Schatten des roten Throns - Magali Volkmann - E-Book

Schatten des roten Throns E-Book

Magali Volkmann

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Beschreibung

Ein einsamer Adliger, zerrissen von Hass. Ein Trickbetrüger, der zu hoch gegriffen hat. Der Flächenbrand, dem ihre Welt zum Opfer fällt. Nima und Tiatan sind beste Freunde, dabei könnten sie verschiedener nicht sein: Einer ist der Sohn des Königs, der andere ein Dieb. Doch eines Tages verrät Nima Tiatan – und bringt ihn damit ins Gefängnis. Erst Jahre später gelingt Tiatan die Flucht, doch die Welt ist eine andere. Denn aus Nima ist Amarion geworden, ein Rebellenführer, der seinen verhassten Vater stürzen will. Wütend und verletzt beschließt Tiatan, Amarion aufzuhalten. Aber seine Rebellion ist mächtig – und zwischen den beiden brodelt deutlich mehr als der vergangene Verrat …

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Seitenzahl: 477

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Schatten des roten Throns

Magali Volkmann

Copyright dieser Ausgabe © 2024 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

https://www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Stephan Bellem

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlagdesign & Farbschnitt: Magali Volkmann

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-966-1

Alle Rechte vorbehalten

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Zweiter Teil

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Dritter Teil

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

ANHANG

GLOSSAR

Danksagung

Drachenpost

Zwölf haben den Flammenden Schatten verraten,

aber der Dreizehnte nicht.

Der Dreizehnte folgte ihm ins Feuer,

als er hingerichtet wurde

Und hielt ihn, bis er schreiend starb.

Aus einem alten aliamischen Lied

Prolog

Der Mann aus dem See

Im Jahr 1293 nach der Ankunft des Schattenkönigs

Die Nacht war ruhig, bis ein Mann erschossen wurde.

Ein Knall. Ein Aufschrei. Es war so schnell vorbei, wie es angefangen hatte, ein Blitz in völliger Finsternis. Daia zuckte zusammen und schob sich tiefer in ihr Versteck. Sie saß unter den Resten einer Brücke, von der nur noch ein kleines Stück auf das Wasser hinausragte, die Pfeiler brüchig und geschwärzt.

Daia sah, wie der Körper des Fremden nach unten kippte. Hörte das dumpfe Platschen, als er versank. Angespannt saß sie da, die Finger um ihre Pistole geschlossen, und lauschte in die Dunkelheit. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit hörte sie, wie sich die Angreifer langsam entfernten.

Daias Herz raste. Ganz langsam löste sie ihre verkrampften Finger, stieß ihren angehaltenen Atem aus. Einen Augenblick lang war es ruhig.

Dann erklang ein heller Schrei.

»Nein!«

Daia zuckte zusammen. Über ihr. Es war genau über ihr.

»Du bekommst deine Miete«, flehte ein Mann. »Ich gebe dir das Geld morgen, in Ordnung?«

»Du hattest genug Zeit.« Eine zweite Stimme, barsch und rau. »Glaubst du, ich höre mir deine Ausreden noch länger an?«

»Tja, wenn du so fragst …«

Ein Klatschen. Ein schriller Aufschrei. Daia zuckte zusammen, als ein Mann über den Rand der Brücke fiel und sich in letzter Sekunde an der Kante festklammerte. Er schien sich nach oben ziehen zu wollen, aber dann bemerkte er Daia in ihrem Versteck. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Gesicht schweißüberströmt.

»Hilf mir«, flüsterte er.

Dann stürzte er rücklings in den See.

Daia erstarrte. Sie konnte hören, dass der Angreifer davonrannte, aber sie achtete kaum darauf. Sofort steckte sie die Pistole weg und lief ins kühle Wasser. Ihre Kleidung sog sich voll, zog sie nach unten. Daia schwamm trotzdem zu dem Fremden hinüber, der sich hilflos an einen der verbrannten Brückenpfeiler klammerte.

»Ich kann nicht schwimmen«, stieß er hervor. »Bitte.«

»Komm. Halt dich fest.«

Er wirkte dankbar, als er eine Hand nach ihr ausstreckte. Daia ergriff sie und zog ihn stumm ans Ufer. Kaum dass sie wieder an Land waren, schlang der Fremde die Arme um seinen Körper. Das konnte sie ihm nicht verübeln. Als der Wind in ihre durchnässte Kleidung fuhr, begann sie zu zittern.

»Danke«, sagte er. »Vielen Dank.«

»Keine Ursache.« Daia versuchte zu lächeln. »Mach das bloß nicht noch mal.«

Er nickte schlicht. Seine Haut war dunkel, sein Gesicht fuchshaft schmal, doch am auffälligsten waren seine strahlend blauen Augen. Über eines davon zog sich eine feine Narbe – von der Stirn bis hinab zur Wange.

»Ich gebe dir eine heiße Schokolade aus. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um mich anständig zu bedanken.« Er zwinkerte ihr zu. »Zufällig habe ich immer Geld versteckt, wo kein Schläger danach suchen würde.«

Daia wollte ablehnen, doch dann spürte sie, wie der Wind durch ihre nasse Kleidung fuhr. Wenn sie noch länger draußen blieb, holte sie sich wahrscheinlich eine Lungenentzündung. Oder Schlimmeres.

»Na gut«, sagte sie. »Wir haben sowieso schlechtes Wetter.«

Der Mann lächelte.

»Wer kann schon heißer Schokolade widerstehen, nicht wahr?«

* * *

Obwohl ihr Begleiter darauf bestand, dass sie ein Lokal aussuchen sollte, führte er sie alles andere als versehentlich in eine Kneipe in einem der besseren Viertel Cerataris. Drinnen war es warm, aber draußen blies der Wind den Regen so kräftig durch die Gassen, dass er fast waagerecht in der Luft lag. Es regnete selten in Ceratari. Doch wenn die Elemente tobten, dann stets mit großer Heftigkeit.

Daia schloss die Hände um ihre heiße Schokolade.

»Danke.«

»Kein Problem. Das war ich dir schuldig.« Er legte den Kopf zur Seite. »Mit wem habe ich eigentlich das Vergnügen?«

»Daia. Ich heiße Daia.«

»Angenehm«, sagte er munter. »Ich bin Tiatan.«

Daia nickte, sah ihn jedoch prüfend an. Tiatan sah aus, als wäre er ungefähr dreißig, war noch dazu sehr groß und schlank. Das nasse dunkelbraune Haar hatte er nach hinten gebürstet, und an der Linie seines Kinns zog sich ein feiner Bartschatten entlang.

Beides stand ihm absolut fantastisch.

»Was hast du eigentlich unter der Brücke gemacht?«, fragte er. »Ich will dir nicht erklären, was du zu tun hast, aber das ist nun wirklich kein guter Ort für junge Frauen.«

»Das könnte ich dich auch fragen«, meinte Daia. »Weshalb bist du denn da heruntergefallen?«

»Weil ich meine Miete nicht bezahlen konnte, warum sonst?«

Sie sah ihn finster an. Er grinste.

»Na gut«, räumte Tiatan ein, »es ist vielleicht ein bisschen komplizierter als das. Wie wäre es, wenn ich dir die Geschichte einfach erzähle? Es ist sowieso schlechtes Wetter, da draußen holt man sich den Tod.«

Da hatte er wohl recht. Daias Kleidung war durchnässt und hier gab es immerhin einen Kamin und warme Getränke. Warum sollte sie sich nicht aufwärmen und sich anhören, was Tiatan ihr zu erzählen hatte?

»Na schön«, sagte sie. »Aber wenn ich merke, dass du dummes Zeug schwatzt, werde ich sofort nach Hause gehen.«

»Damit kann ich leben«, sagte er augenzwinkernd.

Sie musste lachen. So ein Trottel!

»Ich weiß aber gar nicht recht, wo ich beginnen soll«, erklärte Tiatan. »Ich habe einiges erlebt, bevor ich von dieser Brücke fiel, weißt du? Das hier fing nicht erst gestern an. Es ist eine Geschichte, die sich weit in die Vergangenheit zieht.«

Er schien nachzudenken. »Vielleicht hat das alles begonnen, als noch ein König hier in Ceratari saß. Als sein Sohn kam, um ihm seinen Thron wegzunehmen und sein Leben gleich dazu. Es ist eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte. Eines des Blutes und des Todes. Und … eines der Liebe.«

Was?

»Ein König?«, sagte Daia stirnrunzelnd. »Ceratari hat seit Jahrzehnten keinen König mehr. Wie willst du da dabei gewesen sein? Und was hat das damit zu tun, dass du deine Miete nicht zahlen kannst?«

»Oh, einiges sogar«, sagte Tiatan geduldig. »Willst du schon nach Hause gehen, Daia?«

Sie zuckte zusammen.

»Was? Nein, ich …« Sie rieb sich die Stirn. »Gütige Funken. Du kannst doch kaum dreißig sein.«

»Fast«, sagte Tiatan gelassen. »Ich bin hundertzwanzig.«

Daia lief ein Schauer am Nacken hinab.

»Ich mache dir einen Vorschlag«, sagte Tiatan. »Du trinkst deine heiße Schokolade und ich werde einfach ein wenig erzählen. Ich verspreche dir, dass wir am Ende bei der Brücke landen werden. Durch all die Jahrzehnte, all die schrecklichen und schönen Dinge.«

Daia sah ihn prüfend an, aber sein Blick war erstaunlich klar.

»Wer bist du?«, flüsterte sie.

Tiatan legte den Kopf zur Seite.

»Sie nannten mich den Eisvogel von Ayabat«, sagte er. »Nach einer Insel, die es nicht mehr lange geben sollte, als ich auf die Welt gekommen bin.«

* * *

Mein Name ist Tiatan. Das kommt aus dem Aliamischen und wie fast alle Worte dieser Sprache hat auch dieses mehrere Bedeutungen. Je nachdem, wie man es ausspricht, kann es drei Dinge heißen – zu tauchen, zu fliegen oder zu täuschen. Ersteres kann so ein Eisvogel vorzüglich, und was die Täuschungen angeht … das war mein Beruf. Ich will behaupten, dass ich ihn gut machte, aber dennoch …

Das hier ist keine friedliche Geschichte. Es ist eine der Rebellion, eine des Blutes und der Asche. Schuld daran war allein ein Mann. Seinetwegen brannte meine Heimat, mehr als einmal.

Man kennt seinen Namen bis heute.

Er war ein Rebellenführer. Ein Schwertkämpfer, der nie ein Duell verlor, ein Gestaltwandler mit hundert verschiedenen Gesichtern. Wenn er lächelte, konnte man nicht anders, als sich davon anstecken zu lassen – aber wenn er wütend war, dann brannte die Welt.

Er war ein König in allem außer seinem Namen, doch er gab sich niemals einen Titel. Deswegen taten es die Menschen für ihn. Für sie war er das Verhängnis des Kontinents, der Schatten über unserem Land. Der Vater des Uhrwerks. Der Zinnhybrid.

Seine Freunde nannten ihn Amarion.

Aber ich allein habe ihn Nima nennen dürfen.

Erster Teil

Roter König, schwarzes Uhrwerk

Ceratari · Salacis

Kapitel1

Dinge, die in Besenschränken stecken

Im Jahr 1193 nach der Ankunft des Schattenkönigs

Der Abend, an dem ich Nima zum ersten Mal traf, begann ruhig. Aber das hielt nicht lange an. Es wurde ein wildes Fest, auf dem ich damals tanzte, gekleidet in einen teuren Anzug und einen Körper, der nicht mir gehörte.

Lichter flackerten im Ballsaal auf. Wie Glühwürmchen glänzten sie zwischen den Blättern, die sich um die Säulen der Halle rankten. Nach Wäldern roch es, nach süßlich schweren Blüten … und dazwischen streiften Gestalten umher, getragen von Musik. Hübsch anzusehen, wie die Gäste sich drehten, versunken in die Wunder dieser Nacht.

Schade nur, dass ich sie bis auf die Unterwäsche ausrauben wollte.

»Willkommen im Palast von Ceratari«, sagte ein Diener, als ich den Saal betrat. »Wen darf ich der Gesellschaft ankündigen?«

»Saede«, behauptete ich. »Saede von Feuerwacht.«

»Sehr wohl.« Er notierte es auf einer Liste, aber ich beobachtete das, ohne ins Schwitzen zu geraten. Im Augenblick sah ich aus wie ein Händler, den ich vor ein paar Tagen beim Kartenspiel ausgenommen hatte – mir drohte also nicht die geringste Gefahr auf meinem Raubzug.

»Im Namen des Königs wünsche ich Ihnen viel Freude auf dem Fest.«

»Oh, die werde ich haben«, versprach ich.

Damit wandte ich mich ab und ging. Musik spielte, als ich durch den Saal streifte, und um mich herum tanzten Gestalten in roter Seide. Sie waren größer als Menschen, hatten dunklere Haut. Einige von ihnen waren, wie ich wusste, schon viele hundert Jahre alt.

Denn damals herrschten die Aliamen.

Ich bin kein Mensch. Niemand auf dem Fest war das. Wir Aliamen, heißt es, wurden aus Mondlicht und Finsternis geschaffen – das macht uns stärker als sie, langlebiger, gibt uns schärfere Sinne. Aber das ist nicht das Interessante an uns. Aliamen sind Gestaltwandler, sehr gute sogar. Wie gesagt, ich war nicht in meinem eigenen Körper hier.

Und es gab einiges zu tun.

Mein Magen knurrte. Ich sah mich um, entdeckte ein Buffet und schlenderte hinüber, um mir ein Häppchen zu nehmen. Die Aliamen tanzten ungerührt weiter. Viele von ihnen hatten Schmuck in ihre hüftlangen Zöpfe geflochten oder trugen Blüten an den Uniformen, die ein rötliches Glimmen abgaben.

Während ich aß, löste sich eine Frau aus der Menge. Ich fasste sie ins Auge, als sie auf mich zukam. Auch sie war elegant gekleidet, und auf ihrem Gesicht lag ein schmales Lächeln.

»Darf ich um diesen Tanz bitten, gnädiger Herr?«

Ich grinste. »Habe ich denn eine andere Wahl, Melda?«

»Sei nicht albern. Natürlich nicht.«

Meldas Augen funkelten, als sie mich davonzog. Sofort begann sie, mich im Takt der Musik zu drehen, elegant wie immer. Ich blickte unauffällig an ihr hinab. An ihren Unterarmen schimmerten Reife aus Gold, und an ihrem Hals hing ein ebenfalls vergoldeter Rubinanhänger.

Melda war eine wichtige Frau hier im Palast. Offiziell war sie die Sekretärin des Königs, kümmerte sich jedoch um alle Probleme, die ihn plagten. Ich war nur froh, dass sie auf meiner Seite stand. Wenn Melda lächelte, machte das immer den Eindruck, als würde sie im gleichen Augenblick ein Messer in der Tasche aufklappen.

»Wie hast du mich eigentlich erkannt?«, fragte ich.

Melda rollte mit den Augen. »Du hast dir drei Garnelenhäppchen auf einmal in den Mund geschoben.«

»Oh. Erwischt.« Ich streckte eine Hand aus, wie um eine lose Feder an ihrer Schulter zu richten. »Wusstest du, dass hier ein Dieb herumlaufen soll, der die Damen unserer Gesellschaft bestiehlt? Schockierend. Ich hoffe, dass sich der König bald darum kümmert.«

»Ah, der berüchtigte Eisvogel von Ayabat«, sagte sie seufzend. »Benannt nach der Insel, auf der er geboren wurde. Eine Schande, von ihm bestohlen zu werden.«

»Ach was. Ich habe gehört, dieser Mann sei charmant, gutaussehend, gerissen wie eine Schlange.«

»Er tritt mir beim Tanzen dauernd auf die Füße.«

Wir grinsten einander an.

»Na gut«, lenkte ich ein. »Ich bin hier, um mir ein bisschen Geld zu verdienen, mehr nicht. Schnell und diskret. Niemand wird merken, dass ich überhaupt da war.«

»Ich bezweifle, dass du je in irgendetwas diskret warst, Tiatan.«

Ich hob die Hand. An meinen Fingern hing eine fein geschmiedete Goldkette mit einem Rubinanhänger. Melda blickte sie an, offenbar sprachlos, ehe sich ein amüsiertes Funkeln in ihre Augen schlich.

»Du bist unmöglich, weißt du das?«

»Danke«, sagte ich und hängte die Kette wieder um ihren Hals. »Ich weiß doch, dass du immer für einen Spaß zu haben bist.«

»Ja, aber was, wenn du eines Tages erwischt wirst?«, gab Melda zu bedenken. »Du stiehlst vom Adel, hier im Palast. Der König wird eine solche Beleidigung wohl kaum hinnehmen.«

»Dafür muss er mich erst einmal fangen«, sagte ich gelassen.

Melda schüttelte den Kopf.

»Tiatan«, sagte sie, »ich möchte den Tag nicht erleben, an dem ich dein Todesurteil für ihn abtippe.«

Ich setzte zu einer Antwort an, aber im gleichen Augenblick endete das Lied. Meldas Hände glitten aus meinen. Ich hatte erwartet, dass sie gleich wieder verschwinden würde wie alle anderen wichtigen Frauen im Palast auch, aber stattdessen blieb sie neben mir stehen.

»Du bleibst doch noch kurz hier, Tiatan?«

»Was? Natürlich, ich habe noch gar nicht genug Gold beisammen.«

Sie schüttelte den Kopf, deutete jedoch nach oben, statt mich für meine Frechheit zurechtzuweisen. Ich hob den Kopf. Unter der gläsernen Dachkuppel des Thronsaals hingen Trauben aus Blüten, groß wie Wassermelonen, zwischen denen winzige Lichtblitze zu sehen waren.

»Was ist das, Melda?«

»Unsere Unterhaltung«, sagte sie. »Sieh gut hin.«

Ich behielt die Blüten im Auge, bemerkte, wie sie sich leicht öffneten. Es sah aus, als ginge eine Welle durch das duftende Meer über uns, und auch die anderen Aliamen deuteten flüsternd nach oben.

Dann leuchteten die Blätter auf.

Ein Raunen ging durch die Menge. Rotes Licht breitete sich in den Pflanzen aus, kroch langsam unter der gesamten Kuppel entlang. Dann blühte es so kräftig auf, dass die Konturen der Blüten verschwanden. Ein Meer aus Rot erstreckte sich über uns, das sich leicht bewegte, tausend glühende Sterne in der Nacht.

»Beeindruckend«, flüsterte ich. »Was ist das?«

»Eine neue Art der Funkenbotanik«, sagte Melda. »Der König hat einige Frauen hierher eingeladen, die sich darauf verstehen. Blumen leuchten lassen kann jeder, aber diese hier sind so konzipiert, dass sie ihre Muster ändern.«

Ich nickte stumm.

Funkenbotanik.

Alles, was lebte, trug einen Funken in sich – eine Seele, wenn man so wollte. Es war das, was uns Kraft gab und in Bewegung hielt. Funkenbotanik war die Kunst, diese Energie zu manipulieren. So konnte man Pflanzen zum Beispiel unnatürlich groß werden lassen oder Farben geben, die sie in der Natur nicht hatten.

Ich wusste nicht genau, wie das funktionierte, aber dafür war ich auch nicht hier. Stattdessen blickte ich zu den anderen Aliamen, die wie gebannt nach oben starrten. Unauffällig drängte ich mich zwischen ihnen hindurch, pflückte Ketten von ihren Hälsen und schob sie mir in die Tasche.

Melda folgte mir durch die Menge, wohl weil sie das Ganze amüsierte, aber ich achtete nicht auf sie. Die Pflanzen über uns erloschen langsam. Kurz war es dunkel, doch dann begannen einzelne Blätter zu leuchten, schrieben rote Lettern ins Schwarz.

Unser König

Die Aliamen applaudierten. Ich blickte zu Melda hinüber.

»Beeindruckend. Ist das auch Teil des Programms?«

Melda starrte nach oben; ihre Lippen bebten.

»Nein«, sagte sie.

Ich runzelte die Stirn, aber sie sagte nichts mehr. Stumm folgte ich ihrem Blick und zog eine Braue hoch, als sich neue Worte bildeten.

Unser König schläft mit Ziegen

Einige Aliamen um mich herum zischten, aber ich musste mir das Lachen verkneifen. Was war das denn für ein Streich?

»Was für eine Schande …«

»… nicht er schon wieder, oder?«

Melda schüttelte den Kopf. Meine gute Laune verschwand, als mir ein jäher Gedanke kam. Das hier würde Aufruhr auslösen. Wer immer solche Worte über unseren König verbreitete, man würde ihn finden wollen.

Wenn man auf mich aufmerksam wurde, hatte ich ein Problem, oder?

»Oh, verdammt«, flüsterte ich, »ich muss los.«

Melda nickte. »Dann lauf.«

Ich stellte mit einem Seitenblick sicher, dass niemand auf mich achtete, wandte mich um und ging davon. Mein Herz klopfte aufgeregt, aber ich gab mir Mühe, so gelassen wie möglich auszusehen. Einige Gäste rannten an mir vorbei. Dann begann irgendwo im Palast eine Glocke zu läuten.

Ich zuckte zusammen.

Das war der Alarm.

Ich blickte mich eilig um. Vor mir lag ein hoher, dunkler Gang, in dem Büsten längst verstorbener Königinnen aufgestellt worden waren. Ich hastete an einigen davon vorbei, blickte in eine Nische und entdeckte einen Schrank.

Besser als nichts, oder?

Ich fasste mir ein Herz und öffnete die Schranktür. Mehrere Besen fielen mir entgegen, aber ich schob sie zurück und stieg hinein. Wenn ich jetzt aus dem Palast rannte wie ein kopfloses Huhn, würde man mich vielleicht fassen. Da war es besser, hier zu warten, bis sich alles wieder beruhigt hatte.

Also machte ich mich so klein wie möglich. Lauschte auf Geräusche, hörte manchmal Schritte, die lauter und wieder leiser wurden. Dann näherte sich jemand, ohne sich wieder zu entfernen. Ich neigte meinen Kopf leicht nach vorn. Durch den Türspalt sah ich einen Mann, der sich etwas unschlüssig auf dem Gang umsah.

Dann fasste er den Schrank ins Auge.

Mein Herz schlug mir plötzlich bis zum Hals. Gütige Wellen. Gütige Wellen, nein!

Er streckte beide Arme aus und zog die Türen auf.

Ich zuckte zusammen. Vor mir stand der Fremde, blickte genauso irritiert auf mich hinab wie ich zu ihm hinauf. Aliamen werden im Durchschnitt größer als Menschen, aber mein Gegenüber war selbst dafür riesig – ich schätzte ihn auf mindestens sieben Fuß.

Schritte auf dem Gang.

»… kann nicht weit gekommen sein!«

Der Mann sah kurz zur Seite, biss sich auf die Unterlippe.

Dann kletterte er zu mir in den Schrank.

»Was – tausend Monde und Wellen!« Ich zog die Beine an, doch er war so groß, dass es trotzdem unangenehm eng wurde. »Geh weg, hier ist besetzt.«

»Tut mir leid, aber das geht nicht.« Er zog die Türen zu. »Das ist der einzige Schrank in der Nähe.«

»Das ist … was?« Ich blinzelte ungläubig. »Du hast einen Plan mit allen Möbeln im Palast im Kopf? Wieso in aller Welt versteckst du dich überhaupt?«

»Das könnte ich dich auch fragen«, raunte er.

Ich verdrehte die Augen. »Du zuerst.«

Aber er antwortete nicht, sondern sah nach draußen. Ich betrachtete sein Gesicht, auf das ein schwacher Lichtstrahl fiel. Da erst dämmerte mir, was hier vor sich ging, und ich hätte mich für meine Dummheit schlagen können.

»Oh«, sagte ich. »Du warst das im Thronsaal?«

Er lächelte verschmitzt. Ich musste lachen.

»Warum schreibst du an die Säulen, dass unser König mit Ziegen …«

»Ich mag ihn nicht besonders«, flüsterte er. »Aber ich werde niemandem sagen, dass ich dich gesehen habe, in Ordnung?«

Ich musterte ihn genauer. Alle Aliamen haben blaue Augen, doch seine waren sehr klar, sehr wach. Er meinte das ernst. Ich spürte es.

»Na schön. Aber du musst mir unbedingt verraten, wie du das geschafft hast.«

»Ach, ich habe die Arbeit der zuständigen Funkenbotanikerin sabotiert«, sagte er. »Sie machen sich immer Pläne, welches Blatt wie manipuliert werden soll. Eigentlich sollten einige von ihnen die ganze Nacht leuchten, wie Sterne. Ich habe sie aber zu diesen Worten arrangiert.«

»Clever«, gab ich zu. »Wie kommst du denn an solche Pläne?«

Er antwortete nicht. Ich rutschte ein wenig in der Dunkelheit herum, hörte ein leises Rasseln. Eine der gestohlenen Ketten rutschte aus meiner Tasche. Ich hob sie auf und stopfte sie eilig zurück, doch sein Blick folgte meiner Bewegung.

»Du bist also ein Dieb?«

»Das ist so ein negatives Wort«, erklärte ich. »Ich will nur meine Miete bezahlen können.«

Sein Mundwinkel zuckte. Ich wusste nicht, ob er sich über mich amüsierte oder ob er die ganze absurde Situation lustig fand.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich ihn.

Er schien zu überlegen. »Nima. Du kannst mich Nima nennen.«

»Hm. Leicht zu merken.«

Nima lächelte schwach. Im gleichen Augenblick hörte die Glocke auf zu läuten. Ohne uns abzusprechen, öffneten wir die Türen des Schrankes. Inzwischen war es ruhig. Die Aliamen, die nach Nima gesucht hatten, mussten in anderen Teilen des Palastes sein.

Nima stieß den Atem aus. »Ich sollte gehen. Sie werden nicht lockerlassen, bis sie mich haben.«

»Werden sie dich nicht bestrafen?«, fragte ich erstaunt.

Er zuckte mit den Schultern. Ich wusste nicht recht, was ich dazu sagen sollte. Das kam selten vor.

»Danke«, sagte ich schließlich. »Das war die interessanteste Begegnung, die ich je in einem Schrank hatte.«

Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich wusste nicht, warum, aber etwas daran faszinierte mich. Vielleicht hatte ein Teil von mir schon damals geahnt, dass diese Begegnung mehr gewesen war als ein Zufall.

Sie war Schicksal.

Doch damals hatte ich das nicht gesehen.

»Bevor du gehst«, sagte er, »eine Sache noch. Wenn ich dich in der Stadt finden möchte, nach wem muss ich fragen?«

Ich dachte nach. Normalerweise hätte ich ihm einen falschen Namen gegeben, doch es wäre vielleicht ganz schön, ihn wiederzusehen. Da war etwas an Nima, was mich interessierte. Ein Geheimnis, dem ich zu gern auf den Grund gehen wollte.

»Tiatan«, sagte ich. »Frag nach Tiatan.«

Kapitel2

Ceratarianische Nächte

Der Rest des Ausflugs war Routine.

Der Palast war ruhig, die Feier vorüber. Die leuchtenden Blüten verloren allmählich ihren Glanz. Niemand störte mich, als ich durch ein Fenster nach draußen stieg, über eine Mauer davonlief und verschwand. Die Wachen starrten auf die Straße, die hierher führte, aber auf meinen Schleichweg achteten sie nicht.

Das war gut, denn ich hatte einigen Stoff zum Nachdenken.

Nima, der sich so seltsam verhalten hatte. Der lieber freche Worte an die Säulen schrieb, als mit den anderen Aliamen zu tanzen. Er war schüchtern gewesen, aber er interessierte mich. So etwas Ungehöriges hatte bestimmt noch niemand in der Geschichte der Aliamen getan.

Ob er wohl Lust hätte, irgendwann einmal zusammen mit mir Unruhe zu stiften? Schon jetzt konnte ich genau vor mir sehen, wie das ablaufen würde. Der Palast würde empört sein, Nima leise lachen und ich mir die Taschen mit Gold vollstopfen.

Das würde ein Spaß werden!

* * *

Der Wind stank nach Qualm und Brackwasser.

Ginge es darum, die schönste Stadt der Dreizehn Inseln zu küren, würde Ceratari wohl keinen Preis bekommen. Als ich den Palastbezirk verließ, fingen die Straßen zu stinken an, denn der Dreck unserer schönen Hauptstadt hatte in der Tageshitze genügend Zeit zum Gären gehabt. Vereinzelt ragten Fabrikschlote in den Himmel, die dunklen Qualm auswürgten. Ich stahl mich an ihnen vorbei, bis zu einem schmalen Haus unter vielen, im unteren Stockwerk eine Kneipe und im oberen mein Zuhause.

Ich drückte die Tür auf, ehe ich mir leicht in den Finger biss. Aliamen haben messerscharfe Zähne, sodass sofort ein Tropfen Blut hervortrat. Er war schwarz. Ein Erbe des Gottes, der uns geschaffen hatte – die Tausend Wellen, der Herr über Meere und Finsternis.

Ich leckte das Blut ab. Verharrte und wartete.

Dann begannen sich meine Knochen zu verschieben.

Aliamen brauchen Material eines Körpers, so wie Blut oder Haar, um ihn zu imitieren. Schlucken wir es herunter, nehmen wir seine Gestalt an – ist es unser eigenes, kehren wir in unsere natürliche Hülle zurück. Doch es tut nicht weh, die Haut zu wechseln, im Gegenteil.

Es kribbelte sogar ein wenig, als meine Muskeln ihre gewöhnliche Form annahmen.

Das Gefühl verebbte. Ich tastete mich kurz ab. Ein schmales Fuchsgesicht, schlanke Gliedmaßen. Kinnlanges Haar, das immer ein wenig verwuschelt aussah, so oft ich es auch kämmte.

Alles war, wie es sein sollte.

Ich öffnete die Tür, betrat ein Wohnzimmer, von dem man einen guten Teil der Stadt sehen konnte. Obwohl es so früh war, leuchteten goldene Blüten in dafür vorgesehenen Körben. Am Tisch stand eine Aliamin, die gerade die Überreste gebratener Eier auf einen Teller gleiten ließ. Sie hatte ein weicheres Gesicht als ich, aber das gleiche dunkelbraune Haar, das immer etwas durcheinander wirkte.

»Hallo, Tiatan«, sagte sie munter. »Ich habe gekocht.«

Das konnte man sehen. Bis jetzt hatte ich nie einen Kriegsschauplatz gesehen, aber ihr Essen kam meiner Vorstellung davon sehr nahe.

»Und? Hast du dir wehgetan?«

Sie stieß mir mit der Faust gegen den Arm, doch ihre Mundwinkel zuckten verdächtig. Ich musste lachen. Aralin konnte vielleicht nicht kochen, aber sie war meine ältere Schwester und ich hätte mit niemandem lieber zusammengewohnt als mit ihr.

»Wie war dein Streifzug? Hast du gute Beute gemacht?«

Ich zog eine der gestohlenen Ketten hervor. »Was hast du erwartet?«

»Gute Frage eigentlich. Du hast ja von der Besten gelernt.«

Wir grinsten einander an. Früher waren wir zusammen in den Palast gegangen, doch dann hatte Aralin begonnen, ihre eigenen Coups zu planen. Sie machte es anders als ich. Monatelang beobachtete sie Aliaminnen, auf deren Geld sie es abgesehen hatte, säuselte ihnen süße Worte ins Ohr – und schon war sie ganz nah an ihrem Opfer.

Bereit, es um alles zu erleichtern.

Wenn Aralin nicht in der Stimmung für größere Projekte war, räumte sie einfach ein Bankkonto leer. Häufiger jedoch geschah es, dass sie den gesamten Hausrat der feinen Damen verschwinden ließ, nur weil sie es konnte. Unser Ebenholztisch mit den Einlagen aus Perlmutt? Erbeutet aus dem Salon einer Aliamin, die sie in Cariale umgarnt hatte. Das große Bett in Aralins Schlafzimmer, mit Seidendecken, wie sie vermutlich sogar der König benutzte? Eine Lieferung an eine Hofdame, deren Namen ich gar nicht kannte und die meine Schwester schon im Hafen abgefangen hatte.

»Komm mit nach draußen«, sagte sie. »Hier ist es so stickig.«

Damit ergriff sie den Unfall, den sie da gekocht hatte, und kletterte auf das Dach hinaus. Ich folgte ihr mit einem zweiten Teller, setzte mich neben ihr auf die Ziegel. Einige Augenblicke lang aßen wir schweigend. Das Essen schmeckte abscheulich, aber ich schob es tapfer in mich hinein, weil Aralin sich darüber freuen würde.

»Wie war es im Palast?«

»Aufregend«, meinte ich. »Jemand hat an die Säulen im Festsaal geschrieben, dass es der König mit Ziegen treibt. Dann wurde der Alarm ausgelöst.«

Aralin runzelte die Stirn. »Für Majestätsbeleidigung?«

»Ja, wieso?«

»Hm«, machte sie. »Das ist doch kein Grund, einen Alarm auszulösen. Irgendetwas muss da noch vorgefallen sein.«

Ich runzelte die Stirn. Das stimmte. Warum hatte Nimas Aktion solchen Wirbel ausgelöst?

»Meinst du, ich sollte der Sache nachgehen?«

»Ich kann dich sowieso nicht davon abhalten«, sagte Aralin lakonisch. »Sei nur vorsichtig dabei, ja? Du bist manchmal so unbedacht, das ist nicht gut.«

Ich lächelte schuldbewusst, doch ich sagte nichts mehr. Stattdessen betrachtete ich das Panorama von Ceratari in all seiner schäbigen Pracht. Ceratari war die größte Stadt der Dreizehn Inseln und die einzige, die auf dem Gipfel eines Vulkans lag. Bahnschienen zogen sich wie Schnitte durch die schmutzigen Bezirke. Einige verschwanden unter der Erde und stießen auf der anderen Seite des Kraters wieder nach draußen, wo sie durch dichte Dschungel bis ans Meer führten.

Ceratari war eine schmutzige Stadt, eine, die stank. Aber hier lebten neun von zehn Aliamen, die meisten von ihnen unanständig reich.

Ideal für zwei Gauner wie uns.

»Ich werde später sehen, ob ich mein Diebesgut loswerden kann«, sagte ich zu Aralin. »Ich sollte es nicht länger behalten als nötig.«

»Guter Plan«, sagte Aralin.

»Ich habe nur gute Pläne.«

Sie rollte mit den Augen. »So wie damals, als du zwölf warst und gewettet hast, dass du ein Pfund Nacktschnecken essen kannst, ohne dich über die halbe Straße zu erbrechen?«

Ich verschränkte die Arme. »Ich habe immerhin die Hälfte geschafft, mach mir das erst mal nach, mein Fräulein.«

Aralin grinste breit. »Dir ist mindestens eine davon ins Hirn gekrochen und brütet seitdem Schnapsideen dort oben aus, oder?«

»O ja. Und jetzt denkt sie daran, wie schön es wäre, Einzelkind zu sein.«

Sie lachte.

»Such dir mehrere Verkäufer, ja?«, sagte Aralin. »Sicher ist sicher.«

»Ich bin doch kein Anfänger«, sagte ich, stand auf und ging. Dämmerlicht fiel mir in den Rücken, als ich in die Wohnung stieg, aber auf mein Gesicht stahl sich ein Lächeln. Es gab kein schöneres Leben als dieses hier. Man brauchte nichts hinzuzufügen oder wegzunehmen, damit es sich perfekt anfühlte.

Aliamen bestehlen, mit Aralin scherzen. Lachen, bis uns beiden der Bauch wehtat, während wir über all unseren Schätzen auf dem Dach saßen.

Was gab es Besseres auf der Welt?

* * *

Es dauerte nicht lange, bis ich mein Diebesgut loswurde. Überall in Ceratari gab es Ecken, in denen ehrbare Leute wie ich ihre Beute an windige Händler loswurden. Also hatte ich die Ketten in Stücke geschlagen, das Gold an einen von ihnen und die Edelsteine an einen anderen verkauft. Natürlich nicht in meinem Körper. Ich war ja nicht dumm.

Danach wechselte ich in meine natürliche Gestalt und machte mich auf den Heimweg. Ceratari war streng in aliamische und menschliche Bezirke geteilt, sodass mir die schäbigsten Häuser erspart blieben. Hier waren die meisten Gebäude aus Bäumen geschaffen worden, die man in die richtige Form hatte wachsen lassen. Blüten leuchteten über den Geschäften. Ähnlich wie im Palast bildeten sie Worte, doch hier wiesen sie nur darauf hin, was es gerade besonders günstig zu kaufen gab.

Ich blieb vor einem Schaufenster stehen. In der Scheibe sah ich Passanten, ihre Geldbeutel oft vergessen am Gürtel baumelnd. Leichte Beute, dachte ich, doch dann fiel mir eine Gestalt in der Menge auf.

Es war ein Mann, der die anderen Aliamen um mehr als einen Kopf überragte.

Mir blieb fast das Herz stehen. Ich wirbelte herum, als er auf einer Höhe mit mir war, und sah erschrocken zu ihm auf.

»Nima?«

Er wandte mir den Kopf zu, sah mich unsicher an. Eine Seite seines Gesichtes war geschwollen, als hätte ihn jemand geschlagen.

»Äh. Haben wir uns schon einmal gesehen?«

»Ja, gestern Nacht«, sagte ich trocken. »Im Schrank.«

Er blinzelte. »Tiatan?«

Er sah so irritiert aus, dass ich lachen musste. »In voller Pracht.«

Nima entspannte sich merklich, als ich das sagte. Ich hatte den Eindruck, dass ihm gerade ein gewaltiger Stein vom Herzen gefallen war.

»Ich wollte dich sehen«, gestand er. »Ich wusste nur nicht, wie du aussiehst, also … tja, ich habe gehofft, dass du mich zuerst findest.«

»Wunderschön, so sehe ich aus«, sagte ich. »Hast du Ärger wegen der Sache im Palast bekommen?«

»Ja«, gestand er, »aber mach dir keine Sorgen, ich bin an Ärger gewöhnt. Es ist trotzdem besser, wenn ich meinem Vater vorerst aus dem Weg gehe.«

»Deinem Vater?«

Nima rieb sich die geschwollene Wange, ohne zu antworten. Ich runzelte die Stirn. Wenn eine Aliamin ein Kind wollte, suchte sie sich einfach einen passenden Partner und verschwand, sobald sie schwanger war. Deshalb war es ungewöhnlich, dass Nima seinen Vater kannte – und ließ eine wichtige Frage offen.

Wo war seine Mutter?

»Ach, vergessen wir das«, sagte er. »Hör mal, ich habe mich gefragt, ob du mir vielleicht ein paar Tricks zeigen kannst? Wie man Leute bestiehlt, meine ich. Ich würde das auch gern können.«

Ich zog eine Braue hoch. »Was bist du denn für ein Adliger? Du schreibst solchen Schmutz über den König an die Wand und jetzt willst du seinen Hof ausrauben?«

»Ich bin gar kein so großer Edelmann, wie du denkst«, prahlte er. »Wenn die Palastküche brennt oder ein Kronleuchter von der Decke fällt, war immer ich es. Darauf kannst du wetten.«

Ich lachte laut auf. Nima kicherte.

»Es steht dir gut, wenn du Witze machst, weißt du das?« Ich rieb mir das Kinn. »Nun gut. Dann möge die Unterweisung beginnen. Erste Lektion: Such dir einen anderen Körper.«

Nima wirkte interessiert. »Warum?«

»Du fällst auf, weil du so groß bist«, erklärte ich. »Aber du willst nicht auffallen, in Ordnung? Ich zeige dir jetzt, wie man sich Material zur Verwandlung besorgt. Dann beschaffen wir passende Kleidung. Deine wird dir gleich zu weit sein.«

Nima nickte so würdevoll, als hätte er gerade ein Gesetz verabschiedet.

»Rauben wir die Aliamen aus«, sagte er feierlich.

Ich grinste breit.

* * *

Danach gab es nicht mehr viel zu sagen. Ich zeigte Nima einige einfache Tricks, ließ ihn eine andere Gestalt annehmen und beobachtete, wie er sich als Taschendieb anstellte. Für mich war das eine der leichtesten Übungen. Aralin hatte mir schon gezeigt, wie man Geld aus einer Tasche fischte, als ich noch klein gewesen war.

Aber für Nima war es eine Herausforderung.

Ich sah ihm deutlich an, dass er sein Bestes geben wollte. Es gelang ihm sogar, einen Beutel zu stehlen, doch beim zweiten war er bereits eine Spur zu langsam und den dritten bekam er gar nicht mehr in die Hand. Schließlich fasste er eine Frau ins Auge. Aber noch während er ihr nachschlich, wirbelte sie herum, ihr Gesicht zu einer wütenden Fratze verzogen.

»Diebe!«, brüllte sie. »Ich werde ausgeraubt!«

In diesem Augenblick beschloss ich, vorsichtshalber einzuschreiten.

Ich zerrte Nima eilig davon, während die Frau hinter uns tobte. Gemeinsam stürmten wir zum Vulkansee hinunter, dem größten Gewässer hier in Ceratari. An seinem Ufer gab es einige Felsen, zwischen denen man sich verstecken konnte. Ich zog Nima in ihren Schatten, wobei wir einige Krabben aufschreckten, und presste mich an den Stein.

Stille. Wir atmeten schwer. Hinter uns lief die Frau die Straße hinab, immer noch kreischend, doch sie schien uns aus den Augen verloren zu haben.

»Du meine Güte«, stieß Nima hervor. »Das war knapp.«

Ich drehte mich zu ihm um. Er hatte seine natürliche Gestalt angenommen, aber ich sah keine Wunde an ihm. Er musste sich auf die Zunge gebissen haben, bis Blut kam.

Clever.

»Das war schon ganz gut«, lobte ich ihn. »Wenn du besser wirst, passiert das nicht mehr so oft.«

»Dann will ich besser werden«, sagte Nima sehr ernst. »Bist du morgen auch wieder in der Stadt?«

»Ich warte am Vulkansee, wenn du magst«, sagte ich. »Genau hier.«

»Prima«, erwiderte er, doch dann erlosch das Leuchten in seinen Augen. »Ich muss jetzt zurück in den Palast, bevor jemand merkt, dass ich weg war. Aber es hat Spaß gemacht.«

»Mir auch«, sagte ich munter. »Wirklich.«

Nima lächelte schwach. Beinahe verschämt. Ich wunderte mich, wie sich ein so großer Mann so klein machen konnte, doch er stemmte sich bereits zwischen den Felsen hervor.

»Bis morgen«, sagte er und ging. Ich blickte ihm nach, bis er verschwunden war, ohne einen klaren Gedanken zu fassen. Es hatte Spaß gemacht, ja. Mehr, als ich je in meinem Leben gehabt hatte.

»Bis morgen, Nima«, flüsterte ich.

Und spürte ein Lächeln auf meinem Gesicht aufflackern.

Kapitel3

Freundschaft

Sechs Monate später

Diebe! Haltet die Diebe!«

Aufgeregtes Getrampel. Eine Handvoll Aliamen lief an unserem Versteck vorbei, ohne uns zu bemerken. Nima und ich knieten hinter der Tür eines leer stehenden Hauses, schwer atmend, so still wie möglich. Seit Monaten machten wir unsere Streifzüge.

Und ich genoss jeden einzelnen Augenblick.

»Tausend Monde und Wellen«, rief jemand. »Das darf doch nicht wahr sein. Hier in Ceratari!«

Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu lachen, suchte Nimas Blick. Er wirkte ein wenig besorgt, doch das Leuchten in seinen Augen verriet seine gute Laune.

Es wurde still. Ich spähte durch den Türspalt.

»Sie sind weg, Nima«, flüsterte ich.

Ich hörte, dass er sich hinter mir bewegte. Ihn zu verstecken war schwer, doch er nahm selten eine andere Gestalt an. Vermutlich tat es ihm weh. Unsere Körper können sich etwas größer oder kleiner machen, wenn wir sie verändern – aber wenn der Unterschied zu stark ist, kann es uns durchaus zerreißen.

»Gut gemacht«, sagte ich zu ihm. »Du wirst langsam ein richtiger Gauner.«

»Aber sie haben uns erwischt«, flüsterte er.

»Das macht es nur spannender.« Ich klopfte ihm auf die Schulter. »Es geht dir doch nicht darum, reich zu werden, oder? Es ist ein Abenteuer. Und dafür ist das, was du tun kannst, völlig in Ordnung.«

Nima rieb sich den Nacken, ohne mich anzusehen. Vermutlich war ihm das Lob peinlich, obwohl es keinen Grund dazu gab – für jemanden von seiner Statur war es eben nicht einfach, in einer Menge nach Geld zu fischen.

»Hast du etwas gestohlen, Tiatan?«

Ich öffnete eine Hand. Darin glitzerten mehrere Ketten, einige mit Perlen verziert, andere mit Edelsteinen. Nima pfiff anerkennend durch die Zähne. Ich grinste.

»Was hast du, Nima? Eine alte Brieftasche?«

»Ja«, sagte er und zog sie aus seiner Weste. »Was ist damit?«

Ich lachte. Nima grinste verschämt.

»Das hat Spaß gemacht«, sagte ich. »Macht es immer.«

»Das stimmt.« Sein Lächeln verblasste. »Im Palast ist es nicht so lustig.«

Ich nickte darüber, aber in meinem Magen lag plötzlich eine schwere, kalte Beklommenheit. Nima und ich trafen uns fast täglich, nicht nur zum Stehlen – oft machten wir die Stadt unsicher oder redeten einfach miteinander. Es dauerte nicht lange, bis ich mehr über ihn wusste, als er mir je erzählt hatte. Seine Lieblingsfarbe zum Beispiel oder sein Lieblingsessen. Die Tatsache, dass er mit der linken Hand schrieb, dass er keinen Alkohol trank – dass er für sein gestohlenes Geld gern ein Zimmer in der Stadt mietete, weil er nicht im Palast schlafen wollte.

Aber er redete nie über sein Leben im Palast. Nicht über seinen Vater oder seine Mutter. Und als ich ihn einmal fragte, warum er unbedingt ein Dieb sein wollte, schüttelte er den Kopf.

Ach, so wichtig ist das nicht, hatte er gesagt. Es ist nur etwas, das mich interessiert. Man bekommt im Palast fast gar nichts mit– die Aliamen dort leben an der Welt vorbei.

Nima räusperte sich.

»Hör mal, Tiatan«, sagte er. »Hast du heute Abend Zeit? Ich würde dir gern etwas erzählen.«

Ich merkte auf. Ob er mich jetzt endlich in seine Gedanken einweihen wollte?

»Warum nicht jetzt?«

»Es ist besser, wenn es niemand hört. Auch nicht zufällig.« Er lächelte, aber ich glaubte, ihm eine gewisse Nervosität anzumerken. »Wir könnten uns am Vulkansee treffen. Da sieht man die Leute schon von Weitem kommen.«

»Klingt gut«, sagte ich. »Worum geht es denn?«

»Das ist ein Geheimnis.«

Ich stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Seite. »Ach, komm schon. Nur ein kleiner Hinweis. Ich sterbe hier vor Neugier, in Ordnung?«

»Genieß den Nervenkitzel«, sagte Nima und feixte. »Wir sehen uns heute Abend.«

»Oh, du kleiner …«

Nima lachte, wandte sich jedoch ab und ging. Ich sah zu, wie ihm sein geflochtener Zopf mit jedem Schritt auf den Rücken schlug, spürte es warm in meiner Brust kribbeln. Er konnte schüchtern sein, ja, aber er war eine ehrliche Haut. Warum mochte man ihn im Palast bloß nicht?

Ich wandte mich ebenfalls zum Gehen. Obwohl das hier ein eher ärmliches Viertel war, hingen Trauben aus leuchtenden Blüten über meinem Kopf, die zu einem Tunnel verwachsen waren. Goldene Lichtflecken sammelten sich auf dem Pflaster. Sie verbargen den Blick auf die nahen Industriebezirke, wo Menschen in Fabriken arbeiteten, auf die Luftschiffe aus allen Ecken der Welt.

Schritte hinter mir. Ich wandte mich um und sah zu meiner Überraschung Aralin auf mich zukommen, einen verschnürten Beutel in der Hand. Du meine Güte. Wo kam sie denn auf einmal her?

»Hallo, Bruderherz«, sagte sie munter. »Was treibst du hier?«

»Das könnte ich dich auch fragen«, gab ich zurück.

»Ich habe Essen besorgt«, sagte Aralin. »Im Palast.«

Ich nickte. Aus irgendeinem Grund kam in letzter Zeit kaum Nahrung in den Vulkan – in Ceratari selbst konnte man nichts anbauen, sodass wir auf die anderen zwölf Inseln angewiesen waren. Deshalb war Essen im Moment sehr teuer. Besser, sich einfach beim Adel zu bedienen.

»Hier war so ein großer Aufruhr«, sagte sie, »da konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, einen Bogen durch die Stadt zu machen. Was war denn los? Du bist viel zu gut, um dich erwischen zu lassen.«

»Oh, nichts. Ich war mit Nima unterwegs.«

Aralin sah mich prüfend an. Ich runzelte die Stirn.

»Was ist los?«

»Ach, ich weiß nicht recht. Etwas an ihm kommt mir seltsam vor.« Aralin rieb sich das Kinn. »Es ist schön, wenn du Freunde findest, aber manchmal lässt du dich so leicht von den Dingen hinreißen. Man kann den Palastbewohnern nicht trauen. Sieh dir nur Melda an.«

»Melda?«, wiederholte ich.

»Ja, genau. Jetzt arbeitet sie als Sekretärin, aber vor ein paar Jahrzehnten hat sie noch für die damalige Königin gekämpft. Sie war unerbittlich. Jeder Feind des Königshauses hat ihre Klinge gefürchtet.« Aralin seufzte. »Wahrscheinlich würde sie mir den Kopf abschlagen, wenn ich etwas Schlechtes über den König sagen würde.«

Ich schnaubte leise. Vor Jahren einmal hatte Aralin versucht, Melda auszunehmen – doch Melda hatte sie dabei erwischt und seitdem waren sie Freunde. Warum durfte sie das machen, aber ich nicht?

»Also, ich vertraue ihm«, sagte ich. »Wenn Nima mir etwas Böses wollte, müsste er nur zum König gehen und ihm vom Eisvogel erzählen. Außerdem macht es Spaß, mit ihm zu stehlen. Er ist so unschuldig, weißt du?«

Aralin seufzte.

»Versprich mir einfach, dass du vorsichtig bist, ja? Ich habe ein schlechtes Gefühl bei ihm.«

»Versprochen«, sagte ich.

Sie nickte, ehe sie ging. Eine merkwürdige Kälte breitete sich in mir aus. Aralin hatte mich noch nie schlecht beraten, aber Nima war anders als die Palastaliamen. Er würde mir niemals etwas tun.

Ich blickte nach oben zu den leuchtenden Pflanzen, die sich schwach im Wind bewegten. Während ich hinsah, veränderten sie die Farbe, wurden langsam violett und schließlich blau.

Fast wie seine Augen, dachte ich, und eine angenehm kribbelnde Wärme breitete sich in mir aus.

* * *

An diesem Abend hielt ich es vor Neugier kaum aus. Es sah Nima zwar ähnlich, Geheimnisse zu haben, aber sie mit mir zu teilen war wirklich etwas Neues. Deswegen stürmte ich schon fast hinaus, als es Zeit wurde, an den See zu gehen. Aralin sah sich das belustigt an. Aber wenigstens zog sie mich nicht damit auf.

Nima saß bereits auf einer Mauer, als ich kam. Er sah direkt auf eine Brücke, die zu einer künstlichen Insel im See führte. Dort gab es ungefähr ein Dutzend Villen, die Günstlingen des Königs gehörten. Schwierig, sich dort einzuschleichen. Sie wurden schwer bewacht.

»He, Nima, willst du dir ein neues Haus kaufen?«, begrüßte ich ihn.

Er lachte. »Ich wohne doch schon im größten von Ceratari.«

Ich schwang mich neben ihm auf die Mauer. Nima rückte etwas zur Seite, damit ich genug Platz hatte. Bläuliches Mondlicht fing sich an seinen Augen, den Konturen seines Gesichtes. Ich betrachtete das etwas länger als nötig, ehe ich zwischen uns blickte und ein gekrümmtes Schwert entdeckte.

So eine Waffe hatte ich noch nie gesehen. Sie bestand aus einem Metall, das ich nicht kannte, die Klinge eigenartig glatt. Diffuse Flecken zeichneten sich darauf ab. Ich begriff erst nach einigen Augenblicken, dass es Spiegelungen der Umgebung waren.

»Ich wusste gar nicht, dass du ein Schwert hast.«

»Ja, ich zeige es auch nicht jedem«, sagte er. »Es hat meiner Mutter gehört. Früher soll es in einem Tempel auf Saykas ausgestellt worden sein, aber später kam es in den Besitz ihrer Familie.«

»Oh«, sagte ich. »Durch Diebstahl?«

»Das erkennst du sofort, oder?«

Wir grinsten einander an. Eine Weile blickten wir auf den Vulkansee, ohne dass einer von uns etwas sagte. Auf der anderen Seite, weit entfernt, sah ich kleine, bleiche Gestalten. Menschen. Ceratari war strikt in aliamische und menschliche Bezirke unterteilt, sodass ich eigentlich kaum welche zu Gesicht bekam.

Nima folgte meinem Blick. »Ist dir schon einmal aufgefallen, wie viele Menschen es hier gibt?«

Ich zog die Brauen hoch. Da konnte er mich ja genauso gut fragen, ob ich wusste, wie viele Schweine im Vulkankessel gehalten wurden.

»Nein, wieso?«

»Auf einen Aliamen kommen ungefähr zehn Menschen«, erklärte er. »Sie haben im Augenblick nichts zu essen, während der König seinem Adel jeden Abend ein Festmahl auftischt. Das ist nicht gerecht.«

Ich seufzte.

»Nimm es mir nicht übel, Nima«, sagte ich. »Aber wen interessieren Menschen?«

»Mich«, sagte er. »Ich weiß … Ich bin der Einzige, der das tut.«

Das kann er laut sagen, dachte ich. Menschen bewegten sich unbeholfener als wir, konnten weniger heben. Sie hatten auch nicht immer dunkles Haar. Manchmal war es rot, blond oder sogar weiß, ein absolut merkwürdiger Anblick.

»Was denkt denn dein Vater darüber?«

»Was soll er schon denken? Er hasst alles, was ich tue.« Nima ballte die Faust. »Er will immer, dass es nach seinem Kopf geht. Als ich klein war, hat er andauernd mit meiner Mutter gestritten. Manchmal sehe ich das noch vor mir. Wie er sie anschrie. Wie sie weinte.«

Ich schluckte. »Ist sie …«

»Tot.« Seine Stimme war flach. »Vor Jahren schon gestorben.«

»Das tut mir leid«, sagte ich ehrlich betroffen.

»Muss es nicht. Es ist in Ordnung. Ich denke eigentlich kaum noch daran.«

Ich sah ihm deutlich an, dass er log, beschloss jedoch, dieses Thema nicht weiter zu vertiefen. Eine Weile saßen wir da, schwiegen, während die Monde durch den Himmel zogen. Bläulich schimmerten sie über uns, einer etwas kleiner als der andere. Es war schön, mit Nima hier zu sitzen. Doch ich wusste, dass ich es ohne meine dummen Fragen mehr genossen hätte.

»Warum wolltest du mich sprechen, Nima?«

»Ich …« Nima atmete aus. »Ich brauche deine Hilfe. Du weißt ja, dass es im Augenblick nicht viel zu essen gibt, oder?«

Ich nickte stumm.

»Also. Der König hat beschlossen, dass Menschen das Land nur noch mit der Erlaubnis eines Aliamen verlassen dürfen. Das hat sie so wütend gemacht, dass sie Lieferungen nach Ceratari zurückhalten. Deshalb gibt es hier im Moment kaum Nahrung, wenn man nicht gerade im Palast wohnt, weißt du?«

»Huch. Was ist denn mit Halbmenschen, dürfen sie gehen oder nicht?«

Nimas Gesicht verhärtete sich. »Das ist nicht witzig.«

Ich biss mir auf die Lippe. Menschen und Aliamen können zwar Kinder miteinander bekommen, doch das geschieht so gut wie nie. Unser Blut verträgt sich nicht mit ihrem. Die meisten Halbmenschen sterben noch im Mutterleib – nur einer von tausend wird überhaupt erwachsen.

Rot und schwarz vermischen sich nicht, sagten die Leute.

Menschen und Aliamen gehörten nicht zusammen.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Wirklich. Also, worauf willst du hinaus?«

Nima entspannte sich ein wenig.

»Bald wird es ein neues Fest geben«, sagte er. »Der König will Lieferungen aus Argano kommen lassen, vorbei an der Nase unserer Bauern. Jeder Aliam ist eingeladen, so viel zu essen, wie er kann – einfach, um es den Menschen zu zeigen.«

Er schwieg kurz. »Und ich will dort einen Diebstahl begehen.«

Ich musste lächeln. »Woran dachtest du denn, ein Brötchen mit Käse?«

»Nein. Ich dachte an alles, was ich bekommen kann. Brot, Fleisch, Fisch, vielleicht sogar das Luftschiff.« Nima hob den Blick. »Ich möchte das ganze Fest stehlen, Tiatan. Und was ich stehle, das will ich den Menschen geben.«

Irgendetwas stimmt nicht, dachte ich. Ich hatte zwar eindeutig gehört, wie ihm Worte aus dem Mund kamen, doch er konnte sie beim besten Willen nicht ernst meinen. Vor ein paar Monaten hatte ich ihm beigebracht, wie man eine Brieftasche stahl, und jetzt wollte er ein Luftschiff verschwinden lassen!

»Warum interessierst du dich so für die Menschen?«, fragte ich.

Nima sah mich an, sein Blick erstaunlich klar. »Weil es niemand sonst tut.«

»Und wenn ich ablehne, wirst du es wahrscheinlich trotzdem tun.«

»Ja. Das werde ich.«

Ich sah ihn ungläubig an, aber er wirkte ungewöhnlich entschlossen. Mir wurde klar, dass ich ihn nicht davon abbringen konnte, doch das war ein Problem. Er hatte nicht genügend Erfahrung für einen solchen Coup. Ja, ich hatte sogar meine Zweifel daran, ob Aralin und ich ein Luftschiff hätten stehlen können.

Aber Nima brauchte mich. Ich musste es wenigstens versuchen.

»Na schön«, sagte ich. »Es wird allerdings nicht einfach werden.«

Er zog die Brauen hoch. »Du willst mir wirklich helfen?«

»Natürlich. Dafür sind wir doch Freunde.«

Nima öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Ich konnte sehen, dass seine Wangen ein wenig dunkler wurden.

»Ich hatte noch nie einen Freund«, sagte er leise.

Er hob den Blick nicht, als er das sagte. Mein Herz klopfte schwer. Ich dachte an den Tag, an dem er mit geschwollenem Gesicht bei mir aufgetaucht war. An das Geflüster im Thronsaal.

Sie mochten ihn nicht, oder? Sie mochten ihn wirklich nicht.

»Dann ist es mir eine Ehre, dein erster zu sein«, sagte ich munter. »So. Wann ist denn dieses ominöse Straßenfest?«

Er schluckte. Unmöglich zu sagen, was er dachte.

»Nächste Woche.«

»Oh. So schnell habe ich so ein großes Projekt noch nie realisiert.« Ich rieb mir das Kinn. »Aber wir können es schaffen. Ich weiß es.«

Nima nickte. Ich wusste, dass ich hätte besorgt sein sollen, aber ich verspürte nur ein Kribbeln im Magen. Was das für ein Coup werden würde. Der Eisvogel flatterte aus, um eine Ladung zu stehlen, wie er sie nie zuvor gestohlen hatte.

Wie seltsam. Wie aufregend.

»Danke«, flüsterte Nima schließlich.

Ich blickte zu ihm auf. Er lächelte schwach, und es war einer der seltenen Augenblicke, in denen dieses Lächeln auch seine Augen erreichte. Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Ich hörte die Aliamen nicht mehr, die im Vulkansee schwammen, kein Geräusch mehr aus der Stadt.

Nur ihn.

Nima wusste es nicht, doch er war nicht der Einzige, der nie zuvor einen Freund gehabt hatte. Das klingt seltsam, ich weiß. Aber ein Dieb zu sein hat einen großen Nachteil – es ist ein Geschäft, das auf Lügen errichtet ist.

Außer Aralin hatte ich mich nie jemandem anvertrauen können. Bisher hatte ich das auch nicht gewollt. Aber ehrlich zu Nima sein, etwas mit ihm stehlen zu können, machte mich glücklicher als jemals etwas zuvor.

Ich grinste breit.

»Lass uns Pläne schmieden, Nima«, sagte ich munter. »Dein Fest wird sich ja nicht von allein stehlen, oder?«

Kapitel4

Der größte Brotdiebstahl der Inseln

Als ich an diesem Morgen nach Hause kam, war ich so gut gelaunt wie schon lange nicht mehr. Nima wollte so viel über die Lieferung herausfinden, wie er konnte; mir blieb vorerst also nichts übrig, als auf seine Rückkehr zu warten. Auch meine Schwester war daheim und polierte eine große Axt, mit der ich sie noch nie gesehen hatte. Ich beschloss, ihr nichts von dem Coup zu erzählen. Sie würde mir nur sagen, dass es der blanke Wahnsinn war.

Und das wusste ich auch selbst.

»Willst du Holzfällerin werden?«, fragte ich.

Aralin hielt nicht einmal inne. »Ich bilde mich weiter, Tiatan. Mit dem Degen bin ich inzwischen ganz gut, ich brauche eine neue Waffe.«

Das sah ihr ähnlich. Aralin war flatterhaft – ihre Interessen wechselten manchmal so oft, dass ich manches gar nicht mitbekam.

»Hübsch«, sagte ich. »Nimmst du dieses Ding auch mit, wenn du auf einen Raubzug gehst?«

»Natürlich nicht, du Schwachkopf«, sagte Aralin. »Aber stell dir vor, dass ich eine Aliamin treffe, die ganz dringend nach einer Leibwächterin sucht. Ich könnte sie mit meiner Axt beeindrucken …«

»Und hinter ihrem Rücken ihre Juwelen einstreichen«, sagte ich.

Aralin lachte.

»So hatte ich mir das vorgestellt, ja. Was hat Nima dir eigentlich Aufregendes erzählt? Du bist ja fast ohne Schuhe losgelaufen.«

»Ach, so wild war es gar nicht«, sagte ich. »Ich wollte ihn nur sehen.«

Darauf tat Aralin etwas Seltsames. Sie sah mich so prüfend an, dass es fast unangenehm wurde, ein merkwürdiges Funkeln in den Augen. Ich räusperte mich. Was war denn mit ihr los?

»Du wolltest ihn sehen?«

»Ja«, sagte ich. »Wir sind Freunde, Aralin, schon vergessen?«

»Hm. Wenn du meinst.« Aralin wandte sich wieder ihrer Axt zu, musterte mich dabei jedoch mit einem merkwürdig wissenden Blick. »Pass nur gut auf dich auf, ja?«

Ihre Antwort versetzte mir einen Stich. Plötzlich fühlte ich mich schmutzig, weil ich ihr nicht von Nimas Coup erzählte. Das ist leichtsinnig, hätte sie bestimmt gesagt, und das stimmte. Was, wenn etwas schiefgeht? Wenn dir etwas zustößt?

Doch wenn es uns gelingen sollte, das Luftschiff zu stehlen …

Es wäre eine Überraschung, über die sie sich freuen würde. Eine, die wir zusammen feiern konnten. Ob Aralin mir erlauben würde, Nima zu uns nach Hause einzuladen?

»Das mache ich«, versprach ich. »Immer.«

* * *

Danach ging alles ganz schnell. Nach ein paar Tagen trafen wir uns in einem Café, das so weit wie möglich vom Palast entfernt lag. Getränke wurden mit einer goldenen Maschine gemacht, die manchmal Dampf ausstieß, sodass kaum jemand Augen für Nima und mich hatte.

Das war auch gut so, denn er war mit einer dicken Mappe unter dem Arm hereingekommen. Schon als ich sie entgegennahm, bemerkte ich, wie viele lose Blätter darin steckten.

Das war vielversprechend.

»Das ist alles, was ich finden konnte«, sagte er. »Ich hoffe, dass es reicht.«

Ich blätterte die Sammlung neugierig durch. Abschriften von Flugplänen, Briefe des Königs, sogar eine Liste mit der zu liefernden Nahrung. Ich hatte keine Ahnung, wie Nima das geschafft hatte. Aber das war nicht nur ausreichend.

Das war fantastisch.

»Nima«, sagte ich, »das ist großartige Arbeit.«

»Ach, so schwer war es gar nicht, die Unterlagen zu stehlen«, erwiderte er etwas zögerlich. »Ich hatte ja einen guten Lehrer.«

Ich musste lächeln. »Hör mal, es würde dir gut stehen, wenn du ein bisschen selbstbewusster wärst. Du musst ja kein Draufgänger werden, aber du bist viel zu groß, um dich dauernd zu verstecken.«

»Ich verstecke mich nicht«, widersprach er. »Ich will bloß nicht, dass du schlecht von mir denkst.«

»Wen interessiert denn, was ich denke?«, gab ich zurück. »Tu, was du willst, Nima. Amüsier dich. Mach dir diese Welt untertan.«

Er schien sich ein wenig aufzurichten.

»Ja, das mache ich«, sagte er etwas entschlossener. »Aber zuerst das Luftschiff. Die Nahrungsmittel.«

»Überlass das nur mir«, sagte ich. »Sag mir, wo du sie haben willst, und sie werden dort sein.«

Nima blätterte in der Mappe und zog einen Stadtplan von Ceratari daraus hervor. Ich beugte mich vor. Die Stadt war ein Durcheinander aus Bezirken, Bahnhöfen und den Kanälen, die vom Vulkansee abzweigten. Nur der Palast stach aus dem Ganzen heraus. Er lag etwas abseits im Grünen, damit Cerataris Gestank die feinen Nasen dort nicht störte.

»Übermorgen wird das Schiff hier eintreffen. Es kommt aus Argano, daran kannst du es erkennen.« Nima legte einen Finger auf die Karte. »Dort muss ich es haben. Kannst du das einrichten?«

»Hm. Knapper Zeitplan. Nicht dass ich das nicht schaffen würde.«

»Ich habe nichts anderes vom großen Eisvogel erwartet«, sagte Nima sehr ernst.

Einen Herzschlag lang konnte ich nicht anders, als ihn verdutzt anzustarren, ehe ich zu lachen anfing. Nimas Mundwinkel zuckte, doch dann stimmte er in das Lachen ein. Er sah gut aus, wenn er so ausgelassen war. Er sollte wirklich an seinem Selbstvertrauen arbeiten.

»Während du das Essen stiehlst«, sagte Nima, »werde ich sehen, dass ich ein paar Menschen finden kann. Es wäre schade, wenn wir den Leuten Brot geben wollen und niemand auftaucht.«

»Wenn sie merken, dass es umsonst ist, kommen sie schon von allein. Aber wie willst du die Menschen überzeugen, dir zuzuhören?«

Nima grinste.

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich habe einen Plan.«

* * *

Ich hatte noch nie ein Luftschiff ausgeräumt. Das war jedoch nicht schlimm, denn Nima war nicht der Einzige, der Pläne hatte. Ich untersuchte die gestohlenen Unterlagen, ehe ich ein eigenes Dokument mit der königlichen Unterschrift aufsetzte. Das war kein Problem. Er hatte einige Blätter unterschrieben und Handschriften hatte ich schon als kleiner Junge nachgemacht.

Zuletzt öffnete ich meinen Schrank und nahm ein Fläschchen mit dem gestohlenen Haar eines Aliamen hervor. In der neuen Gestalt zog ich die teuerste Kleidung an, die ich finden konnte, flocht mein Haar zu einem Zopf und ging. Mein Herz klopfte aufgeregt. Es konnte viel schiefgehen, gewiss. Aber wenn alles glattlief …

Wenig später erreichte ich den Luftbahnhof von Ceratari. Luftschiffe waren etwas ganz Neues auf den Inseln, sodass er eigentlich nur aus einer ebenen Fläche bestand, auf die man einen Anker werfen konnte. Neugierig betrachtete ich die wenigen Schiffe, die hier warteten. Goldenes Metall, das unter riesigen Ballons hing, die Ladeluken geöffnet und die Propeller still.

Menschenmänner liefen unter den Luftschiffen umher oder trugen Kisten heraus. Das war interessant zu beobachten, aber ich war nicht zum Spaß hier. Nima hatte gesagt, dass es ein arganisches Schiff war, also …

Ich blickte mich um.

Argano war für eine Sache bekannt – für seine Fruchtbarkeit. Deshalb führten sie Grün und Gold in ihrer Flagge, für die reichen Wälder und das reife Korn. Von einem der Schiffe flatterten mehrere Flaggen in diesen Farben. Groß war es. Bestimmt platzte es fast vor Schätzen.

Das musste es sein.

Eilig ging ich auf das Luftschiff zu. Mehrere Köpfe drehten sich zu mir. Ich setzte ein arrogantes Lächeln auf, das ich monatelang vor einem Spiegel geübt hatte, und blieb vor einem der Männer dort stehen.

»Ich suche den Kapitän dieses Schiffes.«

»Wer will das wissen?«, gab er zurück.

»Mein Name geht Sie nichts an«, sagte ich in meinem besten herablassenden Tonfall. »Ich wurde vom König geschickt.«