Die Magie des Abgrunds - Magali Volkmann - E-Book

Die Magie des Abgrunds E-Book

Magali Volkmann

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Beschreibung

Wer ein Verbrechen begeht, wird wiedergeboren: Dies ist eisernes Gesetz in Erydanne, der schwebenden Stadt im Abgrund. Elaria will mit Wiedergeborenen nichts zu tun haben, bis sie zufällig einen von ihnen rettet: Lorin, der gemeinsam mit seinem Freund Artana alles tut, um Erydanne für immer zu vernichten. Doch je tiefer sie sich in deren Welt verfängt, desto weniger scheint alles zusammenzupassen. Haben Lorin und Artana wirklich vor, die Stadt zu zerstören? Was hat die unsterbliche Königin Symea damit zu tun, die sie um jeden Preis tot sehen wollen? Während Elaria nach Antworten sucht, gerät sie jedoch selbst in Gefahr. Denn wer einem Wiedergeborenen beisteht, wird ebenfalls verflucht – und obendrein droht sie ihr Herz an einen von ihnen zu verlieren …

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Die Magie des Abgrunds

Magali Volkmann

Drachenmond Verlag

Copyright © 2021 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan R. Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Karte: Magali Volkmann

Umschlagdesign: Marie Graßhoff

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-949-4

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

1. Lorin

2. Elaria

3. Artana

4. Elaria

5. Asheni

6. Lorin

7. Elaria

8. Lorin

9. Asheni

10. Lorin

11. Elaria

12. Lorin

13. Artana

14. Asheni

15. Elaria

16. Artana

17. Lorin

18. Elaria

19. Asheni

20. Artana

21. Elaria

22. Asheni

23. Lorin

24. Elaria

25. Asheni

26. Artana

27. Asheni

28. Elaria

29. Lorin

30. Lorin

31. Elaria

Epilog

Danksagung

Prolog

Sterben

Es gab Dinge, an die man sich nie gewöhnte. Eines davon war das Sterben. Und auch dieses Mal warteten Lorin und Artana, während ihre Umgebung in stürmischem Glockengeläut unterging; warteten auf ihr Ende und alles, was danach kommen sollte.

»Glaubst du manchmal, dass wir träumen, Artie?«

Sie saßen am Treibholzsee, Rücken an Rücken. Unter ihnen kreisten Fische im Wasser, die kaum mehr waren als bleiche, geschuppte Gerippe, deren Körper schimmerten wie Kristall im Mondlicht. Erydanne lag niemals in wahrer Finsternis, sank selten wirklich in den Schlaf. Die Stadtwache würde sie bald finden. Vermutlich töten.

Lorin fürchtete den Tod schon lang nicht mehr.

Artana legte den Kopf zurück. Sein Gesicht war aschfahl; Blut rann an seinem Kinn hinab, und sein Atem rasselte wegen des Pfeils, der ihm aus dem Brustkorb ragte. Im Gegensatz zu Lorin konnte Artana noch eine Weile mit dieser Verletzung überleben … aber das machte diesen Umstand nicht angenehmer, im Gegenteil. Die Leute waren schnell dabei, die Messer zu ziehen, wenn sie Verbrecher auf der Straße sahen.

Denn wer Böses tat, wurde wiedergeboren.

»Träume? Was meinst du?«

»Sieh dich doch um.« Lorin lachte heiser. »Wir sitzen hier halb tot am Wasser und warten, dass es vorübergeht. Dass uns jemand erschießt oder sein Messer in den Rücken treibt. Demas Licht und Blut, warum ist es je so weit gekommen?«

Artana regte sich nicht. Schien nicht einmal wahrgenommen zu haben, dass Lorin ihm geantwortet hatte. Aber Lorin kannte sein Schweigen und seine Nachdenklichkeit, übte sich in Geduld, bis Artana das Wort ergriff.

»Wir sollten ihnen … dieses Vergnügen vorenthalten.«

»Ich ertränke dich, wenn du mich ertränkst«, sagte Lorin düster.

Artana lachte leise, doch dann stieß er ein schmerzvolles Zischen aus und beruhigte sich schnell wieder. Lorin lächelte, betrachtete jedoch weiterhin die Fische, spürte warmes Blut in sein Hemd sickern. Die Bastarde von der Stadtwache hatten ihm den halben Bauch aufgeschlitzt, als er und Artana vor ihnen geflohen waren. Es tat nicht so weh, wie er gedacht hatte. Aber er hatte Erfahrung mit solchen Wunden und wusste, dass sie ihn spätestens in ein paar Tagen töten würde.

»Ich denke nicht, dass wir träumen«, sagte Artana schließlich.

Lorin zog die Brauen hoch.

»Es ist ein Albtraum«, flüsterte Artana. »In jeder wachen Sekunde.«

»Sei nicht immer so optimistisch, Artie, das ist ja nicht zum Aushalten.« Doch Lorin konnte sich nicht zu einem Lächeln überwinden. Er brauchte es auch nicht – nicht mehr. Rufe und Schritte mischten sich in den Glockenklang, hastig, aufgeregt; dann, ganz plötzlich, traten Dutzende von Männern um sie herum ins Mondlicht. Sie trugen weiße Uniformen und goldene Masken über den Gesichtern, und auch die Pfeilspitzen, die auf ihre Köpfe gerichtet waren, schimmerten metallisch.

»Im Namen der Königin«, rief einer von ihnen, »ergebt euch oder sterbt!«

Sie kamen in wortloser Übereinkunft auf die Beine. Lorin ächzte unwillkürlich vor Schmerz, und Artana hustete Blut, ehe er den Pfeil in seinem Brustkorb packte und mit zitternden Fingern herauszog.

»Bereit?«, flüsterte Artana.

»Wenn du es bist«, sagte Lorin. Von hier fielen die Ufer des Treibholzsees ab; hoffentlich steil genug, um in Sicherheit zu gelangen, auf die eine oder andere Weise. Sie tauschten einen letzten Blick, ehe sie einander die Hände reichten und sich rücklings in die Fluten fallen ließen. Nur selten kam der Winter nach Erydanne, doch das Wasser war kalt, und um sie herum zogen die Fische ihre Bahnen durch die eisige Finsternis.

Komm gut ins nächste Leben, Artie, dachte Lorin, ehe er die Augen schloss und Atem holte.

Der Tod, überlegte Lorin, würde niemals sein bester Freund werden. Eisige Kälte fraß sich in seine Wunden, als er sank, und irgendwann ließen seine tauben Finger Artana los. Aber seine Lunge rebellierte, und sein Körper bäumte sich auf, als sie sich mit Wasser füllte. Das Gefäß, in dem er steckte, wollte leben.

Seine Brust brannte. Eine eigenartige Panik ergriff ihn, flaute wieder ab, als sein Blickfeld zu verschwimmen begann. Das Letzte, was Lorin wahrnahm, waren die Fische um ihn herum; glühende Flecken, knochenweiß, die allmählich in Finsternis versanken.

Dann stand seine Welt still. Lorin sah tausend fremde Gesichter an sich vorüberziehen, hörte tausend Stimmen; feine Lichtfäden trieben im Schwarz an ihm vorbei, schienen ihn willkommen zu heißen, zu umarmen. Einen Herzschlag lang wurde das Licht übermächtig. Er sah, was sich dahinter befand, spürte Ruhe und Wärme, ein überwältigendes Gefühl der Geborgenheit. Er wollte nicht loslassen, nie wieder. Er wollte nur …

Das Nächste, was er spürte, war fester Boden unter seinem Körper.

Lorin schnappte nach Luft. Wollte Wasser ausspucken, doch er war nicht mehr im Treibholzsee. Die Welt um ihn herum war dunkel, und er atmete den Geruch der Straße ein, als sei er niemals weg gewesen. Mondlicht flackerte durch das Geäst, als er benommen nach seinem Bauch tastete. Aber dort befand sich keine Wunde. Er fand nichts vor außer warmer, unverletzter Haut.

Einen Augenblick lang starrte er unschlüssig auf seine Hand, ehe er begriff. Gestorben. Wiedergeboren. Schon wieder.

Oh, Demas Licht und Blut.

»Artana?«, flüsterte er.

Seine Stimme war schwach. Er achtete nicht darauf, sondern kam zitternd auf die Beine und sah sich um. Um ihn herum ragten die Häuser Erydannes auf, bis in schwindelerregende Höhen über­einandergebaut, die Lichter des königlichen Palastes in der Ferne. Lorin wusste nicht, wie er hierhergekommen war, aber das war ihm auch gleichgültig. Jetzt musste er erst einmal Artana finden.

»Artie? Bist du hier?«

Ein Stechen flammte in seiner Brust auf, doch Lorin ignorierte es und begann zu gehen. Um ihn herum war es so dunkel, dass er kaum die Hand vor Augen sah, und Fäden aus schwarzem Qualm drängten sich um die Dächer. Ganz sanft flimmerte seine Umgebung. Als bestünde sie aus zwei Bildern, die sich leicht gegeneinander verschoben.

In der Finsternis stand eine junge Frau mit lockigem blondem Haar. Sie war einen Kopf kleiner als er, ihr Gesicht herzförmig, die Haut weiß wie Milch. Als sie ihn entdeckte, weiteten sich ihre Augen. Doch das war es nicht, was ihn verstörte … es war das Lächeln auf ihren kirschrot geschminkten Lippen, voll boshafter Vorfreude, voller Genuss.

»Hallo, Lorin«, sagte Symea, die Königin Erydannes, der Schrecken seiner Existenz, der letzte Funken Liebe in seiner wiedergeborenen Seele. »Ich habe so lang gewartet.«

1

Lorin

Tausend Farben des Abgrunds

Dreiundzwanzig Jahre später

Du bist so ruhig heute«, sagte Artana.

Regen prasselte auf Erydanne hinab. Es war das einzige Geräusch in der Stille, die über den nebelumwölkten Fluss gebettet lag. Artana stakte das Boot mit geübten Bewegungen durch das Wasser, während Lorin in eine Decke gehüllt dasaß. Natürlich hatte er Lunte gerochen. Darauf bestanden, dass Lorin sich ausruhte und er die Arbeit erledigte.

Lorin hasste und liebte ihn zugleich dafür.

Er blickte zu Artana auf. Wie üblich hatte er Glück gehabt mit seinem wiedergeborenen Körper; in diesem Leben war er groß geraten, mit fein geschnittenen Gesichtszügen und einem Bartschatten, der ihn kleidete wie andere Menschen ihre edelsten Gewänder. Das dunkle Haar hatte er zu einem Zopf gebunden, die Ärmel hochge­krempelt. Ein Bild von einem Mann, dachte Lorin. Zu schade, dass ihm die halbe Stadt für einen Groschen die Nase brechen würde.

»Falls es dir nicht aufgefallen ist, Artie«, sagte Lorin gedehnt, »die Königin ist immer noch am Leben und lässt keine Gelegenheit aus, uns zu belästigen. Wie soll mich das nicht ärgern?«

»Wenn du nur wütend wärst, würde ich mir weniger Gedanken um dich machen als um Erydanne«, sagte Artana nüchtern. »Das letzte Mal, als du so still warst, hast du das halbe Grubenviertel hochgejagt und dich gleich dazu.«

»Also bitte. Ich würde niemals für solches Chaos sorgen.«

Artana hob stumm die Brauen.

»Na schön. Vielleicht bin ich manchmal ein bisschen – hör auf, mich so anzusehen!« Lorin grinste, aber nur kurz. »Das ist jetzt unser dreizehntes Leben, Artie, und wir haben Symea immer noch nicht gestürzt. Es wird langsam frustrierend, findest du nicht?«

»Wem sagst du das?« Artana zog die Stange zurück, die er zum Staken benutzte, und einige Augenblicke lang glitten sie schweigend durch die Dunkelheit. »Trotzdem … so kenne ich dich gar nicht. Du lässt dich sonst nie von Dingen aufreiben. Du stehst einfach auf und gehst weiter, wenn dir irgendetwas zustößt.«

Lorin schnaubte, sagte jedoch nichts. Artana betrachtete ihn mit einem wissenden Blick, dessen Intensität durch seine beinahe silbrig grauen Augen nur noch verstärkt wurde.

»Du weißt doch, dass du mit mir darüber reden kannst.«

»Will ich aber nicht«, sagte Lorin verärgert.

Artana zog die Brauen hoch. Für einen langen Augenblick fühlte sich Lorin beinahe schuldig. Vielleicht sollte er ihm davon erzählen, dass er im Tod geträumt hatte; dass ihm die Königin selbst erschienen war, bereit, ihnen auch dieses Leben zur Qual zu machen. Doch Artana war erst kürzlich aus dem Gefängnis ausgebrochen und schlief allein schon deshalb schrecklich. Da war es wohl besser, ihn gar nicht mit solchen Albernheiten zu belasten.

Erydanne war eben kein Ort für Wiedergeborene.

Lorin kehrte seit ungefähr dreihundert Jahren wieder. Er hatte gelernt, jede Sekunde davon zu hassen; denn wer wiederkehrte, weil seine Seele zu verdorben war für den Trost des Jenseits, hatte es nicht gut in Erydanne. Er hatte aufgehört zu zählen, wie oft er im Gefängnis gelandet war, wie oft ihn die Bürger dieser Stadt mit Steinen beworfen hatten. Wer einen Verfluchten verletzte oder gar tötete, den erwartete keine Strafe. Schließlich waren sie allesamt Verbrecher, die es nicht besser verdient hatten.

Fast hätte Lorin darüber aufgelacht. Aber es wäre ein bitteres Lachen geworden, eines, das im Herzen wehtat, und deswegen ließ er es bleiben.

»Wir müssten gleich bei Varian sein«, wechselte er das Thema. »Glaubst du, dass er etwas weiß? Über die Waffe?«

Artana blickte über den Fluss hinweg. Das Wasser war kalt und schwarz, doch tief unter der Oberfläche flimmerten Kristalle in allen möglichen und unmöglichen Farben. Nachts konnte man den Abgrund besonders gut spüren, hieß es. Nachts kam er und holte seine Opfer.

»Natürlich weiß er etwas. Die Frage ist, ob er auch bereit ist, mit uns zu sprechen.«

Lorin schnaubte. »Wenn uns diese parfümierte Witzfigur wieder sagt, dass er nur ein einfacher Mann sei und keine Ahnung von solchen Dingen habe, bringe ich ihn um.«

»Du hättest meine volle Unterstützung dabei«, sagte Artana nüchtern. »Ich hoffe nur, dass wir uns nicht umsonst bis auf die Knochen haben durchnässen lassen.«

»Ich auch. Weißt du, wie leicht ich mich erkälte?«

»Ich bin sicher, dass sich keine Krankheit mit Verstand freiwillig in dir einnisten würde.« Artana schmunzelte. »Wir sind gleich da.«

Lorin hob den Kopf. Vor ihnen zeichnete sich eine pflanzen­überwachsene Brücke ab, auf der mehrere Gebäude standen. Wasserspuren zogen sich über die Fassaden und die verglasten Dachgiebel, für die Erydanne berühmt war. In der Ferne bewegten sich die Schatten von Häusern, so langsam, dass man es eigentlich kaum sehen konnte. Viele Teile Erydannes standen auf schwebenden Felsen, die lediglich durch wackelige Holzstege miteinander verbunden waren. Manchmal drifteten sie über den Himmel, bis sie auf die Stad­tmauern stießen, manchmal verkanteten sie sich jedoch auch mit anderen Gebäuden und verursachten dabei kleine Beben.

Lorin hatte im Lauf seiner Leben gesehen, wie ganze Stadt­viertel langsam, aber unaufhaltsam ihre Lage änderten. Die Viertel am Treibholzfluss hingegen standen auf festem Boden, fast wie ein Tal, das von sich ständig bewegenden Bergen umgeben war. Kaum dass sie den ersten Brückenpfeiler passierten, stakte Artana das Boot ans Ufer. Er ging zuerst an Land, elegant wie immer, während Lorin die Decke von seinem Körper zog und seinen Bogen in die Hand nahm.

Artana hob den Kopf. Einer seiner Unterarme war verbunden, unter dem Stoff drang jedoch ein diffuses violettes Glimmen hervor. Ein merkwürdiges Flackern zog sich durch die Luft. Für einen Augenblick schienen zwei Bilder dieser Welt vor Lorins Augen zu existieren, leicht gegeneinander verschoben, ehe sie abrupt zu einem verschmolzen.

Er blickte auf seine Hände. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert; auf den zweiten sah er, dass das Schimmern unter Artanas Bandagen kräftiger geworden war.

»Sind wir unsichtbar?«, raunte Lorin.

Artana nickte und machte mehrere Handzeichen. Wenn ich bitten darf?

Selbstverständlich, gestikulierte Lorin. Vor einigen Leben hatte eine Stadtwache Artana die Zunge herausgeschnitten, sodass er auf Zeichen­sprache angewiesen gewesen war. Inzwischen war dieser Schaden behoben, doch die Gesten noch immer nützlich, wenn er seine Fähigkeiten anwandte.

Sie entfernten sich vom Kanal und stiegen die Brücke hinauf. Lorin hörte Holz knarren, als sich ein loser Fensterladen über ihnen im Wind bewegte; presste unwillkürlich die Finger an seinen Bogen, als ihm etwas anderes auffiel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite gingen zwei Männer in weißen Uniformen vorbei, die mit goldenen Streifen verziert waren. Goldene Masken verdeckten ihre Gesichter, die ihnen ein verstörend gleiches Aussehen verliehen.

Meine Güte, gestikulierte er. Wieso sind hier so viele Wachen?

Artana zuckte mit den Schultern, aber sein Blick folgte der Patrouille, bis sie um eine Ecke bog. Gehen wir.

Trotzdem warteten sie vorsichtshalber noch einige Augenblicke, ehe sie sich in die entgegengesetzte Richtung davonstahlen. Hinauf zu einem mehrstöckigen weißen Gebäude, das auf der Mitte der Brücke stand und das eher wie ein zusammengequetschter Palast wirkte als wie ein gewöhnliches Haus. Lorin zog mehrere Dietriche aus dem Ärmel, während Artana seinen Verband löste. Die Haut darunter war durchzogen von feinen violetten Kristallen, die einander überlappten und ein weiches Licht abgaben. Binderglas. Nur wenigen Menschen in Erydanne wuchs es aus dem Körper, aber Lorin war froh, dass Artana zu ihnen gehörte. Ohne das Glas konnte er sie nicht unsichtbar werden lassen.

Artana hielt seinen Arm so hoch, dass das Licht des Kristallglases das Türschloss beschien, und Lorin machte sich an die Arbeit. Nach wenigen Augenblicken hörte er ein Klicken, ehe sich die Tür nach innen öffnete. Hoffen wir, dass das kein schlechtes Zeichen ist.

Lautlos traten sie ins Gebäude. Es war ein gewöhnliches Wohnhaus, wie es sie zu Hunderten in Erydanne gab, die Böden jedoch aus poliertem Marmor und die Wände frisch verputzt. Eine Treppe führte in die obere Etage. Lorin musterte sie, ehe er einen Blick mit Artana tauschte.

Irgendetwas stimmt nicht, sagte Artana.

Lorin runzelte die Stirn. Woran erkennst du das?

Es ist zu still. Ist er oben?

Wahrscheinlich sitzt er in seinem Bett wie eine alte Frau und bestickt Taschentücher, sagte Lorin.

Artanas Mundwinkel zuckte.

Geräuschlos stiegen sie ins Obergeschoss hinauf. Vor ihnen lag ein Gang, von dem mehrere Türen abzweigten. Die meisten davon waren abgeschlossen, doch eine von ihnen knarrte in einem leichten Windstoß. Lorin zog einen Pfeil aus seinem Köcher und legte ihn auf die Sehne, während Artana den Arm ausstreckte und die Tür mit äußerster Vorsicht aufschob.

Dahinter kam ein Arbeitszimmer zum Vorschein, dessen Wände größtenteils von verschiedenfarbigen Vorhängen verhüllt waren und dem Raum das Aussehen eines Zeltes verliehen. Ein Mann stand hinter dem Schreibtisch, hatte ihnen den Rücken zugewandt, betrachtete die schwebenden Häuser Erydannes durch die große Fensterfront. Er war mittelgroß, schlank, trotz seiner elegant geschnittenen Kleidung keine beeindruckende Erscheinung. Das dunkle Haar fiel ihm sanft auf die Schultern. Wie üblich sah es aus, als hätte er Stunden damit verbracht, es zu pflegen.

»Guten Abend, die Herren«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Ihr seid spät. Ich hatte schon gegen Mitternacht mit euch gerechnet.«

Das Flackern in Artanas Binderglas verging. Obwohl Lorin es nicht sehen konnte, wusste er, dass sie wieder sichtbar geworden waren; Artanas Glas leuchtete nur, wenn er seine Kraft verwendete.

»Was hat uns verraten?«

»Ich bitte euch. Erstens stört ihr mich früher oder später immer, zweitens habe ich euer hübsches kleines Boot von hier aus gesehen und drittens würde ich sogar wissen, ob ihr kommt, wenn ich blind und taub wäre.« Varian wandte sich um. Er sah nicht älter aus als fünfundzwanzig, aber trotz seines Lächelns zeichnete sich ein eigenartig harter Zug auf seinem schmalen, von feinen Narben gezeichneten Gesicht ab. »Was führt euch hierher?«

»Du weißt, was«, sagte Lorin düster. »Königin Symea. Wie üblich.«

»Wir glauben, einen Weg gefunden zu haben, um Erydanne von seiner unsterblichen Tyrannin zu befreien«, fügte Artana hinzu. »Angeblich gibt es eine besondere Klinge, um diese Aufgabe zu erfüllen.«

»Wir finden, dass sie sich hervorragend im Brustkorb unserer geliebten Herrscherin machen würde«, erklärte Lorin. »Da dachten wir, wir fragen einfach unseren guten Freund Varian, der die Nase immer in Angelegenheiten hat, die ihn nichts angehen.«

Varian wirkte milde belustigt. »Also wirklich. Woher sollte ein einfacher Mann wie ich darüber Bescheid wissen?«

Lorin verdrehte die Augen. Artana seufzte.

»Nun gut«, sagte Varian mit einem Lächeln, das Lorin überhaupt nicht gefiel. »Da wir so gute Freunde sind, will ich wenigstens zugeben, dass es so eine Waffe gibt. Wie habt ihr davon erfahren?«

»Religiöse Texte«, sagte Artana trocken. »Du solltest die Lichtverse wirklich einmal lesen, weißt du.«

»Ha«, sagte Lorin, »der war gut, Artie.«

Artana lächelte. Varians Augen funkelten, das einzige Zeichen seines wachsenden Ärgers. Lorin gönnte ihm ein wenig schlechte Laune; Varian war eine falsche Schlange, die nur über ihren eigenen Vorteil nachdachte, aber leider auch der einzige halbwegs sichere Informant in Erydanne.

»Nehmen wir an«, sagte Varian langsam, »ich wüsste, wo sich diese mysteriöse Waffe befindet. Wieso sollte ich euch das sagen? Königin Symea regiert seit dreihundert Jahren. Niemand kann sich Erydanne ohne sie vorstellen. Wenn ihr etwas zustößt, wird es Chaos geben.«

»Gut«, sagte Lorin düster.

Varian legte den Kopf zur Seite, ohne darauf einzugehen. »Ihr beide … ihr seid nach den Gesetzen dieser Stadt Verbrecher. Vogel­frei sogar. Ich könnte euch hier und jetzt ermorden und würde dafür wahrscheinlich eine Belohnung erhalten. Wie viel Schlechtes habt ihr in den letzten dreihundert Jahren getan? Wie oft gegen das Gesetz verstoßen?«

»Du weißt, dass wir keine Wahl haben«, sagte Lorin wütend.

Artana schloss kurz die Augen. »Wenn du uns nicht helfen willst, Varian, werden wir jetzt gehen. Wir können diese Waffe auch ohne dich finden, selbst wenn es tausend Jahre dauert.«

»Oh, das würde ich zu gern sehen«, sagte Varian trocken. In seinen Blick hatte sich jedoch ein düsteres Funkeln geschlichen. »Ich kann kein Chaos in dieser Stadt dulden. Nicht jetzt. Ich fürchte, dass ich euch nichts über diesen Gegenstand erzählen kann.«

Als er das sagte, lag mehr als Ärger auf seinem Gesicht; mehr noch als die Hinterhältigkeit, für die Lorin ihn kannte und hasste. Dann, ganz langsam, hob Varian eine Hand. Sein Mantel hatte einen hohen Kragen, der seinen Hals vollständig verbarg. Dennoch sah Lorin für einen Herzschlag ein rötliches Flackern durch den Stoff dringen.

Lorin blinzelte. Wieder schienen zwei Abbilder der Welt vor seinen Augen zu schimmern, die sich leicht gegeneinander verschoben … und als sie eins wurden, verschwanden die Stoffbahnen um sie herum. Wo sie eben noch den Blick auf die Wände verschleiert hatten, stand ein halbes Dutzend Männer, allesamt weiß gekleidet, die Gesichter von goldenen Masken bedeckt.

Großartig.

Die Stadtwachen zogen ihre Waffen. Lorin hob sofort seinen Bogen. Neben ihm drehte sich Artana so, dass sie Rücken an Rücken standen; er hörte, wie er seine beiden langen Messer zog. Lorins Blick wanderte zu Varian hinüber. Er hatte die Arme verschränkt. Sein Gesichtsausdruck war düster.

Dieser verlogene Mistkerl.

Lorin richtete die Pfeilspitze auf seine Brust und schoss. Varian keuchte erschrocken auf, doch Lorin sah aus dem Augenwinkel, dass der Pfeil nicht in seinem Brustkorb steckte. Er hatte das auch nicht erwartet; stattdessen drehte er sich um, tauschte einen Blick mit Artana, und in stiller Übereinkunft rannten sie davon. Sie eilten nach unten, schlitterten aus dem Gebäude. Es dauerte einige Augenblicke, bis er draußen auf dem Kopfsteinpflaster zum Stehen kam, und dann hörte er Artana fluchen.

Am Ende der Straße standen drei Männer in Weiß und Gold.

Lorin wirbelte herum und begann zu laufen. Er nahm Artanas Schritte hinter sich wahr, hörte, dass ihnen die Wachen etwas nachschrien. Er wusste, dass sie ihn einholen würden, dass sie nicht flink genug waren, um zu entkommen …

Artana überholte ihn und zerrte ihn um eine Ecke. Sein Atem ging schwer, doch er drückte sich in eine Nische in der Wand und zog Lorin dabei mit sich. Sein Binderglas glomm auf. Einen Herzschlag später polterten die Stadtwachen in die Gasse, liefen einige Schritte weit, ehe sie offenbar verwundert stehen blieben.

»So schnell können sie nicht gewesen sein«, murmelte einer von ihnen.

Lorin tauschte einen Blick mit Artana, versuchte seine raschen Atemzüge zu unterdrücken. Fast ein halbes Dutzend Männer sammelte sich in der Finsternis. Einer von ihnen trug eine Uniform, die sich von denen der anderen Wachen unterschied, mit leichter Lederrüstung über dem weißen Stoff. Er besaß eine ähnliche Statur wie Artana, doch sein Haar war nach hinten gelegt und hatte beinahe den gleichen goldenen Ton wie die Maske auf seinem Gesicht.

Artanas Finger gruben sich schmerzhaft in seine Schulter.

»Waren sie wahrscheinlich auch nicht«, sagte der blonde Mann. »Alle Wiedergeborenen wurden von Dema bestraft, aber einige wenige … gezeichnet. Seht in jede Ecke. Streckt die Arme aus und greift hinein.«

Die Stadtwachen tauschten Blicke untereinander.

»Hineingreifen?«

»Ja«, sagte der Mann, »ungefähr so.«

Damit streckte er die Finger in ihre Richtung aus und bekam um ein Haar Lorins Kragen zu packen. Er zuckte unwillkürlich zurück, stieß gegen Artana, der ein leises Zischen ausstieß.

Die Augen der Stadtwache funkelten.

Artana zuckte zusammen, ehe ihn der Mann beim Kragen packte. Im gleichen Augenblick zerbrach seine Bindung. Es verursachte kein wahrnehmbares Geräusch; trotzdem glaubte Lorin einen Herzschlag lang, einen weichen Luftzug zu hören, als sie plötzlich sichtbar wurden. Die Stadtwachen starrten sie an, als hätten sie zwei Nebelgeister gesehen, ehe einer von ihnen unsicher sein Messer auf sie richtete.

Großartig, dachte Lorin.

Artana stieß die Stadtwache von sich und begann zu laufen.

Lorin fluchte stumm. Hastete Artana nach, den Bogen noch in einer Hand; hörte, wie ihnen die Stadtwachen nachliefen, wie sie ihnen Dinge nachschrien, wie ihre Schritte über das nasse Pflaster polterten. Artana zog ihn um eine Ecke, und für einen absurden Augenblick fürchtete er zu stürzen – doch dann strauchelte Artana und fiel auf die Knie, und Lorin stieß mit ihm zusammen und ging ebenfalls zu Boden. Er spürte Blut an seinen Ellenbogen hinab­rinnen, wo er sich die Haut aufgeschürft hatte, aber Artanas Anblick schmerzte mehr als das. Er zitterte und keuchte vor Erschöpfung, und erst jetzt bemerkte Lorin, wie ausgemergelt sein Körper unter der dunklen Kleidung war.

»Artana …«

Artana erwiderte nichts. Hinter ihnen rauschte das Wasser des Treibholzflusses. Sie waren am Ende der Brücke zum Stehen gekommen, wo es nicht mehr weit in die Tiefe ging, und über ihnen kreuzten lose Felsen mit vereinzelt darauf wachsenden Gebäuden den Himmel.

Wäre es nicht zu schön, wenn einer dieser Brocken auf die Stadtwachen fallen würde?, dachte Lorin.

Im gleichen Augenblick hörte er ihre Schritte hinter sich. Lorin wandte sich zu ihnen um, legte einen Pfeil auf, während sie ihre Waffen zogen.

Und spürte einen heftigen Schlag in den Rücken.

Lorin keuchte auf. Greller Schmerz schoss durch seine Schulter. Er tastete mit der freien Hand nach hinten und stieß mit den Finger­kuppen an einen langen Pfeilschaft.

Nein …

Obwohl er wusste, dass es das Blut nur noch stärker aus der Wunde würde fließen lassen, zog er den Pfeil mit einem einzigen Ruck heraus. Dunkle Schleier zogen sich durch Lorins Blickfeld, doch es gelang ihm, sich aufrecht zu halten. Oh, tut das weh, dachte er benommen. Warum muss das so wehtun?

Dann zog ihn eine kalte Hand zurück. Lorin ließ unwillkürlich den Bogen fallen, spürte Artanas Herzschlag im Rücken, als er ihm sein Messer an die Kehle legte. Demas Licht und Blut, Artana, du wirst doch nicht …

»Kommt näher und ich töte ihn«, flüsterte Artana. »Danach kann ich mich ebenfalls umbringen, was macht das schon aus? In zwanzig Jahren sind wir wieder da. Gesünder und stärker als jetzt.«

Die Welt schien von einer Seite zur anderen zu kippen. Lorin versuchte sich Artana zu entwinden, doch Artana drückte ihn nur noch fester an sich. Das Messer an seiner Kehle zitterte. Plötzlich begriff er, was Artana vorhatte. Es gefiel ihm überhaupt nicht.

»Artana, nein!«

Artana machte mehrere Gesten mit der freien Hand. Lorin brauchte sie nicht zu lesen; er kannte Artana seit Jahrhunderten und wusste fast immer, was er dachte. Ich bin schwach. Du nicht. Du kannst fliehen, lass mich dich retten.

Du glaubst doch nicht, dass du damit durchkommst, Artie, du wirst nicht …

Dunkle Streifen zogen sich durch Lorins Blickfeld, ehe ihn schlagartig eisige Kälte erfasste.

Wo war die Wache, die Artana beim Hals gepackt hatte?

»Wir verhandeln nicht mit Wiedergeborenen«, sagte einer der Männer und hob seinen Bogen. Artana keuchte noch, bevor er schoss, und plötzlich glitt das Messer von Lorins Kehle und zeichnete eine brennende Linie auf seine Haut. Er drückte eine Hand auf seine Wunde, ohne zu spüren, was er tat. Blut befleckte seine Finger. Es fühlte sich entsetzlich warm an.

Nein … o nein …

Hinter ihm knickte Artana ein, und der Pfeil flog über ihn hinweg und verschwand. Lorin wirbelte gerade rechtzeitig herum, um den blonden Mann an seine Seite treten zu sehen. Stumm nahm er seine Maske ab. Er sah Artana so ähnlich, selbst nach all den Jahren. Er hätte sein helleres, glücklicheres Spiegelbild sein können.

Es tut mir leid, Artie. So leid.

Lorin stieg über das Brückengeländer und ließ sich in die Tiefe fallen.

2

Elaria

Schwimmen im Treibholzfluss

Sie frühstückten auf dem Dach, so wie immer.

Es war still unter dem Schirm, den Varian über ihren Tisch gespannt hatte. Die Sonne war gerade erst aufgegangen und die Stadt noch ganz verschlafen, und Elaria nagte an ihrem Brot, während sich der Nachtnebel in der aufsteigenden Wärme zerstreute. Vor ihr türmten sich Marmelade und frische Milch, Butter und Speck, Schalen voller erdländischer Beeren. In ganz Erydanne gab es niemanden, mit dem sie lieber frühstückte als mit Varian, was nicht zuletzt an dem hervorragenden Essen lag.

Aber jetzt saß er ihr gegenüber – und sah an ihr vorbei. Obwohl das Wetter mild war, trug Varian einen Mantel mit hohem Kragen, der einen Großteil seiner Haut bedeckte. Er ließ ihn nur noch schmaler wirken, die feinen Narben am Rand seines Gesichtes wie die Fäden eines Spinnennetzes. Varian hatte viele Narben. Elaria hatte ihn nie gefragt, woher.

»Varian?«

Er reagierte nicht. Einer Eingebung folgend nahm sie eine Weintraube von ihrem Teller und schnippte sie in seine Richtung. Varian zuckte zusammen, als ihn das Obst an der Schläfe traf.

Elaria grinste. »Schlecht geschlafen?«

»Oh … ja, in der Tat.« Varian schwieg kurz. »Ich habe bis spät in die Nacht an einem Auftrag gearbeitet. Unmengen von neuen Kleidergarnituren, und das auch noch in diesen grässlichen Schnitten, die seit zehn Jahren veraltet sind. Wenn du diesen ungehobelten Kretin von einem Kunden findest und für mich ohrfeigst, schenke ich dir einen Beutel Kupferknipser.«

Elaria musste lachen. »Ich denke darüber nach.«

»Sehr schön.« Varian schnaubte leise. »Weißt du, wie stillos diese Arbeit ist? Ich bin doch nicht irgendein Dorfschneider!«

Sie lächelte, obwohl sie wusste, wie ernst Varian diese Worte meinte. Elaria hatte ihn vor fünf Jahren kennengelernt, als er sie engagiert hatte, um seinen neu eröffneten Laden zu bewachen. Damals war sie sechzehn gewesen, ein Mädchen ohne Familie und mit einem Rapier in der Hand, das sie kaum zu gebrauchen wusste. Varian hingegen hatte viel Geld von seinen verstorbenen Eltern geerbt, sich in unzähligen Professionen ausprobiert. Sogar an der Universität von Erydanne war er gewesen, um nach Herzenslust zu studieren, bis er sich offenbar zu langweilen begonnen und ein Geschäft eröffnet hatte.

»Unmöglich, womit ich in diesem Handwerk konfrontiert werde«, schimpfte Varian weiter. »Es sei erdländische Mode, sagt er, aber als ich zum letzten Mal nachgesehen habe, waren sogar die Erdländer gut angezogen. Das ist schon ewig her, meine Eltern waren damals noch am Leben. Nicht dass sie mich beachtet hätten …«

»Wenn du meinst. Isst du das Brot noch?«

Varian schob den Brotkorb zu ihr hinüber, ohne seine Tirade zu unterbrechen. »… es war allerdings eine nette Möglichkeit, mich in den Grenzlanden umzusehen, es gibt so viele Ruinen aus der Zeit der Lichtritter dort. Wie auch immer. Wenn man wirklich so dort herumläuft, sollte man es wahrscheinlich niederbrennen, bevor sich diese Stillosigkeit noch weiter ausbreitet. Ich würde sogar die erste Fackel werfen. Kurz und schmerzlos.«

Elaria verkniff sich ein Seufzen. Varian interessierte sich sehr für die alten Geschichten, ließ keine Gelegenheit aus, eine alte Bibliothek oder eine Ruine irgendwo in Erydanne aufzusuchen. Tatsächlich wusste er einiges über die Lichtritter, die Kriege zwischen den einzelnen Stadtvierteln Erydannes, sogar über die Zeit, in der die schwebende Stadt noch ein Teil des Erdlandes gewesen war. Elaria hingegen hatte nicht viel für solche Dinge übrig. Stumm schnippte sie eine weitere Traube in seine Richtung, sah zu, wie sie ihn knapp unterhalb seines Auges traf.

Varian zuckte zusammen, sah sie finster an.

»Weißt du, dafür könntest du wiedergeboren werden.«

Elaria lachte. »Wegen einer Weintraube?«

»Weil du eine wichtige Persönlichkeit der Stadt angegriffen hast«, erklärte Varian, während Fäden aus Licht an ihm vorbeiglitten und sich wie Motten am kristallenen Dachgiebel festsetzten. »Ach herrje. Dieses Jahr sind die Nebelgeister wirklich eine Plage.«

Elaria beobachtete, wie Schleier um das Glas tanzten, es durchdrangen und schlagartig golden färbten. Nebelgeister waren Auswüchse des Abgrunds, hieß es – der seltsamen Gestaltlosigkeit, die alles in Erydanne durchzog. Meistens spürte man nicht, dass diese Macht vorhanden war. Aber sie war da, ließ Kristallglas im Treibholzfluss wachsen; brachte den Menschen Albträume, wenn sie die Augen schlossen, und die Nebelgeister in die Stadt.

Die Glasgiebel zogen diese Kreaturen an, nahmen sie in sich auf. So konnten sie keinen Schaden anrichten – denn wer häufig von den Nebelgeistern besucht wurde, wurde im besten Fall krank und im schlimmsten wiedergeboren.

»Ich weiß nicht, was du hast«, meinte Elaria, »sieht doch hübsch aus.«

»Ja, bis sie dich statt des Glases anzugreifen versuchen«, sagte Varian, ließ die Geister jedoch nicht aus den Augen. »Ich glaube, ich sollte langsam an die Arbeit gehen. Schaffst du es, nicht all mein teures Obst wegzuschnippen?«

»Ich werd’s versuchen.« Elaria stand auf. »Kann ich über das Dach verschwinden?«

»Meine Ziegel sind deine Ziegel«, sagte Varian augenzwinkernd.

Elaria grinste schief, ehe sie ging. Sie spürte, dass ihr Rapier zusammen mit ihrem geflochtenen Zopf gegen ihren Rücken schlug; wenn sie auf den Dächern der Stadt unterwegs war, trug sie es nur selten an der Hüfte. Sie hörte das vertraute Rauschen von Felsen, die aneinander entlangschabten, als einige Häuserketten in der Ferne ihren Weg kreuzten. Erydannes Gebäude stapelten sich in sieben Schichten, die wie bei einem Kuchen übereinander in die Höhe wuchsen. Nur die Stadtmauer hinderte sie daran, ins Nichts abzutreiben. Innerhalb der Grenzen jedoch schwebten ganze Straßenzüge hin und her, stießen gegeneinander oder verhakten sich sogar, um halbwegs stabile Viertel zu bilden.

Elaria begann über die Dächer zu gehen. Sie zog diesen Weg den verwinkelten Straßen vor, die gelegentlich ihren Verlauf änderten, wenn sich die Schichten bewegten. Vielleicht würde sie später noch höher klettern. Sie mochte es, sich an porösen Hauswänden nach oben zu ziehen, ihre Muskeln bis zur Erschöpfung auszureizen, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren.

Sie mochte es, allein und frei zu sein.

»… dreckige Wiedergeborene!«

Elaria blieb stehen. Nicht weit unter ihr zogen mehrere Stadtwachen entlang. Sie zerrten einen dunkelhaarigen Mann mit sich, der aussah, als hätte er eine üble Prügelei mitgemacht. Aus seinem Mundwinkel lief ein feines Rinnsal Blut. Er schien es nicht zu bemerken; seine halb geschlossenen Augen blickten ins Leere.

Ein Verfluchter.

Elaria hatte noch nie einen Wiedergeborenen gesehen. Sie hatte auch kein Bedürfnis danach; jeder wusste, dass sie zwar wie Menschen aussahen, sich unter dieser Hülle jedoch bestenfalls ein bös­artiger Dämon befand. Auch auf der Straße blieben Passanten stehen, verfolgten die Prozession schweigend, bildeten allmählich eine kleine Menge.

Dann flog etwas durch die Luft und traf den Mann an der Schulter.

Elaria zuckte zusammen. Als der Gegenstand den Verfluchten traf, zerplatzte er in einer Wolke aus orangefarbenem Fleisch. Da erst begriff sie, dass es ein verfaulter Apfel gewesen sein musste.

Und plötzlich war die Menge nicht mehr zu halten.

Aufruhr brach aus. Elaria beobachtete, wie die Menschen zu schreien begannen – schreckliche Worte, Verwünschungen, sogar Forderungen, den Verfluchten hinzurichten. Dann flog ein weiterer Apfel durch die Luft, gefolgt von verdorbenem Gemüse und Straßendreck. Der Wiedergeborene duckte sich nicht, bedeckte nicht einmal sein Gesicht – und auf einmal hielt einer der Erydanner einen Stein in den Händen und schleuderte ihn mit voller Kraft in seine Richtung.

Ein dumpfer Schlag. Elaria kniff unwillkürlich die Augen zusammen. Als sie zu blinzeln wagte, war der Kopf des Verfluchten bereits kraftlos zur Seite gefallen, und Blut floss aus einer Wunde an seiner Schläfe.

Elaria schluckte. Wahrscheinlich hatte dieser Mann getötet, gestohlen, betrogen. Die Leute würden sie bejubeln, wenn sie einen Dachziegel auf ihn warf, ob sie sich nun hier oben herumtreiben durfte oder nicht.

»Was machst du da, Mädchen?«

Elaria zuckte zusammen. Schräg über ihr verlief eine Brücke, auf der ein Mann von der Stadtwache stand und finster auf sie hinabstarrte.

»Sieh zu, dass du vom Dach kommst. Du hast hier nichts verloren!«

»Ich wollte nur den Wiedergeborenen sehen«, gab sie zurück, obwohl das nicht stimmte. »Es ist doch wirklich einer, oder?«

Er sah sie finster an. Elaria hob die Hände.

»Verstehe. Bin schon weg.«

Sie eilte davon, während der Aufruhr um den Verfluchten in einem Wirbel aus Geräuschen verschwamm. Kaum dass sich eine Möglichkeit zum Abstieg bot, kletterte sie an einer Wand hinab und lief über eine Brücke, hinunter zum Ufer des Treibholzflusses.

Der Treibholzfluss war eines der größten Mysterien in Erydanne. Irgendwo in der siebten und höchsten Schicht stürzte er über die Stadtmauer hinweg in die Stadt, bildete einen schäumenden Wasserfall, der sich in einem steinernen Becken sammelte und gemächlich durch ganz Erydanne zu fließen begann. In der vierten Schicht staute er sich sogar zu einem See, von dem unzählige Kanäle abzweigten, ehe er in die tiefer gelegenen Gegenden weiterfloss und letztendlich irgendwo in den niedrigsten Gefilden Erydannes versickerte. Niemand wusste, aus welcher Quelle sich dieser Fluss speiste, doch die meisten Gelehrten hielten ihn für einen der vielen seltsamen Auswüchse des Abgrunds. Schließlich wuchsen Kristalle im Bett des Treibholzflusses, die regelmäßig geerntet, zu Glasgiebeln verarbeitet oder ins Erdland verkauft wurden.

Elaria hatte allerdings kein sonderliches Interesse an solchen Dingen, solange sie genug zu trinken hatte. Eine Weile folgte sie dem Verlauf des Flusses schweigend, sah immer wieder vor sich, wie das Blut über die Stirn des Wiedergeborenen rann.

Es sollte sie nicht beschäftigen. Wahrscheinlich würde er ihr ebenfalls einen Stein an den Kopf werfen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte.

Im gleichen Augenblick stolperte sie über etwas Großes.

Elaria keuchte unwillkürlich auf. Stürzte nach vorn, streckte die Hände aus, um ihren Fall abzufedern, und rollte über den Boden hinweg. Schwer atmend drehte sie sich auf den Rücken, während Schmerz in ihrem Körper pulsierte … und spürte, wie alles in ihr stockte.

Am Flussufer lag ein bewusstloser Mann. Er mochte etwa achtzehn oder neunzehn sein, trug dunkle Kleidung und einen leeren Köcher auf dem Rücken. Nasse rote Haarsträhnen klebten an seinem schmalen Gesicht, ließen ihn eigenartig fahl aussehen. An seiner Handkante waren sieben Sterne eintätowiert, doch die obersten drei mit schwarzer Farbe ausgefüllt, sodass nur noch vier übrig blieben. Jeder Erydanner hatte so eine Markierung. Sie zeigte an, aus welcher der sieben Schichten er stammte, wobei zwei leere Sterne den geringsten Rang bedeuteten und sieben nur den großen Adelshäusern und der Königin selbst zufielen.

Erst auf den zweiten Blick sah sie den flachen Schnitt an seiner Kehle. Das Blut, das aus einer Verletzung in seiner Schulter sickerte. Elaria verfluchte sich stumm dafür, es nicht früher bemerkt zu haben, fasste sich ein Herz und kniete vor dem Fremden nieder.

Seine Augenlider flatterten.

»Hörst du mich?«, fragte Elaria. »Geht es dir gut?«

Er antwortete nicht. Stattdessen versuchte er sich aufzurichten, doch es gelang ihm erst, als Elaria ihm unter die Arme griff und ihm half, sich ans Flussufer zu setzen. Seine Kleidung war vollkommen durchnässt und eisig kalt. Demas Licht und Blut. Wie lange liegt er schon hier im Dreck?

»Wo ist mein Bogen?«, fragte er heiser.

Elaria sah sich um, aber um sie herum lag nichts verstreut.

»Bist du im Fluss getrieben? Vielleicht hast du ihn verloren, du hast auch keine Pfeile im Köcher.«

Er zog die Brauen hoch und griff nach hinten. In seinem Gesicht arbeitete es. Dann, zu ihrer Überraschung, löste er den Gurt seines Köchers und stieß ihn mit der Fußspitze ins Wasser, wo er wenig später abtrieb und versank.

Elaria runzelte die Stirn. »Was soll das?«

»Ach, nicht so wichtig.« Er blickte mit zusammengekniffenen Augen über den Fluss; sie hatten einen erstaunlich lebendigen hellgrünen Farbton. »Ich habe beim Schwimmen gar nicht bemerkt, dass ich etwas verloren habe. Verdammt.«

»Jemand hat dich verletzt. Komm mit, ich bringe dich zu einem Heiler.«

Er berührte seinen Hals, als wäre ihm gar nicht bewusst gewesen, dass sich dort eine Wunde befand. »Das wird schon wieder. Woher willst du überhaupt wissen, dass mich jemand angegriffen hat?«

»Es sieht aus, als hätte dir jemand in die Kehle geschnitten. Du bist wohl kaum aus Versehen in ein Messer gelaufen, oder?«

»Doch. Ich bin von Natur aus sehr ungeschickt.«

Elaria schnaubte. Sein Mundwinkel zuckte.

»Hör zu«, sagte er, »es ist wirklich nett, dass du nach mir gesehen hast, aber ich muss jetzt gehen. Ich komme auch allein zurecht, ich …«

Er unterbrach sich. Starrte an ihr vorbei. Elaria wandte den Kopf und bemerkte, dass er zu einer der unzähligen Brücken Erydannes hinaufsah, über die mehrere Stadtwachen spazierten.

»Du kommst allein zurecht, ja?«

Er warf ihr einen Seitenblick zu, ein schiefes Lächeln auf den Lippen; doch sein Blick glänzte vor Müdigkeit und Schwäche. »Versprichst du mir, dass du mich ohne irgendwelche Fragen heimgehen lässt, wenn ich dir eine heiße Schokolade ausgebe?«

Elaria zuckte mit den Schultern, obwohl sie nicht lang darüber nachdenken musste. Misstrauen war eine Sache. Heiße Schokolade eine andere.

»Na gut«, sagte sie. »Eins noch. Wie heißt du eigentlich?«

Er grinste schief.

»Sayos«, sagte er. »Nenn mich Sayos.«

3

Artana

Bruderliebe

Artana erwachte auf halbem Weg zu dem schrecklichsten Ort der Welt.

Er wusste nicht, wann er das Bewusstsein verloren hatte. Wahrscheinlich spielte das auch keine Rolle. Seine Füße schleiften über den Boden, und eine Seite seines Kopfes schmerzte so sehr, dass sein Auge dadurch tränte. Er spürte, dass getrocknetes Blut an seiner linken Gesichtshälfte klebte. Vermutlich konnte er froh sein, sich nicht daran zu erinnern, woher er diese Verletzung hatte.

Trotzdem riskierte er einen Blick. Er befand sich in einer Traube aus Stadtwachen, die sich offenbar bemühten, ihn nicht länger als absolut nötig anzusehen. Einige von ihnen trugen Uniformen, die zusätzlich zum üblichen Weiß und Gold mit leichter Lederrüstung ausgestattet waren. Fluchjäger. Männer und Frauen, die darauf spezialisiert waren, Wiedergeborene zu jagen.

»Wohin sollen wir ihn bringen?«

Artana merkte auf, doch er hielt seinen Körper so schlaff wie möglich. Wenn man bemerkte, dass er wach war, würde man ihn womöglich noch einmal bewusstlos schlagen.

»Ins Verhörzimmer«, erwiderte eine schmerzhaft vertraute Stimme. »Das ist kein gewöhnlicher Verfluchter. Wir haben Artana eingefangen, und das bedeutet …«

Eine kalte Hand griff nach seinem linken Unterarm, und Artana spürte voller Entsetzen, wie geübte Finger ein großes Stück Binderglas aus seinem Fleisch zogen. »… dass wir vorsichtig sein müssen. Wenn er aufwachen sollte, hört ihm nicht zu. Lorin würde schlimmer daherreden als er. Dennoch sind Artanas Lügen nicht weniger gefährlich.«

Würde, dachte Artana. War Lorin entkommen? Artana hoffte es von Herzen … auch wenn er schon jetzt den Trost vermisste, den ihm sein loses Mundwerk verschafft hätte. Nur weil er gefangen genommen worden war, hätte Lorin sich nicht die Gelegenheit nehmen lassen, die Fluchjäger nach Lust und Laune zu beleidigen.

Nur weil er zu sterben drohte, hätte er sein Lächeln nicht verloren.

Artana wagte es erneut, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Sie überquerten eine Zugbrücke, unter der sich gähnende Finsternis ausdehnte – Schluchten wie diese, die sich ohne Unterbrechung bis in die unterste Schicht erstreckten, gab es selbst in Erydanne nur selten. Wenig später erreichten sie einen Innenhof, um den schwarze Mauern in die Höhe ragten. Die meisten Fenster waren kaum größer als Schießscharten, und der Wind heulte durch sie hindurch. Giroha, das Gefängnis Erydannes. Nur wenige Orte in der Stadt waren dem Abgrund so nah wie diese Festung. Man hatte nicht einmal Glasgiebel auf die verwitterten Dächer gesetzt, um die Nebelgeister fernzuhalten.

Artana hatte in diesem Leben mehr Zeit an diesem fürchterlichen Ort verbracht, als ihm lieb war. Vor sieben Jahren, als der Körper seines momentanen Lebens kaum sechzehn gewesen war, hatten sie ihn schon einmal geschnappt. Lorin war zu diesem Zeitpunkt noch nicht wieder aufgetaucht. Wiedergeborene Seelen mussten warten, bis sich ihnen ein geeigneter Körper bot – deswegen war Lorin jünger als er, obwohl sie am gleichen Tag gestorben waren.

Artana war es erst vor ein paar Tagen gelungen, aus Giroha zu fliehen. Er konnte an einer Hand abzählen, wie oft er das in all seinen Leben geschafft hatte; die Wache nahm die Bewachung des Gefängnisses sehr ernst. Ich werde hier sterben, dachte er. Vielleicht sogar durch meine eigene Hand.

»Wiedergeborene«, rief ein Fluchjäger, der vor mehreren gefesselten Verfluchten stand. »Ausgeburten des Abgrunds! Sooft ihr uns auch heimsucht, die Königin wird euch mit der Macht der Lichtritter in die Dunkelheit zurückstoßen …«

Artana hörte das Gemurmel der Wachen, während sie gingen; konnte schmecken, wie der Wind der abgestandenen Luft Girohas wich. Sie betraten eine annähernd quadratische Halle, an deren Wänden mehrere Galerien entlangliefen. Stoffbahnen in Weiß und Gold hingen von den Geländern, und die Stadtwachen streiften an ihnen vorbei, gefesselte Wiedergeborene im Schlepptau. Gelegentlich entdeckte er steinerne Bildnisse von Lichtrittern, denen Flügel wuchsen und Blut von den Federn troff. Sie würden euch töten, schienen die Statuen zu sagen. Denn die Ritter stehen für das Gute, und ihr seid Verfluchte.

Artana verkniff sich ein Seufzen. Dachte an nichts mehr, während ihn die Wachen Treppen und Gänge hinaufzerrten, auch wenn sein Herz schwer klopfte und sein Körper sich kalt und steif anfühlte. Erst nach einer kleinen Ewigkeit hörte er Schlüssel klirren. Grobe Hände drückten ihn auf einen Stuhl und fesselten ihn, und dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Stille trat ein. Artana blinzelte. Er war allein in einem fensterlosen Raum, die Wände graugrün angelaufen unter der Schicht aus eisigem Wasser, die sich über alles in Giroha legte. Kerzen flackerten in dafür vorgesehenen Halterungen an der Wand, zwischen ihnen ein Bildnis von Dema, dem zweiköpfigen Gott. Eines seiner Gesichter war von Gold überzogen, das andere mit einer dicken roten Farbe getränkt, die wohl Blut darstellen sollte. Er gab und er nahm, sagten die Leute. Dema war Licht und Blut zugleich; der Trost des Jenseits, aber auch der Abgrund, der so viel Düsternis über Erydanne brachte.

Artana war nie besonders religiös gewesen, doch falls eine göttliche Macht im Abgrund lebte, spürte er sie in diesem Augenblick warm in den Resten seines Binderglases pochen. Wenn er nur …

Er konzentrierte sich. Einen Herzschlag lang hatte er zwei Bilder seiner Umgebung vor Augen, ehe sie wieder zu einem verschmolzen und gräuliche Konturen um ihn herum sichtbar wurden. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Banner mit einem Wappen, das er nicht kannte. Der Rest der Zelle hatte sich nicht verändert.

Der Abgrund. Artana hätte seine Macht nutzen können, um sich unsichtbar zu machen oder eine Illusion zu weben, denn die Magie des Abgrunds bestand zu großen Teilen aus der Kunst der Sinnes­täuschung. Wenn Artana unsichtbar wurde, beschwor er im Grunde nur ein Bild der Umgebung herauf, wie sie im Abgrund zu sehen war; ein Bild, das ihn nicht mehr enthielt. Doch wenn ihn nicht alles täuschte, würde ihm das jetzt nicht helfen.

Denn es gab einen Fluchjäger, der jeden seiner Tricks kannte.

Kälte kroch in seine Fingerspitzen. Artana löste die Bindung und spürte sofort, wie die Wärme dorthin zurückströmte. Die Energie für seine Magie kam aus seinem Körper. Wenn er zu viel davon verbrauchte, setzte sich Kälte in seinen Gliedmaßen fest.

Schritte. Artana hörte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete und wieder schloss. Für einen quälend langen Augenblick war es totenstill.

»Hallo, Artana.«

Es war keine Stimme, die Befehle geben konnte. Es war ein ruhiger, kühler Tonfall, wo andere Männer herrisch klangen, doch Artanas Herz begann zu rasen. Ich darf mich nicht fürchten. Ich darf nicht. Er wird es spüren, er spürt es immer, er wird mir wehtun …

»Du warst nicht lang weg.«

Dema sei mir gnädig.

»Vier Tage«, sagte Artana matt. »Es war zu wenig.«

»Es war zu viel«, widersprach Asheni und trat in sein Blickfeld. Er sah eher aus wie ein Lichtritter als wie ein fehlerhafter, sterblicher Mensch; das blonde Haar war gerade lang genug, damit er sich einen kleinen Zopf hatte binden können, sein blasses Gesicht vollkommen unbewegt. Trotzdem spürte Artana den Hass, der unter dieser eisig kühlen Oberfläche verborgen lag. Er schmerzte ihn mehr als jede andere Qual, die sich die Wache für ihre wiedergeborenen Gefangenen ausdachte.

Doch Asheni hatte ihm nichts zu sagen – noch nicht. Stattdessen packte er Artanas linken Arm, krempelte den Ärmel hoch, bis das Binderglas in seinem Fleisch nackt und schutzlos vor ihm lag. Artana versuchte vergeblich, sich ihm zu entwinden, während Asheni mit geübten Bewegungen ein Stück Glas nach dem anderen herauszog. Es tat Artana nicht weh. Dennoch bildeten sich winzige Punkte aus Blut, wo immer er einen Kristall gezogen hatte.

Als Asheni fertig war, ließ er das blutige Binderglas in eine Schale fallen und stellte sie auf einem Tisch außerhalb von Artanas Reichweite ab. Dann setzte er sich auf die Tischkante, das Gesicht noch immer regungslos.

»Es wird nachwachsen«, sagte Artana matt. »Das weißt du doch.«

Asheni verengte die Augen zu Schlitzen. »Vielleicht sollten wir sehen, ob es das auch tut, wenn wir dir den Arm abnehmen.«

»Das haben deine Kollegen schon vor drei Leben mit mir versucht. Es wächst dann einfach an einer anderen Stelle.« Artana seufzte. »Wie geht es dir? Du siehst müde aus.«

»Ich stelle hier die Fragen.«

Er hatte diese Antwort erwartet, aber es versetzte Artana dennoch einen Stich, sie zu hören. Ein kleiner Teil von ihm wunderte sich, dass seine Seele nicht stumpf geworden war von den Augenblicken, in denen er Asheni gegenübergestanden hatte … dass all das Narbengewebe in seinem Herzen noch immer aufreißen und bluten konnte.

»Tu nicht so, als würde es dich interessieren«, sagte Asheni mit einem leisen Schnauben. »Ich kenne deine Tricks. Wiedergeborene denken immer nur daran, ihre stinkende Haut vor dem Gesetz zu retten.«

»Warum sollte ich? Was habe ich schon zu fürchten, den Tod?« Artana biss sich auf die Unterlippe; es fiel ihm nicht leicht, stark zu sein, nicht allein an diesem schrecklichen Ort. »Asheni, du bist mein Bruder. Ich würde dich nie anlügen.«

»Wir sind nicht verwandt. Das waren wir nie.«

»Natürlich sind wir …«

»Wir sind nicht verwandt«, fuhr Asheni ihn an. »Wenn du mich schon anlügen musst, gib dir wenigstens Mühe damit. Ich habe keine Geschwister. Ich hatte niemals welche.«

»So wie du nie verflucht wurdest?«, sagte Artana. »Dein wievieltes Leben ist es? Das siebte oder achte? Es ist nicht schlimm, wieder­geboren zu sein, wir würden auf dich achtgeben, du hättest einen Platz bei uns …«

»Sei still.« Asheni wandte sich ab, offenbar konnte er es nicht länger ertragen, Artana ins Gesicht zu blicken. »Ich bin nicht wie du. Die Erydanner würden nicht einmal auf dich spucken, wenn du in Flammen stehen würdest – und du hast nichts anderes verdient! Du solltest hundert Leben in diesem Gefängnis verbringen. So wie Lorin, sobald wir ihn finden.«

Artana entspannte sich ein wenig. Also hatte sein Manöver funktioniert, auch wenn er wusste, dass Lorin ihn in diesem Augenblick wahrscheinlich dafür verfluchte. Trotzdem begann bleierne Sorge in seiner Magengrube zu wühlen. Pass auf dich auf, Lorin. Wenigstens dieses eine Mal.

Asheni verschränkte die Arme, den Blick immer noch von ihm abgewandt.

»Was wolltet ihr von diesem Schneider?«

Einen Weg, das alles zu beenden, dachte Artana. »Mit ihm sprechen. Wir hatten einige Fragen an ihn.«

Er musste Ashenis Gesichtsausdruck nicht sehen, um zu wissen, dass er ihm nicht glaubte. »Deswegen brauchtest du auch deine Messer und Lorin seinen Bogen. Weil ihr Fragen stellen wolltet.«

»Wir sind lieber vorbereitet.«

»Ihr hättet einen unschuldigen Menschen verletzen können. Oder sogar getötet.«

Ashenis Stimme troff vor Verachtung, aber Artana schüttelte unwillkürlich den Kopf. Sein Bruder kannte Varian offenbar schlecht, wenn er der Meinung war, dass sich dieser Mann ohne Weiteres in die Zange nehmen ließ … und mit ihm zu sprechen war stets Glücks­sache. Manchmal hatte er ihm und Lorin geholfen, manchmal verriet Varian sie an die Wache oder sogar an die Königin. Artana wusste nicht, welchen Plan er damit verfolgte oder ob er überhaupt einen hatte. Varian mochte ebenso gut vollkommen verrückt sein.

Asheni bedachte ihn mit einem eisigen Blick, sagte jedoch nichts. Stattdessen ging er an ihm vorbei und verschwand aus seinem Blickfeld. Artana wollte den Kopf drehen, um seine Bewegungen zu verfolgen, aber im gleichen Augenblick legte Asheni eine dunkle Binde über seine Augen und verschnürte sie hinter seinem Kopf.

»Asheni, das ist nicht …«

»Du wirst mir jetzt alles erzählen, was du über Lorin weißt«, sagte Asheni leise. »Du wirst mir sagen, wo er sich aufhält. Wenn du es nicht tust, wirst du die Konsequenzen zu spüren bekommen.«

Artana spürte ein Zittern tief in seinen Knochen.

»Wo ist Lorin?«

»Ich weiß es nicht«, flüsterte er.

»Lüg mich nicht an.«

»Asheni …«

Kurzes Schweigen. Artanas Herz hämmerte schwer gegen seine Rippen.

»Ich weiß es nicht«, wiederholte er. »Woher auch? Er konnte es mir unmöglich sagen, bevor ihr mich abgeführt habt – und selbst wenn ich es wüsste, würde ich es euch nicht verraten …«

»Doch. Das tun sie früher oder später alle.« Ashenis Stimme war kalt und tot. »Warum machst du es dir so schwer? Du könntest uns helfen, etwas Gutes für Erydanne tun. Dann wird dies vielleicht dein letztes Leben gewesen sein. Sehnen sich Wiedergeborene nicht danach, für immer zu sterben?«

Das weißt du selbst am besten, wollte Artana sagen. Aber Asheni hatte ihm noch nie zugehört, und er wusste, dass er es auch jetzt nicht tun würde. Ein Teil von ihm wollte beten, obwohl er wusste, dass es nichts nützte. Falls es Dema wirklich gab, hatte er sich niemals um Erydanne geschert. Er hatte sich niemals um die Wahrheit gekümmert.

»Offenbar brauchst du ein wenig Bedenkzeit«, sagte Asheni eisig.

Damit zog er seinen Kopf nach vorn. Artana wich zurück, wollte ihn abschütteln, aber Asheni packte nur noch fester zu und drückte etwas Warmes und Knetartiges in seine Ohren. Dann wurde es still um ihn herum. Artana hörte weder seinen Herzschlag noch seine eigene Stimme. Da war nur die Schwärze, kalt und stumm. Genau wie die vielen Male zuvor, als er in Giroha gefangen gewesen war, allein mit seinen Gedanken und dem langsam steigenden Wahn.

Er schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, die Substanz loszuwerden. Aber es funktionierte nicht, und er nahm kaum noch wahr, wie Asheni seine Arme fesselte und ihn durch die Dunkelheit führte. Hör mir zu, wollte er sagen, doch er wusste nicht, ob er es konnte. Dann stieß Asheni ihn auf ein Lager aus dünnen Decken. Artana kam sofort wieder auf die Beine, wirbelte herum, nur um gegen eine geschlossene Tür zu stoßen.

Nein, dachte er, nein, ich war doch von hier fortgekommen, lass mich gehen, lass mich gehen, Asheni …

Aber Asheni hörte nicht zu.

Und die Finsternis seiner Gefängniszelle mahlte lauernd mit den Kiefern.

4

Elaria

Misstrauen und Schokolade

Elaria gab es nicht gern zu, aber sie war bereits wieder hungrig, als sie mit Sayos durch die schiefen Straßen Erydannes streifte. Sonnenlicht flimmerte zwischen den Türmen hoch oben in der sechsten Schicht hindurch, wo die Häuser eher aus Glas bestanden als aus Stein. In Erydanne schichtete man Gebäude aufeinander, wo sie sich so stark verkeilt hatten, dass sie nicht mehr schweben konnten. Nicht selten passierten sie deshalb enge Brücken, die sich über tiefe Schluchten aus Häusern spannten.

Auf einigen davon standen Statuen der Königin, ausnahmslos aus weißem Stein und Gold geschaffen. Niemand dachte jemals daran, diese wertvollen Materialien zu stehlen. Darauf stand die Todesstrafe.

Als sie eines der königlichen Bildnisse passierten, verneigte Elaria sich kurz, wie es sich gehörte. Sayos ignorierte es jedoch voll­kommen, bewegte sich langsam, wie unter Schmerzen, daran vorbei. Sein Hemd war an einer Seite von halb geronnenem Blut getränkt. Demas Licht und Blut, was hat er eigentlich angestellt?

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Elaria.

Sayos antwortete erst nach einigen Augenblicken. »Ach. Ja. Ich bin bloß müde.«

»Müde«, wiederholte sie. Das konnte er seiner Großmutter erzählen! »Du siehst aus, als wärst du unter ein galoppierendes Pferd geraten.«

»Wollen wir Schokolade trinken gehen oder uns den ganzen Tag Fragen stellen?«

Er sagte das nicht unfreundlich, trotzdem vertiefte er ihr Misstrauen nur noch stärker. Sayos drehte sich um, als hätte er es bemerkt, bedachte sie mit einem eigenartig weichen Blick.

»Wie heißt du eigentlich?«

Sie zögerte. »Elaria.«

»Elaria«, wiederholte Sayos. »Es ist besser, wenn du über einige Dinge in dieser Stadt nichts weißt. Glaub mir.«

»Was soll das denn heißen?«

Er sah sie seltsam an. Dann, ohne ein weiteres Wort, drehte er sich um und ging weiter. Elaria rollte mit den Augen. Hätte ich keinen normalen Menschen finden können?

Den Rest des Weges verbrachten sie schweigend. Wenig später erreichten sie eine große Plattform über dem Fluss, auf der mehrere Gruppierungen aus Tischen und Stühlen aufgestellt waren. Elaria setzte sich in den Schatten eines Zierbaums, der aus verschieden­farbigen Glassplittern bestand, während Sayos sich in der Sonne niederließ und heiße Schokolade bestellte. Fast alle Nahrung für die Erydanner stammte aus dem Grenzland und war entsprechend teuer. In der Stadt selbst gab es kaum mehr als einige alte Obstbäume, deren Früchte nur von ihren Besitzern geerntet werden durften.

Elaria nippte an ihrem Becher. Das Herzviertel war einer der kleinsten, aber auch der reichsten Bezirke Erydannes. Hier waren die Fassaden ordentlich verputzt, die Kanäle sauber, und an vielen Fenstern hingen sogar Blumenkästen mit teurer Erde und Pflanzen aus dem Grenzland. Über den wenigen Straßen, die nicht andauernd ihren Verlauf änderten, schimmerten Stoffgirlanden in Rosa und Gold. Bald würde die Königin das dreihundertste Jahr ihrer Herrschaft feiern. Wie es wohl war, so lange am Leben zu sein?

Sayos hustete leise. Wo sein Haar trocknete, hatte es eine erstaunlich kräftige dunkelrote Farbe bekommen … doch er sah sie nicht an, sondern trank stumm, den Blick über den Fluss gerichtet. Worüber er wohl gerade nachdachte?

»Danke für die Schokolade«, sagte sie.

Seine Augen richtete er langsam auf sie, als hätte er vergessen, dass sie mit ihm an einem Tisch saß. Rastlos trommelte er mit seinen Fingern an dem Becher herum; sie waren blutig, hatten Blasen, als hätte er kürzlich erst angefangen, das Bogenschießen zu erlernen. Elaria hatte das Gefühl, noch nie jemanden mit mehr Verletzungen gesehen zu haben, doch er ließ sich nicht das Geringste anmerken … nur seine Haut war eigenartig fahl. Kein Wunder, wenn er die halbe Nacht bewusstlos im Fluss gelegen hatte.

»Keine Ursache«, sagte er. »Kann ich dich etwas fragen?«

Elaria nickte stumm.

»Hier im Bezirk waren gestern viele Stadtwachen. Ich … konnte sie hören. Hast du mitbekommen, was sie getan haben?«

»Sie haben einen Wiedergeborenen abgeführt. Ich habe es gesehen.«

Seine Augenbrauen zuckten. »Wirklich? Wie sah er aus?«

»Er hatte dunkles Haar und einen Bart«, sagte Elaria. »Die Leute haben ihn mit Dreck und Steinen beworfen.«

Sayos setzte seinen Becher ab. »Haben sie ihn verletzt?«

»Er hatte eine Platzwunde am Kopf. Mehr nicht.«

»Hm.«

Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagen würde, aber er tat es nicht. Stattdessen trank er wieder von seiner Schokolade, und in seinem Gesicht arbeitete es, während er schluckte.

Elaria legte den Kopf zur Seite. Sie brauchte nicht besonders gut aufzupassen, um zu wissen, dass Sayos irgendetwas mit der Angelegenheit zu tun hatte. Die Frage war, ob sie das etwas anging. Es war nicht gut, sich in das Leben anderer Leute einzumischen; hätte jemand um sie herumspioniert, hätte sie das niemals geduldet.

»Ich habe einen Freund, der hier im Herzviertel wohnt«, sagte sie. »Wenn du magst, können wir ihn fragen, ob er etwas gesehen hat.«

Darauf schwieg Sayos lange vor sich hin. Elaria blickte über den Treibholzfluss, während sie auf seine Antwort wartete. Nicht weit entfernt stieg feiner Nebel auf, wo er sich in die nächsttiefere Schicht ergoss, und zwei weitere Nebelfelder in der Ferne zeigten an, wo sich weitere Wasserfälle befanden.

Elaria fragte sich, wohin das Wasser verschwand, sobald es in der ersten Schicht versickert war. Unter dem Fundament Erydannes befand sich an einigen Stellen Gestein, hieß es, während andernorts die Kellergewölbe der Häuser in leere Luft übergingen. Darunter, viele Hundert Fuß tiefer, erstreckte sich das Erdland. Von Erydanne aus konnte man es lediglich durch das Grenzland erreichen, eine Ansammlung deutlich größerer Felsen, die fest miteinander verbunden waren und auf denen man sogar Felder anlegen konnte.

»Es ist immer gut, etwas über die Wache zu wissen«, sagte Sayos schließlich. »Vor allem wenn hier irgendwelche Wiedergeborenen herumlaufen, kann man nicht vorsichtig genug sein.«

Elaria nickte stumm. Verfluchte waren ihrer Ansicht nach weder besser noch schlechter als andere Verbrecher; trotzdem legte sie keinen Wert darauf, einen von ihnen näher kennenzulernen. Doch es gab zwei Wiedergeborene, die schlimmer waren als die anderen. Die ersten, die der Abgrund nach Erydanne geschickt hatte – die gemordet und gestohlen, ganze Viertel niedergebrannt hatten.

Jedes Kind in Erydanne kannte ihre Namen. Sie waren Monster in Menschenhülle, hieß es, eher Nebelgeister als lebendige Wesen. Unfähig, Gefühle zu empfinden, Gutes zu tun, nur bedacht auf die Zerstörung dieser Stadt.

Lorin und Artana.

Wiedergeboren zu werden war das schlimmste Schicksal, das einen Erydanner befallen konnte. Nach dem Tod, hieß es, verließ die Seele den sterblichen Körper und wurde von Demas leuchtendem Selbst ins Jenseits geführt. Doch der Gott dieser Stadt besaß zwei Gesichter, und auch wenn eines golden war, so troff das andere vor Blut. Hatte man ein ausreichend schweres Verbrechen begangen, endete man stattdessen im Abgrund – dem dunklen, grausamen Aspekt von Dema, den zu begreifen nicht in der Macht der Menschen lag.

Und aus dem Abgrund kamen die Wiedergeborenen.

Sie waren verdorbene Seelen, grausam durch die Qualen geworden, die sie dort hatten erdulden müssen. Das reine Böse, das sich aus der Nebelhölle gelöst und es geschafft hatte, in die Welt der Sterblichen zurückzukehren. Sie stahlen die Körper gewöhnlicher Erydanner, nisteten sich in ihnen ein wie eine besonders heimtückische Krankheit und ließen sie nicht mehr los. Elaria hatte als Kind Albträume davon gehabt, wie vielleicht eine verfluchte Seele zu ihr kommen würde, um Besitz von ihr zu ergreifen. Es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern. Die Glasgiebel hielten nur Nebelgeister fern.

Lorin und Artana jedoch waren selbst unter Verfluchten berüchtigt. Seit drei Jahrhunderten suchten sie die Stadt heim – seit dem Tag, an dem sie die damalige Königsfamilie ermordet hatten und nur knapp von Symea, der einzigen Überlebenden, besiegt und hingerichtet worden waren. Sie waren von Dema für ihr Verbrechen verflucht worden; Symea hingegen hatte das Geschenk der Unsterblichkeit erhalten, damit sie die Stadt gegen diese Kreaturen verteidigen konnte. Es war die wichtigste Mission der Stadtwache, sie zu beschützen. Denn wenn die Königin starb, hieß es, würde der Abgrund in die Stadt eindringen und alles Leben in Erydanne vernichten.

Doch Elaria wollte sich ihren freien Tag nicht von solchen Gedanken verderben lassen, und deswegen begleitete sie Sayos ohne ein weiteres Wort zu Varians Schneiderei hinunter. Er sprach kaum mit ihr, während sie gingen; dazu schien er zu müde, zu abgekämpft zu sein. Elaria machte das nichts aus. Menschen, die zu viel redeten, fand sie verdächtig.

»Was ist das eigentlich für ein Freund, zu dem du mich da bringst?«, fragte Sayos irgendwann.