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Eine Seele, die von silbernen Mikrophonen in ihrer Kuhle aufgestöbert wird ... eine Blutbuche, die vom Tanzen träumt, sich bereits einwiegt in ihre Tänze, die Tänze in sich vortanzt ... Arlecchino, der mit dem ganzen Hinterhaus Streit anfängt, mit jedem einzelnen Bewohner in jedem einzelnen Fenster, stolz auf seine fabelhafte Streitsucht ... Es ist die Tradition des romantischen Fragments, wie sie zwischen Hamann, Novalis und Friedrich Schlegel entstanden ist, an die Botho Strauß in seinem neuen Buch anknüpft. Vergleichbares hat er noch nicht geschrieben, noch nie sich so weit von Erzählung, Betrachtung und Kritik entfernt wie in diesen kurzen bildhaften Texten. Und aus der formalen Neuheit ergeben sich neue Einsichten. Sie alle kreisen um das Nichtmitteilbare, um den poetischen Moment, den keine Intention hervorbringen könnte, um den Sinnentzug, bei dem sich – überraschend, entlastend – doch wieder ein Sinn herstellt. Auch das Strauß'sche Hauptmotiv, das Paar, erscheint in vielen der Notate, Sprüche und Bilder noch einmal neu. Das Paar, das sich bekriegt; das Paar, das auseinandergeht; das Paar, das sich aussöhnt. «Die Anziehungskraft errechnet sich aus Drang mal Drehung mal Drohung.»
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Seitenzahl: 127
Botho Strauß
Der Fortführer
Ihr Verlagsname
Eine Seele, die von silbernen Mikrophonen in ihrer Kuhle aufgestöbert wird ... eine Blutbuche, die vom Tanzen träumt, sich bereits einwiegt in ihre Tänze, die Tänze in sich vortanzt ... Arlecchino, der mit dem ganzen Hinterhaus Streit anfängt, mit jedem einzelnen Bewohner in jedem einzelnen Fenster, stolz auf seine fabelhafte Streitsucht ... Es ist die Tradition des romantischen Fragments, wie sie zwischen Hamann, Novalis und Friedrich Schlegel entstanden ist, an die Botho Strauß in seinem neuen Buch anknüpft. Vergleichbares hat er noch nicht geschrieben, noch nie sich so weit von Erzählung, Betrachtung und Kritik entfernt wie in diesen kurzen bildhaften Texten.
Und aus der formalen Neuheit ergeben sich neue Einsichten. Sie alle kreisen um das Nichtmitteilbare, um den poetischen Moment, den keine Intention hervorbringen könnte, um den Sinnentzug, bei dem sich – überraschend, entlastend – doch wieder ein Sinn herstellt.
Auch das Strauß'sche Hauptmotiv, das Paar, erscheint in vielen der Notate, Sprüche und Bilder noch einmal neu. Das Paar, das sich bekriegt; das Paar, das auseinandergeht; das Paar, das sich aussöhnt. «Die Anziehungskraft errechnet sich aus Drang mal Drehung mal Drohung.»
Botho Strauß, geboren 1944 in Naumburg/Saale, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Essayisten unserer Zeit. Sein Werk wurde mit vielen Preisen gewürdigt, darunter auch mit dem Büchner-Preis. Er lebt in der Uckermark und in Berlin.
Und der Schatten des Baums wird für den Sohn dasein.
Antoine de Saint-Exupéry, «Die Stadt in der Wüste»
Nime ich ein stücke von der zît, sô enist ez weder der tac hiute noch der tac gester.
Nime ich aber nû, daz begrìfet in im alle zît.
Meister Eckhart
Eines Tages heißt es sich bücken auf der Rolltreppe nach der Münze, die auf die ruhende Schuhspitze fiel. Sowie, auf der Parkebene angekommen, sich auf dem Absatz herumdrehen, abrupte Wendung eines beschatteten Mannes, der seinen Verfolger plötzlich und für diesen so unerwartet, als träfe ihn ein Faustschlag ins Gesicht, zur Rede stellt.
Es steckt in der Sprache etwas, das drückt und drängt. Etwas, das sie buchtet und beult, weil es hinauswill wie ein gefangenes Tier. Für immer entkommen. Ist es etwa das Zusammengepferchte von Unding, Abgrund, Numen und Werg, das in Gestalt eines Wühlers durch unsere Sprache buckelt und findet den Ausgang nicht mehr?
Männer, Frauen haben: «Nichtswürdiger!» mir zugerufen, mir, einem birnengelben Lindenblatt! Kreiselnd unter Schmährufen, tanzt’ ich, schaukelte herab, solange der Herbst den Atem anhielt.
Blutbuche, die hohe, sie wartet wie vormals die Maid, die keiner auffordert zum Tanz, in sich ihn vortanzend, sich einwiegend; ihr glockenförmiger Saum streift über den Boden. Doch fehlt es an Schleppe, um den Kehraus zu schwofen.
Nur weil du keine Wolken verschieben kannst, willst du Mäuse zählen?
Der Lapsus spricht: Ich bin ein Wesen des Entgleitens, ich entgleite, das ist meine einzige Beweglichkeit. Wie ein Gedanke dem zerstreuten Denker, wie ein Teller morgens müden Händen und wie das Verstehen selbst, das in ein Versehen schwindet, wie’s denn die meisten brauchen, um sich zu verlieben. So entgleite ich Zug um Zug auch dir, wenn du mich umklammerst und gewaltsam richtig stellst.
«Mihi» findet sich in alten Exlibris. Mir gehört’s. Mihi ist auch des anderen Gesicht: mir gegenüber, mir zugewandt, es wird mir gezeigt. Es gilt mir, ja es besteht nur aus Mir, mir gehört’s und ist nicht das meine. Mihi. Nicht-Meins.
Der Erblindete, der über die Stirn der wiedergefundenen Geliebten tastet, wozu sie ihre Züge angestrengt strafft, die Augen träumend schließt, die Lippen ein wenig aufwirft – in der Hoffnung, er fände ihr Gesicht aus alten Tagen wieder.
Die einer den anderen in der Ferne sahen, sprachen später in der Nähe, einander gegenüber, nur von den «Glücklichen», die sich in der Ferne sahen und nicht identifizieren konnten.
Ich habe nicht den Eindruck, daß den Empfehlungen, die uns die Eiche zuflüstert, der Hauch ausgegangen wäre.
Er bezahlt ihn und zahlt noch eins drauf. Und noch eins. Der Hausherr gewährt seinem Hausmeister ein fließendes Zahlen. Er vergibt, weil für ihn nichts mehr seinen Preis hat. Alles hat seinen Preis an den Sinn verloren.
Ohne Sonne wäre Gold wertlos. Das Symbol bestimmt seinen Wert, Vorkommen und Börse seinen Preis.
Rücken an Rücken schlafen mit einem Rappen, schwarz wie die Nacht.
Den Traum über die Schwelle des Tags balancieren wie eine zerfließende Vase.
Was bedeutet es, bei der Rückkehr zum Haus die eigenen Schritte im Schnee mit der Schuhspitze heimwärts gerichtet zu finden? Man muß wohl rücklings ausgegangen sein.
Ein Zimmer Licht, unverwüstliches, Rückstand der «unendlichen Räume» nach ihrem Insichgehen.
Wenn alle Türen offenstehen, werden die göttlichen Gesichtszüge des Herdsassen von den göttlichen Gesichtszügen des Diebs nicht zu unterscheiden sein.
Frühmorgens beim Blick in den Spiegel sagte er: «Ach du bist es, Mutter!» Der Übernächtigte verschwand in seiner Ahnin Ähnlichkeit.
Einen Tag, an dem alles so geht, wie es immer ging, der gleichwohl wie der warnäugige Schmetterling schaukelt im unerfüllten Herbst, den binde dir wie den Flügel des Hermes an die Ferse.
Immer mehr gutaussehende Männer werden in Dinge verbannt. Da rollten zwei Fahrräder unbesetzt über den Uferdamm, und in den Speichen erschienen bei heftiger Drehung die Veloplasmen zweier philosophischer Freunde, zweier ausgesprochener Beaus, die sich über «Die Apotheose der Bodenlosigkeit» von Schestow unterhielten.
Ist nicht alles wie nie?
Unter Leuten auf engstem Raum, in unruhiger, zerstreuter Gemeinschaft, wo sich dies und das ebenso schnell noch sagen ließ, wie es langanhaltenden Schaden verursachte. Wo sich dies und das ebenso schnell hervortat, wie es wieder abtauchte. Wo man dies und das nochmals zu verkasematuckeln hatte. Nochmals vertilgen, verschlingen, erläutern, erklärt bekommen mußte. Wieviel Einbußen, Zurückweisungen, vergebliche Annäherung auf nur einem Quadratmeter!
Die menschliche Bewegungsfreiheit beschränkte sich auf ein rastloses Auf-und-ab-Trippeln im engen Pulk. Läufer, die sich aus dem Vogelnetz ihrer Zurufe nicht mehr befreien konnten, stießen ganz unwillkürlich Auskünfte in die Luft hinaus, ohne daß sie jemand Bestimmtem gegolten hätten. Ihre Verlautbarungen rührten ausschließlich von einem Sich-Lösen der Zunge beim Gehen.
Der Geist, einmal unter dem Vogelnetz der Zurufe gefangen, blieb erst ein wenig unschlüssig, war dann aber vorschnell bei der Sache.
So jemand im Eifer den Faden verlor, hing dieser ihm als ein loses Ende aus dem Mund und konnte ebensogut der Anfang einer Zündschnur sein, die nach kurzem Brand die Sprengung der Zunge auslöste.
Um sein Lückenbüßerdasein zu rechtfertigen, ergänzt man eines Früheren fallen gelassenen Gedanken hier, eines Zeitgenossen kopflos begonnenen dort. Mehr Raumfüllung bleibt einem letztlich nicht.
Die Ansprache des Unbekannten Führers erfolgte von einem Fenster der Schloßfassade bei herabgelassenem Rollo, das im unteren Teil ein wenig abstand, ein wenig aufgekippt war, so daß man allein die Hände des Unbekannten Führers auf Fensterrahmen und Sohlbank sehen konnte. Seine Hände sollten für sich sprechen. Im Grunde warb er beim Volk um Vertrauen nur in seine Hände. Dabei sprach er zu der Versammlung mit leiser Stimme über hauchecht verstärkende Lautsprecher und zeigte sich nicht.
Nach drei Jahren unbeschränkter Herrschaft stand der Volksredner abermals am selben, jedoch nun offenen Fenster und sprach ohne Verstärker zum Volk auf dem Hofplatz. Da sauste plötzlich der Rolladen herunter, und unerwünscht sperrte er ihn ab von seinem Publikum. Der Rolladen, der zuvor den Unbekannten Führer mit Absicht verdeckte, schlug nun dem sattsam Bekannten auf die Gelenkknochen. Doch die Hände drängten sich vor und setzten mit ungeschicktem Ausdruck die Rede fort.
Und das ist Ihr Reisekoffer?
Nicht unbedingt. Eher ein Zimmerkoffer. Ein ausgesprochener Stubenhocker.
Aber er reist mit Ihnen?
Ungern. Man muß ihn zur Tür schubsen.
Gegen das Reisen sträubt er sich?
Gewiß. Weil er sich eben zweckentfremdet fühlt.
Sie meinen: nicht standesgemäß behandelt?
Sehr richtig. Seinem Stand entspricht das Stehen.
Ist man ein Mundtuch, so kann man lose gerollt und selbstzufrieden in einem Serviettenring stecken. Man kann aber auch nach der Mahlzeit halb zerknüllt und verwahrlost auf dem Tischtuch liegenbleiben. Am ehesten aber wird man von der Hand eines verbiestert debattierenden Menschen in einem grausamen, serviettenverächtlichen Nebenbei Falte um Falte zusammengelegt, wird glattgestrichen, wieder und wieder, bis man nur noch aus einem einzigen scharfen Knick besteht.
Ein Künstler trug vom baren Eindruck, den ein altes Meisterwerk auf ihn machte, eine so tiefe Delle davon, daß er, an Leib und Seele gemuldet, buchstäblich eine menschliche Bucht geworden war. Nie wieder würde er die Brust vorwölben oder sich gar in die Brust werfen können.
Geh! Geh endlich weg! Ein Mann sucht einen zweiten daran zu hindern, die Bühne zu betreten. Verschwinde! …
Das ist das ganze Drama. Der eine will hinaus auf die Bühne, der andere, draußen allein auf weiter Bühne, sucht ihn zu verscheuchen, jagt ihn zurück vor den Auftritt.
Ich will gar nicht reden, sagt der Abgedrängte,ich will nur ein einziges Mal platzgreifend da draußen sein!
Aber Menschen! Menschen sind keine Kleiderpuppen! Menschen sterben, man soll ihnen nicht dauernd dazwischenreden. Der Quell all ihres Begreifens ist der unbegreifliche Tod.
Das ist es ja! Daher das gute Zureden. Sie bewegen sich unablässig in einem Halbrund von Halbheiten, Halbwahrheiten, halben Sachen und halben Stunden.
Was immer Sie festigt, woran immer Sie glauben mögen – glauben Sie einmal zwei Stunden lang nicht daran.
Es folgen Sätze, die jede Aussage verweigern. Wie der Beschuldigte, der vor Gericht sich nicht selbst belasten will. Für die Sätze, die folgen, heißt das im Vergleich: Sie wollen nicht in den Verdacht geraten, Beziehungen zu Erzählkartellen zu unterhalten.
Das alte Wissen: das Alte wissen.
Unbestechliche Empfindung für die Vergangenheit alles Seienden.
Abgewandelter Gorgias von Leontinoi. Er lehrte, daß Seiendes nicht ist; selbst wenn es wäre, vermöge der Mensch es nicht zu erkennen; aber selbst wenn er es erkennte, wär’s für ihn nicht auszusprechen und mitzuteilen.
Demnach lautet die neue Lehre:
Nichts ist. Alles war. Und so, wie’s war, kann’s keiner fassen. Und selbst wenn er’s von fern noch empfände, wär’s ihm nicht aussprechbar.
Nie werden wir’s fassen können, das wilde Land, in dem wir einst waren, von dem nur der Schmerz noch weiß. Indem er aufbegehrt, erfahren wir allein durch ihn von der frühen Zeit – von einem jedes Jetzt durchbohrenden Einst.
Schönheit – promesse du passé. Ich sehe dich an/du kommst mir in den Sinn – das ist eins.
Niemand lebt jetzt, jeder versteht oder mißversteht, was gegen – ihn – wärtig geschieht, stets aus bereits Erlebtem und erfahrungsgemäß. Nach dem Rezept einer bestandenen Gegenwart.
Das plötzliche Stehenbleiben als Austragungsort erbitterter Flügelkämpfe eines Mannes, der mit sich geteilter Meinung ist. Der nächtliche Alptraum als Ritterschlag, der den bis dahin Furchtlosen in den Adelsstand ewigen Grauens erhebt. Das Zittern am ganzen Leib, die Hände flach auf die Ohren gepreßt bei abstehenden Ellenbogen, mit beiden Füßen auf die Erde trommelnd, weil es nicht auszuhalten ist.
Auf einem nassen Weg fiel er in den Matsch – an derselben Stelle wie sein kleiner Sohn vor vielen, vielen Jahren. Ein Junge aus dem Nachbarhaus kam gerannt und sah verwundert auf den alten Mann im Matsch, der sich nicht mehr rührte in seiner sohnesgleichen Lage.
So verursacht sich alles um. Man gräbt sich in den Weg, auf dem man einst sein Mannesalter von einem Kind empfing.
Auch ein guter Denker ist in seinem Höhenflug nicht, was er als Kriechender sein könnte.
Grille und Geist – beide reglos vor dem jähen Sprung. Ungewiß, wer zuerst ihn tut.
Plötzlich ist die Summe der Stille, das Meiste seiner Tage, aus ihm hervorgetreten: Wenn sich der Mund öffnet, quillt eine graue Aster hervor. Aus langer Verschlossenheit geht ihm eine faustgroße Blüte auf genau dort, wo Mund und Stimme waren. Die Sonne, die Weide, die Hecke, Liguster, Ahorn und Fuchs, all das Erbauliche nennt er noch dumpf mit blumenerstickter Stimme. Ach! Er kann nicht mehr durch die Blume sprechen! Die Vögel, das Licht, die vergnügten Wenden der Wege, er hält sie zu nennen vorsorglich bereit hinter dem Blütenknebel.
Wer ist vorübergegangen? Wir oder an uns ein Leben? Fahren wir, oder fährt der Zug auf dem anderen Gleis?
Zuweilen stockt die Stunde, und man denkt, sieh an: ein Jetzt!
Auf dem Heimweg einige Fundstücke aus den Tagen des Aufbruchs … Sei gegrüßt, Vergessenes. Erhebe dich, Liegengebliebenes!
Der Platz auf dem Brunnenrand, den ein Mann so lange bewahrt, bis sein Bild im Wasser versunken ist.
Hörst du es? Ein Tor nach dem anderen fällt ins Schloß. Wie grausam! Bald ist alles Innen zu. Das Innen weltweit zugesperrt.
Das nicht mehr vorsagende, den Klippschüler der Tagvernunft nicht spicken lassende Träumen.
Das unheilvolle Licht streift als ein Suchscheinwerfer über die Erde. Ohne Unterschied treffen das schlimme Versehen, der sengende Zufall die dafür Auserwählten.
Doch viele sind auf Reisen, sind überall – aber auch dort trifft sie das umstoßende Licht.
Im Sturz aller fühlen sich alle geborgen. Denn alle, das ist ein Nest und ein Netz.
Es sind die unzureichend gedeckten ebenso wie die längst abgeräumten Tische, an die sich die Gäste setzen oder an denen sie sitzen bleiben – so oder so im Nacken das kalte Grausen. Am Ende will niemand mehr aufstehen, obgleich die Teller alle leer gegessen sind und kein letzter Gang mehr folgen wird.
Der Wächter liebt den Bewachten. Liebt er aber auch den Gefangenen? Daß du gefangen bist, ist nichts. Aber daß ich dich bewache, ist alles.
Und schließlich erlebte man den großen Rückzug der Displays. Die Bildschirmdämmerung begann. Von allen Zeigeflächen weltweit und zugleich schwand der helle Schein, niemand besaß Auge genug, das schattenhaft noch Angezeigte eindeutig zu entziffern. Jedes Mittel einer technischen Verstärkung versagte. Und das schwache Leuchten der Displays zog in seine Schwäche hinüber das helle Auge.
Studio 304. Leere Wand mit zwei Stühlen. Über dem einen der Schriftzug mit Filzstift Talk and dissolve. Reden – verschwinden. Über dem anderen der Schriftzug Views. SichtbareAnsichten. Der Gast auf dem ersten Stuhl redete heftig, und darunter verdämmerte seine Person; sie blaßte, und seine Umrisse lösten sich auf. Der Gast auf dem zweiten Stuhl schwieg, bis alle seine Ansichten auf einmal aus ihm hervorbrachen, gekerbt auf eine meterlange Zunge.
Menschen, die zu allem ein gesundes Urteil haben, ahnen gar nicht, wie ein Urteil beschaffen sein muß, um Bestand zu haben: daß es nämlich zuerst unter Zähneklappern, zitternd und fiebernd durch den Eiswald der Sachverhalte irren muß, um zu sich zu finden.
Ich bin – das heißt, ich überlebe in einer Luftblase wie der Bergmann in der gefluteten Grube.
Während ihre Fingerspitzen den Ärmel des Begleiters berührten, vielleicht um im letzten Moment noch festen Halt zu fassen, begann ihr Leib am Rand der Kluft sich zu winden und sich dem tobenden Abgrund zu prostituieren. Es war geradezu, als hätte das Psalmwort sie angestiftet: Abyssus abyssum invocat. Es ruft ja Abgrund nach Abgrund. Dazu packte sie den Arm ihres Begleiters und zog ihn zur äußersten Kante: «Sieh mit mir in den gierigen Schlund … Dort ganz unten! Sieh nur … ihn schäumen vor Lust!»
Sein Tasten an allen Dingen, das sichernde, zwanghafte Bedürfnis, beständig etwas Geformtes, Gebogenes, Geprägtes zu berühren, hatte ihn mehr Unterschiede an den Oberflächen gelehrt, als sie das Auge je entdeckt hätte. Und darunter entstand von seinen nimmermüden Fingern, die dem Blinden nachzueifern schienen, mit der Zeit ein gleichmäßiges Dunkel in ihm, das ihm weder angeboren noch vom Unfall zugefügt worden war; allein sein weltfahrendes Tasten hatte es erzeugt.
Morgens über die Piazza schleppen sich Frauen, es sind gehende Türen. Es sind die Portam-portare-Frauen, so ihr neumythischer und ihr uralter Name. Die Gefangenen der Schwelle, sie bleiben Tag und Nacht in ihre Türrahmen gestreckt und eingesperrt. Die Schwelle liegt ihnen wie der Pflock, wie ein Jochbalken schließt die Schwelle