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Oben die helle Welt, unten das Dunkel: Schon auf dem Weg durch die Stadt gibt es überall Höhleneingänge, auf dem Weg der Liebe, auf dem Weg der Gerechtigkeit, auf dem Weg des Spiels. Wer lebt, der lebt mit Bildern, mit Geschichten, die sich wieder aus Bildern zusammensetzen. Mann und Frau ein Leben lang auf der Suche nach sich selbst. Die Bilder, die Botho Strauß entwirft, die Szenen die er erzählt, sind Graffiti aus der Tiefe des Traums. Und wie im Traum erkennt der Leser in dem, was so rätselhaft erscheint, ganz plötzlich sein eigenes Gesicht. Botho Strauß erkundet unsere gegenwärtige und alte Bilderwelt, entziffert die Schrift auf den Höhlenwänden der Nacht.
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Seitenzahl: 319
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Botho Strauß beschreibt eine Welt, die immer weniger zu sich selbst zu passen scheint.
Überall gibt es Höhleneingänge, tun sich neue Wege auf, Schluchten, Widersprüche – zwischen Paradies und Unterwelt, Liebespaaren und einsamen Wölfen, dem Leben und der Simulation, Mensch und Tier, Bekenntnis und Klage, Freude und Trauer, Anfang und Abschied. Einer steigt hinein in diese Welten und sammelt sie: Oniritti Höhlenbilder.
Botho Strauß erkundet die Stollen der Geschichte und des Mythos, der Gegenwart und des Traums. In dem, was so rätselhaft erscheint, erkennt der Leser immer wieder sein eigenes Gesicht.
Hanser E-Book
Botho Strauß
Oniritti Höhlenbilder
Carl Hanser Verlag
Das griechische Wort ὂνειρος/oneiros für Traumgesicht hat anders als ὕπνος/hypnos in den europäischen Sprachen keine große Karriere gemacht. Im Französischen gebräuchlich ist onirique oder onirisme für traumhaft und Traumgebild.
Oniritti also wären, verschränkt mit Graffiti, Bildschriften auf der Höhlenwand der Nacht.
Artemidor, Traumdeuter des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, gliedert ὂνειρος/oneiros nach den Bestandteilen: òν und eírein (= legein), also: das Seiende sprechen. Was das Sein sagt.
Die Figuren von Lascaux ordnen sich entlang einer Bahn, sie sind miteinander durch das Band eines Themas verknüpft, dessen Sinn wir nicht kennen. (André Leroi-Gourhan)
Je sprechender die Stühle, um so menschlicher darauf die Menschen.
Also nochmals die Bühne, wieder zurück auf die Bühne, in die versiegelte, notbeleuchtete Finsternis und ihre verabredete Stille, Reich der Erwartungsstille (außer dem Flüstern des Inspizienten). Einzig du auf nacktem Stuhl, Sitzgeburt, wenn das Licht heranrauscht aus einem winzigen Punktscheinwerfer, ein heller Kreis über dir, herausgeschnitten aus der bestgehüteten Finsternis, ein Kreis, der jederzeit abnehmen könnte, schrumpfen und sich verengen und verdichten, bis er nur noch handtellergroß über deinem Scheitel schwebt, dann vom Umfang einer Puckscheibe beim Eishockey, wahrscheinlich aber niemals nur ein Punkt in Nadelkopfgröße, der den mittleren Fingerknöchel beleuchtet. Das Licht könnte beliebig wenig von dir übriglassen. Da sitzt du vorerst wie für immer. Den Kopf, die Brust nach vorn gebeugt, die beiden Hände unter die Knie geschoben, dicht bei der Sitzkante, läßt die Beine baumeln, das zeigt Erwartung an, irgend etwas mußt du wohl erwarten wollen, du Kind der bestgehüteten Finsternis. Schaust auch nach rechts und links, als bestünde Aussicht, von da, von dort, auf menschlichen Verkehr. In Wahrheit gibt es nur die eine Hoffnung, nicht ganz unbegründet, daß beim steten Baumeln die Beine etwas in die Länge gehen und du irgendwann, in kaum absehbarer Zeit, Bodenberührung erlangst, die Füße abstellen kannst. Das Licht sitzt auf deinem Kopf wie eine hohe Mütze, Mitra, Tutulus oder Hennin ohne Bänder oder Binden. Du denkst: Ich halte das schon aus, eingesperrt draußen auf der Bühne zu sein. Du weißt, da gibt es eine zweite Finsternis, eher Dunkelheit nur, oder sogar nur schwach verdunkelter Raum, Zuschauerraum, nicht ohne Behaglichkeit, dort sitzen tausend Menschen aufgereiht, die nur darauf lauern, daß du eine unkontrollierte Bewegung machst. Oder dein Schweigen brichst. Um dir eine Salve von Mißfallensbekundungen überzubrennen. Unterm Lichthut versinnst du dich mit den Jahren in das Weiß bei Plotin. In das Weiß bei Poe. In das Weiß bei Borges.
Zum Reich der Verstorbenen führte ein Stolleneingang in den Berg hinein. Verschlossen war er mit einer Stahlschiebetür, die man nur mit Hilfe eines zugeteilten Codes öffnen konnte. Auf einem steinernen Geländer, das in einer Schnecke mündete wie ein hölzernes Treppengeländer, hockte unten eine häßliche Elfe mit Flügelstummeln und Hornbrille. Ein schmächtiges Geschöpf in rosarotem dünnen Kleid. Die Totenherbeiruferin, von mir beauftragt, doch bislang erfolglos, weil ihre Stimme so fiepsig. Ich hatte mit der schwächsten, der kostengünstigsten vorliebgenommen.
Seht nur (man weiß es ja): überall Höhleneingänge auf dem Weg durch die Stadt, auf dem Weg der Gerechtigkeit, auf dem Weg der Liebe, überall die ein wenig getarnten Stolleneingänge, die vor dem Steinschlag der menschlichen Schäbigkeit Schutz bieten, zu Höhlen führen, in denen man an feuchten Wänden die Urzeichen der Fruchtbarkeit findet. Aber kaum jemand wagt, in den kalten Schacht vorzudringen, der ihm jede Sicht raubt und wo sein Herz, auf den Kopf gestellt, zu rasen beginnt.
Zusammen gehen Mann und Frau in heiliger Farbe Rot und Blau. (Der Reim, den Ratten hören, ehe sie verbluten.) Aber das Paar in den Farben der Herrschaft geht langsam und unwendbar hinab. Schürfschritt für Schürfschritt tiefer bergeinwärts.
Es sind die, die wir niemals von vorne sahen.
»Wir Speläologen, wie?« Der Türsteher stupst der Schlanken im blauen Gewand vertraulich den Ellenbogen in die Seite. »Wir kennen uns aus in unserer Spelunke. Immer noch auf der Suche nach dem königlichen Troglodyten im Reiche Agharti, Madam?«
»Nach wem sonst. Seine Majestät wird dieser Tage sechzigtausend Jahre jung. Sein unterirdisches Volk feiert in sämtlichen Höhlen seines unermeßlichen Reichs. Der König der Welt herrscht aus tiefem Erdinneren und herrscht auch über die zuchtlosen Milliarden, die oben auf ihr herumtrampeln und sich weiter vermehren, ohne daß sie jemals begriffen, daß auch sie seine Untertanen sind. Es gibt Zeiten, da hören wir’s rumoren unter unseren Füßen, ein starkes Zittern geht durch alle Gläser auf den Regalen, man versteht dann kaum sein eigenes Wort.«
Über Schrofen und Zacken geht’s inwendig langsam voran. Doch vorm Massiv der Gesinnung und Belange setzen wir bei der Ortsbrust an die poetische Vortriebsmaschine und schälen allmählich den Tunnel in den Fels. Den Bergdruck kennen!
Im Unterirdischen Reich Agharti regiert der König der Welt und sind um ihn versammelt in stehender Zeit der Menschheit Beste, viele große Geister. Apostel Paulus predigt noch dort und immer wieder. Oben besteigen Tausende die Gipfel des Himalaya, und keiner weiß, daß unter dem Gebirge das wahre uneroberte Land verborgen liegt.
Hüte dich! Du verherrlichst einen verfluchten Ort: La ville tentaculaire – Krakenstadt, die krakenarmige. Wo Frauen sind die buckligen Arbeitsratten.
Oh nein! Welch eine Verleumdung! Idle City ist keine Krake – ist eine Stadt der klaren, unwirklich klaren Formen, ist jene phantastische Marmorstadt, die aus dem schottischen Hochmoor aufsteigt in seltenen Vollmondnächten, wie uns glaubwürdig Lord Dunsany berichtet, ist die Stadt des unerschöpflichen Müßiggangs, des geistigen Schlafwandels, der Katzensicherheit der Sinne.
Der Architekt von Idle City, heute bedrängt von lauter Remix-Arrangeuren der Baukunst (aber wie lange noch?), ist der Meister der Moderne, der das Vermächtnis des großen Terragni erfüllen möchte; er muß es wohl hinnehmen, daß ihn die Schar der Plundergeister schmäht, den Stil der »Casa del fascio« ihm vorhaltend.
Idle City ist auch ein Märchenreich der gebrechlichen Seelen, jedenfalls Kultstätte der Sichabkehrenden, Schönheitskult ohne Massen-, daher ohne Missionsdrang.
Dort leben sie in ausgestorbenen Casinos, leben in Stille, Leere, edlen Ruinen. In längst geräumten Wohnungen, verlassenen Palästen, evakuiert von allen geschäftigen, betriebsamen Seelen. Ihre Häuser, ihre Körper sind frei und leer für die Alten Fürsten, die aus bleichen Nebeln wiederkommen, Wiedergänger aus abgrundtiefer Müßigkeit. Was interessiert sie in Idle City anderer Städte »Vitalität«, wo man sich drängt und häuft für sein Vergnügen?
Die Mauern dieser Stadt umschlossen und hegten eine stundlose Dauer. Die Menschen lebten dort angekommen in erfüllter Zeit. Es war ein Äon, in dem alle Neuerungen sich erschöpft hatten, und der Mensch der gierigen Entwicklungen stand nun in allen Dingen vor einer fertig gewordenen Welt, einer restlos gegebenen Gegebenheit. Und es begann ein Leben von unwandelbarer Stete.
Hier war es allein die Stimmung, die erzählte. Kein anderer Erzähler war zu ermitteln. Kein »Ich, die Geschichte« trat auf. Allgemein umgab die Menschen eine gleichbleibende Schlummersphäre, in der sie auftauchten und wieder versanken, sie blieben alle verschwommen, verzaubert, künstlich und somnambul. Nichts mehr wurde deutlich, alles verlor an Kontrast und Kontur.
Denn die Zeit war der Hund der Götter, und als alle untergegangen waren, lief dieser Köter herrenlos, hungrig jaulend und bellend durch die Welt. (Lord Dunsany, The Birth of Doom and The End)
Nur in der versunkenen Marmorstadt erhielt menschliche Freundlichkeit Asyl und gingen die Einwohner singend und gut verständigt ihrem Taglauf nach. Leider schreibt Lord Dunsany nur eine Kurzgeschichte, so daß das Ende abrupt kommt und alles Gesehene zum Traumgespinst erklärt.
Mann und Frau gehen bergeinwärts tiefer. Wie ein Alchemistenpaar sind sie auf der Suche nach dem erlösenden Symbol. »Habt ihr das Symbol, so ist der Wandel ein leichtes.« Das uralte Menschelein, homunculus, kann’s nicht mehr sein, ausgeschieden infolge dreisten Abwanderns ins Reale. Auf dem Pixel-Grund simuliert man aber nochmals ein wildes Schöpfungsspiel. Reculer pour mieux sauter. Weiche zurück für’n besseren Vor-Sprung! Dabei gilt es, das bis zum Wesenlosen Aus-Differenzierte dem Ungesonderten neu zu verbinden, dem Stammzellgeweb des Wissens, dem alles noch möglich.
Das alte Alchemistenpaar ein Leben lang auf der Suche nach dem erlösenden Symbol … vergeblich … denn schließlich waren sie’s selber, die Chiffre der Chiffren: das Paar.
Verjahrt miteinander, verbunden und verjocht, συζυγία/syzygia: das Gespann.
Einst auch Cécile und ich in der Cueva de la Pileta nahe Ronda, die Grotten mit Höhlenzeichnungen, der Gestank der Fledermauskadaver. Und in Ronda später im Hotel Reina Victoria das Zimmer 208, Rilkes Zimmer, wo man seine Rechnungen noch aufbewahrt.
»Hochauf ragte die Höhle, gewaltig mit klaffendem Rachen« – so sieht es Aeneas im 6. Buch der Dichtung. Da kamen keine Vögel mehr hin, deshalb der Name Aornos – ohne Vögel.
»Die idola specus/Höhlenbilder sind die Idole des einzelnen Menschen. Denn ein jeder hat … eine Höhle oder eine gewisse nur ihm eigene Grotte, welche das Licht der Natur bricht und verdirbt« – alles Weitere im 42. Aphorismus von Bacons »Neuem Organon«.
Die geheimen Grotten wird nur jemand entdecken, der sich zuvor einen Pfad bahnt durch den beinah undurchdringlichen Dschungel leichtsinniger Kunst. Geschickt geschriebener Romane voll schlechtgesehener Menschen, schlechtgesehener menschlicher Begebenheiten, Schlechtgesehenem überhaupt. Der zuvor eine Schneise schlug, Meister der Pikade, durch die Wirrnisse von vorgetäuschter Höhlen-Architektur, Virtualitäten mit ein paar restlichen, realbiographischen Figuren, die verloren herumstehen an 3-D-Arkadenbögen, lebende Leiber, Fremdkörper in dieser Welt schablonisierter Phantasie, aufdringlicher Konstruktionen, die unser Leben ununterscheidbar machen vom Nachleben, ins Unendliche sich verlierend, immer so weiter, eine unabsehbare Flucht mit wandlosen Wandelgängen, hellichtes elektronisches Grabgewölbe, in der uns alles unfaßbar wird, was wir einmal am Arm faßten, küßten, schmeckten, rochen, von uns stießen. Dies Gewölbe in vermischten Stilen, Opulenz digitaler Ornamentik, Exerzitien der Täuschung, Game-Muster, nichts als fortwuchernder Entwurf, in den wir übergehen, letzter verfluchter Transfer zur seelentoten Seligkeit, Wabenbau, Gehäuse aus einer unermeßlichen Zahl von künstlichen Gelassen, in denen man nicht schreien, nicht wimmern, weder fragen noch beten kann. Getrennt von der Seele, die nach anderswo –weiß Gott nur wo? – ausriß, floh, entkam – der nachstrebend aber jedermann immerzu rennt und ruft, im Irrsal der Gänge, Treppen, Brücken, Galerien und Umläufe, wie alle Gefangenen aller Lager nach ihren fehlenden Liebsten, zu denen ihnen die Verbindung verwehrt wird.
Ihre Vision, ihre Verheißung, ihre Qual sind dann die Nischen, Kolumbarien, Urnen – dort oben am Höhlenrand! Die Seelen fliegen ein und aus, und sogar einen einzigen Taubenschlag gibt es für die vielen Geister einundderselben Person.
Oh diese Gefangenschaft, in sich hineinzuhören! Sein eigen Blut tropfen zu hören von den Stalaktiten der kalten Leibeshöhle!
Oder zu hören, wie es tropft im Palast des Phineus, an der Grenze zum Reich der Dunkelheit erbaut. Und der Grenzgänger kennt alle Abscheulichkeiten des Totenreichs, sah einst hell in die Zukunft voraus und ward dafür mit Blindheit geschlagen und mit der Strafe der Harpyien, Weibervögel, die ihm das Essen vom Mund raubten und ihr Geschmeiß auf seinen Teller warfen.
So reißen auch uns die häßlichen Vögel der Unterwelt die schönste Nahrung, Symbole und Metonymien, vom Tisch und besudeln den Rest. Dann sieht’s aus! Die Fliesen am Boden, mit Fleischresten übersät, Blumenleichen, Fettschlieren, Verpackungsfetzen – nur säubern noch, immerzu säubern müssen wir. Der Ekel. Zwei hochstielige Gladiolen liegen auf frischer Erde, die Blüten in Papier gehüllt, sehen aus wie zwei steife dünne Beine, abgedeckt mit einer Plane wie ein Unfallopfer.
Und wir sehen eins von den Biestern in seinem graubraunen deftigen Federkleid, mit Augenmustern besetzt, eine Sie, die sich in den Staub duckt mehrmals, der prahlerische Gold-Gemahl hinter ihr her. Nach reichlich gestohlener Mahlzeit fand dann der Stachel ins weibliche Fleisch, aber nicht besonders geschickt beim Besamen, bloß irgendwann wie zwischendurch ein kurzes gemeinsames Flattern, sehr kurz, vorbei.
Nächster Ort ein unterirdischer Busbahnhof, und die Schatten wurden in altmodische Busse gepfercht von »dienstbaren Geistern«. Da packten wir Schatten (an die hundert auf ein Lot!) in den Wagen nur mit Stehplätzen. Und einer drehte sich kurz vor dem Einsteigen, dem Hineingepreßtwerden, wandte sich zu uns Helfern und sagte: »Ich habe dreißig Jahre mit einer Frau gelebt, die es nicht verdiente, daß man nur eine einzige Nacht mit ihr verbringt!«
Nun mußte ich mit diesen unseligen Genossen reisen von einem schauerlichen Ort zum nächsten, verfrachtet wie Vieh auf dieser ziellosen qualvollen Schnupper-Tour durch Unterwelt und Vier-Ströme-Reich.
Der Fahrer, Chauffeur im Bus, war einst Fliegender Händler und sprach ohne Punkt und Komma über Küchengeräte und anderen »unverzichtbaren« Krimskrams, hatte seinen Job verloren oder wollte nicht mehr, sprach immer noch mit todernstem Gesicht nach Charons Art, aber jetzt Reim um Reim schindend, unterhielt sein zur Verdammnis niederbrausendes Publikum mit Sperenzchen, offenbar vom Ehrgeiz geplagt, seine Suada ohne jede Unterbrechung fortzusetzen, bis alles aus und vorbei ist: Schnell schnell schnell ich tanke nur bei Shell … ’ne Ewigkeit im Schlick ich wünsch viel Glück.
Was ist Ihre eigene Sprache? fragte jemand.
Jetzt geb ich Gas, das macht mir Spaß.
Es gibt immer ein Unten zu jeder Handlung oben, einen Hadesbezug, wenn nicht gar ein Hadesäquivalent. Wie könnten wir lachen hier oben, ohne daß nicht tief unten über unser Gelächter zumindest verzeihend gelächelt wird?
Man kann gar nicht anders, man muß einer bestimmten Erkenntnisspur hinterher, die führt noch ein paar Stufen tiefer in die Bildergrotte hinunter, man holt zuerst noch dies und das herauf, Übersehenes, Vernachlässigtes, doch der Aufwand – die fächrigen Sätze, die mühsame Gangart, das minutiöse Bemerken von hinlänglich Bekanntem – lohnt sich das?
Letzter, nächtlicher Sinn verliert sich in Unschlüssigkeit.
Dazu taucht auf das unschlüssige Paar, um eine Straßenecke biegend, die ewigen Zwei, bereit, mit dem nächsten Schritt für immer auseinanderzugehen, alle Anstalten zur Trennung gemacht, Wendung zur Abkehr eingeschlagen, dann aber aufgegeben, beiderseits zögernd, ob nicht doch für eine Weile die gleiche Richtung die bessere wär. Also wieder in gleicher Richtung voran. Bis zur nächsten Straßenecke. Darauf wieder die halbe Abkehr voneinander, erster Schritt des Entzweiens bereits getan, worauf wiederum ein Zögern einsetzt und in Folge widerstrebendes Einschwenken zurück in gleiche Richtung. Bis zur nächsten Straßenecke.
Mythos, nächster Clip. Deukalion mit seiner Frau Pyrrha (Tochter des Epimetheus, des alles erst nachträglich oder zu spät Bedenkenden, und der unglückbringenden Pandora) waren die beiden letzten nach der Großen Flut. Götterwindallein auf dem höchsten Gipfel des Parnaß, ward ihnen verliehen, ein neues Geschlecht zu begründen.
Verhüllten Haupts und mit entgürteten Kleidern warfen sie Steine hinter sich, denn sie durften den Vollzug des Wunders nicht sehen.
Die Stein-Häupter, die neu aus der Erde wuchsen, waren Mischwesen aus Fels und Menschengeist, der, um nicht ganz umsonst auf der Welt gewesen zu sein, Zuflucht im Stein gesucht und gefunden hatte.
Nun kam es darauf an, sich des geretteten Guts auch zu bedienen, denn sonst wäre die Rettung überflüssig gewesen. Dafür bedurfte es einer Sprache, und die Sprache mußte der Schwere und schweren Beweglichkeit des neuen Körpers angepaßt werden. In jeder Gruppe von Findlingen gab es einen Fortgeschrittenen, der mit den übrigen die Regeln der steinernen Grammatik bimste.
Alles war einfacher, gröber, fester, kompakter. Durch Lautüberlagerung entstanden Sinnbrocken, wo früher feingliedrig verschiedene Worte verkettet wurden. Die Stein-Sprache fiel dem Menschengeist schwer, und der Stein wiederum litt unter der Infusion von Denken und Grübeln. Die Erleichterung, überhaupt gerettet zu sein, überwog aber beim Menschengeist die unsägliche Mühe, die es ihn kostete, seinen alten hochgezüchteten Inhalt Stück für Stück in ein koloßgerechtes, wie mit Eselskinnbacken malmendes Denken zu übertragen. Die Stein-Körper ihrerseits verloren durch den Gedanken-Befall bedeutend schneller an Härte und Festigkeit, als in Jahrhunderten von Witterung und Moosflechte verursacht. Überall entstanden Risse, die Furchung durch Erosion schritt schneller voran, als sie es durch die Einwirkung bloßer Naturkräfte tat. Dennoch stand der Verfallsfortschritt der Stein-Häupter in keinem Vergleich zu dem Zeitraum, in dem Menschengeist innerhalb der früheren geschichtlichen Zeiträume verfiel. Sich dies zu vergegenwärtigen und unbegrenzte Geborgenheit dabei zu empfinden, war der Menschengeist bei aller Grobheit der gewaltigen Sinnbrocken, die er beständig wälzen mußte, immerhin noch in der Lage.
Asphaltbahn unter hohen Linden hinweg, auf der junge grobe Frauen Skateboard fuhren oder Rollerskates, und eine tippte die andere an, um ihr ihre Gegenwart zu melden, doch die Angetippte reagierte nicht, sie kannte keine Gegenwart. Dann wieder großes Feuerwerk im Kortex. Jemand sagte: Rein synaptisch betrachtet, spielen wir überhaupt nur mit Gedanken und denken nie. Darauf des Erzählers Erwiderung: Ich bin der Glasbläser meiner Gedanken. Das braucht Glut und Geduld. Und es entspricht meiner Sehnsucht nach glasbildendem Hauch.
Denn plötzlich packte mich tiefer Überdruß an all dieser diabolischen Leichtigkeit, zu träumen, zu verformen und zu wandeln. An dieser eitlen inwendigen Geisterparade, welche die digitalischen Meister so viel effektvoller herstellen können, während die zwanghafte Herstellung aus sogenanntem Eigenem zunehmend dilettantisch, ungekonnt und linkisch sich ausnahm, Traum, der mit einem schlichten Werbevideo kaum konkurrieren konnte. Plötzlich also die Sehnsucht nach alter Anschaulichkeit. Nach beständig-stehendem Bild. Der tiefe Wunsch nach Einhalt der wüsten innerlichen Inszenierungen. Des bodenlosen Konstruktivismus. Der nachträglichen Bastardisierung all dessen, was am Tag wohlgewachsen, klar und sicher existiert, draußen nämlich, der frevelhaften Chimärenbildung aus Schönem und Verworfenem, Zerstörung des Geraden, dem wir zuvor unter der Sonne tatsächlich begegnet sind, ohne an ihm zu zweifeln. Diesen Grotesken unter der scheinheiligen Kuppel der Nacht, dem liederlichen Cargo-Kult des sogenannten wilden Unbewußten, das man im übrigen jederzeit durch Drogen zähmen, abrichten und umstimmen könnte.
Ohne Eskorte verließ ich die Nacht. Ein Ausgestoßener des Traums, ein blöder Nackter, ein verwirrter, verbummelter Mann, ausgespien wie ein anderer Jonas vom Ungetüm der Großen Illusion. Dieser Leviathan hatte mich auf dem Höhepunkt des Kampfs, da ich glaubte, ihn beinahe erledigt zu haben, inmitten meines Siegesrauschs, mit einem Schlotz verschlungen. Jedoch war ich ihm unverdaulich. Er gab mich wieder von sich. Meine Hypnerotomachie (zu deutsch vielleicht: mein Traumliebeskampf) war damit fürs erste beendet. Ich wandte mich wieder der Original-Version, der Allegorie des Poliphilo zu, der mich doch zu meinen Wanderungen und Irrgängen verführt hatte und dem ich gleichsam eine Strecke lang nachgegangen war.
Statt selber zu kämpfen, begnügte ich mich fortan mit der wiederaufgenommenen, seit meinem Buch »Der junge Mann« vernachlässigten Lektüre des berühmten und einflußreichen (erst vor kurzem ins Deutsche übertragenen) Renaissance-Romans, ebenjener »Hypnerotomachia Poliphili« des Francesco Colonna, der ich nun meine nächtlichen Glossen, Bilder und Geschichten, Zusätze und Ableitungen hinzufügte. Freilich unter geringer Berücksichtigung der Hauptattraktion des illustrierten Buchs, nämlich seiner architektonischen Visionen, dafür aber mit erhöhter Neugierde für seine hieroglyphischen Exzesse, die den Traumliebeskampf sowohl für die Kunstgeschichte wie später auch für die Symbolik der Jung-Schule so bedeutsam machten.
Obscurity was already invading my mind, and clouds enveloping my senses, so that I did not know which choice to make: would I meet a hateful death, or could I hope for rescue as I wandered in the opaque and shadowed wood?
»Ohnmächtig schon begann mein Verstand zu werden, und die Sinne begannen sich zu bewölken, denn ich konnte nicht erkennen, welche Möglichkeit ich auswählen sollte: entweder einem häßlichen Tod entgegenzugehen oder aber im schattenverhangenen und finsteren Hain schwankend mein Heil zu suchen.«
Interlinearkommentarfassung von Thomas Reiser, Breitenbrunn 2014
Bin mir selbst ’ne volle Bühne …
Zum Abschiedsfest führte ein langer leerer Saal. Von Erinnerung gebeugt, von Neugier gerafft, von Schmerzen steif liefen vereinzelte Gäste immer in dieselbe Richtung. Selten waren sie zu zweit, und wenn, dann traute sie Abstand, vermählte sie Entfernung, war Zwischenraum ihr Band. Das Haar vom Kopftuch verhüllt, huschte eine Frau durch den Saal. Später, um Jahre schien’s, schlenderte, vor Verlegenheit pfeifend, ein kleiner Mann hinter ihr her. Sie strebten gleichermaßen in den Hintergrund, angezogen vom Licht eines feierlichen Verschwindens. Dort hinten mußte es sein, wo Rauch und Lichter zitterten, wo das Fest schnell und schneller kreiste, wo das Wirbelauge abfließender Tage dem des Zyklopen glich und die vielen Gäste – einzeln, immer einzeln – den Fängen ihrer Zeit entriß. Doch fühlten die vom Wirbel Gezwängten und Gedrängten sich im letzten Augenblick begnadigt, von der Vision erfüllt, hinauszugehen, in die Höhe zu gelangen, um dort oben im hellen Tag zu verscheinen, sacht verschienen zu sein, in Luft gelöst, entrückt und aerifiziert auf dem Scheitel ihrer Stunden. In Wahrheit wurden sie im selben Augenblick abwärts gesaugt und in den Abyssos geschleudert.
Denn dies war ein Theater, auf dem es nur Abgänge gab, alle Wege zu Abgängen wurden und kein Auftritt mehr erfolgte. Die Bühne war ein Raum, den man betrat, um über kurz oder lang im Bühnenhintergrund für immer zu verschwinden. Die gewechselten Worte erfüllten nur den Zweck, darin versteckt einen bestimmten Ruf zu vernehmen. So kam es zu den stillen Figuren, den Personenbegleitern, die jemanden auf einem Lichterfest diskret beiseite nahmen, eine Nachricht flüsterten und nach hinten führten; die sich auch dem heftig Handelnden, dem inbrünstig bekennenden Menschen bescheiden zugesellten, ihn durch einfaches höfliches Beistehen zum Einhalt brachten, zum Schweigen, zur Besinnung, bis er ihnen ohne Widerstreben folgte in den Hintergrund, an den Ort höchster Verborgenheit. Fort von den Spielgefährten der Bühne, von der Bühne selbst, ins Verschwinden eskortiert. Wie ein erlahmter Stürmer, den sein Trainer vom Platz winkt und austauscht, so traten sie ab.
Langsame Überquerung eines alten Schauplatzes. Zwei Frauen im schwarzen Gewand und sehr weißhäutig. Fester Arm der einen umschlingt schlanke Taille der anderen. Vorsichtshalber. Um sie notfalls sofort zu packen, aufzuhalten, falls sie sich plötzlich wieder umdreht und, unterwühlt von Kindheit, Pferden, erster Liebe, heftig zurücklaufen will.
Deshalb war es Sorge der einen, die Freundin um die Hüfte zu fassen und vorbeugend zurückzuhalten. Lautlos auflachend gab sie ihr einen Hauchkuß auf die weiße Wange beim ersten Anzeichen von Kopfwenden. Doch einige Monate später machten ihr Schwangerschaft und Dehnung es beschwerlich, die immer noch zurückstrebende Freundin am Ausreißen zu hindern. Auf diesem Schauplatz so vieler Jahre! Inzwischen kindtragende Frau, gewölbter Leib unter dem schwarzen Gewand, sich voranschiebend schwerfällig. Ohne das lautlose Auflachen verloren zu haben. Die Schlankgebliebene aber, die schwächere Wache der Schwangeren nutzend, dreht sich plötzlich – ach, kein Halten mehr! –, entwindet sich dem gürtenden Arm der Begleiterin und will endlich zurück. Zurück! Nur endlich zurück! Sie öffnet ihre schwarze Bluse, sie legt ihre weißen Brüste aus und zeigt sie nach rückwärts unter diesiger Sonne.
»Wie schön du bist!« ruft es schwach aus altem Hintergrund. »Ach, welch ein Jammer für mich. Sieh nur, nichts bin ich mehr für dich. Nur das Ausschlittern einer Curling-Scheibe auf sonniger Eisbahn bin ich. Ausgeschlittert in meiner Ecke, bleib ich aus dem Spiel. Ach, welch ein Nimmermehr für dich und mich!«
Und die Brüstevortragende, Zurückstrebende schreit in den alten Hintergrund, wieder einmal, doch ihr Zorn ist nun ganz frisch: »Was? Er will mich nicht? Mich?! Er? Nicht?«
Das ist nun der Augenblick, da die Tragende sich vor der Entsetzten, Zurückrufenden aufbaut, sich ihr entgegenstellt, so daß die Scheltende mit weiterem heftigen Zurück-Voran den gesegneten Leib hätte fortstoßen müssen oder niederwerfen auf das Pflaster des alten Schauplatzes, wovor sie natürliche Hemmung bewahrte.
Ja, dies war der Schlußstrich, und der Schlußstrich war lang wie ein Kerosinstreifen am lauen Abendhimmel, und die weiße Haut der Zornentflammten lag abgestreift auf dem Pflaster, verschrumpelt und leer wie das Trikot einer ausgeschlüpften Ballerina.
Immer auf der Suche nach dem großen leeren Platz, dem ganz und gar entblößten. La calma es infinita en la desierta plaza. (Machado) Aber auch die Verlorenheit. Simultanfeld mit je geliebten Figuren. Leben in der Draufsicht, Kran-Kamera, bewegte Gleichzeitigkeit. Nicht: Wo kommst du her, wo gehst du hin? Sondern: Wie irrst du umher zwischen geliebten Figuren? So lange schon und immer wieder.
Nicht zu sprechen vom Alter, wo die Dauer beginnt, longitudo erwacht und die Länge der Nacht zunimmt. Und die Länge der Liebe und die Länge der Blicke – in der Verwunderung. Aber auch unbarmherzig sich das Kleinliche enthüllt, das man hinter sich brachte und was einmal schwerfiel.
Er dachte: Der Schritt ist vollzogen. Ich führe sie, die mir ausriß, von der Haltestelle am Arm zum Auto. Und er half ihr beim Einsteigen und hatte im Sinn die Fahrt nach Hause, im Sinn ihre Küche, im Sinn: Der Schritt ist vollzogen. Er sagte sich: Auch dies ist ein winziges Gewebeteil unserer gemeinsamen Zeit. Und mahnte sich: schlecht. Was hat Zeit mit Gewebe zu tun? Sie ist weder ein Textil noch zellbildende Schicht. Er sah »den Schritt« von sehr weit oben, wie von einer Kran-Kamera hoch aus dem weißen Himmel festgehalten. Er sagte sich: Die meisten Fehler, die wir beim Auffassen von Welt, von Leben, von uns selbst begehen, beruhen auf falschen Metaphern, falschen Vergleichen, falschem bildlichen Denken. Gleichzeitig empfand er deutlich: den Schritt als etwas Festgehaltenes, Isoliertes in der … war das noch Zeit? Oder war es nicht vielmehr der General-Schau-Platz, unermeßlicher, von hoch oben gesehen, von einem finalen Auge überblickt, vor dem sich das Nacheinander und das Weitläufige unzähliger Schritte auf einem einzigen flachen Platz in Gleichzeitigkeit versammelte. Und es waren ihrer beider abertausendmal auf den Erdboden geklopften Schritte, ihr Eigentum an Schritten und Rückwirkungen jedes Schrittes auf den nächsten oder den des anderen…Oh es gab ja in dieser Totalen nichts Festgehaltenes … es wimmelte von Schritten. Dort, wo es wimmelt von Schritten, ist das die Zeit?
Aber schon jetzt, auf dem Simultanschauplatz, finden sich die Schritte in versteinerter Form: Syzygielithe, fossile Paartrittsiegel.
Matronen, untergehakt, zwei mollige Figuren mit braunen großen Brillen, die Strickjacken über die Schultern gehängt, flanieren am warmen Abend über den Schau-Platz, Großmütter, die hier ebenso gingen, abends zu zweit, als sie noch junge Mädchen waren.
Nur daß sie jetzt sich sagen: um uns bildete sich kein Zeitalter, nackt Erinnernde sind wir, ohne das Kleid einer Epoche stehen wir im Freien der wechselnden Zeit. Dort vergessen, hier wiederholen wir was, aber es bilden sich uns von Vergangenheit keine Begriffe. Keine Haltestellen halten uns auf. Ja, wir geraten bei allem Verstehen sofort und unweigerlich in einen Verstehenswust. Wir sind dazu verurteilt, jede Art von Begriff zu verfehlen. Wir verstehen blind drauflos. Wo ein Begriff uns formend hätte bremsen können, stieben die Gedanken wie eine Schar scheuender Pferde auseinander.
Falsche Zusammenhänge, eine Welt voll falscher Zusammenhänge. Erst umgarnen sie uns, dann verstricken sie uns, schließlich erdrosseln sie uns! Mit diesem Schädel, der eigentlich viel Nützliches zu leisten imstande wäre, könnten wir … sagen wir … ach, es hält uns ja niemand auf. Man ist ja schon glücklich, daß man gesundes Atmen noch sein eigen nennt. Obwohl es auch kein Zeichen in die Zeit setzt.
Es kommt der langsame Mann, bleich und töricht, in alten Hosen und mitten im Sommer trägt er eine Pelzmütze auf dem Kopf. Er fällt auf seinen Wegen um. Ich bin krank, sagt er zu jedem, der ihm aufhilft, die Ärzte wissen nicht, was es ist. Am liebsten liefe ich über zu denen, die unbändig vor Freude, vor Schwärmen einer dem anderen in die Arme fallen, von einem Freund zum nächsten eilen, da jeder Mensch ihnen ein Festgenosse ist.
Wenn also heute, jetzt gerade, einer vielleicht in Valencia mit Brüdern, Schwägern, Kindern und Eltern… das seh ich, das fehlt mir, sonntags mit Leuten und mit gut durchblutetem, leichtem Herzen an einem langen Tisch sitzen und mit den Taflern übermütig sein, das fehlt und zehrt an mir. Jedoch: Wär ich dabei, immer würd mich einer auf gewisse Schwächen meiner Gesundheit ansprechen! Wie beneide ich die, die eitle Helligkeit verströmen und jedes Gesicht beleuchten, das ihnen zu Gesicht kommt. Aber, langsam! Jeder lebende Mensch, auch der gesündeste, amüsiert einen Ahnen, der im Jenseits gerade nichts mit sich anzufangen weiß. Das war schon immer so. Bei Indianern und den alten Isländern.
Das Haus verheimlicht und versteckt der Straße einen ihrer anspruchsvollsten Passanten. Er habe in den Straßen und Seitenstraßen nichts mehr so recht verstanden. In einer gewissen Straßenbescheidenheit, Straßenunterlegenheit sei er umhergelaufen. Ganz unten zu ebener Erde wohnte er im Stadthaus. Über ihm Stockwerke mit den großen Scheiben, verschmutztes kleines Fenster dagegen bei ihm unten. Vorm Fenster ansteigende Straße mit Geschäften und Verkehr, Ausschau über den Vorgarten hinaus nicht möglich, so ’n Vorhang läßt sich nicht wegziehen. Trotzdem immer am Fenster während des Stundenzerfalls, Gestaltenentzugs. Anders als der da drei Stock über ihm! Der am großen, vom Vorgartenschmutz verschonten, bis runter ans Parkett reichenden Fenster steht, der alles abwartet und mit dem Spruch »So hat sich also auch das erübrigt«, seine stehende Redensart, eine Dringlichkeit nach der anderen verfallen, die Zeit achtlos verstreichen läßt.
Was dem Mann zu ebener Erd von der Hauptperson über ihm vorschwebt, ist ein weißes Gesicht mit sterbensdunklen Ringen unter den Augen. Will heißen: nur das Nötigste von ihr sich ausmalen. Kaum männliche Güte, nichts Einladendes, physisch. Als Empathie-Wirt eine Null. Aber steht vor freier Aussicht, steht vor klarer großer Scheibe, ohne zu ahnen, daß er, erhöhter Nachbar, drei Stock tiefer einem anderen zum Dauerthema wird. Bitte, laß dir Zeit. Mehr als Zeit besitzt du nicht. Alles übrige gehört dir nicht. Mehr würde man ohnehin nicht von ihm zu hören bekommen.
Auf ihrem Heimweg vergoß eine Schale Zorn die hagere, pferdgesichtige Frau, klackerte auf ihren Absätzen durch die nächtliche Gasse, schnauzte ihre Wut in die Hauseingänge. Worum ging es? Offenbar ging es um … Das eine nachts weit aufgerissene Aug! Aber der Bescholtene, dieser Nachteinäugige, zeigte sich nirgends, er trat aus keinem Haus hervor, doch schnauzte seine Stimme ebenso messerwetzend aus einer ferneren Gasse hinter ihr her.
Der Schlachter trieb den Ochsen durch die Gassen und schlug ihm unterwegs ein Ohr ab. So scharf geschnitten, daß es nicht blutete. Das Tier trottete weiter. Der Schlachter schlug ihm ein Stück aus der Seite, so geschliffen geschnitten, daß kein Blut hervortrat, und der Ochs trottete weiter.
Dies vor Augen, ohne eine Bemerkung darüber zu verlieren, standen wir am Fenster der Beletagewohnung, neben mir die neue Frau eines mir flüchtig bekannten Röntgenarztes, die gerade die Scheidung von ihrem ersten Mann hinter sich und trotz der frischen Bindung an meinen Bekannten die Laune nicht verloren hatte, sich nochmals und wiederum erobern zu lassen. Es gelang mir, wie absichtslos in ihren Rücken zu treten und mit einem zielsicheren Zähneschlag den Verschluß ihrer Halskette zu knacken. Sie machte – nach dem langen Beieinanderstehen wohl selbst etwas Plötzliches herbeiwünschend – eine anmutige Bewegung des Ausweichens und flüsterte, von mir abgewandt: Der Mann, der mir gefällt, muß seine Zähne unter Kontrolle haben. Die Belehrung wirkte augenblicklich abkühlend auf mich, obgleich sie ganz im Gegenteil auffordernd gemeint war. Als ein nur halbherzig Verliebter war ich sofort bereit, auf Distanz zu gehen, und es war die feige und eitle Distanz der kritischen Selbstüberprüfung. Früher war’s mir ein leichtes, der Eigenliebe ein Schnippchen zu schlagen, vorerst von mir abzusehen und mich zu verausgaben, jedenfalls in den Phasen der Werbung und Eroberung. Allerdings unterwarfen uns seinerzeit die Fräulein der sexuellen Revolution nicht immer den stilvollsten Prüfungen. Im Grunde war seitdem das Werben vollständig aus den Annäherungen herausgekürzt.
Eine Marion von Selhaar stand nun neben mir, geb. Weiss, gehörte zu einem Joseph von Selhaar, schien aber abspaltbar, nicht für jeden, denn eine bestimmte Art der Verführung, die heute kaum einer beherrscht, schien ihr vorzuschweben, ja schwebte dringend in ihrem leicht erzürnten Blick. Die Kunst der Verführung, das sah man ihr an, nichts weniger erwartete sie, darunter war nichts zu machen, war sie nicht zu haben, und so lag auch um ihren Mundwinkel ein Kniff Bitterkeit, wodurch sie keinem Mann, der mit ihr sprach, ihre Enttäuschung verhehlte, daß er diese Kunst nicht umgehend anwandte oder eben gar nicht beherrschte.
Auch ich wollte es ebenso leicht haben wie damals, hätte aber werben müssen, wie ich es nicht konnte oder gänzlich verlernt hatte. Also verzichtete ich, obgleich sie sehr anziehend neben mir stehengeblieben war. Im Bewußtsein, mich nicht wie ein Mann, der ihr gefällt, zu verhalten, igelte ich mich in meinem gekränkten Stolz ein bis zur völligen Unverfänglichkeit des Beieinanderstehens von Mann und Frau am Fenster, durch das hinaus sie noch eben gemeinsam vom blutlosen Schlachten träumten.
Die zur Nacht vorm Unwetter in die Hotelhalle stürmen, atemlos nach einer langen gegenseitigen Verfolgungsjagd, wobei er zuerst ihr hinterherrannte, dann, nach einem unverschämten Zuruf seinerseits, sie hinter ihm, nun beide in Sicherheit, obschon nicht einer vor dem anderen, die jeder nun schützend, deckend den Rücken, eben noch Verfolgers schöner Köder, an zwei Marmorsäulen lehnen. Sie vorgebeugt, als müsse sie vom gehetzten Lauf auf den Boden spucken; er zurückgelehnt, den Hinterkopf an die Säule gedrückt.
Die Frau: Was glauben Sie, was in mir vorgeht? Der Mann: Was erst in mir, glauben Sie?
Der Mann hatte eine Nachttischschublade voller Gesichter-Buttons. Unzählige Ansteckknöpfe mit menschlichen Antlitzen (antlizzi das Entgegenblickende). Eines suchte er jeden Morgen aus und steckte es sich für einen Tag ans Revers wie ein Parteiabzeichen. Ein Menschen-Anhänger in seiner bitteren Entfernung von ihnen, ein Antlitzsammler in der Not des Entgegenblickenden.
Meinetwegen: Delmer. Name der Nacht. Versuch, einem Durchzug von rauher Luft einen Namen zu geben – für immer!
Delmer, der einst die Zerrütteten und Enttäuschten besänftigte und jeden einzelnen um Verzeihung bat, daß er wahllos alle Beladenen tröste. Ja, seine Stimme tröstete, doch tröstete sie reihenweis. Niemand war allein gemeint; die trostspendende Stimme sprach ohne Ansehen der Person, und sie gefiel sich selbst. Wie so mancher sich gerne reden hört, egal zu wem.
Jedoch auch dieser gebürtige Wirbelwind war am Ende nur ein flacher Puster über der Armen-Suppe. Man nahm ihm seine Aufopferung nicht mehr ab, man sah, wie unbeteiligt er sich erging in seiner eitlen Barmherzigkeit.
Wer könnte derart Delmer geheißen haben? Er wahrte sein Geheimnis. Oder verbarg er ängstlich seine Geheimnislosigkeit? War es nicht die Furcht, gesehen, gefunden, entdeckt zu sein, die ihn einmal von seinem Sitz gerissen hatte, um ihn fortan nie wieder sich setzen zu lassen? Zum ewigen Umherrennen verdammt, immer auf der Flucht, damit niemand sehe und erkenne, wie er krankte an Ungestalt und Unerscheinen, die Erscheinung hing ihm ja in Fetzen! Damit niemand erkenne sein nichtserwiderndes Antlitz, seine unhandlichen Hände, sein unwesentliches Wesen, denn gleich wäre es aus mit ihm. Seine dünne dunstige Hülle würde vom ersten Morgenstrahl eines aufrichtig ihn erblickenden Menschen zerrissen und von der Erde gelöscht der ganze Delmer.
Ein anderer kommt, aus feinen Ritzen zieht er meterlange Damenstrümpfe aus dem Mauerwerk. Alle Schlafenden der Etage liegen im Arm der verborgenen Riesenschläferin. Innen tief im Mauerwerk streckt sie sich über das ganze Stockwerk hin, den rechten Arm im Winkel ausgelegt, den tonnenrunden Kopf auf den Schulterhügel gesenkt. Durch Mauerritzen, -poren zieht aus und ein das ruhige Atmen zeppelinförmiger Lungen. Eine Wärmebildkamera hätte nach und nach den kolossalen Umriß ihres verborgenen Körpers erfaßt. So liegt die üppige Hünin in Fesseln des Traums, Gullivière im Lande der Liliputfrauen. Das gewaltige, uns alle schlafende Weib, das sich am Morgen lautlos erhebt und aus den Wänden löst.
Die Tapete behält von ihr die Farbe des Fleischrots, die Jalousien gleichen den geschlossenen schartigen Lidern der schlafenden Titanin.
Plötzlich war der ganze Mann verschwunden durch sein eigenes Ohr, als hätte er sich nach innen gestülpt, und übrig von ihm blieb nur die Muschel mit haarigem Eingang und einem prallen Fleichläppchen dran. Ohr nur noch der ganze Mann, und fortwährend zu Boden gerichtet, menschtümelnd noch, das einsame Teil, und schamrot, wie es da über die Erdkruste huschte und horchte, immer nur horchte wie eine Sonde, die den Boden nach Münzen absucht.
Einmal jährlich Inventurgang mit zarter, zierlicher Kollegin, Spinnweb von Frau, die er nur im gespielten Zufall ein-, zweimal sacht am Ärmel streift. Wie auch sie bei einem gänzlich unmotivierten Ausruf des Erstaunens einmal, nicht ganz unwillkürlich, nach seiner Hand greift. So könnte es ewig bleiben, einander gewogen sein an einem soliden Arbeitsplatz, der nur zu gut geeignet wäre, ein ebenso solides Verhältnis zwischen ihnen herbeizuführen. Jedoch es nicht übertreiben! Aber am Ende des langen Inventurgangs zwischen den Warentürmen dann doch eine flüchtige Begegnung der Lippen, welche die gemeinsame Bestandsaufnahme besiegelt. Jeden Januar nur dieser Anflug eines Kusses, Spinnwebhauch, und nur zur gegenseitigen Ermutigung, so weiterzumachen wie bisher, das wäre das beste.
Die Pfützbraut. Kleine Blasen stiegen aus der wäßrigen Oberfläche des aufgeweichten Bodens. Sie verrieten ein Atmen unter dem Schlamm. Zuerst dachte er verwirrt an eine invasive Bergung – so wie man heute in der Mikrochirurgie den Blinddarm durch zwei kleine Einstiche in die Bauchdecke entfernt. Ließe sich nicht ähnlich mit Hilfe zweier kleiner Einbohrungen das Geschling des versunkenen Körpers aus dem Lehm saugen? Doch bald entschloß er sich, diesen Körper besser durch Schaufeln und Graben freizulegen. Langsam kam er in die Tiefe, flüssiger Lehm rutschte nach und verbarg aufs neue das erste entblößte Fragment eines weiblichen Körpers. Dann sah er ihre gefalteten Hände und die Diamantringe an ihren Fingern. Ihr Atmen nahm zu und stärkte den Körper. Die gefalteten Hände waren aber solche, die man in den Schoß legt, wenn man darauf wartet, daß ein anderer handelt. Ja, sie wartete dort unten in Ruhe und Gewißheit darauf, geborgen, ausgegraben und von ihm – von ihm und keinem anderen – enthüllt und gesehen zu werden. Als vollkommen neuer Mensch aus dem feuchten Lehm befreit, hervorgeholt, gesäubert und entblößt zu werden, um daraufhin für ihn und nur für ihn auf festem Boden zu stehen.
(Das virtuelle Teilchen in der Physik – im Unterschied zu den virtuellen Welten der digitalen Medien – besteht aus gedanklicher Konstruktion, ist sehr kurzlebig und von undefinierbarer Masse, nachweisbar ist es allein aus seiner Wechselwirkung.
Man male sich aus: die »vorgestalte« Frau, deren Anwesenheit rein aus Schwingung besteht, gleichsam ein Quanten-Ereignis unmittelbar vor ihrem Erscheinen, der langsam aus dem Kräftefeld ihres Fehlens hervortretenden leibhaftigen Person.
Eine Frau, groß, reich und geistreich, die allein zu einer einzigen Begegnung in die Wirklichkeit tritt und danach für immer wieder aus ihr verschwindet. Eine Transiente. Eine Vorübergehende, deren Anwesenheit nur aus der Wechselwirkung mit einem Mann ermeßlich ist. Und sobald sich diese erledigt hat, gibt es die Transiente nicht mehr.)
Es gibt diesen festen kleinen Kniff von Abneigung an der Lippe einer Nymphomanin, worin sich, so scheint’s, eine stille Verächtlichkeit erhält gegenüber dem Nächstbesten, mit dem sie sich einläßt. Eine kleine Kerbe liegt an ihrem Mund, Ausdruck von Widerwille, der eigentlich besser zu ihrem Nächstbesten paßte und den sie gewiß auch von so einem Kerl übernahm, ein Eckchen mimetischen Ekels, den sie selbst gar nicht empfindet.