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Er ist der Rebellenkönig, eine lebende Legende – und seine Geschichte in Blut geschrieben. Verkrüppelt, ungeliebt und einsam: Taiden Belarron verabscheut sein Leben und brennt darauf, sich endlich zu beweisen. Dafür will er den legendären Rebellenführer Kyron schnappen, der mit allen Mitteln gegen die Regentschaft des Schwarzen Uhrwerks aufbegehrt. Doch dann rettet ausgerechnet der ihm das Leben und Taidens Weltbild gerät ins Schwanken. Warum hat Kyron ihm geholfen? Was versteckt sich wirklich hinter der Maske, unter der das Gesicht des Rebellenkönigs verborgen liegt? Taiden zögert damit, Kyron auszuliefern, während er immer tiefer in seine Welt eintaucht. Doch es bleibt keine Zeit, um seine Gefühle zu sortieren – denn das Uhrwerk droht, jeden zu zermalmen, der sich zwischen seinen Zahnrädern verfängt.
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Seitenzahl: 644
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Copyright © 2018 by
Lektorat: Stephan R. Bellem
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout: Michelle N. Weber
Umschlagdesign: Marie Graßhoff
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-947-0
Alle Rechte vorbehalten
Prolog
Teil I
1. Von verkrüppelten Rabenjungen
2. Frauen, Funken, Rebellion
3. Zwischenspiel
4. Und dies ist das Ende
5. Der falsche Mann trägt Messing
6. Von Hampelmännern und Gardisten
7. Zwischenspiel
8. Schattenjäger tanzen miserabel
9. Exekution
10. Der Panzer seines Herzens
11. Nach seinem Ende
12. Zwischenspiel
Teil II
13. Die klügste Frau von Arassa
14. Kein Ort zum Bleiben
15. Rothaariger Besen!
16. Die Kunst der Idiotie
17. Blutige Fussabdrücke
18. Zwischenspiel
19. Das letzte Halbblut der Inseln
20. Das Uhrwerk ist stärker als du
Teil III
21. Brecht meine Sanftmut
22. Anerkennung
23. Augen in die Vergangenheit
24. Zwischenspiel
25. Das letzte Fest der Raben
26. Wir müssen am Timing arbeiten
27. Ehemals beste Freunde
28. Weck den Rebellenkönig
29. Nicht schlecht für einen Krüppel
Danksagung
Der Rebellenkönig war fort. Tot, sagten seine Freunde. Feige, erwiderten seine Feinde. Carive hoffte von Herzen, dass weder das eine noch das andere stimmte.
»Hast du jemals ein Feuer geküsst?«
Carive schüttelte den Kopf. Sie standen auf einem rußgeschwärzten Balkon, und ein Flammenregen hüllte die Welt in stinkendes Rot und Grau. Luftschiffe hingen am Himmel, schleuderten glühende Geschosse auf ihr Versteck; doch Kyron betrachtete das Flammenmeer, ohne es zu sehen, das Gesicht verborgen hinter einer schlichten Ebenholzmaske. Niemand wusste, wie er dahinter aussah. Das bestgehütete Geheimnis der Rebellion war das Antlitz ihres Anführers.
»Ich schon«, flüsterte Kyron, die Stimme gedämpft vom alternden Holz. »Ich habe die Flammen berührt. Mit dem Uhrwerk um mein Leben getanzt. Aber wenn man rebelliert, verliert man seinen Lebensfunken. Stück für Stück, bis irgendwann nichts mehr da ist, wofür es sich zu kämpfen lohnt.«
Seine Worte versetzten Carive in Sorge. »Was … was wollen Sie damit sagen?«
Kyron schloss kurz die Augen. Orangefarbenes Licht flackerte auf seiner Maske und fing sich in seinem schwarzen Haar.
»Ich habe etwas für dich«, sagte er, griff in seine Tasche und zog drei schmale Bücher heraus. »Ich … weiß ja, dass du gern liest. Schau so bald wie möglich hinein, am besten schon heute Nacht. Betrachte das als einen Befehl.«
Carive nahm die Bände schweigend entgegen. Sie waren weder groß noch dick, kaum besser als Notizbücher; wenn sie sofort anfing, würde sie die Bände in spätestens zwei Tagen beendet haben. Sie klappte eines von ihnen auf. Zerschlissenes Papier, dicht beschrieben mit einer kindlich anmutenden Handschrift.
»Tagebücher«, murmelte sie.
»Der Mann, dem sie gehören, ist tot«, sagte Kyron schwach. »Aber du musst … ich meine, du solltest … lies hinein. So bald wie möglich. Du wirst verstehen.«
Carive schluckte. »Ich weiß nicht, ob …«
»Vertrau mir, Carive. Du wirst verstehen.«
Damit wandte sich Kyron um und verließ den Balkon. Carive stand eine Weile reglos da, betrachtete die brennenden Ruinen und schmeckte Asche. Seltsamerweise fühlten sich die Tagebücher in ihren Armen warm an. Was immer es mit ihnen auf sich hatte, es würde gewiss nicht schaden, einen kurzen Blick zu riskieren.
Fang an zu lesen, wisperte Kyrons Stimme. Beeil dich.
Du wirst verstehen …
Irgendwo auf den Dreizehn Inseln gibt es ein Lied, das nicht vom Schwarzen Uhrwerk umgeschrieben wurde. Es gedeiht ungesehen und ungehört im Dunkeln, durch nichts verraten als ein Summen aus Tausenden von Kehlen. Ich hatte nur ein einziges Mal Gelegenheit, es zu hören, bevor alles um mich herum zerbrach. Die Menschen nannten es das Lied der Rebellion, und obwohl ich seine Melodie einst liebte, missfiel mir nichts mehr als sein verräterischer Text.
Lasst Cerataris Glocken klingen … sie werden Kyrons Namen singen … zerbrecht das Uhrwerk, um Frieden zu bringen … hofft darauf, dass die Insel brennt …
Ich hasste Rebellen. Ich hasste sie so sehr. Vielleicht hätte ich sogar Kyron unter die Wellen geschickt, hätte ich ihn damals gekannt; doch zu dieser Zeit wusste ich nur wenig vom Schatten, und das Töten war eine abstrakte Kunst für mich. Ich beneide diejenigen, für die es ein Leben lang so bleibt; aber ich schweife ab. Dies ist keine Kriegsgeschichte. Womöglich wären die Dinge einfacher, wenn ich es so nennen könnte.
Beginnen wir also ganz am Anfang. Bevor Kyron kam und bevor ich lernte, dass die Wahrheit im Land des Uhrwerks so gut wie ausgestorben ist.
Mein Name ist Taiden Artos Belarron, und ich war fünfzehn Jahre alt, als ich zum zweiten Mal in meinem Leben fast von Rebellen hingerichtet wurde.
Der Ärger fing damit an, dass meine Mutter mich zwang, mit meiner Verlobten ins Varieté zu gehen. Wahrscheinlich hätte sie sich das zweimal überlegt, wenn ich sie darin eingeweiht hätte, wie viele unverhüllte Frauenbeine man dort sah. Aber ich scherte mich nicht um die Schicklichkeit, denn ich hatte sowieso keine Lust auf diesen Ausflug. Jeder Augenblick mit Selana war mir eine Qual, und es graute mir davor, sie eines Tages heiraten zu müssen.
Also saß ich schweigend da, während sich rote und goldene Funkenlaternen entzündeten und sich ihr warmes Glimmen mit dem Rattern der mechanischen Kulisse mischte. Die Tänzerinnen schwangen ihre Beine, dass ihnen die Röcke in hundert Lagen um die Hüften wirbelten, und das Bühnenbild wandelte sich stetig und geriet dabei gelegentlich ins Stocken. Ein teures Vergnügen, vor allem, weil wir eine Loge für uns hatten. Aber Geld spielt keine Rolle für die Belarrons vom Rabenfels, schon gar nicht auf ihrer angestammten Heimatinsel.
»Was für eine schöne Vorstellung«, wisperte Selana. Sie hatte helle Haut, so wie ich, nur war ihr Haar von einem dunkleren Braun als meines und fiel in großen Locken an ihrem Rücken hinab. »Ich könnte die ganze Nacht lang zusehen.«
Ich brummte lediglich. Blickte zu meinem Bein hinunter, als ich dort ein eigenartiges Zucken spürte. Meine linke Hand war warm und gut, aber die rechte lag kühl auf meinem Oberschenkel und zitterte im Takt meines Herzschlages. Sie war seit fast zehn Jahren gelähmt. Meistens ertrug ich das mit einer Gleichmut, die mich selbst verwunderte, doch besonders in Selanas Gegenwart hasste ich dieses verkrüppelte, nutzlose Ding.
»Worum geht es hier überhaupt?«
»Nun, um die Eroberung der Inseln«, sagte Selana. »Passt du denn nicht auf?«
Natürlich tat ich das nicht. Die Beine der Tänzerinnen hielten mich viel zu sehr im Bann. Ich zuckte mit den Schultern und hoffte vage, dass Selana sich wieder von der Vorstellung gefangen nehmen und mich zufriedenlassen würde.
Ich hatte nichts gegen sie … nun, zumindest nicht viel. Sie war ein hübsches Mädchen mit roten Lippen, das so lieblich zu erröten vermochte wie niemand sonst im Land des Uhrwerks. Wir teilten sogar die gleichen Interessen, eine Liebe für Bücher und Musik und heißen Apfelkuchen mit Sahne. Deswegen kamen wir bei unserer ersten Begegnung gut ins Gespräch, auch wenn wir beide eher schüchterne Menschen waren. Ich hatte mein Glück nicht fassen können. Niemals hatte ich damit gerechnet, mir meine zukünftige Frau selbst aussuchen zu können, und nun bekam ich eine bildhübsche Verlobte mit einer Vorliebe für genau die richtigen Dinge.
Allerdings war es wie mit den Kulissen in dieser Vorstellung. Sie waren vielleicht hübsch anzusehen, aber irgendetwas stockte.
»Du siehst ja gar nicht hin«, sagte Selana.
»Es langweilt mich ein bisschen.«
»Das tut mir leid«, sagte sie automatisch. »Wir … wir werden uns beim nächsten Mal etwas vornehmen, was dir mehr Spaß macht. Wenn du möchtest. Ich wusste nicht, dass …«
»Was willst du?«, unterbrach ich sie.
Selana verstummte, doch ihr Blick schien mit Absicht nicht über meine Hände zu gleiten.
»Ich möchte, dass du glücklich bist«, sagte sie nervös.
Als ich sie ansah, wandte sie sich ab. Unter anderen Umständen hätte sie mir vielleicht leidgetan, aber ich konnte die Lüge in ihren Worten förmlich schmecken.
»Es ist so schön hier«, flüsterte sie. »Die Lichter, die Musik, die Kleider – es gefällt dir bestimmt, wenn du nur noch etwas abwartest …«
Ich seufzte. »Du musst dich nicht dafür entschuldigen, dass ich mich langweile. Das ist nicht deine Schuld.«
»Natürlich ist es das«, sagte sie hilflos. »Es … es ist meine Pflicht, dich glücklich zu machen. Irgendwann werden wir verheiratet sein. Was wäre ich für eine Frau, wenn ich nicht …«
Sie unterbrach sich. Zog die Finger zurück. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihre Fingerkuppen meine schlechte Hand gestreift hatten, und für einige quälend lange Herzschläge konnte sie den Ekel in ihrem Blick nicht vor mir verbergen.
Wortlos erhob ich mich und ging. Selana rief mir irgendetwas nach, worauf sich mehrere Gäste empört zu ihr umdrehten. Es war mir gleichgültig. Ich verließ das Gebäude und folgte dem dunklen Bürgersteig. Kutschen und Automobile glänzten im Licht der Funkenreklame, rot und blau und golden, und nicht weit entfernt stand eine Gruppe Männer in einem Hauseingang und rauchte.
»Taiden!« Selana drängte sich an einem älteren Ehepaar vorbei; ihr Kleid war in Unordnung geraten, und ihre Locken wippten. »Bleib hier, bitte. Es tut mir leid, ich wollte dich nicht beleidigen.«
»Ich weiß«, sagte ich schwach. Ich war längst über das Stadium hinaus, in dem ich wegen ihrer Abscheu beleidigt gewesen wäre; inzwischen resignierte ich. Ich war traurig und müde und resignierte.
»Es ist nur … deine Hand. Es sieht so schrecklich aus – vielleicht, wenn du einen Handschuh tragen könntest …«
»Warum? Damit du nicht sehen musst, wie sie zuckt?« Abgesehen davon hätte ich Stunden gebraucht, um meine unwilligen Finger in die dafür vorgesehenen Öffnungen zu fädeln. »Ich habe nie darum gebeten, verkrüppelt zu werden. Ich … ich bin deswegen nicht schlechter als andere Menschen.«
»Das habe ich nicht gesagt, Taiden!«
»Ich weiß, dass du das denkst. Alle denken das.« Ich blickte zur Seite; der Gedanke daran, sie meine Traurigkeit sehen zu lassen, war mir unerträglich. »Dir gefällt es nicht, einen Krüppel heiraten zu müssen.«
»Das stimmt nicht«, entgegnete sie schwach.
Aber ich hatte mich längst umgedreht und ging die regennasse Straße hinab. Wenig später hörte ich Selanas Schuhe über das Pflaster klappern. Warum klammerte sie sich an mir fest, obwohl sie mich überhaupt nicht mochte? War es denn zu viel verlangt, eine Verlobte zu haben, die sich nicht bei jeder meiner Berührungen fast übergab?
»Du bist ein Belarron! Du kannst nicht wie ein schmutziger Arbeiter in der Stadt herumlaufen! Außerdem wird man sich fragen, wo wir geblieben sind.«
»Najee und ich sind ständig in der Rabenstadt unterwegs«, erinnerte ich sie. Ob ich Ärger bekommen würde, war mir gleichgültig; mein Vater erklärte mir bei jeder Gelegenheit, dass ich ein nutzloser Krüppel sei, und daher hatte ich ein dickes Fell.
»Er ist nur ein Gärtnerssohn!«, schnaubte Selana. »Das ist kein angemessener Umgang für dich. Du solltest dir Freunde suchen, die …«
Ich blieb stehen. Selana lief beinahe in mich hinein, fing sich jedoch rechtzeitig.
»Die was? Die dir besser gefallen? Die reiche Eltern haben, die das besitzen, was du Anstand nennst? Najee hat etwas, was der ganzen Oberschicht der Dreizehn Inseln fehlt, Selana. Er findet mich nicht ekelhaft, nur weil ich ein Krüppel bin.«
»Es tut mir leid«, sagte sie tonlos.
»Nein, tut es nicht.« Ich sah sie halb müde und halb wütend an. »Du sagst das nur, weil du denkst, dass ich es hören will.«
Selana schwieg, sodass ich mehr als genug Gelegenheit hatte, um mich im Stillen zu ärgern. Gleichzeitig war ein verdächtiges Brennen in meinen Augenwinkeln wach geworden. Ich rieb es unwirsch fort. Dies war also das Mädchen, mit dem ich mein Leben verbringen sollte, und sie beugte sich jeder meiner Launen und verbarg doch nur ihren Ekel und ihre Abscheu damit.
Es tat mehr weh, als es sollte.
»Taiden …«
»Spar dir die Worte«, sagte ich gereizt.
Selana packte meinen Unterarm. »Taiden, da ist jemand.«
Ich blieb stehen. Dunkle Gassen, umschmiegt vom Qualm der Industrieviertel. Kein Grund zur Sorge. Von hier war es nicht weit bis zur Hauptstraße, die bis zum Sitz meiner Familie führte.
Doch als ich mich umdrehte, lief ich fast in einen maskierten Mann hinein.
Selana entfuhr ein unterdrückter Aufschrei. Ich stolperte zurück. Der Fremde war nicht viel größer als ich und von ebenso schlanker Statur; Bandagen bedeckten sein Gesicht, und sein Haar lag unter einer Kapuze verborgen.
In seiner Hand schimmerte eine Pistole.
Einen Augenblick lang blieb meine ganze Welt stehen. Die ferne Erinnerung an Schmerz und Ohnmacht. Ein leises Klingeln in meinen Ohren, gefolgt von einer schrecklichen Erkenntnis.
Rebellen.
Ich wirbelte herum und nahm die Beine in die Hand. Selanas Finger rutschten von meinem Arm. Ich packte sie mit der guten Linken, um sie davonzuzerren; Streitereien hin oder her, ich konnte sie auf keinen Fall zurücklassen. Sie schrie auf, während der fremde Mann ebenfalls zu laufen begann. Wenigstens schoss er uns nicht in den Rücken. Es war nicht einmal sicher, ob er einen von uns traf, und es hätte bestimmt unerwünschten Lärm verursacht.
Zumindest wollte ich mir das einreden.
»Stehen bleiben, Bastard!«
Ich zwang mich, schneller zu rennen. Allmählich bekam ich Seitenstechen, doch ich hastete trotzdem um eine Ecke, Selanas blasse Hand in meiner. Ihre Röcke behinderten ihre Bewegungen. Ich zog sie mehr, als dass sie rannte.
»Beeil dich!«, rief ich.
»Ich kann nicht … lauf langsamer, Taiden! Bitte!«
Ein Schuss. Selana schrie. Ich blieb abrupt stehen, als sich ihre Finger von meinen lösten, fuhr mit pochendem Herzen auf dem Absatz herum. Selana lag auf dem Pflaster und zitterte, aber ich konnte keine Verletzung erkennen. Offenbar war sie nur gestürzt, weil sie sich erschrocken hatte.
Ich kniete nieder. Selana hob den Kopf.
»Lauf schon. Du hast mich nie gemocht, ich weiß es. Lauf!«
»Was … bist du verrückt? Wir …«
Ich unterbrach mich, als sich ein Schatten über uns legte, und sah zögernd auf. Der maskierte Mann hatte uns eingeholt und sein Pistolenlauf schien genau zwischen meine Augen gerichtet zu sein.
»Schlaf gut, Belarron«, murmelte er.
Dann schlug er mir die Waffe gegen den Schädel und die Welt verschwand in einer schmerzerfüllten Dunkelheit.
Mein Kopf tat weh. Das war das Erste und das Letzte, was ich mit klarem Verstand wahrnahm. Es war nur ein leises Pochen, doch es peinigte mich. Ich zog geräuschlos die Beine an; hoffte, dass der Schmerz vorüberging, wenn ich nur lange genug ausharrte.
Aber das tat er nicht, natürlich nicht, und ich schlug die Augen auf und fand mich in einem verdunkelten Salon wieder. Jemand hatte das Fenster mit einem Tuch verhängt; schwaches Tageslicht sickerte durch den Stoff, beleuchtete Sitzmöbel mit staubigen Troddeln und einen zerkratzt aussehenden Tisch. Ich stemmte mich nach oben, drückte die Türklinke herunter, rüttelte an dem Fenstergriff hinter der Abdeckung. Nichts. Jeder mögliche Fluchtweg war mit akribischer Sicherheit verriegelt worden.
Ich schloss kurz die Augen, ehe ich nach draußen spähte. Dort fand ich einen Innenhof vor, umgeben von den Fassaden einer heruntergekommenen Mietskaserne; Ruß und Wasser liefen an den Wänden hinab und bildeten Pfützen aus dunklem Schmutz. In der Ferne sah ich Fabrikschlote, gelegentlich verziert mit blinkender Reklame. Der Industriebezirk der Rabeninsel. Nicht gerade der hübscheste Ort der Inseln.
Und ich war hier gefangen.
Ich hörte Schritte. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen; dann trat unser maskierter Verfolger in den Raum. Er stellte eine Funkenlaterne auf dem Tisch ab, schaltete sie ein, ehe er sich mir zuwandte. Der Draht in ihrem Inneren begann weißgolden zu glühen und erfüllte den Salon mit Farbe.
»Guten Morgen, Belarron.« Sein Dialekt war typisch für die Arbeiterschicht; selbst kurze Vokale zog er lang, verwandelte sie in ein undeutliches Nuscheln. »Schön geschlafen?«
Ich ging nicht darauf ein. »Wo ist Selana?«
Der Mann neigte den Kopf. Ich sah, dass die Haut rings um seine Augen dunkel war, als hätte er den ganzen Sommer unter freiem Himmel verbracht. Viele Bewohner der Dreizehn Inseln sind dunkelhäutig; triffst du einen, der es nicht ist, ist er entweder Adliger oder Ausländer.
»Sie schläft«, sagte er gefährlich sanft. »Setz dich hin, Belarron. Ich habe einige Fragen an dich.«
»Ich heiße Taiden.«
»Das interessiert mich nicht. Du bist sowieso bald tot.«
Ich spürte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Der Mann lachte darüber, ehe er seine Pistole hervornahm und spielerisch in der Hand wog.
»Ich fand Waffen schon immer faszinierend«, erzählte er, während er sie mit geübten Handgriffen entsicherte. »Dein Leben zwischen meinen Fingern, Belarron, werd also besser nicht zu frech. Du kennst das Gefühl, angeschossen zu werden, nicht wahr?«
Ich nickte verwundert. Woher wusste er das?
»Erzähl mir davon.«
Ein kalter Tropfen Schweiß rann mir den Nacken hinunter. Es war kein Erlebnis, von dem ich gern erzählte, doch die Pistole … gütiger Zinnhybrid, die Pistole. Er würde mich töten, ich sah es ihm an. Mir ein Loch in den Brustkorb schießen und unter den Bandagen grinsen, bis ich zu seinen Füßen verblutet war.
»Ich kann mich kaum daran erinnern. Ich war noch sehr klein, als es passierte.« Ich schluckte schwer, versuchte mich nicht zu fragen, warum er diese Geschichte von mir hören wollte. »Meiner Familie … untersteht das Schienennetz der Dreizehn Inseln. Deswegen besuchen wir oft die Fabrikhallen, sehen uns an, wie neue Eisenbahnen gebaut werden. Damals jedoch … hatte sich ein Mitglied der Rebellion eingeschlichen. Er wollte meinen Vater erschießen, nur …« Ich stockte. »Er verfehlte. Die Kugel traf stattdessen mich.«
»Weiter.«
»Sie holten sofort einen Arzt«, flüsterte ich. »Er sagte, dass ich spätestens bei Einbruch der Nacht sterben würde. Meine Mutter wollte das nicht zulassen. Sie … ließ einen Raben von den Zinnen des Schlosses fangen … und seine Lebenskraft auf mich übertragen. Seinen Funken. Deswegen überlebte ich die Verletzung, nur ging irgendetwas dabei schief. Nach der Funkenübertragung war ich vom Hals abwärts gelähmt.«
»Aber du läufst«, sagte mein Entführer. Er klang milde überrascht.
»Aber ich laufe«, stimmte ich zu. »Es war wie eine allergische Reaktion. Es dauerte Monate, bis das Gefühl in meine Muskeln zurückkehrte – nur nicht in meine rechte Hand. Die Ärzte sagen, dass sie für immer so bleiben wird.«
»Du hast jetzt sicherlich große Angst vor Schüssen.«
Ich sagte nichts.
»Dachte ich mir«, flüsterte mein Entführer. Seine Pistole glitzerte im Funkenlicht; der Griff war mit Intarsien aus Ebenholz verziert und an der Mündung der Waffe schimmerten stilisierte Ranken aus Gold.
Dann packte er mich unwirsch beim Zopf. »Mitkommen.«
Mir stiegen die Tränen in die Augenwinkel, aber ich war beileibe nicht so dumm, ihm diesen Befehl abzuschlagen. Stattdessen ließ ich mich an meinem langen Haar in den Nebenraum zerren, wo mich neben zwei maskierten Männern auch Selana erwartete. Blut troff aus ihrem Mundwinkel, als sie ihre zerrissenen Röcke so dicht wie möglich an sich presste. Ich starrte sie an, unfähig, ein Wort hervorzubringen. Nein. Nein, sie hatten nicht etwa …
Ich hörte einen der Rebellen kichern. »Der sieht ja aus wie ein Mädchen!«
Mein Entführer lachte nicht, aber ich spürte förmlich, dass er unter seinen Bandagen grinste. Sie wurden allmählich lose, sodass er aussah wie eine der Mumien, die man manchmal im fernen Südargano fand.
»Vielleicht machen wir später ein Mädchen aus dir, Belarron«, sagte die Mumie. »Wir könnten dir Locken ins Haar drehen, ein paar unwichtige Dinge abschneiden und dich in ein Korsett einschnüren. Wäre das nicht herzallerliebst?«
»Nein, wäre es nicht«, erwiderte ich bissig.
Er ignorierte mich. »Wie viel bezahlt deine Familie für euch?«
»Ich weiß nicht. Eintausend Knochenmünzen.« Die Hälfte davon musste ich meinem Vater wahrscheinlich sogar wiedergeben, falls er überhaupt so viel für mich auszugeben gedachte. »Mein Bruder zahlt bestimmt noch weniger.«
»Wirklich?«, sagte Mumie belustigt. »Ich verstehe das, für einen verkrüppelten Rabenjungen würde ich ebenfalls keinen halben Groschen ausgeben. Womöglich kann ich seine Großzügigkeit etwas erhöhen, wenn ich ihm einen Finger deiner Liebsten schicke.«
»Sie ist nicht meine Liebste. Lass sie in Ruhe!«
Selana erstarrte. Ich begriff sofort, dass ich das nicht hätte sagen dürfen, doch ich konnte es nicht zulassen, dass ihr die Rebellen ein Leid zufügten. Sollte sie sich ruhig grämen und die Haare raufen, wenn sie dafür nur sicher vor den Uhrwerksfeinden war.
»Geiseln geben keine Widerworte.« Mumie versetzte mir einen Tritt in die Seite, der mich vor Schmerz keuchen ließ. »Weißt du, was in den Fabriken geschieht, wenn ein Arbeiter schneller spricht als denkt? Ich werde es dir zeigen.«
Mit diesen Worten griff er nach einem Gürtel, der zwischen mehreren Kleidungsstücken an einer behelfsmäßigen Garderobe hing, und glitt mit der Hand in eine Schlaufe an seinem Ende. Ich fuhr unwillkürlich zurück, doch ich fing mich, als ich die Rebellen hinter mir lachen hörte.
»Zieh dein Hemd aus, Belarron.«
»Warum?«
»Willst du, dass es blutig wird?«
Mein Atem stockte. Zögernd griff ich nach dem ersten Hemdsknopf, nur brauchte ich selbst an besseren Tagen viel Geduld, um sie ohne Hilfe aufzubekommen. Mumie sah mir eine Weile zu, dann schnalzte er mit der Zunge und riss das Hemd auseinander. Der Stoff fiel geräuschlos zu Boden. Fröstelnd schlang ich die Arme um meinen nackten Oberkörper.
Mumie bedachte mich mit einem ärgerlichen Blick, als sei ich schuld an meiner widerspenstigen Bekleidung, ehe er hinter mich trat. Ich kniff die Augen zusammen, während meine rechte Hand im steigenden Takt meines Herzschlags zuckte. Ich schwor mir, tapfer zu sein. Nicht zu schreien. Ich wollte Selana vielleicht nicht heiraten, aber sie durfte mich nicht für einen Schwächling halten.
»Wenn man in einer Fabrik arbeitet und nicht weiß, wann man sich zu zügeln hat«, murmelte Mumie, »bekommt man drei Hiebe für seine Frechheit.«
Der Gürtel sauste hinab. Es gab ein grässliches Klatschen, als mir das Leder über den Rücken fegte, und plötzlich brach der Schmerz in einer Flutwelle über mich herein. Ich schrie, als ich spürte, wie meine Haut aufplatzte; Mumie hatte gelogen, das konnten unmöglich drei Schläge sein, es waren mindestens dreißig.
Ich hörte, wie Selana kreischte, als ich nach vorn stürzte.
Dann verschwand die Welt in Dunkelheit.
Schmerzen. Das war das Erste, was ich wahrnahm. Ich lag bäuchlings auf dem Sofa, blutbefleckt und zitternd; mein Rücken jedoch fühlte sich an, als hätte mich ein Tiger zum Schärfen seiner Krallen benutzt. Rebellen, dachte ich; das Uhrwerk lehrte, dass sie jedem guten Bürger nach dem Leben trachteten. Aber warum ich? Warum wir beide?
Ich drückte das Gesicht in ein Sofakissen, um meine Tränen zu ersticken. Ich wollte nicht hier sterben, und ich wollte noch weniger, dass sie auch Selana umbrachten. Das Uhrwerk würde uns retten, oder etwa nicht? Es beschützte die Menschen, die ihm dienten, das hatte ich schon als Kind gelernt … die Steinerne Garde würde kommen, die legendäre Uhrwerkspolizei, und die Rebellen zur Rechenschaft ziehen …
Dieser Gedanke tröstete mich. Zumindest, bis ich hörte, dass sich etwas im Nebenraum zu regen schien. Dann flog die Tür auf und Mumie zerrte mich von meinem Sofa; die Wunden auf meinem Rücken meldeten sich, sodass mir erneut die Tränen kamen.
»Du bist wirklich ein Mädchen, Belarron«, sagte Mumie. »Selbst deine Verlobte weint nicht annähernd so viel. Bist du sicher, dass ihr vor eurem Ausflug nicht versehentlich die Kleidung vertauscht habt?«
»Ihr habt Selana wehgetan«, flüsterte ich.
»Sie braucht wohl ein neues Kleid«, sagte Mumie trocken. »Aber mach dir keine Sorgen, Belarron. Ich rühre dreckige Adelsweiber wie sie nicht einmal mit einem Stock an.«
Er ließ mich auf den Boden des Nebenzimmers fallen. Ich ächzte leise. Mumie setzte sich mir gegenüber und ich hatte den Eindruck, dass er irgendwo unter seinen Bandagen lächelte.
»Lass uns gehen«, flüsterte ich. »Bitte. Meine … meine Familie wird dir Geld geben, so viel, wie du willst.«
»Ich dachte, dass du ihnen nur eintausend Knochenmünzen wert bist.«
Ich biss mir auf die Zunge.
»Das würde mein Vater bezahlen«, sagte ich leise. »Oder mein Bruder. Seit er sich zum Hybriden hat machen lassen, bin ich ihm egal.«
Mumie spannte sich an. »Deine dreckige Sippe interessiert mich nicht.«
»Jetzt ist er eine halbe Maschine«, murmelte ich. »Er ist ein Mann aus Fleisch und Funkensilber, das kühlt seine Gefühle ab. Deswegen würde er nichts für mich bezahlen … weil es ihm egal ist, dass ich sterben könnte. Er hätte statt Silber Messing nehmen sollen, das heilt immerhin Wunden.«
»Du wirst eine Menge Funkenmessing brauchen, wenn ich mit dir fertig bin«, sagte Mumie barsch und rammte mir die Faust ins Gesicht. Ein scharfes Knacken spaltete mein Bewusstsein, gefolgt von heißem Schmerz. Ich schrie unwillkürlich auf. Das war ein Fehler. Die Pein wurde dadurch nur noch größer und das Blut floss warm über meine Lippen.
Er hat mir die Nase gebrochen, dachte ich wie betäubt. Einfach so.
»Sobald du das nächste Mal ungefragt den Mund aufreißt«, zischte Mumie, »schieße ich dir eine Ladung Kugeln in die Brust. Vielleicht sorge ich auch dafür, dass deinem Mädchen etwas passiert. Es wäre förderlich für dein Benehmen, wenn ich ihr die Hände abschlagen würde, schätze ich.«
»Lass sie zufrieden«, nuschelte ich. »Bitte.«
Mumie zog seine Pistole. Richtete sie auf mich. Im gleichen Augenblick hörte ich Schritte, aber mein Herzschlag pochte plötzlich so schwer in meinen Ohren, dass ich nichts mehr wahrnehmen konnte außer ihrem gähnend dunklen Lauf.
Dann fiel der Schuss und der Schmerz blieb aus.
Mumie blinzelte ungläubig. Starrte auf seine Waffe, während Blut aus seiner Schulter quoll. Er schrie nicht, gestattete sich nicht einmal ein schmerzvolles Zischen; doch seine Augen weiteten sich und sein Körper erstarrte.
Hinter ihm trat ein dunkelhaariger Mann in den Raum.
»Steinerne Garde«, sagte Marawyn Belarron und senkte seine Pistole. »Sie sind verhaftet, Bastard.«
Danach ging alles ganz schnell. Gardisten stürmten mit erhobenen Waffen in den Raum und hatten schon bald die gesamte Wohnung durchsucht. Sie brachten Selana nach draußen, die kreidebleich war und zitterte, und legten mir eine Decke um die Schultern; Mumie hingegen wurde bleich und blutig hinausgeführt, ohne dass man auch nur nach seiner Verletzung gesehen hätte. Ich hoffte, dass er lange in seiner Zelle versauern würde, bevor man ihn seiner gerechten Strafe zuführte.
Jetzt saß ich fröstelnd auf der Treppe des Mietshauses, während mir ein Arzthelfer Salbe auf die Rückenwunden strich. Marawyn stand neben mir, eine Zigarette im Mund und den Blick getrübt vor Sorge. Meine Wangen brannten vor Scham. Von allen Menschen auf der Welt war mein Onkel der Letzte, dem ich jemals Kummer hatte bereiten wollen.
»Sie werden Narben behalten«, sagte der Arzthelfer zu mir.
Ich zuckte mit den Schultern und bereute es sofort, als greller Schmerz durch meinen Körper schoss. Marawyn beobachtete meine Reaktion mit einer hochgezogenen Braue.
»Lässt sich das nicht nähen?«
»Das ist nicht notwendig. Solange sich der junge Herr nicht streckt oder Sport treibt, sollte alles gut verheilen.«
Marawyn nickte lediglich. Er war von oben bis unten ein Gardist, gekleidet in Grau und mit Pistolen bewaffnet; Tätowierungen in Schwarz und Purpur bedeckten seine Unterarme, ein Relikt seiner wilden Jugend. Das Haar hatte er genau wie ich zu einem lockeren Zopf gebunden. Natürlich hatte es die Farbe glänzender Rabenfedern. Fast alle Belarrons waren groß und schlank, mit einem Haarschopf wie zerriebene Kohle; ich hingegen hatte das wilde braune Haar meiner Mutter geerbt. Das ärgerte mich manchmal.
»Was machst du überhaupt hier?«, fragte ich leise.
»Deine Mutter hat mich gestern aus dem Bett geklingelt.« Marawyn lächelte schwach; unter seinen Augen lagen Schatten. »Sie weinte bitterlich in den Telefonhörer, und es dauerte eine Weile, ihr die ganze Geschichte zu entlocken. Als ich jedoch erfuhr, dass du entführt worden warst, kam ich sofort auf die Rabeninsel. Ging zur Gardestelle, um herauszufinden, ob euch jemand in dieser Nacht gesehen hatte.«
Marawyn neigte den Kopf. »Du weißt ja, wie es auf den Inseln ist; kein Schritt ihrer Bewohner bleibt verborgen. Meine Gardisten hielten also die Augen offen. Uns fiel auf, dass Menschen in diesem leeren Mietshaus ein und aus gingen. Wir beobachteten sie ein paar Stunden, um sicherzugehen. Dann war es nur noch eine Sache von Minuten.«
»Er wollte mich erschießen.« Durch meine gebrochene Nase wurde mein Flüstern undeutlich. »Ich wäre gestorben, wenn du nicht gekommen wärst.«
Marawyn legte mir eine Hand auf die Schulter. »Denk nicht daran, was dir hätte passieren können. Jetzt geht es nach Hause. Wir sollten deine Mutter langsam von ihrem Kummer erlösen, nicht wahr?«
Damit half er mir in ein frisches Hemd und knöpfte es für mich zu, ehe er mich nach draußen begleitete. Ich schwieg, während wir in eine Kutsche stiegen; mein Körper schien nur noch aus Schmerzen zu bestehen, und irgendwo in meinem Kopf hallten Schussgeräusche wider. Also sah ich aus dem Fenster, benommen und müde und zittrig. Wie gern hätte ich mich auf meinem Sitz zusammengerollt und die nächsten zwei Jahrzehnte verschlafen.
»Ich gehe nie wieder ins Varieté«, nuschelte ich.
Marawyn lächelte milde, sagte jedoch nichts.
Wenig später tauchte das rote Schloss meiner Familie am Horizont auf. Rabenfels sah alt aus, zählte jedoch keine fünfzig Jahre; meine Vorfahren waren von niederem Adel gewesen und hatten erst durch geschicktes Taktieren an Einfluss gewonnen, sodass es uns an angemessenen Familiensitzen gemangelt hatte. Das Bauwerk stand auf einem Felsrücken, der an drei Seiten senkrecht ins Meer abfiel, und von den Türmen flatterte das Wappen meines Hauses – ein Rabe auf blau-golden gestreiftem Grund. Die Westseite hingegen lief in ein Pinienwäldchen aus, das an den Mauern des Torgebäudes endete. Dort hielt die Kutsche an und wortlos gingen wir ins Schloss.
Auf dem Innenhof war trotz der warmen Mittagsstunde wenig los. Dienerinnen in blauen Kleidern schritten umher, machten diese oder jene Besorgung für meine Familie; ich sah mich verstohlen nach meinem Freund Najee um, doch dann blieb Marawyn neben mir stehen. Einen Augenblick später bemerkte ich den Grund dafür. Zwei Männer in Schwarz kamen auf uns zu und ich wünschte fast, dass ich mich auf irgendeine Weise hätte unsichtbar machen können.
»Hallo, Bruderherz«, sagte Marawyn. »Du bist heute gut zu Fuß, wie ich sehe.«
Artos Belarron schnaubte. Selbst für die Maßstäbe meiner Familie war er hochgewachsen, nur stand sein Umfang seiner Größe in nichts nach; die Knöpfe über seinem Bauch spannten gefährlich und darüber saß ein breites Gesicht mit einem kurzen schwarzen Bart. An seiner Seite ging mein älterer Bruder Amarion, genauso groß, nur deutlich schmaler. Seine Arme glänzten silbern, wo man das Funkenmetall in seinen Körper eingearbeitet hatte. Die Maschinerie unter den edelsteinbesetzten Schutzplatten klickte kaum hörbar.
»Du hast ihn wiedergefunden«, sagte mein Vater.
Marawyn lächelte verschmitzt. »Meine Pflicht als Mitglied der Garde.«
»Du arbeitest auf Salacis, nicht hier.« Artos Belarron sah mich prüfend an. »Mir ist nicht klar, warum dich deine Mutter noch nach draußen lässt. Du machst unserer Familie nur Schande. Der Krüppel, der nicht einmal ausgehen kann, ohne von Rebellen entführt zu werden.«
»Lass ihn in Ruhe, Artos«, sagte Marawyn scharf.
»Wenn du ein richtiger Mann wärst, hättest du dich selbst freigekämpft«, sagte mein Vater zu mir, ehe er sich Marawyn zuwandte. »Geh schon. Bring ihn zu meiner Frau. Ich kann ihr Heulen nicht mehr hören.«
Damit ließ er uns auf dem Innenhof stehen. Amarion sah uns bestenfalls mäßig interessiert an, ehe er ihm folgte. Jedes Funkenmetall hatte eine andere Wirkung auf den menschlichen Körper, und obwohl mein Bruder mir unheimlich geworden war, machte er sich wenigstens nicht mehr über mich lustig.
Erst als Marawyn mir einen Arm um die Schultern legte, fiel mir auf, dass meine Augen brannten.
»Hör nicht hin«, sagte er. »Wenn Artos jemals entführt worden wäre, wüsste er, dass man sich aus so einer Lage nicht einfach freikämpft.«
Ich schluckte schwer. »Bist du denn schon entführt worden?«
»Einmal«, gab Marawyn zu, »nur ist das vielleicht eine Geschichte für einen anderen Tag. Komm mit. Je schneller wir hier fertig sind, desto eher kannst du ausruhen.«
Damit führte er mich ins Schloss, bis zu einer angelehnten Doppeltür, in die Scheiben aus verziertem Milchglas eingearbeitet waren. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, ein jungenhaftes Grinsen auf Marawyns Gesicht zu sehen, ehe er mich geräuschlos in den Salon begleitete.
»Dinora?«, rief er. »Bist du hier? Ich habe dir etwas mitgebracht.«
Ein ersticktes Schluchzen. »Ich schwöre dir, Marawyn, ein Blumenstrauß wird mich nicht aufmuntern.«
»Es ist besser«, versprach Marawyn. Ich hörte ein Rascheln im Dämmerlicht des Zimmers, dann fiel mir jemand um den Hals. Meine Mutter zitterte, als sie mich fest in die Arme schloss. Ich wurde rot. Selbst an guten Tagen stritten wir uns oft, aber das hatte ich ihr nicht antun wollen.
»Es geht dir gut«, murmelte sie. »Gütiger Zinnhybrid, ich dachte, dass … oh Taiden. Tu das nie wieder. Nie wieder, hörst du?«
»Glaubst du, ich lasse mich mit Absicht entführen?«, nuschelte ich.
»Sei nicht so frech«, sagte sie schwach, ehe sie mir ins Gesicht blickte. »Was ist mit deiner Nase?«
»Gebrochen«, gestand ich leise.
Sie zog die Brauen zusammen, das einzige Anzeichen ihres wachsenden Zorns, doch sie bemerkte ihre Reaktion und tupfte sich die letzten Tränen mit einem bestickten Taschentuch ab.
»Ich habe den Rebellen verhaftet, der das getan hat«, sagte Marawyn.
»Wen interessieren Rebellen«, murmelte meine Mutter, ehe sie mich von oben bis unten musterte. »Du siehst schrecklich aus. Hat dir dieser Abschaum nichts zu essen gegeben? Ich lasse sofort nach einer Stärkung schicken – du musst zu Kräften kommen, Schatz, du warst nie besonders robust …«
»Ich bin nicht schwach«, sagte ich ärgerlich.
»… und obendrein hast du immer mit deinen Fingern zu kämpfen. Dieser schmutzige Rebellenhaufen wusste ganz gewiss nicht, wie man eine solche Einschränkung zu behandeln hat.« Sie legte eine Hand auf meine Stirn. »Gütige Funken, du kochst ja. Wenn du krank geworden bist, gehe ich ins Gefängnis der Rabeninsel und erschieße diesen Rebellendreck.«
Ich schüttelte sie wütend ab. »Ich fühle mich gut!«
Sie verschränkte die Arme, die nächste Zurechtweisung auf den Lippen, doch Marawyns Kichern unterbrach sie in ihrer mütterlichen Sorge. »Lass ihm seine Ruhe, Dinora. Er weiß schon, was das Beste für ihn ist, er ist so gut wie erwachsen.«
»Das dachte ich auch von dir, und dann hast du dich bis zur Halskrause mit den Mustern irgendwelcher Wilden bedeckt.« Sie sah Marawyn streng an. »Taiden ist erst fünfzehn, die Rebellen hätten ihn beinahe getötet.«
»Ich kann auf mich aufpassen«, widersprach ich.
»Nicht mit dieser Hand«, sagte meine Mutter. »Du kannst nicht einmal dein Besteck richtig halten, Schatz.«
Ich verzog den Mund und stapfte aus dem Salon. Meine Mutter rief mir irgendetwas nach, aber ich achtete nicht darauf, während die vertraute Wut in meinem Magen brodelte. Selbst sie hielt mich für hilflos. Selbst sie ekelte sich vor dieser toten, kalten Kralle.
Schweigend verließ ich das Gebäude. Die Schlossgärten von Rabenfels lagen vor mir, angefüllt mit sterbenden Sommerblumen, deren Blütenblätter in verschiedenen Schattierungen von Blau glommen. In der Nähe hörte ich das Klappern einer Heckenschere. Es dauerte nicht lange, seine Quelle ausfindig zu machen – einen Jungen mit verfilztem Haarschopf und wüstendunkler Haut. Trotz meines Ärgers musste ich lächeln. Ich hatte nicht mehr darauf gehofft, Najee noch einmal sehen zu dürfen.
Ich trat zwischen den Hecken hervor. Najee zuckte zusammen, grinste jedoch, als er mich erkannte.
»Was hast du da im Gesicht? Siehst aus wie’n balaisischer Paradiesvogel.«
»Wenigstens ist es bei mir nicht dauerhaft«, sagte ich trocken.
Najee lachte keckernd. Ich musste ebenfalls lachen, obwohl es furchtbar schmerzte, ehe wir einen Handschlag austauschten.
»Hab schon gehört, was dir zugestoßen ist«, plapperte er. »Hat dein Onkel diese Bastarde erschossen? Wie hoch ist ihr Blut gespritzt?«
»Er hat sie nicht getötet.« Ich schluckte. »Ich wünschte, ich hätte …«
Ich unterbrach mich, als mir ein Gedanke kam. Wenn ich Mumie selbst hätte anschießen können, statt auf Marawyn zu hoffen … wenn ich Grau tragen könnte wie er …
»Ich werde nicht heiraten«, flüsterte ich.
Najees Lächeln flackerte. »Ach ja?«
Ich schenkte Najee ein wölfisches Grinsen, obwohl mir keineswegs nach Scherzen zumute war. Nein, ich würde Selana nicht zur Frau nehmen, nur um mich für den Rest meines Lebens auf Rabenfels zu langweilen. Mumie würde es wahrscheinlich nicht mehr lange machen, aber es würde jemanden geben, der seinen Platz einnahm – und dann wollte ich vorbereitet sein.
Ich konnte Rebellen jagen. Ich konnte dem Uhrwerk dienen, wie es sich gehörte.
Die Steinerne Garde wartete auf mich.
Ein paar Tage nach meiner Befreiung war der Mann, den ich Mumie getauft hatte, von der Rabeninsel verschwunden. Niemand wusste, wie ihm die Flucht gelungen war; einige Diener auf Rabenfels sprachen von Zauberei, andere von seinem Rudel niederträchtiger Rebellenfreunde. Ich verdächtigte seine Komplizen, behielt meinen Argwohn jedoch für mich. Mir hörte ja sowieso niemand zu.
Aber mich ermutigte sein Verschwinden so sehr, wie es mich verstörte, und ich schwor mir nur noch eiserner, Verbrecher wie ihn als Gardist zur Strecke zu bringen. Nie wieder würde ich so hilflos sein, warten zu müssen, bis mich mein Onkel rettete. Ich würde ein Zahnrad im Schwarzen Uhrwerk werden, und wer sich mit uns anlegte, endete zu Recht tot und kalt im Ozean begraben.
»Mumie wird schon sehen, was er davon hat«, sagte ich zu Najee; wir hatten uns in den Schlossgärten verkrochen, wie so oft, bewaffnet mit aus der Küche stibitztem Wein. »Das Uhrwerk wird ihn erschießen, bevor er überhaupt den Mund aufmachen kann.«
»Ich werde das tun«, prahlte Najee. »Irgendwann werde ich Gardepräsident sein und jeden Rebellen höchstpersönlich erledigen. Dann musst du Knickse machen, bevor du mich in meinem feinen Büro besuchen darfst.«
»Das ist unwahrscheinlich, Najee. Ich bin vom Blut des Zinnhybriden.«
Najee schnalzte mit der Zunge. »Komm mir nicht damit, Paradiesvogel, der halbe Adel stammt von ihm ab. Und wenn er zehn Uhrwerke gegründet hätte, ihr müsst allesamt an meine Tür klopfen – ich hätte ihn doch besiegt, wenn er nicht schon dreißig Jahre tot wäre …«
Ich lächelte, sagte jedoch nichts, während Najee beflügelt vom Wein vor sich hin plapperte. Ausländer wurden nur selten in die Garde aufgenommen, doch ich wollte nicht derjenige sein, der seine Tagträume zerplatzen ließ.
»… und wenn ich erst mal in der Armee bin, werde ich so gut sein, dass sie mir gleich einen Posten in der Garde geben.« Najee stürzte einen kräftigen Schluck Wein hinunter. »Wenn wir dort sind, werde ich dir zeigen …«
»Ich kann nicht mitkommen.«
Najee blinzelte.
»Deine Hand?«
Ich blickte auf meine Rechte, die kalt und starr in meinem Schoß lag. Das Uhrwerk schrieb jedem jungen Mann der Dreizehn Inseln den Militärdienst vor, damit es gegen die Rebellion gerüstet war.
Krüppel wurden von dieser Pflicht befreit.
»Das ist doch bescheuert«, fuhr Najee fort. »Du stammst vom verdammten Uhrwerksgründer ab, eigentlich sollten sie darum betteln, dass du mitgehst.«
Ich lächelte schwach. »Kann ich dir etwas zeigen?«
Najee wirkte verdutzt, aber er nickte. Mit unserer Weinflasche bewaffnet schlichen wir in den Westturm von Rabenfels, dessen Spitze meine Räumlichkeiten beherbergte. Vor der magnetischen Wand meines Salons blieben wir stehen. Ich hatte dort mehrere Plakate mit Funkenmetall befestigt; gewöhnliches Metall wurde nicht vom Magnetgestein angezogen, das häufig auf den Inseln vorkam.
»Daran arbeite ich schon eine Weile«, sagte ich. »Ich dachte, es wäre gut, mehr über die Uhrwerksfeinde zu wissen …«
Meine Stimme erstarb, als sich Najee der Plakatwand näherte. Ich hatte Dutzende von Fahndungsplakaten aufgehängt, und in ihrer Mitte thronte das des größten Rebellen; ein Mann mit schwarzem Haar und schwarzer Maske, der den Betrachter eisig anstarrte. Der Schatten von Arassa. Das Uhrwerk versuchte seit Jahren, ihn zu fassen. Bisher hatte niemand Erfolg damit gehabt.
»Was denkst du?«, sagte ich nervös.
Najee drehte sich zu mir um. »Du meinst es ernst mit der Rebellenjagd?«
Ich nickte, weil mir jede mögliche Antwort im Hals stecken blieb. Wenn er darüber lachen würde … nur ein einziges Mal mit dem Mundwinkel zuckte …
»Aber das ist doch gut«, sagte Najee und grinste. »Warte nur, bis ich von der Armee wiederkomme. Du spürst die Rebellen auf und ich erschieße sie. Wir werden die besten Gardisten der ganzen Inseln sein.«
Ich spürte ein Lächeln auf meinem Gesicht. Wärme in meiner Magengrube, die nichts mit der Weinflasche in Najees Fingern zu tun hatte. Manchmal fragte ich mich, ob er eigentlich wusste, was für ein wunderbarer Freund er war.
»Und das trotz meiner Hand?«
»Wer braucht denn seine Finger zum Nachdenken?«, sagte Najee lachend.
Wenn ich ehrlich war, hätte ich ihn am liebsten dafür umarmt, aber ich würgte meinen übermütigen Anflug rasch herunter. »Ich warte darauf, dass du wiederkommst. Und sobald wir alt genug sind, treten wir der Garde bei.«
Najee grinste darüber. »Worauf du wetten kannst, Paradiesvogel.«
Im Frühling nach meinem neunzehnten Geburtstag starb mein Vater. Sein Herz habe ausgesetzt, erklärten die Ärzte; es war regelrecht erdrückt worden unter den Massen seines Fleisches, das genug Material für zwei weitere Männer hergegeben hätte. Als sie seinen Leichnam auf ein Boot legten, es anzündeten und den Wellen übergaben, sah ich ungerührt zu. Die Journalisten schrieben später, dass ich der Zeremonie mit großer Stärke entgegengetreten sei … aber die Wahrheit lautete, dass mir der Tod meines Vaters egal war. Ja, sogar eine Erleichterung. Niemals wieder würde er auf mich hinabsehen und mit dunklem Blick verurteilen.
»Du hast dich gut geschlagen«, sagte Marawyn.
Es war mir unmöglich, ihn anzusehen. Ich saß auf einem der schwarzen Felsen, die es an den Küsten zuhauf gibt, und blickte auf das Meer hinaus; die Festgesellschaft befand sich jedoch in seidenen Trauerzelten, die eigens für diesen Tag genäht worden waren. Niemand auf den Inseln war religiös, dafür hatte das Uhrwerk gesorgt. Dennoch fanden die Trauerfeiern nach alter Tradition am Ozean statt.
»Er hat mir nichts bedeutet«, sagte ich leise. »Das sollte nicht so sein.«
Marawyn blieb einige Augenblicke lang am Fuß des Felsens stehen, ehe er zu mir kletterte. Ich begegnete seinem Blick und sah zur Seite; er hatte hellgraue Augen, so wie ich, aber seine waren leicht gerötet.
»Er war nicht gut zu dir«, sagte er langsam, »aber verzeih ihm, wenn du kannst. Artos hatte auch Gutes an sich.«
Ich biss mir auf die Zunge. »Er mochte dich doch auch nicht.«
»Ja, weil ich seinen Kleiderschrank angezündet habe, als ich dreizehn war.« Marawyn zwinkerte mir zu, ehe er sich eine Zigarette ansteckte. »Deine Mutter hat mir erzählt, dass du der Steinernen Garde beitreten willst.«
Mir wurde kalt. Ich hatte nie mit ihr darüber gesprochen, aber sie schnüffelte andauernd in meinem Salon herum und hatte die Fahndungsplakate dabei gewiss nicht übersehen.
»Lach mich nicht aus«, murmelte ich.
»Das würde ich nicht tun«, sagte Marawyn; er klang ehrlich überrascht. »Denkst du wegen dieses Rebellen daran? Er wird dir nicht mehr wehtun, wahrscheinlich ist er bereits tot.«
»Nein, ich …« Ich schluckte schwer. »Warum bist du denn Gardist geworden?«
»Es war nicht meine Entscheidung. Ich war damals noch ein Kind, und mein Vater meinte, dass ich in der Garde Manieren lernen würde.« Marawyn kicherte. »Deine Pläne gefallen Dinora überhaupt nicht. Sie meinte, dass ich es dir ausreden soll.«
»Das wundert mich nicht«, sagte ich ärgerlich.
»Deine Mutter hat nur Angst um dich. Das hat sie immer.«
»Und was denkst du darüber?«
Ein kurzes, unbehagliches Schweigen trat ein. Ich lauschte auf das Rauschen der Wellen und versuchte vergeblich, mein Unbehagen herunterzuwürgen.
»Ich denke«, sagte Marawyn bedächtig, »dass es Zeit für dich wird, einen eigenen Weg zu gehen. Du wirst dich in Rabenfels zu Tode langweilen, warum also solltest du dich nicht bei der Garde bewerben?«
»Vielleicht, wenn ich meine Verlobte loswerde«, murmelte ich.
Mein Onkel sah mich seltsam an. »Du magst sie nicht.«
Ich schluckte. Mehrere Dutzend Antworten kämpften in meiner Kehle darum, nach draußen zu gelangen, doch am Ende blieben sie mir im Hals stecken.
»Das spielt keine Rolle«, sagte ich schließlich. »Sie zwingen mich sowieso dazu.«
»Das«, sagte Marawyn, »will ich nie wieder von dir hören.«
Ich blinzelte meinen Onkel an, aber er bedachte mich mit einem verschwörerischen Lächeln. »Wenn du es geschehen lässt, obwohl es dir nicht gefällt, dann hast du es verdient. Du musst für das kämpfen, was du wirklich willst.«
»Wie denn?«, sagte ich lustlos. »Ich kann ja schlecht in Mutters Salon gehen und sie fragen, ob sie die Verlobung auflöst.«
»Dafür ist Dinora zu stur«, gab Marawyn zu, ehe er sich vom Felsblock gleiten ließ und geräuschlos im schwarzen Sand aufsetzte. »Ich weiß nicht, warum sie so sehr darauf beharrt, auch sie hat einen Funken Wildheit im Blut. Früher, wenn sie Artos aus dem Weg gehen wollte, ging sie oft reiten. Stundenlang über das unwegsamste Gelände, das sie finden konnte. Würdest du das heute glauben?«
»Nein«, sagte ich verdutzt.
»Dachte ich mir.« Marawyn grinste. »Ich wäre schwer enttäuscht, wenn du keinen Weg finden würdest, um deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Du bist ein kluger Junge, Taiden. Zeig Dinora, dass du nicht ihre Schachfigur bist.«
Damit schnippte er seine Zigarette ins Wasser und ging zum Zelt zurück. Ich seufzte leise. Ich hatte versucht, über meinen Schatten zu springen und Zuneigung zu Selana zu entwickeln. Aber dennoch …
Ich mied Selana so gut wie möglich. Trotzdem kam sie gelegentlich in meinen Salon, und wir teilten auf Geheiß meiner Mutter zumindest etwas Raum statt unserer Herzen miteinander. Abgesehen vom melodischen Klimpern des Phonographen war es still; Selana bestickte ein Taschentuch, während ich die Gardeberichte in der Tugend las und mir vorstellte, eines Tages selbst für einen großen Rebellenfang in der Zeitung zu erscheinen. Es ehrte mich nicht, aber ich hoffte, dass sie bald gehen würde. Abends traf ich mich oft mit Najee in den Schlossgärten, um lachend Wein mit ihm zu trinken oder in die Rabenstadt zu schleichen.
Ich faltete die Zeitung mit zwei Fingern zusammen. Selana sah auf, begegnete meinem Blick und konzentrierte sich rasch wieder auf das Taschentuch. Die Uhrwerksmusik drängte sich in mein Bewusstsein, schleppend, feierlich. Mir kam eine Idee. Ich streckte Selana die gute Hand entgegen und sie sah stirnrunzelnd darauf hinab.
»Ich dachte, dass wir tanzen könnten«, flüsterte ich.
Sie zögerte. »Wenn es dir gefällt.«
Sie legte ihre Näharbeit weg, gestattete es schweigend, dass ich sie auf die freie Fläche hinter meinen Sitzmöbeln führte. Der Schatten von Arassa starrte von der Magnetwand auf uns hinab, als ich den Arm um ihre Taille schlang. Dann begannen wir uns im Takt der Musik zu bewegen. Ich hörte Selanas Atemzüge, doch selbst auf diesem engen Raum schaffte sie es irgendwie, mich kein einziges Mal anzusehen.
»Du tanzt sehr gut«, sagte ich.
Selana schwieg. Mein Herz klopfte schwer. Vielleicht würde sie sich entspannen, wenn ich freundlicher war, wenn ich auf sie zuging … und ehe ich es mir anders überlegen konnte, hatte ich ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht. Selana sah aus, als sei sie aus Porzellan gemacht, doch ihre Haut war warm und weich. Ich lächelte schwach, während ich sie im Kreis drehte. Vielleicht, dachte ich, würden wir eines Tages trotz allem eine gute Ehe führen …
Im gleichen Augenblick, als mir dieser Gedanke kam, endete das Lied. Selana blieb sofort stehen, entwand sich meinem Griff; und erst jetzt bemerkte ich, dass meine rechte Hand wie ein sterbender Fisch an ihrer Hüfte zuckte.
»Hör auf«, flüsterte sie. »Ich … bitte, hör auf.«
Ich sah sie lange an. Kälte wühlte in meiner Magengrube, und plötzlich lag mir die eine Frage auf der Zunge, die ich ihr nie zu stellen gewagt hatte.
»Warum hasst du mich so sehr?«
»Ich hasse dich nicht«, stammelte sie. »Es ist nur – diese Kralle ist so kalt.«
»Eine Kralle?«, flüsterte ich.
»So habe ich das nicht gemeint«, begehrte sie auf.
Ich senkte den Blick. Starrte meine toten Finger an, sah zu, wie sie im Takt meines Herzschlages verkrampften. Wie oft mein Vater geschimpft hatte, wenn ich versehentlich etwas fallen ließ. Wie mein Bruder früher gelacht hatte, weil ich mich als Kind nicht einmal allein hatte anziehen können.
Ich hatte geglaubt, es eines Tages zu ertragen. Doch der Ekel in Selanas Blick belehrte mich eines Besseren. Vor mir stand die Frau, die ich heiraten, mit der ich eine Familie gründen sollte. Würde sie mich für den Rest unseres Lebens so ansehen?
Ich glaubte die Antwort darauf zu kennen. Und die Tränen, die ich heimlich darüber vergoss, konnte man gewiss an einer Hand abzählen.
Der Rummel um Artos Belarron endete sehr bald. Es war mir nur recht. Amarion wurde vom Uhrwerk als Graf vom Rabenfels bestätigt und ich unternahm einige Ausflüge mit Marawyn, ehe er nach Salacis zurückkehren musste. Zum Abschied schenkte er mir ein Buch, in dem ich Fotografien sammeln konnte. Gemeinsam suchten wir die ersten Bilder aus und klebten sie mit Vorsicht ein, lachten mehr, als dass wir arbeiteten. Wie herrlich wäre es gewesen, einfach mit ihm fortzugehen. Aber so etwas würde meine Mutter nie erlauben, schon gar nicht, während sie aus reiner Pietät um die Seele meines Vaters weinte.
Ich dachte noch darüber nach, welche Abenteuer mein Onkel wohl auf Salacis erleben mochte, als ich viele Wochen später in der Badewanne lag. Ich badete oft und gern, weil mich dabei niemand störte; doch dieses Mal hörte ich Schritte durch den Schleier von Dampf und Wasser klingen. Jemand rief meinen Namen, klopfte an die Tür. Ich regte mich nicht. Es dauerte Ewigkeiten, aus der Wanne zu steigen und mich anzukleiden.
Wer auch immer der Besucher gewesen war, er war verschwunden, als ich meinen Salon betrat. Stattdessen fand ich ein Blumengesteck auf dem Tisch vor. Zwischen den Blüten steckte eine Karte. Sie duftete nach Selanas Parfüm, und ihre Handschrift war von damenhafter Eleganz.
Es tut mir leid, schrieb sie. Es war mein Fehler, nicht deiner.
Wahrscheinlich hätte sie das Gleiche geschrieben, wenn ich sie von einer Klippe geworfen hätte, dachte ich säuerlich. Trotzdem blinzelte ich ein Brennen in meinen Augen fort, ehe ich mich ankleidete und meinen Turm verließ. Draußen auf dem Schlosshof entdeckte ich Najee, der ein totes Huhn rupfte, während Dutzende von Bediensteten über den Platz wuselten. Ich runzelte die Stirn über ihre Betriebsamkeit. Hatte ich irgendeinen Geburtstag vergessen?
»Hallo, Paradiesvogel«, sagte Najee, als er mich kommen hörte. Die Jahre bei der Armee hatten ihm nicht geschadet; seine wüstendunkle Haut war noch dunkler gebrannt, sein Fuchsgesicht verwegener geworden. »Gehen wir einen Feuerschnaps trinken, wenn ich mit dem Huhn fertig bin? Ich helfe der Tochter der Köchin aus – sie hasst es, Vögel zu rupfen, aber sie ist ganz hübsch.«
Seltsamerweise verspürte ich einen Stich. »Verstehe.«
»Vielleicht heirate ich sie irgendwann«, sagte Najee. »Wenn ich erst mal bei der Garde bin, können wir uns ein Haus in der Stadt leisten. Besser als mein Bett im Dienstbotentrakt, also – was ist denn mit dir los?«
Ich zwang mich zu lächeln. Auf keinen Fall wollte ich Najees Vorhaben im Weg stehen … doch ich dachte auch an die Zukunft, sah mich ganz allein Wein trinken, während Najee sein Küchenmädchen lachend auf die Wangen küsste.
»Ist sie wirklich so hübsch?«
Najee grinste. »Dir würden die Augen aus dem Kopf fallen, Paradiesvogel.«
Ich erwiderte sein Grinsen so tapfer wie möglich, obwohl ein großer Teil von mir verlangte, dass das gesamte Küchenpersonal sofort aus dem Schloss geworfen wurde. Doch bevor ich antworten konnte, rief jemand meinen Namen. Selana. Sie kam eilig auf uns zu, musterte mich jedoch nur flüchtig und Najee überhaupt nicht.
»Was ist denn?«, fragte ich schroff. Ich hatte mich nicht im Ton vergreifen wollen, aber ihr Anblick erinnerte mich an den letzten Dämpfer, den sie meinen sterbenden Gefühlen versetzt hatte.
»Deine Mutter hat nach uns verlangt.«
Wir schwiegen einander an.
»Ich habe nach dir gesucht«, fügte sie schüchtern hinzu.
»Es ist doch bekannt, dass wir uns täglich hier zum Hühnerrupfen treffen.« Eigentlich stand mir nicht der Sinn nach Scherzen, nur wollte ich in Najees Augen auf keinen Fall als schwach erscheinen. »Sag bloß, dass sich das nicht gehört.«
Najee lachte. »Bin mal euer Abendessen wegbringen. Wir sehen uns später.«
Damit sprang er auf die Beine und eilte davon, wobei er nichts bis auf ein Häufchen Federn zurückließ. Kaum dass er verschwunden war, verschränkte Selana die Arme.
»Er ist kein guter Umgang.«
»Das interessiert mich nicht.«
Selana schnaubte empört. »Es gehört sich nicht für einen Belarron, mit einem Gärtnerssohn herumzulaufen.«
»Fang nicht wieder damit an«, sagte ich schroff und drängte mich an ihr vorbei. Selana eilte mir sofort nach, doch ich achtete nicht auf sie.
»Du gehst immer nur zu ihm«, sagte sie aufgebracht. »Ich habe dich noch nie lachen sehen, wenn er nicht in der Nähe ist. Er ist kein Umgang für dich – er ist grob und ungebildet – und ich soll dich doch heiraten, nicht er!«
»Schade eigentlich«, fauchte ich.
Selana verfiel so abrupt in Schweigen, als hätte ich sie geschlagen. Ich wusste nicht, warum mich das so rasend machte; ich wusste nur, dass ich es einfach nicht mehr aushalten konnte. Als wir im Salon meiner Mutter eintrafen, glaubte ich, dass mir vor Wut der Kopf zu platzen drohte. Aber sie saß in ihrem Lieblingssessel, die Hände sittsam ineinander gefaltet, ein geradezu verdächtiges Lächeln auf dem Gesicht.
»Tee?«, fragte sie, nachdem wir uns gesetzt hatten.
Selana nickte, aber ich schüttelte den Kopf. Meine Mutter läutete eine Glocke; nach einer Weile erschien ein Mädchen mit einem Tablett und stellte es auf dem Tisch ab.
Ich frage mich, ob sie mich lieben würde, dachte ich trotzig, als sie ging.
»Warum hast du uns hierher bestellt?«
Meine Mutter schüttelte den Kopf, verzichtete jedoch auf eine Zurechtweisung. Ich roch sofort die Lunte und wurde bedauerlicherweise nicht enttäuscht.
»Es wird Zeit, die Hochzeit vorzubereiten.«
»Das kannst du vergessen«, sagte ich prompt.
Sie seufzte, als hätte sie mit keiner anderen Antwort gerechnet. »Sei nicht kindisch, Schatz. Die Hochzeitsgäste sind bereits auf dem Weg hierher. Wenn du nachher deinen Festanzug anprobieren würdest …«
»Trag ihn doch selbst«, fuhr ich sie an, bevor ich wusste, wie mir geschah. Neben mir steckte Selana die Nase in die Teetasse, als wäre sie am liebsten am anderen Ende der Welt gewesen.
»Taiden!«, sagte meine Mutter empört.
»Ich habe mir das lange genug gefallen lassen«, sagte ich scharf. »Du wirst mich nicht verheiraten. Ich werde das nicht tun!«
»Du wirst tun, was man dir sagt«, gab sie zurück. »Du wirst morgen vor den Altar treten und deine Verlobte ehelichen, und du wirst dich nicht darüber beschweren. Du musst diese Sturheit von deinem Vater haben. In meiner Familie war niemals jemand so verbohrt.«
Ich schnaubte. Wer wollte mich denn zum Heiraten zwingen?
»Du bist ein erwachsener Mann und wirst dich so benehmen«, sagte sie. »Du wirst fünf Jahre der Planung nicht mit deinem Dickkopf zunichtemachen.«
Ich stand auf. »Das werden wir ja sehen.«
Damit wandte ich mich um und ging. Ich glaubte, dass Selana leise schniefte, sah sie jedoch nicht an; der Zorn pochte so heftig hinter meinen Schläfen, dass ich Kopfschmerzen davon bekam, und ihre traurigen Rehaugen würden es nicht besser machen.
»Komm zurück, Taiden!«, rief meine Mutter. »Komm sofort zurück!«
»Zwing mich doch«, murmelte ich und stürmte in die Schlossgärten hinab, bevor sie sehen konnte, dass mir neben der rechten Hand auch die Beine zitterten. Erst als ich Najee im Schatten einer Eiche dösen sah, begriff ich, dass ich nach ihm gesucht hatte. Sein träges Grinsen milderte meinen Zorn. Das tat es immer, egal, wie ärgerlich ich war.
»Also, wozu will dich deine Mutter dieses Mal drängen?«
»Zum Heiraten«, sagte ich ärgerlich. »Das lasse ich mir nicht gefallen. Das kann sie vergessen! Ich würde eher von hier weglaufen, als Selana zu …«
Ich unterbrach mich. Ließ meine Worte Revue passieren.
»Das ist es«, flüsterte ich.
Najee hielt im Nichtstun inne. »Was?«
»Ich werde Rabenfels heute Nacht verlassen.« Es auszusprechen fühlte sich beängstigend an, doch ich wusste, dass mir keine andere Wahl blieb. »Ohne Bräutigam können sie keine Hochzeit abhalten. Soll meine Mutter Selana selbst zur Frau nehmen, wenn es ihr so wichtig ist.«
Najee kicherte darüber. »Na schön, Paradiesvogel. Wohin willst du denn gehen?«
Ich überlegte. Als Erstes fiel mir Salacis ein, wo ich immerhin meinen Onkel hätte, aber bei ihm würde meine Mutter zuerst nach mir suchen. Von ihrer Seite der Familie hingegen erwartete ich keine Hilfe. Wir hatten die Flynts von Cariale einmal besucht, als ich noch klein gewesen war, und keiner von ihnen hatte mich auch nur eines Blickes gewürdigt.
»Heute fährt ein Nachtzug nach Arassa«, sagte ich unschlüssig. »Ich weiß nicht, wohin ich sonst gehen könnte.«
Najee grinste. »Willst du den Schatten fangen?«
Ich hielt kurz inne. Arassa, natürlich. Ich hatte gar nicht daran gedacht, doch dann sah ich den maskierten Rebellen vor mir … ich trug eine graue Uniform, und die Menschen jubelten mir zu, während ich ihn seiner gerechten Strafe zuführte …
»Glaubst du, dass ich es schaffen könnte?«, flüsterte ich.
»Das haben wir doch abgemacht, Paradiesvogel. Wir werden es zusammen tun.« Najee grinste breit. »Außerdem kann ich dich schlecht allein gehen lassen, oder?«
Ein eigenartig leichtes Gefühl erfasste mich. »Aber die Tochter der Köchin …«
»Ich heirate sie einfach, wenn wir wiederkommen«, sagte Najee munter.
Ich schluckte. Es rührte mich, dass er mitkommen wollte, ja nicht einmal gezögert hatte; mit ihm würde sich die Ferne weniger fremd anfühlen, die Reise wie ein Abenteuer. Aber natürlich würde ich ihm das niemals sagen können. Was, wenn er mich dafür auslachte?
»Pack deine Sachen, Najee«, flüsterte ich stattdessen. »Wir sehen uns heute Nacht.«
Der Rest des Tages verging quälend langsam. Ich packte heimlich meinen Koffer, stopfte persönliche Gegenstände wie Kleidung hinein, während mehr als einmal Dienstmädchen klopften und verschwanden, ohne Einlass bekommen zu haben. Mir war kalt, schrecklich kalt sogar. Wie sehr ich meiner Mutter wehtun würde. Das schmerzte, auch wenn ich wusste, dass ich mir keinen Rückzieher erlauben konnte.
Eine Weile saß ich still neben meinem Koffer. Versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ich tun wollte. Dann gab ich mir einen Ruck und kramte nach Papier und Füllhalter. Schreiben war mir stets eine Qual, weil ich früher einmal Rechtshänder gewesen war, aber heute fiel es mir besonders schwer.
Ich wusste mir nicht anders zu helfen, schrieb ich schließlich. Es tut mir leid.
Die Mitteilung zu verfassen ging schnell. Dennoch wagte ich mich erst kurz vor Mitternacht nach draußen. Es erstaunte mich, wie wehmütig mir zumute war, als ich die gewundene Treppe hinunterstieg. Auf halbem Weg nach unten begegnete mir eine Frau im Morgenmantel. Ich wollte mich mit einer gemurmelten Entschuldigung an ihr vorbeidrücken, doch dann sah ich ihr Gesicht und erstarrte.
»Wohin willst du?«, flüsterte Selana. Sie hielt eine Funkenlaterne in einer Hand; der Metalldraht in ihrem Inneren glomm in einem sanften Goldton, und sie schob die Blende vor das Glas, als der Schein zu stark wurde.
»Das könnte ich dich auch fragen«, gab ich zurück.
»Ich wusste, dass du eine Dummheit machen würdest. Deswegen habe ich aufgepasst.« Selanas Augen waren gerötet, und ich fragte mich unwillkürlich, wie viel Mut sie der Gang in diesen Turm gekostet haben musste. »Warum kannst du die Hochzeit nicht annehmen? Warum rebellierst du ständig?«
Ich verzog den Mund. »Ich rebelliere nicht.«
»Doch, das tust du. Du merkst es ja nicht einmal.« Selana senkte den Blick. »Bitte. Geh wieder nach oben. Alles wird gut werden, sobald wir verheiratet sind, wir brauchen nur Zeit.«
»Die Ehe wird nicht gut gehen«, sagte ich matt. »Du weißt das.«
Selana sah mich an. Stumme Tränen liefen über ihre Wangen. Dann schloss sie die Augen, rang sich ein Nicken ab und für einen Augenblick wirkte sie so schwach wie eine weggeworfene Puppe.
»Es tut mir leid«, flüsterte ich.
»Geh schon«, sagte Selana. Ich sah sie verwundert an, drängte mich jedoch an ihr vorbei nach unten. Ich sah kein einziges Mal zu ihr zurück. Ich brachte es einfach nicht über mich.
Najee erwartete mich in den Gärten, bewaffnet mit einem Bündel Kleidung, das er locker unter einen Arm geklemmt hatte. Ein Grinsen lag auf seinem Gesicht, doch heute fiel es mir schwer, es zu erwidern.
»Hast du alles, Paradiesvogel?«
»Natürlich«, sagte ich matt.
Sein Lächeln verblasste. »Was ist denn los?«
»Nichts. Es ist nur …« Ich schüttelte den Kopf. Wenn Najee es schaffte, mit einem Schmunzeln Abschied von Rabenfels zu nehmen, wollte ich es auch tun. »Schon gut. Lass uns gehen.«
Najee hob die Brauen, sagte jedoch nichts dazu. Das war mir nur lieb. Ich warf einen letzten Blick auf die Schlosstürme, auf die Fenster, hinter denen meine Mutter gerade schlafen mochte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Rasch wandte ich mich ab und beeilte mich, Najee die Straße hinunter zu folgen.
Es dauerte nicht lange, bis wir die Rabenstadt erreichten, eine rußgeschwärzte Siedlung, beleuchtet von Funkenlicht und von Luftschiffen überflogen. An den Fassaden hingen Banner; die meisten warben für die Eisenbahngesellschaft meiner Familie, aber manchmal entdeckte ich auch Aufrufe gegen die Rebellion oder dampfumwobene Maschinen, die sich gegen Uhrwerksfeinde erhoben.
Und natürlich warf auch das Uhrwerk einen Blick auf uns.
»Was tun Sie so spät noch draußen?«, fragte der Gardist, als er auf uns aufmerksam geworden war. Er hatte rauchend an einem Zaun gestanden und bei seinem Anblick überlegte ich, wie mir wohl eine von diesen längs gestreiften Gardistenwesten stehen würde.
»Wir wollen den Nachtzug nach Arassa erwischen«, sagte ich wahrheitsgemäß.