues Leben. Frank ließ sich durch ein plötzlich grenzenlos offenes Universum treiben, begierig, die Eindrücke dieser Welt in sich aufzunehmen. Es dauerte mehrere Jahre, bevor er seiner Bestimmung folgte und nach Hause zurückfand.
Als Karls Nachbarin den Umzug in ein Altenheim erwog, ergriff er die Chance, nahm einen großzügigen Kredit auf und kaufte den alten Katen. Er gab die winzige Mietwohnung, die ihm bis dahin immer ausreichend erschienen war, auf, diese Wohnung, die eher einem Loch glich, in dem er mit seiner Frau gelebt hatte und in dem sie mehr und mehr verkümmert war. Er hatte es nicht gesehen. Er wollte es nicht sehen. Für ihn war das Leben ein großes Abenteuer, frei, ohne lästige Verpflichtungen, voll Party und Liebe. Mehr als ein Mal in fremden Betten. Anfangs schien seine Frau dieses Leben zu teilen. Sie waren so wild und jung. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie begann, sich zurück zu ziehen und von Zukunft und Sicherheit zu sprechen. Er hatte weitergemacht wie bisher, und sie hatte ihn verlassen.
Keine nach ihr war wie sie, und so blieb er allein.
Er holte all das nach, was er zuvor versäumt hatte. Ausbildung, ein geordnetes Leben in einem schönen Zuhause und Ziele, ohne dabei seine Träume aus den Augen zu verlieren.
Die marode Hütte musste zu Gunsten einer neuen weichen. Er hörte sie noch, die alten Prerower. Monatelang erhitzte sein Haus die Gemüter. Zu modern, zu verrückt, und überhaupt passte es so gar nicht hierher. Aber das war ihm egal. Viel Holz, große Fensterfronten, gerade, schlichte Linien. Schnörkellos wie er selbst.
An seinem Schreibtisch, mit diesem fantastischen Blick über den Strom, entstand eines Tages die Figur des Francis Morton.
Dass er unter einem Pseudonym schrieb, machte die Sache nicht nur angenehmer, sie war eine der Bedingungen, die er unwiderruflich an seinen Agenten und den Verlag gestellt hatte. Absolute Anonymität.
Schreiben ist ein einsames Geschäft. Wenn ein Schriftsteller in der Öffentlichkeit gefeiert wird, verliert er seine Einsamkeit und damit häufig die Fähigkeit, gut zu schreiben.
Es war ihm bis jetzt vortrefflich gelungen, seine Privatsphäre zu schützen. Einzig Karl wusste von seinem Doppelleben. Für alle anderen hier in Prerow, seine Freunde, Bekannten, die, die ihn mochten und die anderen auch, war er nur der Typ, der ab und an lapidare Beiträge für verschiedene Zeitungen verfasste und in seinem Garten fragwürdige Kunstwerke aus verwittertem Holz erschuf.
Keines seiner Bücher trug ein Foto von ihm. Seine Lesungen fanden allesamt weit genug von Prerow entfernt statt, so dass nicht die Gefahr bestand, von jemandem erkannt zu werden.
Francis Morton und Frank Tempel ähnelten sich äußerlich kaum. Ging Frank auf Lesereise, verwandelte er sich. Aus dem eher wortkargen Lebenskünstler wurde der elegante, gepflegte und wortgewandte Bestsellerautor. Nichts, aber auch gar nichts ließ dann mehr auf seine wahre Identität schließen. Und genau so sollte es bleiben.
„Frank!“ Eine schrille Stimme schallte aus dem Flur zu ihm herauf. „Fraaank!“
Frank schaute auf die Uhr. Gerade einmal sieben. Was war so wichtig? Er trank den letzten, mittlerweile kalten Schluck Kaffee aus und ging hinunter.
Eine füllige Frau in geblümter Kittelschürze stand an der Treppe und sah ihm erwartungsvoll entgegen.
„Guten Morgen Erna“, rief er ihr gutgelaunt zu.
„Morgenrot, schlecht Wetter droht“, wies sie ihn barsch zurecht.
„Erna“, er legte seinen Arm um sie, „wie kann etwas so wunderschönes eine Drohung sein. Wo brennt’s denn?“ Er schob sie vor sich in die Küche. „Kaffee?“
„Ach ja, aber nicht so stark, wie du ihn immer trinkst. Ich muss an mein Herz denken. Ich bin ja nicht mehr die Jüngste.“ Sie kokettierte zu gern mit ihrem Alter.
Frank kannte die Spielregeln. „Aber Erna, du und alt? Du doch nicht!“
Er lächelte, während er den Kaffee durchlaufen ließ. Die gute Seele Erna! Dass sie sich um Karl kümmerte, war für ihn eine große Beruhigung, ganz besonders, wenn er länger nicht zu Hause war. Aber ihr Betätigungsfeld erstreckte sich längst auch auf sein eigenes Wohlbefinden. Dabei war sie tatsächlich in einem Alter, in dem andere längst selber Hilfe brauchten.
Erna ließ sich auf einen der Stühle an dem großen Küchentisch plumpsen und strich nachdenklich über das grobe Holz. „Ich habe dich gestern Abend kommen sehen. Warst ja ewig weg. Wo hast du bloß wieder gesteckt? Hier“, sie schob einen bunten Stoffbeutel rüber, „ich hab’ dir Brötchen mitgebracht. Sie sind noch warm. Siehst ja ganz ausgemergelt aus.“
Frank sah ihr an, dass ihre Gedanken ganz woanders waren und er ahnte, um wen es ging.
„Du verwöhnst mich. Danke.“ Er stellte ihr den Kaffee hin und tätschelte ihre Schultern. „Was wäre ich ohne dich.“ Er setzte sich ihr gegenüber. „Aber jetzt erzähl’. Was ist los?“
Erna nippt an ihrem Kaffee. „Es geht um Karl.“ Sie kniff die Lippen zusammen als wäre sie sich nicht sicher, ob sie weitersprechen sollte. „Da passieren komische Dinge auf seinem Hof“, presste sie heraus und klammerte sich förmlich an die Kaffeetasse. „Fremde Kerle treiben sich da rum und stöbern durch alle Ecken. Ich hab’ die gefragt, was sie da zu suchen hätten. Frech sind die geworden, kann ich dir sagen. Haben gemeint, ich solle sehen, dass ich meine Schlüpper gewaschen kriege und sie nicht bei ihrer Arbeit stören.“
„Und was hat Karl gesagt?“ Franks Augenbrauen zogen sich bedrohlich zusammen.
„Den hättest du hören sollen. Angebrüllt hat er die. Ich hab’ ihn bis zu mir rüber gehört. Hat was von Landräubern oder so geschimpft und ist mit dem Spaten hinter ihnen her. Aber die sind immer wiedergekommen.“ Ihre Wut verwandelte sich zusehends in Sorge. „Das macht mir Angst.“
„Nun mal langsam, Erna. Was für Leute waren das?“
Ernas Gesicht bekam vor Aufregung lauter rote Flecken. „Einer mit Schlips und Kragen und einem Haufen Aktenkram unter dem Arm. Hat immerzu darin rumgewühlt, bis ihm der Wind das ganze Zeugs aus den Händen gerissen hat. Hättest mal sehen sollen, wie der hinterher geflitzt ist.“ Ernas Lachen klang kläglich. „Und der andere, ich kann dir sagen, der sah gefährlich aus. So ’n richtiger Verbrechertyp.“
„Wie sieht ein Verbrechertyp aus?“ Frank konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Ich sag’ dir, der war nicht sauber!“ Erna klopfte wie zur Bestätigung heftig auf den Tisch.
„Und Karl hat dir nichts erzählt?“, wollte Frank wissen.
„Ich hab’ ihn gelöchert. Kennst mich ja. Aber der alte Gnadderkopp hat nur irgendwas in seinen Bart gegrummelt und gemeint, ich solle ihn in Ruhe lassen, und er würde allein mit denen fertig.“
Frank dachte an den Abend zuvor. Landräuber? War Karl derentwegen so fertig? Aber bei ihm gab es nichts zu rauben. Haus und Hof gehörten Karls Familie seit Generationen. Sollte …? Nein, den Gedanken verwarf er sofort wieder. Nein, das würde sie ihrem Vater nie antun. Wer also sollte dem alten Mann so auf die Pelle rücken? Und warum?
„Wann war das?“, fragte er Erna eindringlich.
Erna rieb sich die Stirn, als wollte sie so die Erinnerung herauslocken. „Na, das fing so vor zwei, drei Wochen an.“ Sie hob triumphierend den Zeigefinger. „Und dann waren sie plötzlich wieder weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Haben wohl nicht gefunden, wonach sie gesucht haben.“
„Wann sind sie verschwunden?“
„Seit ein paar Tagen war keiner mehr da. Einfach weg.“ Ernas Augenbrauen schossen in die Höhe, als konnte sie das selber nicht fassen. „Aber ich sage dir, irgendwas haben die mit Karl angestellt. Er ist seit dem so …, ja, ich weiß auch nicht“, sie hob hilflos die Hände, „als wäre er nicht mehr ganz richtig im Kopf“, fügte sie beunruhigt hinzu.
„Hast du was gehört, wird jemand vermisst?“, fragte Frank vorsichtig, obwohl ihm dieser Gedanke total idiotisch erschien.
„Vermisst? Wieso sollte jemand vermisst werden?“ Erna schaute Frank an, als hätte der nun auch noch den Verstand verloren. Aber plötzlich hellte sich ihre Miene auf. „Da fällt mir ein, Lisa hat mir da was erzählt. Da waren zwei Männer, die in der Pension „Linde“ gewohnt haben. Sollen mächtig wichtig getan haben. Und dann, schwuppdiwupp, waren sie weg ohne zu bezahlen. Vielleicht waren das diese Typen.“
„Mit Sack und Pack?“
„Hä? Ach so, nein, die hatten gar nichts weiter mit.“
Frank schaute grüblerisch aus dem Fenster. Ihm gingen die seltsamen Hügel in Karls Garten nicht aus dem Kopf. Aber da galoppierten wohl seine Krimifantasien mit ihm durch. Trotzdem, irgendetwas war im Busch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Kurz musste er über das Wortspiel grinsen, aber er spürte, dass das alles kein Spaß war. Er schaute auf die Uhr. Noch zu früh, um Karl einen Besuch abzustatten. Er schlief noch.
Frank nickte Erna aufmunternd zu. „Mach’ dir mal keine Sorgen. Ich kläre das. Aber jetzt gibt’s erstmal Frühstück. Es gibt nichts Besseres als warme Brötchen.“
Ganz wohl war ihm allerdings nicht. Was um alles in der Welt hatte der alte Mann getan?
Schräg gegenüber von Karl wohnte Lisa. Das kleine, schilfgedeckte Haus verriet auf den ersten Blick das Zuhause einer Künstlerin. Eine Staffelei stand in der Sonne, ein Tisch mit Ölfarben und Pinseln daneben. Überall blühten Blumen, viele davon in handgearbeiteten Steinguttöpfen, in den Fenstern hingen selbst gehäkelte Gardinen aus groben Garnen.
Lisa hockte zwischen bunten Stauden und Sträuchern. Sie hielt ihre Hand schützend vor die Augen, um gegen die Sonne sehen zu können und winkte Frank freudig entgegen.
„Hallo Cowboy! Wieder zurück?“ Sie hatte sich längst abgewöhnt, ihn nach seinen Reisen zu fragen. Es kamen die abenteuerlichsten Geschichten dabei heraus, nur nicht die Wahrheit.
Er schlenderte, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, betont lässig zu ihr hinüber.
„Hallo Lisa. Hast’ mich vermisst?“
Sie legte abwägend den Kopf zur Seite und lachte. Sie musste früher mal bildhübsch gewesen sein und war auch heute noch eine sehr reizvolle Frau.
Sie ließ ihre langen, grauen Haaren offen über die Schultern hängen und trug ein weites Kleid aus erdbraunem Wollstoff. Ihre Füße steckten in Schafwollsocken und Birkenstocksandalen. Sie wirkte wie jemand, für den die Zeit in den 68igern stehen geblieben war. Hinter dieser äußeren Erscheinung verbarg sich eine Frau mit ausgesprochen wachem Verstand und ehrlichem Herzen, was Frank sehr zu schätzen wusste.
„Willst du reinkommen? Du warst lange weg.“ Sie hob die Arme und warf verführerisch ihre Haare nach hinten. Ihr Lächeln streichelte über seine Haut und ihr Duft nach Blumen umwehte ihn, während ihm ihre Augen ein Stück vom Himmel versprachen.
„Wo steckt dein Mann?“
„Wir haben Zeit“, ihre Stimme klang rauchig. „Er ist zu Vorlesungen an der Uni in Rostock. Er kommt nicht vor Freitag zurück.“
Sie waren vor etlichen Jahren hierher gezogen. Lisas Mann war deutlich älter als sie und lebte mittlerweile nur noch für seine Studenten. Er war selten zu Hause. Frank hatte ihn nur wenige Male getroffen. Typ zerstreuter Professor, war seine Erinnerung.
Sie stellte sich vor ihn und schlang ihre Arme um seinen Hals. „Was ist los, Cowboy? Erst Kaffee …?“
Frank ließ seine Hand langsam über ihre Hüften gleiten. „Kaffee hatte ich schon genug.“
„Na dann …“, hauchte Lisa ihm ins Ohr, nahm seine Hand und zog ihn hinter sich ins Haus.
Es war fast Mittag, als Frank an Karls Tür klopfte und im selben Moment die Klinke herunter drückte, um einzutreten. Aber die Tür gab nicht nach und er rammte voll dagegen.
„Verflucht!“ Er rieb sich die schmerzende Schulter. Karl hatte sich doch noch nie eingeschlossen. Er schlug laut mit der Faust gegen das Holz.
Schlurfende Schritte näherten sich im Innern.
„Wer zum Teufel ist da?“
„Wer schon, ich bin’s. Frank.“
Frank hörte Karl an Kettenschlössern hantieren und dann einen schweren Riegel zur Seite schieben. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Karl lugte hindurch. Erst als er sah, dass es tatsächlich Frank war, öffnete er auch das letzte Schloss und die Tür schwang auf. Er drehte sich kommentarlos um und schlurfte Frank voraus in die Küche.
Irritiert betrachtete Frank die vielen Schlösser. Karls Haus glich einer Hochsicherheitszone. Das wurde ja immer mysteriöser.
„Zweites Frühstück, Nachbar?“, fragte er und setzte sich zu dem Alten an den Tisch.
Karl schnitt mit einem alten Taschenmesser Stück für Stück von seinem Brot ab und spülte jeden Happen mit einem Schluck Milch hinunter. Er schwieg beharrlich.
„Was hat das zu bedeuten?“ Frank zeigte über seine Schulter in Richtung der Eingangstür. „Hast du Angst vor den Geistern der Vergangenheit?“, versuchte er der Situation die Dramatik zu nehmen.
„Vergangenheit?“ Karl fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Quatsch. Ungebetenes Volk will ich fernhalten. Schmeißfliegen! Halsabdreher! Verbrecher!“
Hatte Erna also recht. Diese Typen mussten Karl ganz schön zugesetzt haben. Aber wollte Frank mehr herauskriegen, musste er behutsam vorgehen.
„Sammelst wohl Ideen für mein neues Buch?“, fragte er grinsend. „Vielleicht kann ich sie dir abkaufen?“
Karl sah ihn nicht an. „Wer weiß“, brummte er. Seine Hand zitterte, als er sich Milch nachgoss. Er kleckerte dabei über den Rand des Glases und hinterließ eine weiße Lache auf dem Tisch. Nachlässig wischte er mit dem Ärmel drüber. „Es ist gut, dass du da bist. Wir müssen ‘was besprechen.“
„Ja, das denke ich auch.“ Frank schaute noch einmal zur Tür. „Ich halte das für keine gute Idee, Karl. Die vielen Schlösser da. Wie sollen wir zu dir reinkommen, wenn du mal Hilfe brauchst. Soll ich die Tür mit der Axt einschlagen?“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Beine weit von sich.
Daran hatte Karl noch gar nicht gedacht. Was, wenn …? Er griff sich ans Herz. Er musste das Problem schnell und endgültig lösen. Dann brauchte er sich nicht mehr einzuschließen.
„Hör zu Frank“, setzte er an, „ich will das Haus los werden.“
Frank setzte sich mit einem Ruck auf und sah ihn entsetzt an. „Was willst du? Das Haus verkaufen?“
„Mm.“
„Doch nicht etwa an einen von diesen Typen?“
Karl hob überrascht die buschigen Augenbrauen. Dann schüttelte er ärgerlich den Kopf. „Konnte Erna ihr Schladdermaul wieder nicht halten.“ Er umklammerte mit seinen Händen die Stuhllehne und stemmte sich schwerfällig hoch. In den Armen steckte noch deutlich mehr Kraft als im Rücken und in den Beinen.
Er gab Frank einen Wink. „Komm mit.“
Sie gingen in das angrenzende Wohnzimmer. Durch die zugezogenen Gardinen kam kaum Licht herein und stickige Luft schlug ihnen entgegen.
„Du erlaubst?“ Frank wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern zerrte die Vorhänge beiseite und riss das Fenster auf. Schon besser.
„He, du hast dir einen neuen Sessel gegönnt“, staunte er. Sein alter Kumpel Karl, der seit Jahr und Tag meinte, jegliche Veränderung würde sich nicht mehr lohnen und wäre reine Geldverschwendung hatte doch noch einmal zugeschlagen.
„Mit Aushubfunktion.“ Stolz schwang in Karls Stimme mit. „Hat Erna mir aufgeschwatzt. Hatte direkt mal recht, die alte Hexe“, fügte er mit einem zärtlichen Unterton hinzu.
Er machte sich am Schrank zu schaffen. Mühselig schleppte er einen schweren Ordner an, den er auf den Tisch knallen ließ.
„Was ist das?“ Frank zog sich einen Stuhl heran.
„Guck dir das mal an. Das ist alles so ’n Kram für das Haus. Lagepläne und so was.“
„Willst du mir nicht erst mal erzählen, was los ist?“ Frank blätterte durch alte bis uralte Unterlagen. Viele Papiere bestanden aus dünnstem Durchschlagpapier, das mit sperrigen Schreibmaschinenbuchstaben bedruckt war. Manche Blätter drohten schon bei vorsichtiger Berührung auseinanderzufallen.
Karl ließ sich auf den gegenüberstehenden Stuhl fallen und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, lag ein entschiedenes Blitzen in ihnen.
„Also, ich werde das Haus abstoßen. So oder so. Ich habe es satt, von diesen Geiern Tag und Nacht belagert zu werden. Die einen schmieren mir Honig ums Maul, denken, sie können mich für blöd verkaufen. Aber noch schlimmer sind die anderen, die Stillen, die hier rumschleichen und sonst was ausbrüten.“
„Wer sind die? Und was wollen sie von dir?“ So richtig verstanden hatte Frank immer noch nicht.
„Mein Haus wollen die.“ Karl schlug mit der Faust auf den Tisch. „Meinten, ich wäre doch schon ganz schön alt und das Haus nur noch eine Belastung für mich. Wie gut ich es haben könnte, wenn ich auf meine alten Tage mit Geld …“
„In einem Altenheim verrotte“, vollendete Frank den Gedanken. Das war es also.
„Das ist denen scheißegal. Da kannst du einen drauf lassen“, brummte Karl. „Einen Haufen Geld haben sie mir angeboten.“ Das Gespräch strengte ihn merklich an. „Aber die kriegen es nicht. Glauben, sie könnten mich mit ihrem Scheißgeld ködern.“ Er schüttelte müde den Kopf. „Als wenn ich noch groß was brauchen täte“, fuhr er mit schwacher Stimme fort. Er kramte in seiner Tasche und holte die Tablettenschachtel hervor. „Gib mir mal das Wasser da rüber.“
Frank holte die Flasche und schaute besorgt, wie Karl die Pillen schluckte.
„Was ist das für Zeug?“
Karl winkte ab. „Ach, nur so ’n Vitaminzeugs.“
Dieses Vitaminzeug schien ihn mit neuem Leben zu erfüllen. Er beugte sich vor und sah Frank verschwörerisch an. „Ich hab’ da eine Idee.“ Ein zufriedenes Grinsen lag auf seinem Gesicht. „Erst hab’ ich gedacht, ich überschreibe dir das Haus. Dann hab’ ich endlich wieder meine Ruhe und du kannst dich mit dem Pack ‘rumärgern. Denn eins sag ich dir, die lassen nicht locker. Aber …“, er rieb sich vergnügt die Hände, „wenn ich es an diesen Francis Morton …“
„Karl, das geht nicht!“ unterbrach Frank ihn abrupt. „Du hast eine Tochter!“
„Ich habe keine Tochter!“ Wieder schlug Karl heftig auf die Tischplatte. „Schluss damit. Ich will davon nichts mehr hören. Basta!“
Frank schüttelte verstört den Kopf. Das gefiel ihm gar nicht.
Karl lächelte ihn versöhnlich an. „Frank, vergiss sie. Es ist vorbei. Ich weiß es und du weißt es auch.“ Seine Augen straften ihn Lügen, aber es ging nicht anders. „Überleg doch mal. Wenn es diesem Francis Morton gehört, dann kommt niemand da ran. Kein Schwein weiß, wer dieser Kerl ist.“ Wieder rieb er sich die Hände. „Dann habe ich endlich wieder meine Ruhe.“
„Aber ich habe doch mein Haus.“
„Du ja, aber Francis Morton nicht.“ Der Alte amüsierte sich prächtig über seine Idee.
„Der kommt hier aber nie her!“
„Das soll er, verdammt noch mal, doch auch gar nicht.“ War der Kerl schwer von Begriff? Karl schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Weil der anständige Herr Schriftsteller mich hier wohnen lässt bis mich der Teufel holt.“ Er freute sich diebisch. „Dann müssen die Aasgeier wohl oder übel woanders auf Suche gehen. Und wenn ich verreckt bin, kannst du mit dem Katen machen, was du willst.“
„Und wie willst du das unter die Leute kriegen?“
Karl grunzte vergnügt. „Erzähl Erna ein Geheimnis …“
Klar, Erna, das würde klappen. Frank stand auf, lehnte sich aus dem Fenster und atmete tief die frische Luft ein. Er drehte sich um. „Aber erst will ich wissen, was das da für Haufen in deinem Garten sind.“
„Papperlapapp. Da gibt’s nichts zu wissen“, wehrte Karl mürrisch ab. „Geht keinen was an.“ Doch dann blinzelte er Frank listig an. „Wenn dein Francis Morton das Haus nimmt, dann kann er ja nachgucken.“
Frank setzte sich wieder und stützte die Ellenbogen auf seine Oberschenkel. „Lass mich darüber nachdenken, ja?“
„Was gibt’s da nachzudenken? Aber wenn du meinst. Lass dir nur nicht zu lange Zeit. Ich will schließlich nicht drüber wegsterben. So, und jetzt verschwinde. Ich hab’ zu tun.“
Charlotte musterte ihr ernstes Spiegelbild. Sachte strich sie über die dünne Narbe, die sich fast über die ganze linke Wange zog. Sie war kaum noch zu erkennen, eher ein feiner Strich, der sich bei Aufregung immer noch verräterisch rot verfärbte. Charlotte musste bei der Erinnerung unwillkürlich lächeln. Sie war als Kind regelrecht in einen Stacheldrahtzaun hinein gerannt, als sie mit den Jungs um die Wette lief. Ein Bekannter, der als Schönheitschirurg arbeitete, hatte ihr später angeboten, die Narbe zu entfernen, aber Charlotte wollte das nicht. Diese Narbe war ein Stück ihrer Jugend.