Das Schattengetuschel - Botho Strauß - E-Book

Das Schattengetuschel E-Book

Botho Strauß

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Beschreibung

Zu seinem 80. Geburtstag beweist der Dramatiker und Autor Botho Strauß seine unverändert luzide Beobachtungsgabe und berührende Erzählkunst

Ein alter Dichter wartet voller Sehnsucht auf die Ankunft seines Sohnes. Er wartet vergeblich, „vor dem Einschlafen noch der schwerste aller Menschenseufzer: ‚Und ich hatte mich so auf dich gefreut!‘“ – „Das Schattengetuschel“ folgt Vereinzelten und Paaren, leuchtet Idyllenrisse aus und thematisiert die Korrumpierbarkeit des Menschen; mal melancholisch, mal humorvoll. Die Weltbeobachtung von Botho Strauß ist ebenso kraftvoll wie verletzlich. „Die großen Lieder haben es längst gesungen. Nichts Unbekanntes, Unvorstellbares steht bevor.“ – „Man muss diese Sätze lesen, wie man die Umrisse einer Skulptur mit den Fingern nachfährt.“ Ijoma Mangold, Die Zeit

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Das ist das Cover des Buches »Das Schattengetuschel« von Botho Strauß

Über das Buch

Zu seinem 80. Geburtstag beweist der Dramatiker und Autor Botho Strauß seine unverändert luzide Beobachtungsgabe und berührende ErzählkunstEin alter Dichter wartet voller Sehnsucht auf die Ankunft seines Sohnes. Er wartet vergeblich, »vor dem Einschlafen noch der schwerste aller Menschenseufzer: ›Und ich hatte mich so auf dich gefreut!‹« — »Das Schattengetuschel« folgt Vereinzelten und Paaren, leuchtet Idyllenrisse aus und thematisiert die Korrumpierbarkeit des Menschen; mal melancholisch, mal humorvoll. Die Weltbeobachtung von Botho Strauß ist ebenso kraftvoll wie verletzlich. »Die großen Lieder haben es längst gesungen. Nichts Unbekanntes, Unvorstellbares steht bevor.« — »Man muss diese Sätze lesen, wie man die Umrisse einer Skulptur mit den Fingern nachfährt.« Ijoma Mangold, Die Zeit

Botho Strauß

Das Schattengetuschel

Hanser

In Strindbergs ›Einsam‹, dem letzten Teil seiner Lebensgeschichte, erzählt das Hausmädchen dem vom Stadtgang heimkehrenden Dichter vom überraschenden Besuch seines Sohns. Er war da, er hat vorgesprochen, während der Vater aus war, um Menschen flanieren zu sehen! Er ist also in der Stadt, dieser Fünfundzwanzigjährige, aus Amerika zurück; wohin er von seiner Mutter als Junge im Alter von neun Jahren entführt wurde. Irgendwo draußen in der Welt hat er seine Stellung gehalten: der Sohn zu sein. Der Vater malt sich aus, wie er ihm gleich gegenüberstehen wird. Kann es nicht abwarten, läuft wieder auf die Straße hinaus. Geht einem Jüngling entgegen, kein Zweifel, er ist es, der Sohn, und schon erkennen sie einander; der Vater aber erblickt einen jungen Mann in schäbiger Verkommenheit. Die beiden gehen aneinander vorüber. Er war es nicht.

Jetzt erst erleidet der Vater alle Marterqualen der Erwartung. Hat etwa die Dienstfrau ihn falsch verstanden, als er seinen Besuch ankündigte? Oder ist sie gar die Vertraute des Dämons, der das Verhältnis zwischen Vater und Sohn von jeher verwirrt?

Schließlich bringt das Hausmädchen die Visitenkarte des Besuchers — doch ist es nur der Brudersohn, der Neffe, der ihm seine Aufwartung machen möchte! So bleibt der Dichter unbesucht zurück, einsam, und tut die Vision des heimkehrenden Sohns zu den übrigen kostbaren Täuschungen seines Lebens.

Wieviel Täuschung! Täuschung vor allem anderen. Vor all den anderen leeren Effekten des Daseins.

*

Auch ich erwartete den Sohn, der den Weg zu seinem Vater so lange nicht gefunden hatte. Seit bald drei Jahren war er, ein junger Architekt, in einem Züricher Planungsbüro angestellt und in dieser Funktion auf der ganzen Welt unterwegs. Da blieb für Gut Zichow, für das Haus und den Garten seiner Kindheit, kein Platz im Kalender, aber doch wohl immer in seinem Herzen.

Und trotzdem hatte er nun überraschend seinen Besuch angekündigt, da er zu einer Besprechung nach Berlin mußte und sich für einen Abstecher zu seinem Vater unbedingt die nötige Zeit nehmen wollte. Ankunft Sonntag mittag; ich bereitete das Haus, im besonderen sein altes Kinderzimmer, und ein Mittagessen mit mehreren Gängen. Es war auch geplant, daß er über Nacht bliebe, um Montag früh mit dem Mietwagen zurück nach Berlin zu fahren. Nur ein Kurzbesuch, ja, eine Stippvisite. Damit mußte ich zufrieden sein. Sein Beruf — sicher auch sein persönlicher Ehrgeiz — ließ ihm wenig Zeit zum Ausruhen und für private Termine, er hatte ja selbst noch keine Familie. Ihm lag daran, in seiner corporation geschätzt und entsprechend mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut zu werden.

Also wurde es Sonntag, die Stunden standen still, und ich betrat den quälenden Zeitraum der Erwartung, wenn die Minuten sich hinschleppen und nie eine Stunde füllen wollen.

Sonntag vormittag, zehn Uhr zwanzig. Er müßte sich langsam auf den Weg machen.

Elf Uhr sieben. Warum gibt er kein Zeichen, daß er unterwegs ist? Ich kann ihn nicht erreichen. Sein Handy ist aus.

Mittag. Jonas meldet sich nicht. Ich sitze schon bei Tisch. Warum hat er das Handy ausgestellt?

Dreizehn Uhr fünfunddreißig. Er hat unsere Verabredung vergessen! Er sitzt mit wichtigen Leuten zusammen und hat sein Handy ausgestellt.

Und wieder das Warten.

Welche Freude, ihm zu zeigen den neu gepflanzten Purpurahorn, schon bald drei Meter hoch, die Birkenreihe hinter dem Kornspeicher. Und was aus dem Ginkgo wurde, den wir zusammen in die Erde brachten. Und extra für ihn habe ich neu pflastern lassen den Brunnenplatz, wo wir einander gegenübersaßen und lange schwiegen, bevor er den Ort verließ, um nach Zürich zu ziehen.

Jedenfalls kam die letzte Ankündigung seines Besuchs gegen siebzehn Uhr. Das war schon spät, viel Zeit wäre uns ohnehin nicht geblieben. Dann seine SMS eine Stunde später: Ich schaff es nicht mehr, lieber Papa. Ich muß morgen früh überraschend nach Amsterdam. Aber das nächste Mal bestimmt! Nehme mir dann mehr Zeit für Berlin und für dich. Dein dich ewig liebender Sohn.

Wenigstens war das unerträgliche Warten nun vorüber. Kein Sohn würde erscheinen.

Die Einsamkeit hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.

Im Zimmer auf und ab gehen, von neun Uhr abends bis zehn. Die Stunde will nicht vergehen, der Zeiger der Wanduhr teilt sie in lauter angehaltene Sekunden. Dann aber doch: zehn! Die Kleider ablegen, die üblichen Waschungen vornehmen, zu Bett gehen und im Meditationsbüchlein lesen. Kurz vor dem Einschlafen noch der schwerste aller Menschenseufzer: »Und ich hatte mich so auf dich gefreut!«

Als wir, der Junge und ich, einst am kleinen Fluß der Nive, französisches Basken-Land, eine Jause nahmen, er, immer mit der Angst vor Schlangen, stieg trotzdem in den Fluß, über uns zwei Adler, die ihre Kreise zogen, ohne eine Schwinge zu rühren, sie sahen uns am schattigen Ufer. Gewiß erblickten sie aus dieser Höhe einen größeren Zeitraum von uns beiden als nur unsere kurze Rast.

»An einem Tisch sitzen und einander ansehen, solange das Leben währt.«

Mit diesem Satz — klingt er nicht wie ein Selbstzitat aus dem ›Traumspiel‹? — schließt Strindberg die Studie des gütig gewordenen, ach, des mürbe gemachten »Einsamen«.

Laertes, Vater des Odysseus, so heißt es in ›De Senectute‹ von Cicero, bearbeitete und düngte seine Äcker, um die Sehnsucht nach dem Sohn zu lindern.

So versuch ich’s, bearbeite einstweilen den Acker meiner Schriften; verführt, es gut zu sagen, zu seiner Überraschung etwas Unerwartetes hervorzubringen, damit er lacht! So hell und prompt lachte der Sohn über meine schlaksigen aparts. Ihn lachen machen wird der letzte Fang einer Zustimmung sein.

»Seht ihr nun, daß das Leben ein Schlaf ist und das Alter sein Erwachen?«

Strindberg, ›Notizen eines Zweiflers‹

I

Um uns im Raum ein ruhloses Flüstern, als käm es von tuschelnden Schatten.

Jemand ruft: Vorhang auf! Reißt den Lappen hoch!

Der Vorhang geht auf. Man sieht Menschen beim Leben erwischt. Sie erstarren und stehen steif auf der Stelle. Einer Frau wird die Perücke vom Kopf gerissen — an einem unsichtbaren Faden steigt sie hinauf in die Himmel-Soffitten.

Und alle, die da unten etwas suchen, auf dem Parkett oder dem Teppich, die sich bücken und im Halbdunkel den Boden abtasten, die Matten und Läufer, vorerst drei Männer und zwei Frauen, fünf zu gleicher Zeit, ohne gemeinsam etwas verloren zu haben, in einem Raum kurz vor dem Audienzsaal, während dieser langwierigen und ermüdenden Führung durch ein Schloß in Lothringen, wo sie zurückblieben und anfingen zu suchen, um schließlich sich langsam vom Boden zu erheben und Borten und Paneele, Tapeten und Gobelins zu betasten … Schluß war es mit dem Bücken und Knien. Sie waren vom Tastsinn überwältigt worden. Was immer ihnen jetzt bevor- oder im Weg stand, nur mit dem lesenden Tasten eines Blinden würden sie’s erkennen.

*

In einem Café in Neuruppin, 1991, in einem düsteren Gastraum, hinter einer nikotinvergilbten Gardine, sitzt ein Mann aus einer früheren Zeit, eine Gestalt, wie von Gogol oder Ibsen entworfen, und schreibt mit Eifer in ein kleines Buch, versucht der unverständlichen Szenerie, des wirren Epochenverschnitts, der sich draußen auf der Straße zeigt, wo auf dem Pferdefuhrwerk ein Navi montiert ist, durch einen ebenso besessenen wie akribischen Beschreibungsakt Herr zu werden. Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.

*

Langsamer werden die alten Offenheiten jetzt gesagt, die man vor Zeiten schon einmal rasend schnell hervorstieß. Oder die man ein andermal, zweihundert Jahre später, sich gegenseitig soufflieren mußte, denn da waren sie allgemein verpönt. Oder die man, wiederum ein Äon darauf, geradezu gen Himmel ausrief — ohne genau zu wissen, was man eigentlich auf dem Herzen hatte. Nun wandern die alten Offenheiten erneut Wort für Wort durch die noch unsicheren Kehlen.

*

Es war auf einem Bahnhof in Amerika. Ein Mann fiel, ehe er aussteigen konnte, vornüber aus dem Zug. Ich ging zu ihm und hob ihn vom Boden. Er war nicht schwer, doch waren seine Knochen so weich, daß er sich nicht aufrecht halten konnte. Dann wieder härteten und versteiften sie sich, so daß der Mann ein paar Schritte gehen konnte. Doch kaum besaß er Statur und aufrechten Gang, da verlor er sie auch schon wieder und erweichte am ganzen Gestell, worauf ich ihn unterfangen und schleppen mußte. Seine Augen blieben geschlossen, er sagte nichts oder konnte nicht mehr sprechen. Ich rief über den Perron: I need professional help. Professional help, please! Doch niemand reagierte, und ich bugsierte die Riesen-Molluske von Mann, die sich nur zeitweise erhärtete, wie eine leblose Schaufensterpuppe vor meinem Bauch über den Bahnsteig.

*

Der Mann, der eine junge Forstbeamtin bat, ihm beim Ausfüllen eines komplizierten Fragebogens behilflich zu sein, wollte von der Behörde ein mittelgroßes Stück vertrockneten Fichtenwalds erwerben, um dort Neuanpflanzungen vorzunehmen. Er sagte, im Prinzip verstehe er schon, welche Auskunft man von ihm wünsche. Doch wenn man ihn so frage wie auf dem Fragebogen, dann wisse er einfach die richtige Antwort nicht.

»Wenn man mich so fragt, bin ich wie vor den Kopf gestoßen und kann keine passende Antwort geben. Am besten gehen wir so vor, daß ich die Frage aus Ihrem Mund noch einmal höre. Oder noch besser: Sie stellen mir die Frage mit Ihren eigenen Worten, damit ich nicht mehr so unsicher werde.«

Der Fragebogen umfaßte zwölf Seiten mit vielen enggedruckten Anmerkungen und Antwortbeispielen.

Bis sie den Bogen ausgefüllt und alles beantwortet hätten, würde zwischen ihm und dieser Hilfsbereiten etwas heraufziehen, das sich, wie ihm schien, bereits nach der dritten Fragestellung bei ihr mit einer leichten Unruhe von Hüfte und Gesäß ankündigte. Allerdings hätte es ebensogut eine Reaktion der Ungeduld sein können angesichts des bürokratischen Frageschwulstes. Er ärgerte sich über die Unsicherheit seiner Einschätzung. Jeder andere hätte ein solches Gesäß-Ruckeln unmittelbar zu seinen Gunsten ausgelegt.

*

Im Rückblick auf diesen einen, das ganze Leben verbessernden Tag (time bettering day heißt es in Shakespeares 82. Sonett) war ich ein gutaussehender, gutgekleideter Mann mittleren Alters, der auf seinen Zug nach Paris wartete und dabei in einem riesigen Wintergarten von Bahnhof zum Perronläufer wurde, wie mein Vater einer war.

Ich kaufte Obst und Zeitungen und erfreute mich an den heiteren Umständen des Wartens: Menschen sehen war mir ein Vergnügen, beinah ein Laster.

Plötzlich merkte ich, daß mir meine Reisetasche fehlte, in der sich alle meine Zahlungsmittel und Papiere befanden. Ich ging meine Wege ab — und suchte. Vielleicht war ich aufgrund meiner unbeschwerten Stimmung nachlässig geworden. Zusehends geriet ich in Unruhe, mein Zug stand schon abfahrbereit, ich wurde in Paris erwartet. In äußerster Bedrängnis hielt ich eine junge Zugbegleiterin an, ich hängte mich an ihren Arm und fragte verwirrt, wie mir denn bloß zu helfen sei? Der einzig richtige Weg führe ins »Eigentumsbüro«, antwortete sie. In diesem Moment wußte ich, daß ich mir meinen Zug, der gewissermaßen mit der Fahrkarte nach Paris auch schon zu meinem »Eigentum« gehört hatte, aus dem Kopf schlagen mußte.

»Warum trägst du deine Papiere nicht auf dem Leib, wo sie hingehören?« fragte die Zugbegleiterin. Ihr Ton war tadelnd und unwirsch, wie sonst nur eine langjährige »Begleiterin« zu einem spricht, wenn man wieder einmal einen plumpen Fehler gemacht hat. Und sie duzte mich, ohne mich anzusehen!

Es bestand kein Zweifel, daß wir mit Anschlag dieses Tons einen Zeitraum betraten, den wir noch lange Arm in Arm durchschreiten sollten, ohne daß ich meine Tasche mit dem vielen Geld und der kleinen Identität jemals wiedergefunden hätte.

*

Wie seine Augendeckel flattern! Sobald er den Mund aufmacht, spricht er mit bebenden Lidern. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen? Jedenfalls nicht, um sie zu genießen. Was soll es bedeuten? Er sieht den anderen nicht an, wenn er mit ihm spricht. Gleichzeitig bittet er mit Nachdruck in der Stimme, daß man auf seine Worte achte. Sein offenes Auge könnte von seinen Worten ablenken. Manchmal zieht er sogar zweifelnd oder indigniert die Brauen hoch bei geschlossenen Augen. Er kann jemanden anblicken. Er vermeidet’s aber. Er kennt seinen Blick und dessen trügerische Wirkung. Sein Blick ist rund und gutmütig. Er raubt seinen Worten das Gewicht, er bricht ihnen die Spitze. Er schwächt das Apodiktische, das seinen Worten nicht fehlen darf:

»Es gibt bei uns eigentlich nur Morde, die keine Vergeltung nach sich ziehen. Wir morden in der eisigen Isolation unseres Auftrags oder unseres Bedürfnisses zu morden. Die Morde verlieren sich in der moralischen Leere der akkuraten Rechtsprechung. Der gewissenhafte Mörder aber sagt: Ich habe nicht gemordet, um verurteilt zu werden. Ich habe gemordet, um die Furcht zu ertragen, selbst ermordet zu werden. Um unter Vergeltungsfurcht meine Sinne, meinen Verstand, meinen Überlebenswillen zu schärfen. Die übliche Haftstrafe enthebt mich jeder Ertüchtigung meiner selbst … Welcher Verbrecher würde sich je im wörtlichen Sinn der Anklage schuldig bekennen? Würde etwa sagen: Ja, genauso ist es gewesen, wie Sie es vorgetragen haben, Herr Vorsitzender, Ihr Urteil erfaßt mein Vergehen vollumfänglich, ich hätte es nicht besser gestehen können, als Sie es vorgebracht haben. Immer wird er zumindest sagen: Ja. Aber. Oder: ich habe gemordet, aber ich nenne es nicht so. Gewiß ist der Angeklagte mitunter der Wahrheit näher, wenn er die Tat im Sinne der Anklage leugnet. Die Tat, vor Gericht bekannt, eingekreist, zu Gehör gebracht, in etlichen Aspekten zur Schau geboten, stellt zuletzt etwas übertrieben Isoliertes dar, herausgerissen aus langen, vielfach verflochtenen Vorgängen, in deren Verfolg sie, die Tat, irgendwann mit letzter Eigentümlichkeit, wie von selbst geschah. Vom Täter beinahe eher zugelassen als absichtlich ausgeführt.

Die strafbare Handlung beginnt, sobald ein von Mord besessener Gedanke die je nach Individuum unterschiedlich zu bemessende Dauer des Sich-Umwälzens überschritten hat und von nun an unaufhaltbar aus dem Kopf heraus zu den handelnden Organen strebt, zum Beispiel den Händen, die erdrosseln.

*

Selten trifft man in Europa Menschen, die nicht schreien können.

Hier haben wir gleich zwei von ihnen, Franziska und ihre Tochter Antonia. Jeder weiß, daß die Mutter die Tochter häufig schilt. Um ein derbes Anschreien ringend, schimpft sie jedoch nur mit gehemmten Lauten und stößt mehrmals ein gedämpftes, schalloses Oah! Oah! hervor. Während die Gescholtene den ganzen Körper spannt und sogar mit den Händen an ihrer Kehle drückt, in der Hoffnung, den großen, den maßlosen Abwehr-Schrei herauszubringen. Doch es kommt nur ein verhaltenes Himmern, etwas wie ein weit entferntes Pferdewiehern. Sobald die beiden außer sich sind, wird ihre menschliche Stimme wie von fernen Reglern auf den Umfang von harmlosen Tierlauten verringert. Das Mädchen wagt niemanden zu grüßen. Die Ahnung, daß alle von ihrem Schreiversagen wissen, beugt sie, und sie blickt zu Boden.

*

Erscheinen und Von- der-Bildfläche-verschwunden-Sein wiegen dasselbe. Erst wenn von dem Wort »zart« eine vielfache Verfeinerung entstünde, käme man dem Maß für den Schein einerseits, für Nicht-da und Leere andererseits näher. Von dort, in einer nanometrischen Dimension der Zartheit, stieße man vor bis zum realen Gewicht eines Gedankens.

*

Eines Tages fand er seinen Abseitsort. Friedliches städtisches Viertel. Von breitem alten Kopfsteinpflaster umgeben ein Platz mit einem kleinen Rosenhag und einer Laube. Von dort führte eine Straße in die gehobene Wohngegend, locus Eleate (!), Entschuldigung, locus elatus (erhaben) sollte es heißen, im Abseits manchmal nicht astrein zu unterscheiden. Jedenfalls sah er die schöne Kurve um den Platz, die hineinschwang in die »schattige« Straße, in der auch das dreistöckige Mehrfamilienhaus stand, Muthesius-Stil, sein vorerst letzter Rückzugsort in dieser Stadt. Wollte ihn jemand besuchen, so traf man sich in der kleinen Laube im Rosengarten, nicht in seiner Wohnung. Auch bei schlechtem Wetter bot die Laube genügend Schutz.

Nach einem halben Jahr des »erhabenen« bzw. dem unveränderlichen Sein der Eleaten gewidmeten Wohnens geschah ein Zwischenfall. Jemand hatte sein Auto beschädigt, die Scheiben waren besprüht, der Auspuff verbogen. Er hatte im Verdacht eine junge, stets wütende Mitbewohnerin, die ihm zuweilen im Treppenhaus begegnete und sicher mit ihm ins Gespräch gekommen wäre, wenn sie sich nicht jedesmal in heller Aufregung befunden hätte. Ihre Wohnung lag ein Stockwerk über der seinen, also lebte sie ebenfalls nicht weit von dem stillen und wohltuend ovalen Platz entfernt, der jedoch auf ihr reizbares Gemüt offenbar wenig Einfluß nahm.

Ihm war, als hätte sie im Hauseingang gelauert, wie er den Schaden an seinem Wagen aufnähme, ob mit Erschrecken oder nur verärgert. Sie sah, er klingelte beim Hausmeister im Nebengebäude, sicher um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Ob er einen Verdacht habe. Statt auf ihn einzugehen, erregte sich der Mann über irgendwelche Bewohner des Hauses, die dauernd falsche Beschwerden bei ihm einreichten. Dann erging er sich in zusammenhanglosen Bezichtigungen, machte dabei immer einen Schritt auf den Geschädigten zu und dann rückwärts einen von ihm weg, als wäre er das Ziel eines nicht ganz entschlossenen Angriffs. Ob der Concierge auch Beschwerden der schönen Wütenden meinte oder nur die anderer Bewohner, blieb dabei ungewiß.

Wie auch immer, verärgert über das haltlose Gerede des Hausbesorgers, kehrte der Geschädigte sich ab und ging wieder zu seinem stillen Platz im Rosenhag.

Im Schutz der bequemen Laube sann er über die befremdliche Liebesbekundung, die mit der Beschädigung seines Wagens zusammenhing. Er malte sich aus, mit welchem Gefühl, mit welchem Kalkül er in Zukunft an der Disziplinierung einer Liebenden würde arbeiten müssen.

Einerseits ahnte er etwas von der Intelligenz der ewig Aufgebrachten und sie ließ ihn neugierig werden. Sie wäre womöglich in der Lage, ihm das Unglaubwürdigste wahrscheinlich zu machen. Andererseits glich bisher jede ihrer Annäherungen einem klaren Wasser, das glänzt, zittert und gleich aufzuwallen droht, weil es von Unterwassermolchen nur so wimmelt.

Sie war ihm bestimmt. Sie betrat die Laube und prüfte seine Lippen vorsichtig mit den Fingerspitzen, während ihr Mund aufs gröbste über jenen Hausmeister schimpfte. Sie blieb neugierig in der Annäherung wie eine, die ein Sich-Verlieben zwar für unvermeidlich, jedoch in puncto »Den-Kopf-Verlieren« noch für entwicklungsbedürftig hält.

*

Ihre Gewohnheit war es, beim geringsten, nur flüchtigen Lächeln bereits das ganze Gebiß zu entblößen. Ein Gebiß wie kein zweites, mit überzählig vielen kleinen Zähnen, statt zweiunddreißig bestimmt mehr als fünfzig. Der Anblick war ihrer Kontaktsuche und ihren geschäftlichen Interessen nicht in jedem Falle förderlich.

An einem Sonntagvormittag spottete sie laut vor Gästen über ihren so nahen Nachbarn, den Mann von nebenan. Stets vielseitig aktiv, stand sie mit einem Bein in diesem, mit dem anderen in jenem Geschehen. Gerade hatte sie hinter der Tür einen Haufen Leute empfangen, die sich für den Kauf einer ihrer Wohnungen bewarben, doch mitten im Handel war sie auf einen Sprung zum Nachbarn, in das Zimmer nebenan, gekommen, bloß, wie es schien, um dem Mann flugs mit dem Anblick ihres abnormen Gebrechs den üblichen Schock zu versetzen. Allein für ein schauerliches Lächeln war sie aus dem Nebenzimmer getreten, an das man immer grenzt, sein ganzes Leben fristet man ja in irgendeinem Nebenan. Existiert überhaupt nur irgendwo angrenzend. An irgendeines anderen Tür! Bis sie irgendwann plötzlich aufgestoßen wird. Mit genau diesem schicksalhaft jähen Türaufstoßen stand sie nun vor ihm, ein stumm haderndes oder auch nur forderndes Gegenüber, vielleicht in der Hoffnung, an ihrem Nebenan festzustellen, ob er von drüben etwas Ungünstiges über sich mitbekommen habe, Bemerkungen etwa, die ihr inzwischen wahrscheinlich leid taten und die sie gern mit einer zutunlichen Hand wettgemacht hätte. Aber da das Nebenan sich mit keiner Miene verriet, kehrte sie ebenso abrupt oder gar deutlich beleidigt zurück zu ihren sachlichen Angelegenheiten, riß die Tür zum Nebenzimmer auf, ohne ihr Nebenan mitzureißen, obwohl er ihr im Sog des Abgangs unwillkürlich ein paar Schritte folgte — vergebens! Die Tür wurde vor seiner Nase leise, aber fest geschlossen.

Das Neue aber, davon war er überzeugt, das heftige Aufstoßen der Tür, die ganze frontale Öffnung, würde die Ära der Heimlichkeiten, die bis jetzt hinter geschlossener oder nur um einen Spalt, nur als Spionier-Luke geöffneter Tür stattfanden, ein für allemal beenden. Und was dabei am höchsten zählte: Der Schwung der Türöffnung verpustete endgültig den Staub einer eingebildeten Affäre, welche die Überzähnige in Mienen und Gesten stets als vollzogen vorgespielt hatte.

*

Jemanden wie den Bergner könnte ein guter Freund umwerben mit allen Beteuerungen, zu denen Herz und Geist imstande sind, es würde ihn bei seinem Alpha-Mann, der ihn mißachtet und drangsaliert, erst recht Zuflucht suchen lassen. Die süchtige Abhängigkeit des moralisch Subalternen, des Gemüts-Vasallen muß jeden, der ihm gut will, zur Verzweiflung bringen. Man mag ihm noch so viel Zuneigung erweisen, er wird sie nie beachten. Hingegen zeigt er sich auf Schritt und Tritt dem Mana-Herrn erbötig, und der ihm Wohlwollende muß es ertragen, daß jede von dessen Schikanen ihn erhebt und einen Zuwachs an Selbstbewußtsein bewirkt.

*

Sie verteidigen die geliebte Frau im Straßenverkehr, wenn sie einen Blechschaden verursacht hat? Sie bestreiten vor dem aufgebrachten Unfallgegner ihre Schuld? Sie nehmen sie in Schutz und weisen den Rüpel in die Schranken?

Zuhause jedoch übernehmen Sie seine Vorwürfe und wenden sie gegen Ihre Schutzbefohlene? Ja, Sie identifizieren sich nicht wenig mit dem Fremden, Sie führen seinen Angriff weiter, vermehrt um die infame Waffe, die nur Ihnen bekannten Schwächen Ihrer Frau ins Spiel zu bringen!

*

Der Rausch hatte ihn immer schneller sprechen lassen und beflügelte sein Sitzenbleiben. Sein einziges Buch! Sein einziges Buch sollte es sein: running comment zum sitzenden Leben. Je unbewegter er saß und blieb, um so stärker der Überschwang von Ansätzen, Leitgedanken, richtunggebenden Erinnerungen, übermütigen Sprüchen aufs bessere Leben. Der Fabulierer fest in seiner Klause saß … So ohne irgendetwas Konkretes! Welch ein Gehüpf von Nullen ist man doch! Innen hüpft es derart, als wollten sich alle Nullen gleichzeitig zum Klingen bringen wie tausend feinabgestimmte Silberglöcklein.

Zu vielem aus dem Weg gegangen! Zu viele Tatsachen verkannt. In den Nächten das Haberfeldtreiben, Kolonnen versäumter Menschen, die gute Belehrung hätten sein können. Das qualvolle Wunder der vermiedenen Welt. Erstickend die Gärten, die er nicht betrat, die Wälder, in denen er sich nie verirrte.

Figuren verstoßen. Die Erzählbaren. Der Botschafter, der Richter, der Sportpräsident.

Der Untergebene, der Ungeschickte, der Nachfolger, der Hochstapler. Die Trinkerin.

Alle, allez hopp, ab durch die Mitte, durch die weiße Tür, auf und davon, fort, fort.

Auch diese Ausgeburt, die eigentlich schön ist. Der Ungeschminkte, auch fort! mit ihm. Durch den weißen Saal werden die enttäuschenden Männer fortgejagt. Und durch den blauen die besserwisserischen Frauen.

Beinah in jedem Hinterhof-Fenster liegt ein unpassendes Paar! Der Verschwender und die Karmeliterin, die dicke Verlobte und ihre nekrophile Kusine, die Hure und ihr Vater, der Obdachlose und die Influencerin, der Brustschwimmer und das Serviermädchen. Fort mit ihnen! Nackte, Schiere, Bloße, die den korrupten Fabulierer gleichzeitig um eine Geschichte anbetteln, die sie kleiden möge!

Oder der »Glückwunsch«-Mann. »Sie sehen gut aus, Eric. Glückwunsch!« … »Und jetzt biegen Sie bitte rechts ab. Jawoll. Glückwunsch.« »Wenn Sie also kürzlich auf Usedom waren — Glückwunsch! —, dann haben Sie sicher viele Quallen im Meer gehabt?« »Nicht eine einzige.« »Glückwunsch!«

Aber auch sie wieder unterwegs! Die junge Goldschmiedin mit ihren CDs … Selbstentworfener Schmuck, selbstgefertigt und auf den Rohling gescannt. Der nun ihre komplette Kollektion enthält. Die Braungebrannte ist es, die bei halber Drehung des Oberkörpers mit der Rechten zur Tasche greift, die von der Schulter hängt, und die flache Scheibe lüpft. Da! Sie schiebt die Platte heimlich in die Jackentaschen von Männern, die plaudernd in der Lobby herumstehen. Sie schiebt die Scheibe unter die Servietten ihrer Tischnachbarn. Schiebt sie zwischen die Zeitungsseiten im Frühstücksraum, durch die Türschlitze der Hotelzimmer. Ah, wie das gleitet! Wie geschmeidig sie’s in Zwischenräume steckt! Heimlich wie andere stehlen, so steckt sie zu.

*

Ich sah die glückliche Frau mit dem herben männlichen Gesicht, die »Damals …« sagte und von den siebziger Jahren im ehemaligen West-Berlin sprechen wollte. Doch sie stockte, als habe sie den Ansatz der Erinnerung verloren. Sie schwieg, überließ sich dem Fluß der alten Stunden, sie strömte in verlorener Zeit, unfähig, einen einzelnen Vorfall zu erwähnen oder seiner zu gedenken.

Ja, es waren dieselben schönen Jahre, in denen Richard Wansett und ich die besten Freunde waren, und diese Sommer, da wir, wenn alle in die Ferien reisten, durch die ruhigen Parks der Stadt liefen, in heftigen Erörterungen wie immer, und anschließend war es leicht, einen Platz in einem halbleeren Restaurant zu finden, einen Tisch im Wirtsgarten, wo ein paar Sträucher und Blumenkästen uns von dem geringen Straßenverkehr abschirmten. Wir gingen auch draußen in den Wäldern auf schnurgeraden Wegen, in deren Gleichmäßigkeit wir uns verirrten, plötzlich von Manövertruppen der Engländer umgeben, getarnten Soldaten, die wir eben noch für Büsche und Geäst hielten, oder überholt von einem Narren, der auf einer kleinen rollenden Troika stand und sich von acht wunderschönen Huskies ziehen ließ. Wie oft haben wir auf diesen Sommerwegen, an diesen Abenden das Fehlen neuer Bräute bedauert, von neuen frischen Begegnungen phantasiert und gleichzeitig den vergangenen Lieben ein heiteres Andenken bewahrt!

Ich bin mir sicher: Niemand außer uns beiden hätte damals ein solch brüderliches Dafürhalten und Meinen entwickeln können, ein solches Wählen, Stützen und Emporziehen von Vorlieben und Interessen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, je mit einem anderen Menschen zu solch weiten Ausblicken, solch überwältigenden Einverständnissen gelangt zu sein. Und wenn die Zwiesprache leicht und glückselig wurde und alles erreicht hatte, was die Vögel in den Lüften können: schwirren, gleiten, niederstoßen, fiel es leicht, zu geloben, daß wir einander niemals missen dürften. War das etwa nicht aufrichtig gesagt? Oder wäre es besser unausgesprochen geblieben? War es etwa schon das erste Wort, nämlich ein überflüssiges, um abzufallen von der Schönheit unserer leisen, radikalen, verschworenen Verständigung?

Die besaß ihrem Wesen, ihrer Stimmung nach immer etwas jungenhaft Heimliches. Selbst wenn wir Mittdreißiger mitunter wie die Greise klagten und unsere Beschwerden über alles stellten. Lachen und Jammern, Hochmut und Verzagen liefen voreinander davon, keines gewann die Oberhand oder die Partie.

Vielleicht war es dieses Prinzip des Anfänglichen, der knabenhafte Pakt, der uns ein wenig verjüngte und unsere Sprache bisweilen ruppig werden ließ.

Längst hat der reine Azur der schönen Jahre sich mit dichten Wolken bedeckt. Es läßt sich nicht länger verhüllen, daß auch diese besten Freunde sich irgendwann aus den Augen verloren.

Eines Tages hatte er sich für jemand anderen entschieden. Er war zum Zweck unserer Trennung zu einer Freundin gezogen, einer wildfremden, von der Partymeile abgeschleppten Person. Er sorgte für ihren Unterhalt, gab sich mit ihr als ein Paar — nur um ihr tagtäglich anzuvertrauen, daß er den anderen, mich, seinen eben noch besten Freund, nicht mehr ernst nehme; daß ich für ihn ein Gespenst der Vergangenheit sei, mit dem er nur noch ab und an einen lockeren Umgang pflege, und das nur aus pflichtschuldiger Dankbarkeit dafür, daß ich ihm einmal bei einer schweren Prüfung in seinem Leben beigestanden sei.

Das war, als er vorübergehend seinen Verstand verlor, ein Idiot wurde; jemand, den niemand mehr sehen wollte, weil er nur noch dasaß, stumm, apathisch, und wenn man zu ihm sprach, wiederholte er bloß die Worte, die er soeben gehört hatte.

Irgendwann steht jeder andere auf, auch der beste Freund, und kehrt dir den Rücken. Es ist beinahe gleichgültig, ob etwas Ungünstiges vorfiel oder nicht. Oder welche wechselvolle Geschichte diesem abrupten Abschied vorausging. Wenn sie nur lang genug und erschöpfend war; dann geschieht es einfach, über Nacht, in einer Nacht.

Irgendwann betrachtet man seine Tage nicht mehr nach Verläufen und Entwicklungen, sondern nach den Einschlagkratern, die die Meteoriten der Abschiede hinterlassen haben.

*

Firs, der alte Diener, ›Kirschgarten‹, lange nach dem letzten Akt. Firs allein zurückgeblieben, im Gutshaus eingeschlossen und vergessen. Das Haus nun winterfest gemacht, die Türen verriegelt, die Fenster mit Brettern vernagelt. Alle abgereist. Wie wird der alte Diener frieren! Er wird die Dielen und die Bretter vom Boden und den Wänden lösen, er wird das Haus von innen niederreißen Schicht um Schicht, er wird das ganze Haus verfeuern und irgendwann vor der Flamme im Freien sitzen. Firs am Herd im hohen Schnee!

Firs aber und ich. Die neue Herrschaft läßt auch Erlen, Lärchen, Buchen abholzen, nicht nur den Kirschgarten, und wir bleiben noch eine Weile frierend eingesperrt im letzten Innenraum. Welch ein schönes Wort, was für eine Findung: Innenraum! Doch jetzt ist er zu. Alles abgeschlossen, fest verriegelt. Das Innere längst verlassen von den Dichtern wie den Sommergästen. Das Inventar nach außen gebracht, ununterscheidbar vom Gerümpel der geschäftigen Welt. Die Romane enthalten nur noch Stoff und Mitgeteiltes, also Brennholz für den Innenraum. Allein zurückgeblieben an einem aufgegebenen Ort. Firs und ich, der alte Diener und dessen Diener, der Nacherzähler. Beide schon bald im grenzen-, wand- und türlosen Raum … Immer wieder taucht zwischen uns die alte Geschichte auf von der Ranjewskaja und den anderen, um sich gleich wieder zu entziehen, weil wir beide kein gemeinsames Gedächtnis besitzen. Was uns bleibt, ist unser Alter, durchpustet und durchpfiffen. Damit kann man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, und schon gar nicht Firs.

Sein Ort ist eine Bank, ein Winkel zum Rauchen und Schweigen. Alle Erinnerung gelöscht. In knisternden Nebel getaucht. Den Boden küssend, liegen wir bäuchlings auf den dicken Bohlen und strecken beide Arme aus, sie beschwörend, uns Dienern einen Klafter freizugeben, damit wir tiefer in die nackte Erde kriechen können, wo es zum Schluß dann wärmer sein wird.

*