Das Schweigen der Ziegel - Tom Crispa - E-Book

Das Schweigen der Ziegel E-Book

Tom Crispa

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Beschreibung

Ein defekter Aufzug, ein nagelneuer Streifenwagen, das Klingeln an der falschen Haustüre, eine ordnungsliebende Omi, eine demolierte Parkbank – der Schmetterlingseffekt schickt die Akteure auf eine Achterbahnfahrt mit bisweilen tödlichem Ausgang. Pat und Ally arbeiten eigentlich für die Mordkommission, doch kleine, unbesonnene Momente führen die beiden in einen schmerzhaft heftigen Konflikt. Ungewollt geraten sie in einen ›roten Bezirk‹, mit gänzlich unerwarteten Folgen. Ziegel sind derweil stumme Zeugen der Geheimnisse, die das Haus mit der Nummer 194 birgt. Und bei allem Verständnis – der Speicher ist kein Ablageort für eine Leiche …

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Tom Crispa

 

 

Das Schweigen der Ziegel

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

LANA-Encore®

Impressum

© 2020 LANA-Film e.K.

- Alle Rechte vorbehalten -

Dieses Werk ist rein fiktional.

 

Umschlaggestaltung: Christian Vesper

Umschlagfoto: Fer Gregory/Shutterstock.com

Lektorat: Kirsten Vesper

 

Verlag: LANA-Film e.K., 61267 Neu-Anspach, Dürerstr. 53

Das E-Book wurde publiziert: 24. August 2020

Reihe Pat & Ally Band 3

 

ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-946914-07-5

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-946914-12-9

 

www.LANA-Encore.de

LANA-Encore® ist eine Marke der LANA-Film e.K.

 

Den Ziegel und den bösen Mann niemand reinwaschen kann.

 

Deutsches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Titelblatt

Impressum

1

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Weitere Werke

1

Es war noch nicht ganz halb zehn. Das frische Bohnerwachs begrüßte sie mit seinem unverwechselbaren Duft gleich nach dem Verlassen der Wohnung wie ein guter Freund aus alten Tagen. Der Weg durch das unverputzte Treppenhaus mit den roten Ziegeln und ausgetretenen verblichenen Holzstufen war ihr bestens vertraut. Sie war ihn so viele Jahrzehnte immer und immer wieder gegangen, besser gesagt gestiegen. In jungen Jahren rasch, meist zwei Stufen auf einmal nehmend, inzwischen jedoch nur noch Stufe um Stufe mit bisweilen der Notwendigkeit einer kleinen Pause auf dem nächsten Treppenabsatz.

Ihr Atem ging schwer, obwohl sie es nicht mehr mit den früheren Gewichten zu tun hatte. Damals, aus der Waschküche im Keller, den schweren Weidenkorb vor sich, mit der mühsam und nur leidlich ausgewrungenen Wäsche, die ihn wahrlich schwer gemacht hatte. Vorbei am ersten, zweiten und dritten Stock bis zum Speicherboden. Heutzutage konnte sie sich wenigstens das Parterre sparen. Die gemeinsame Waschküche aller Mieter im Keller benötigte sie nicht mehr.

Sie dachte dankbar an die neue Waschmaschine, die Micky ihr besorgt und in ihrer Wohnküche im ersten Stock angeschlossen hatte. Die Wäsche war nun nach dem automatischen Schleudern erträglicher zu transportieren und musste nicht mehr von Hand gewrungen oder mit der Kurbelpresse ausgequetscht werden.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, wie sich doch die Zeiten geändert hatten! Vieles von der neuen Technik verstand sie nicht. Wenn sie genauer nachdachte, verstand sie diese im Grunde genommen gar nicht. Micky hatte ihr daher aufgeschrieben, wo das Waschpulver hineinkam und welche Tasten sie danach drücken musste. Dann sollte sie nur noch auf das Piepsen der Schlussmelodie warten und die Wäsche entnehmen. Er hatte ›In einem Bächlein helle‹ als Tonfolge programmiert, so hatte er gesagt. Was auch immer dieses ›programmiert‹ zu bedeuten hatte.

Das Ergebnis war aber schön. Die Melodie kannte sie und sie gefiel ihr.

Roseanne Ermintrude Garwood war überwiegend gut aufgelegt und freute sich auch stets an den kleinen Dingen des Lebens. Manchmal setzte sie sich auf einen kleinen Hocker vor das neue Gerät und sah zu, wie die Wäschestücke bunt durcheinandergewirbelt wurden, dann die Trommel eine kleine Pause machte und das Ganze anschließend wieder weiterging. Es hatte direkt etwas Beruhigendes und sie schätzte ohnehin Beschaulichkeit und Strukturen. Aber auch Abwechslung. Abwechslung und Besuche. Besuche waren immer schön.

»Rosie, du dumme Gans! Steh hier nicht rum und halte Maulaffen feil. Mit deinen neunundachtzig Jahren solltest du es doch wohl wissen – wer rastet, der rostet!«, ermahnte sie sich selbst und nahm die letzte Treppe in Angriff.

Sie ärgerte sich, weil sie heute besonders rasch außer Atem kam. Vielleicht hatte sie sich doch eine dieser lästigen Sommergrippen zugezogen? Aber nach Krankheiten oder gar Arztbesuchen stand ihr niemals der Sinn. Reine Zeitverschwendung. »Was von selbst kommt, geht auch wieder von selbst«, hatte schon ihre Mutter gewusst.

Schnaufend setzte sie nach der letzten Etappe den Korb ab, betrachtete kurz die tiefen Rillen, die das Korbgeflecht in die geplagten Hände gezeichnet hatte, und öffnete endlich die quietschende Holztüre, die den Blick auf den alten Dachboden freigab.

Der Wind strich warm durch die nicht mehr lückenlos dichten Schindeln. Die Sonne strahlte durch die ungeputzten Dachlukenfenster und ließ die hochgescheuchten Staubpartikel im sanften Gegenlicht aufgeregt umherwirbeln. Für derlei Bilder hatte sie keine Muße, denn erneut hatte irgendein Idiot eine der Luken offengelassen, so dass die Tauben wieder ausgiebig auf den Holzboden gekackt und Teile ihres Gefieders zurückgelassen hatten.

Manche Mitbewohner lernten es eben nie. Sie zog den metallenen Sperrhaken heran und klemmte das Fenster bis auf einen kleinen Spalt wieder zu.

Danach holte sie mit einem tiefen Seufzer das angefeuchtete Tuch aus der Kittelschürze. Wie immer musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um die quer verspannten Drahtleinen zu säubern, bevor sie ihre frische Wäsche daran aufhängen würde. Die Stauborgie machte derweil ungerührt ohne Zuschauer weiter und führte ihre Choreographie im Halbschatten fort.

Ein leiser Anflug von Vorfreude stellte sich ein.

Nach dem Aufhängen würde es wie immer drei Mal die Woche pünktlich um 15:00 Uhr die nachmittägliche Tasse Kaffee mit ihren beiden nicht wesentlich minder betagten Nachbarn geben. Aber bis dahin war noch reichlich Zeit.

Sie lächelte, hatte sie doch die Blutlache noch nicht bemerkt, in die sie nun schon mehrfach hineingetreten war.

2

Nur wenige Meilen entfernt schickte sich etwa eine Stunde zuvor Commander Brad Falchuk an, sein Büro im Yard aufzusuchen. Im Gegensatz zu Roseanne Ermintrude Garwood hätte er das bloße Besteigen einer Treppe bereits als Zumutung empfunden, vom Tragen irgendwelcher Behältnisse mal gar nicht erst zu sprechen. Die beiden schweren Pilotenkoffer mit Akten trug an seiner Stelle selbstverständlich sein Fahrer zwischen Büro und Wohnsitz. Immer mit wenigen Schritten Abstand hinter ihm, damit auch jeder sehen konnte, dass er selbst zu Hause noch wichtige Arbeit für den Yard erledigte und sich sichtlich immer im Dienst befand. Dass deren Inhalt dort meistens nicht das Licht einer Schreibtischlampe zu sehen bekam, ging niemanden etwas an. Im Grunde pendelten nicht gerade selten die gleichen Akten mehrfach unausgepackt hin und her, bis er sie letztlich doch in seinem Büro ›bearbeitete‹. Im Klartext bedeutete dies, dass er deren Erledigung irgendwelchen leitenden Mitarbeitern grundsätzlich verspätet aufs Auge drückte und kurz darauf herummäkelte, wie lange sie denn noch dafür brauchen würden.

Als der Commander das Gebäude betrat, wichen derweil nicht nur die Sperrflügel, so schnell die Motoren es erlaubten, zur Seite, sondern auch alle Bediensteten änderten ebenso unauffällig wie zügig ihre Richtung, um jeglichen Augenkontakt zu vermeiden.

Eine direkte Begegnung mit diesem leitenden Beamten befand sich ohnehin nirgendwo auf der Wunschliste eines Officers. Es war schwer auszumachen, ob die Klimaanlage des Hauses oder der Commander die größere Kälte abstrahlte. Bei einer Umfrage hätte Letzterer vermutlich aber mit großem Vorsprung gewonnen.

Falchuk hatte schlechte Laune. Eigentlich immer. Heute schon am frühen Morgen, da der Lift, der die Tiefgarage direkt mit der Chefetage verband, gewartet werden musste. Den Haupteingang von Scotland Yard benutzen zu müssen, war an sich schon Zumutung genug, dann auch noch den Aufzug mit anderen teilen zu müssen, lag außerhalb seiner Toleranzschwelle. Als ein junger Beamter ihn heranrauschen sah, drückte er flugs die ›Tür-öffnen-Taste‹ und hinderte den Lift an der eigentlich gerade bevorstehenden Abfahrt. Die halbgeschlossenen Flügel öffneten sich wieder und die Fahrgäste räumten nach dem somit freigewordenen Blick auf den näher kommenden ranghohen Beamten umgehend das Feld. Der junge Officer hielt die Tür auf, schlüpfte eilends hinaus und Falchuk passierte ihn grußlos und natürlich ohne ein Wort des Dankes. Fast wäre er aus der eigentlich zwölf Personen fassenden Kabine zurückgeprallt, als er die groß gewachsene schlanke Rothaarige in der Ecke erblickte.

Allyssa Colmberg war nicht ausgestiegen.

Er schluckte.

Generell hasste er Überraschungen, und die damit häufig verbundene Notwendigkeit schneller Entscheidungen war zudem nicht sein Ding.

Er kam sich vor wie eine Maus, die unversehens einer Katze vor die Füße gefallen war. Dieser Albtraum in Frauengestalt, diese Heimsuchung – und er konnte nicht schnell genug ausweichen, die Türen schlossen sich bereits. Unwillkürlich ging er einen Schritt rückwärts, um mehr Abstand zu gewinnen und ihr nicht auch noch direkt von unten in die Augen sehen zu müssen.

Der Lift setzte sich leise wimmernd nach oben in Bewegung. Sein Fahrer musste auf den nächsten warten.

»Guten Morgen, Commander«, grüßte sie so unverbindlich sachlich wie eine Nachrichtensprecherin und er rang sich mühsam ein »Mmh, ja« ab, während er rasch das Gesicht abwandte. Die Aussicht auf die nun geschlossenen Türen aus gebürstetem, wenn auch deutlich verkratztem Edelstahl trugen weniger zu seinem Unbehagen bei, als gewissermaßen von oben herab begutachtet zu werden.

»Ach, übrigens vielen Dank für den wunderbaren Blumenstrauß, den mir Superintendent Ellis in Ihrem Auftrag übergeben hat«, flüsterte sie von hinten, gefühlt beinahe auf Höhe seines linken Ohrläppchens.

»Bitte sehr«, knirschte er.

Falchuk sah weiter stur geradeaus. Seine Nackenhaare stellten sich auf, seine Kiefermuskulatur trat ebenso deutlich wie gequält hervor und man brauchte nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, was seine Backenzähne gerade zu erleiden hatten.

Allyssa musterte ihn ungeniert von der Seite. Sie wollte ihn nicht unnötig provozieren, sah aber auch keine Veranlassung zu kuschen. Sie hatte den Knopf nur für ihre Etage gedrückt, auch wenn ihr aufgefallen war, dass der Commander seinen gewünschten Zielort der Aufzugssteuerung noch nicht mitgeteilt hatte. Wäre er ein freundlicherer Zeitgenosse gewesen, hätte sie ihn entweder gefragt oder von sich aus die Chefetage gedrückt.

Falchuks Gedanken rotierten. Er erinnerte sich an das letzte Gespräch mit Sir Percy, der ihm im Club freundschaftlich ans Herz gelegt hatte, die Hände weg von Colmberg zu lassen. Einen großen Bogen zu machen sei nicht die schlechteste aller Ideen, hatte er hinzugefügt. Als hätte ihm ihre Anwesenheit im Yard nicht schon genug Schwierigkeiten bereitet, jetzt war sie auch noch in sein Allerheiligstes vorgedrungen, in seinen Club. War sie ihm auch dort nicht persönlich erschienen, musste sie auf irgendeine verborgen gebliebene Weise immerhin seinen Freund dort aufgesucht und nachhaltig inkommodiert haben. Er war weiß Gott kein gläubiger Mensch, aber die Bibel musste sich bei der Zählung der Plagen definitiv vertan haben. Es gab eine elfte, die gerade aus dem Aufzug stieg und ihm wie zum Hohn auch noch lächelnd einen schönen Tag wünschte.

Erleichtert stellte er fest, dass er alleine war. Die Türen hatten sich geschlossen und der Aufzug fuhr endlich los … — aber wieder nach unten!

Es war nicht recht auszumachen, wer oder was das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, nach dieser kleinen Episode dem Commander als Erstes vor die Füße zu fallen. Aber nachdem sich im Erdgeschoss die Türen geöffnet hatten, hörte man noch drei Etagen höher lautstarkes Keifen durch den Aufzugsschacht. Für Ausbrüche dieser Art bot schon ein nicht korrekt geschlossener Uniformknopf den erforderlichen Anlass, falls es überhaupt eines Grundes bedurfte.

Ally hingegen war an diesem Morgen in Erwartung neuer Aufträge und Fälle in guter Stimmung und freute sich auf die Arbeit mit Pat und den anderen.

Sie fühlte sich als erklärtes Teammitglied bei ihrem Praktikum nun richtig angekommen.

Hätte sie geahnt, welchen Rattenschwanz an unerwarteten Konsequenzen dieses kleine Aufzugsintermezzo nach sich ziehen würde, wäre ihr zwar das Lachen vergangen, aber sie hätte dennoch nicht die Treppe gewählt.

Oder vielleicht doch?

Im Nachhinein wurde ihr klar, dass diese Begegnung Züge des berühmten Schmetterlingseffektes trug. Alleine das Wissen darum hätte ihr jedoch zu diesem Zeitpunkt nichts genutzt. Wenn nicht heute, wäre sie eben nur ein wenig später unvorbereitet k.o. geschlagen worden.

3

Er war so etwas wie ein geborener Charmeur. Der Traum einer jeden Mutter für ihre Tochter, kurz: ein echter Sonnyboy. ›Der frühe Vogel fängt den Wurm‹ war sein Motto, daher blieb er auch immer emsig und mit einem treffsicheren Gespür für lohnende Beute. Seine Aktivitäten in den frühen Morgenstunden waren somit nichts Außergewöhnliches.

Alles war gut vorbereitet und geschickt von ihm eingefädelt worden. Nur wenige Meter trennten ihn von seinem Ziel und der verdienten Belohnung. Die Gier blitzte in seinen Augen auf, aber das konnte im Moment niemand sehen. Er stand mit dem Rücken zu seiner Begleitung.

»Hier ist es?«, rief er fragend nach hinten und nahm das Vorhängeschloss des Holzverschlages ungeduldig in die Hand. Abgeschlossen!

»Genau hier!«, vernahm er die Stimme hinter sich.

»Ich bräuchte dann nur noch den Schlüssel«, dabei drehte er sich erwartungsvoll um. Unter seinen Füßen knisterte bei der eleganten Wendung eine dünne Plastikfolie, die er eher unterbewusst realisierte. Ein Gedankengang schickte sich dabei vorsichtig an, das Vorhandensein einer Folie an diesem Ort intern thematisieren und erörtern zu wollen. Hinsichtlich deren Abmessungen und Beschaffenheit galt es, ergänzende Informationen vom Auge zu erbitten, das aber anderweitige Verpflichtungen hatte. Es hatte soeben einen Auftrag höherer Priorität erhalten und sendete derweil das Bild eines langsam hineingleitenden Messers an die zuständigen Hirnareale.

Man sagte Donovan Hildrew nach, er sei gewitzt, gar gewieft, habe eine schnelle Auffassungsgabe und wisse jederzeit, sich überall höchst erfolgreich hindurch- und herauszulavieren. Von diesen früheren Lobeshymnen seiner Freunde und Bekannten unbeeindruckt brach jedoch hier und jetzt in ihm das Chaos aus.

Die schnelle Auffassungsgabe hatte zweifelsfrei eine Auszeit genommen.

Es begann damit, dass ein Teil seines Bewusstseins mit Interesse registrierte, wie die Klinge in ihrer beachtlichen Länge und ohne eine Spur besonderer Eile in seiner Leber verschwand.

Ein anderer Teil des Kopfes – reichlich mit der Situation überfordert – reagierteder Lage völlig unangemessen mit einer Art Glucksen, wie ein kurzes und steckengebliebenes Lachen bei einem gerade gehörten Witz.

Der restliche Körper bereitete zügig und ohne Rücksprache, da reflexgesteuert, den erforderlichen Schockzustand vor.

»Nein, nein, nein – was mache ich denn da für einen Unsinn?«, hörte Donovan eine Stimme sagen.

Wie in Zeitlupe bewegte sich seine Hand zu dem Messer, griff aber ins Leere und landete flach auf der Sekunden zuvor geräumten Einstichstelle. Das Blut quoll langsam und gleichmäßig zwischen den Fingern hindurch, als habe es alle Zeit der Welt. Die Augen wanderten wieder nach oben und schafften es noch rechtzeitig, gemeinsam mit dem restlichen Gesicht nonverbal grenzenlose Überraschung abzubilden.

Es konnte sich auch eine Art Unverständnis mit eingeschlichen haben. Genauer war es nicht zu verifizieren, da sich das Messer zwischenzeitlich auf die andere Seite begeben, seine Spitze mit dem Herzbeutel bekannt gemacht sowie in der rechten Herzkammer häuslich eingerichtet hatte. Im Brustkorb verkantet sah es keine erkennbare Notwendigkeit, diese Position wieder aufgeben zu sollen, insoweit widersetzte sich die Klinge erfolgreich dem Versuch, wieder herausgerissen zu werden, und blieb trotzig an Ort und Stelle stecken.

Die Prioritäten hatten sich abermals verschoben, für Interpretationen und Feinheiten der Mimik bot sich kein zeitlicher Spielraum mehr an.

Das Herz stellte seinen Betrieb ein, die Beine knickten weg und Donovan begab sich mit einem dumpfen Knall in die Waagerechte.

Die Pumpleistung war mittlerweile zwar eingestellt, jedoch dank der Schwerkraft blutete er noch ein wenig still vor sich hin. Es wäre durchaus in mehrfacher Hinsicht zutreffend gewesen, ihn als ›Auslaufmodell‹ zu bezeichnen. Dermaßen billige Witze waren eigentlich den Forensikern vorbehalten, aber die waren nun mal abwesend.

Zu dieser Stunde war es ohnehin mehr als fraglich, wann ihn überhaupt jemand in diesem Zustand zu Gesicht bekommen würde, um ihn gebührend ob seines vorzeitigen Ablebens zu bemitleiden oder gar zu betrauern.

Ungeachtet dessen befand sich Mr. Hildrew im Begriff, zu einer gewissen Bedeutungslosigkeit zu verkommen und war –hierzu stimmig – nach wenigen Minuten im Wesentlichen mutterseelenallein.

Von der Straße drang durch die einfachverglasten Luken, von denen eine offen stand, gleichmäßiger Verkehrslärm auf den Dachboden. Isolierung oder Dämmmaterial gab es hier oben nicht. Einer gewissen Ironie folgend pulsierte unten das Leben ungerührt weiter. Ein leises Summen der Insekten klinkte sich in die Geräuschkulisse ein, untermalt vom Knacken der zahlreichen Dachziegel, die sich unter der Sommersonne zunehmend aufheizten.

Nach ein paar Minuten wurde das Summen stärker, aufgeregter. Anlässlich des überreichen Angebotes, das sich ihnen nun darbot, gerieten einige Schmeißfliegen in einen ernsthaften Konflikt. Sie umschwirrten ihn auf der Suche nach der Antwort, wo sie denn nun genau ihre Eier ablegen sollten. Ein Landeplatz nach dem nächsten wurde anvisiert und begutachtet. Man konnte sich Zeit lassen, es gab im Augenblick noch relativ wenig Konkurrenz. Allerdings war immer im Blick zu behalten, dass jederzeit eine der Tauben zurückkommen und die Nachwuchsplanung unterbinden konnte. Von den gefiederten Zeitgenossen war jedoch nichts zu hören und zu sehen. Lediglich aus dem Treppenhaus kamen Geräusche, die darauf hindeuteten, dass in absehbarer Zeit mit Gesellschaft zu rechnen war.

Da er jedoch sein Leben bereits seit nicht ganz einer Stunde ausgehaucht hatte, spielte die Ankunft Roseanne Garwoods für ihn keine entscheidende Rolle mehr. Sie schien ohnehin nur Augen für ihre Wäsche zu haben und sich nicht im Geringsten darum zu scheren, was unter ihren Füßen vorging.

Rosie hatte gerade den letzten Kopfkissenbezug mit zwei Klammern befestigt und den leeren Korb unter die Wäscheleinen geschoben, als ihr Blick auf die roten Fußabdrücke fiel.

Ihre Fußabdrücke.

In unterschiedlicher Stärke und Ausdehnung breiteten sich Fußspuren rund um die gespannten Drahtleinen und auch darunter aus. Sie lugte unter die tiefhängenden Bettlaken und hob schließlich eines davon an. Hinten, im Halbdunkel der Ecke, entdeckte sie eine mittelgroße Blutlache, bereits im fortgeschrittenen Übergang zum Trocknen. Immer noch hinreichend frisch, um intensiv an ihren Hausschuhen zu kleben, deren Sohlen sich wie bei einem Stempel nun in der rauen Holzoberfläche verewigt hatten.

Sie trat näher an die dunkle Fläche heran, die sich im Wechsel von rot zu braun befand, und erblickte deren Quelle. Vor ihr lag ein gepflegter junger Mann im Anzug mit zumindest einem sichtbaren Stich, vorbildlich durch das in seinem Brustkorb befindliche Messer markiert.

Sein krawattenloses Oberhemd und der Anzug würden kaum mehr zu gebrauchen sein. Sie war sich sicher, dass auch ihre moderne Maschine das Blut nicht herausgewaschen bekam.

Gut, aus der Unterwäsche vielleicht schon. Es kam darauf an, ob es bei ihm Kochwäsche wäre. Nein, eher wohl nur sechzig Grad.

Sie nahm ihre Brille mit den dicken Gläsern ab, wischte sie an ihrer Kittelschürze leidlich sauber und setzte sie wieder auf die Nase. Das Gestell rutschte wohlig in die angestammte Kerbe, die es über Jahrzehnte hinweg beharrlich in den Nasenrücken gepresst hatte. Gleichwohl vermochten die seit langem verkratzten Gläser kein anschaulicheres Bild der Situation zu vermitteln.

Rosie Garwood wurde zunehmend ungehalten.

Was dachten die sich hier eigentlich nur? Dies war ein ordentliches Haus.

Schon immer gewesen. Daran änderte auch die Plastikfolie nichts. Zu dünn. Zu kurz. Das Blut war etwa zu einem Drittel darüber hinaus gelaufen.

Sie sah sich genauer um.

Gut, wenigstens steckte kein Messer im Parkettboden. Hier oben gab es glücklicherweise nur die alten, unbehandelten Holzbohlen. Es wäre hier nicht so schlimm gewesen wie ein hässlicher Spalt im Parkett.

Allerdings – Parkett ließ sich eindeutig besser wischen und pflegen. Man könnte anschließend noch mit einer leichten Pflege und Wachsschicht drübergehen.

Gute Pflege war wichtig! Bei den Bohlen verklebte das Blut zu sehr in den Fasern. Es würde schon bald anfangen, richtig zu stinken und gewiss noch unappetitlicher werden.

Wie zum Beweis griffen die Stubenfliegen die durch Rosies Anwesenheit gestörten Landeversuche wieder auf und summten ungehalten um den Leichnam.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Die spätere Kaffeestunde erforderte ihre Aufmerksamkeit. Sie wollte noch Kuchen backen sowie Donuts frittieren und die sollten bis zum Nachmittag ausgekühlt sein.

»Das Wichtigste immer zuerst!«, ermunterte sie sich, machte auf dem Absatz kehrt und schritt langsam die Stufen herab.

»Rosie, du Schaf, wo hast du nur immer deine Gedanken?!«, schalt sie sich und wendete auf dem ersten Treppenabsatz. Dann stieg sie wieder hinauf und verschloss die Speichertüre zweimal ordentlich mit dem alten Buntbartschlüssel.

Es war zwar noch nicht vorgekommen, aber man musste ja auch nicht gerade zum Wäschediebstahl einladen.

Sicher war sicher.

4

Die Außentemperaturen versprachen heute wieder Höchstwerte erklimmen zu wollen und so machte sich Patricia Farquharson bereits um sechs Uhr früh auf den Weg in die klimatisierten Büros der Metro-Police. Sie frühstückte ausgiebig in der Cafeteria und trödelte noch etwas herum, bis Chloe, wie meist, um Viertel vor Acht unten im Büro eintreffen würde.

»Gott sei Dank wieder mal Tagdienst. Diese Scheiß-Nachtstreifen im Theater waren wirklich sowas wie verschärfter Arrest für mich.« Pat war in Top-Laune und insgesamt in Hochform, erntete aber nur ein leicht mitleidvolles Kopfschütteln ihrer Kollegin. Detective Constable Chloe Sanderson vermochte diesen Enthusiasmus nicht zu teilen. Ihr kleiner Sohn hatte sich heute Nacht mehrfach übergeben und sie hatte wenig Schlaf bekommen. So bedachte sie Pat nur kurz mit einem spöttischen »Du Arme, du tust mir ja soooo leid!« und widmete sich in der gleichen Sekunde wieder ihren morgendlichen Routineaufgaben.

»Mach dich nützlich und koch schon mal Kaffee!«, trug sie Pat auf, die den Wink verstand und ausnahmsweise ohne zu Murren der Aufforderung Folge leistete.

Als Ally das Büro der zweiten Mordkommission betrat, wurde sie von Pat aufgekratzt mit »Wie nett – auch schon wach, du Schlafmütze?« begrüßt.

»Hallooo? Acht Uhr dreißig!«

»Trotzdem – zu spät!«

»Sagt wer?«

»Na, ich!« Pat streckte sich. »Wir sind schon Stunden bei der Arbeit, stimmt’s?« Sie drehte sich zu Chloe, die gerade Fallakten sortierte und auf dem Tisch ausbreitete.

»Na jaaa. Nicht so ganz«, widersprach sie leicht abwesend.

»Tja, dann seid ihr ja um den Auftritt des Tages gebracht worden …«

»Hä?«

Ally tat, als müsste sie sich übergeben.

Pat sah sie fragend an.

»Ich dachte, das wäre ziemlich eindeutig«, bemerkte Ally.

»Ist es auch«, meinte Chloe wieder aufmerksamer und zu ihr gewandt. »Du hast Falchuk getroffen, oder?«

Ally strahlte sie an und drehte sich zu Pat: »Genau – siehst du. Sooo arbeiten Profis!«

»Ach so, sag das doch einfach!«, murrte Pat, weil sie nicht vor Chloe darauf gekommen war.

»Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff«, meinte Ally, wurde aber unterbrochen, da Pat aufgesprungen war, weil Detective Inspector Leon Aiken den Raum betrat.

»Das kannst du, wenn wir unter uns sind, lassen, Pat. Mir genügt es, wenn wir uns im Einsatz mit dem gebührenden Respekt begegnen. Ich bin auch nur auf einen Sprung hereingekommen, um kurz Hallo zu sagen. Bin gleich mit Scott auf Außeneinsatz. Chloe kümmert sich in der Zwischenzeit um die Eingewöhnung«, er lachte, »falls die überhaupt noch nötig ist. Jedenfalls, alles Weitere später. Bis dann!«

Er nickte freundlich in die Gruppe und war schon wieder entschwunden.

Chloe blies die Backen auf. »Na prima, was soll ich denn noch alles gleichzeitig machen?!«

»Wie können wir dir denn helfen?«, erkundigte sich Ally teilnahmsvoll.

»Das ist es ja – im Moment leider gar nicht. Das zu erklären würde länger dauern, als wenn ich es selbst mache. Sorry, aber Montage sind grundsätzlich schon Scheiße, weil da vom Wochenende die ganzen Vorgänge vom Kriminaldauerdienst reinkommen und gesichtet und verteilt werden müssen.«

»Und das mit dem KDD musst du machen?«, erkundigte sich Pat verwundert.

»Ich bereite die Unterlagen vor und Superintendent Ellis entscheidet dann, welche Kommission welche Aufträge übernimmt. Im Augenblick wäre mir am ehesten geholfen, wenn ich euch mal die nächsten ein, zwei Stunden alleine lassen dürfte.«

Pat grinste dreckig.

»… OHNE dass hier jemand Blödsinn anstellt!«, ergänzte Chloe in gespielter Strenge.

»Schade, mir wär’ schon was eingefallen.«

»Davon bin ich hundertprozentig überzeugt.«

»Ich auch«, schloss sich Ally an und lehnte sich gegen die Wand.

»Ja, ja, ja, hackt nur auf mir rum! Los, schieb ab, wir werden uns schon die Zeit vertreiben«, kommandierte Pat und drängelte Chloe Richtung Tür.

»Genau das befürchte ich!«, erwiderte Chloe.

»Raus jetzt!«

Chloe sah kurz zu Ally hinüber, die sie als die Vernünftigere erachtete, und erhielt von dort ein zustimmendes Nicken. Beruhigt verließ sie schließlich den Raum.

»Und jetzt?«, fragte Ally in die eingetretene Stille.

»Ich bin dem Himmel dankbar, dass sich DC Suskin im Urlaub das Schulterblatt gebrochen hat, so haben wir mindestens zwei weitere Monate miteinander«, frohlockte Pat plötzlich ungeniert.

Ally sah sie rügend an.

»Meinst du, ich komme dafür in die Hölle?«, fragte sie mit übertrieben treuherzigem Augenaufschlag.

»Falls ja, wäre es das erste Mal, dass ich mit dem Teufel Mitleid bekäme«, stichelte Ally. Ihr war Pats Superlaune nicht ganz geheuer. Sie betrachtete diese Stimmungslage mit einer gewissen Skepsis. Zu frisch war noch die Erinnerung an die Niedergeschlagenheit und den emotionalen Ausnahmezustand, in dem sich Pat noch vor Kurzem befunden hatte, nachdem sie von einer vermeintlichen Freundin schmählich hintergangen und ausgenutzt worden war. Zwar wirkte ihre Stimmung nicht so aufgesetzt wie bei einem früheren Kommilitonen Allys, der im Grunde seines Herzens eher depressiv veranlagt war und dennoch immer eine Spur zu fröhlich auftrat, aber … nun ja, man würde sehen, was die nächsten Tage mit Pat bringen würden.

Nüchtern betrachtet gab es ja tatsächlich Gründe für deren gute Laune. Nicht nur, dass Superintendent Ellis ihre zeitweilige Versetzung von Central Operations zur Mordkommission II bewerkstelligt hatte, er hatte sich darüber hinaus dazu hinreißen lassen, dass Pat als bisherige Teamleiterin einer bewaffneten Task-Forcegruppe sogar in seiner Einheit ihre Automatic führen durfte. Und das, obwohl er Waffen verabscheute wie der Teufel das Weihwasser und Pat bei ihrem ersten Aufeinandertreffen noch wie eine Aussätzige behandelt hatte. Immerhin trugen rund neunzig Prozent der Bobbies der britischen Hauptstadt keine Schusswaffen. Vielleicht hatten die allgegenwärtige Terrorgefahr sowie die tatsächlich erfolgten Messerangriffe und Fahrzeugattacken seine Meinung zu bewaffneten Einheiten in ein anderes Licht gerückt. Dazu hatte er sich nicht direkt geäußert, andererseits war dies die schlüssigste Vermutung, sonst hätte er sich nicht so vehement dafür eingesetzt, dass Allyssa desgleichen wie Pat durfte. Sie war bereits im Besitz eines gültigen Waffenscheins für Personenschützer zur Selbstverteidigung gewesen, aber Ellis hatte nun sogar darauf bestanden, dass sie die Waffe ab sofort auch im Dienst mitführen sollte. »Wenn wir schon über entsprechende Möglichkeiten und Know-how verfügen, sollten wir sie auch nutzen!«, hatte er dem überraschten Team erklärt. So ergab sich die ungewöhnliche Konstellation, dass sie in ihrer Fünfergruppe, zu der außerdem noch DI Leon Aiken, Detective Sergeant Scott Peters und DC Chloe Sanderson gehörten, die einzigen Waffenträger waren.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte es in den ersten Stunden nach Bekanntwerden neugierige Blicke und Getuschel auf den Fluren gegeben, da aber die beiden Frauen nicht darauf eingingen und dem keine sichtbare Beachtung schenkten, legte sich die Sache rasch, wie so oft beim Reiz des Neuen.

»Du strahlst wie ein Honigkuchenpferd«, flachste Ally.

»Tolles Kompliment. Aber sieh uns beide mal an – zwei sexy Girls mit dicken Kanonen – David Bishop hätte jetzt seine helle Freude an uns gehabt. Kommt halt nur ein bisschen zu spät für ihn.«

Ally sah an sich herunter.

Abgesehen davon, dass sie ihre eigene Glock 18c behalten durfte, trug sie den ähnlich abgespeckten Dienstgürtel wie Pat mit Reservemunition und Handschellentasche. Allerdings ihr privates Schnellziehholster mit FBI-Ziehwinkel und nicht wie Pat mit einem Durchladeholster. Bei beiden war vorne am Gürtel ein Polizeiabzeichen sichtbar. Sie hatten Ally eingeschärft, dass dies zu ihrer beider Schutz diente, damit sie nicht im Einsatz versehentlich von Kollegen als Bedrohung betrachtet würden. Ally hatte auch eine eigene signalrote Armbinde erhalten und Ellis versprechen müssen, dass sie verstanden hatte, nach wie vor keine hoheitlichen Befugnisse zu haben, sondern nur im Gespann mit einem anderen Officer handeln zu dürfen. Auch die Waffe dürfe ausschließlich dem Selbstschutz dienen. Allyssa versprach es und ließ jedoch im Geheimen ihre Freundin wissen, dass sie jedem das Hirn herausblasen würde, der es wagte, Pat etwas anzutun.

Genau dieser Pat, die schon wieder kreativ geworden war, sich einer Heftmaschine bemächtigt hatte und sie in Kopfhöhe unentwegt zusammendrückte. »Eins, zwei, drei, vier, fünf …« Die zusammengepressten Heftklammern fielen aus einem halben Meter Höhe auf den Tisch.

»… dreiundzwanzig, vierundzwanzig, was, schon leer?«

Ally lehnte noch immer an der Wand und besah sich die Szene mit verschränkten Armen. Pat zog nacheinander ein paar Schubladen auf. »Shit, hier muss doch irgendwo Nachschub stecken!«

»Dass du ziemlich ein Rad ab hast, weißt du schon, nicht?«

»Man muss jederzeit wissen, wieviel Schuss einem zur Verfügung stehen!«, belehrte Pat sie unbekümmert und kruschtelte weiter in den Schubladen herum.

»Schuss ja – aber Heftklammern? Wo soll das denn noch enden?«

»Weiß nicht. Meine gute Laune geht schon wieder flöten. Mir ist lang-wei-lig, verstehst du, l-a-n-g-w-e-i-l-i-g!!« Sie klickerte mit dem leeren Tacker weiter herum.

»Was du nicht sagst! Ich dachte eigentlich auch, dass wir etwas mehr …«

Die Tür flog auf und Chloe stand im Rahmen. Sie sah aus, als hätte sie eine schlechte Nachricht zu überbringen.

»Ihr sollt zum Sekretariat des Commanders kommen!«

»Zu Falchuk?« Pat traute ihren Ohren nicht.

»Ja, alle beide!«

Chloe sah die Bescherung auf dem Tisch, schüttelte den Kopf, schob die verstreuten Klammern in die Handfläche und beförderte sie in den Papierkorb. »Und zwar sofort«, ergänzte sie.

Pat und Ally tauschten Blicke aus, aber keine war sich einer Schuld bewusst.

»Noch was – auch wenn seine Sekretärin weder Officer noch weisungsbefugt ist, tut ihr besser, was sie euch von Falchuk ausrichtet beziehungsweise aufträgt!«

Ally zuckte mit den Schultern.

»Na schön, dann gehen wir eben.«

So richtig wohl war ihr nicht, denn sie hatte nicht die Spur einer Vorstellung, was sie dort erwarten würde.

5

Der Vormittag hatte alle Voraussetzungen mitgebracht, um sie tüchtig durcheinander zu bringen. Ordnung und Struktur hatten aber stets Vorrang vor allen Unwägbarkeiten gehabt und waren das Gerüst, das Rosie durchgetragen und auch so alt hatte werden lassen.

Unerschüttert und letztlich zufrieden setzte sie an diesem Morgen wieder einen Fuß vor den anderen, eine Hand immer am runden, eisernen Treppengeländer bis hinab vor ihre Wohnung im ersten Stock. Von unten hörte sie, wie jemand den Hausflur betrat. Rasch schlüpfte sie in ihre Behausung. Es war zu riskant, sich jetzt auf einen Schwatz mit einem Nachbarn einzulassen, erst musste alles vorbereitet sein.

Das Mittagessen fiel heute wie an jedem Waschtag aus. Diese Tradition hatte vor langer Zeit begonnen, als die Wäsche noch per Hand in der Waschküche im Keller in dem großen Bottich umgerührt werden musste. Wasser einfüllen, unter dem Kessel einheizen, Seifenflocken einrühren und dann mit dem Holzlöffel immer wieder umrühren. Einem Löffel, der auch ohne Weiteres als Kinderpaddel durchgehen konnte. Dann wieder nachspülen, auswringen, aufhängen, bügeln. Da blieb keine Zeit, auch noch zu kochen.

Auch wenn die Waschmaschine heute den Löwenanteil übernahm, hatte sie doch diese Gepflogenheiten so verinnerlicht, dass ihr nicht einmal der Gedanke gekommen wäre, an diesem Rhythmus etwas ändern zu können oder gar zu wollen. Genauso wenig stand jemals die Kaffeestunde montags, mittwochs und freitags zur Disposition.

Sie fütterte Johnny, den orange-gelben Kanarienvogel, gab ihm frisches Wasser, heizte den Backofen vor, erhitzte Fett auf dem Herd und rührte den Kuchenteig zusammen. Nachdem sie die Form in den Ofen geschoben hatte, drehte sie den mechanischen Kurzzeitwecker auf die erforderliche Backzeit und lauschte zufrieden dem Ticken des Uhrwerks. Hinter ihr trillerte Johnny aus seinem Käfig flankierend, was das Zeug hielt.

Eine gute Stunde hatte sie nun für die weiteren Besorgungen und das Frittieren der Hefeteilchen. Geschickt tauchte sie die bereits vorbereiteten Teiglinge nacheinander in das siedende Öl und fischte sie mit der Schaumkelle nach einigen Minuten wieder heraus. Auf dem ausgebreiteten Küchenpapier konnten sie nun abtropfen und auskühlen. Aus dem Gasofen drang schon der Kuchenduft durch die Ritzen.

Rosie hielt auf einmal inne und hatte das Gefühl, dass sie etwas Fundamentales vergessen hatte.

Draußen kamen Sirenentöne immer näher. Sie dachte angestrengt nach, bis ihr der erleuchtende Gedanke kam: Richtig – die Leiche!

Sie schaltete den Herd ab, kramte aus der Küchentischschublade zwischen Kordeln, Einmachgummis und einigem Krimskrams ein Stück Papier und einen dicken Bleistift hervor. Dann malte sie mit der schönsten Schreibschrift ›Hier keine Leichen ablegen!‹ darauf.

Sie besah sich ihr Werk, überlegte nochmals und schrieb schließlich ›Bitte.‹ darunter.

In der Lade fanden sich nach intensiver Suche zwei Reißzwecken, die sie vorsichtig in ihre Schürzentasche gleiten ließ. Danach nahm sie den Speicherschlüssel vom Schlüsselbrett und stieg wieder zum Dachboden hinauf. Sie vergewisserte sich, dass die Tür immer noch verschlossen war, pinnte ihre Botschaft daran und strich das leicht verknitterte Blatt sorgsam glatt.

Zufrieden musterte sie das Arrangement, nickte ihm aufmunternd zu und begab sich wieder in ihre Wohnung im ersten Stock.

Mit geübten Handgriffen deckte sie den Tisch, nahm den vorbereiteten Kuchen aus dem Ofen, garnierte ihn und die Teilchen mit reichlich Puderzucker und stellte die Köstlichkeiten schließlich zu dem Kaffeeservice mittig auf den Wohnzimmertisch.

Jahrzehntelang war sie es gewohnt gewesen, den Kaffee per Hand mit dem alten Porzellanfilter aufzubrühen, bis Micky ihr auch noch eine Kaffeemaschine aufgenötigt hatte.

»Ein Geschenk!«, hatte er ihr versichert und sie so lange bedrängt, bis sie sich bereit erklärt hatte, sie gemeinsam mit ihm in Betrieb zu nehmen. Seither wollte sie sie nicht mehr missen. Manche Annehmlichkeiten sollte man sich schon gönnen dürfen, hatten auch ihre Nachbarn beigepflichtet.

Während die Maschine gurgelnd und milde dampfend ihren Dienst aufnahm, öffnete sie die Fenster zur Straße. Es war etwa zehn vor drei und sie gab die Hoffnung nicht auf, etwas frische Luft hereinzulassen, obgleich es draußen wesentlich wärmer war als in den alten Mauern der Wohnstube.

Sie griff sich das dicke Sofakissen, legte es unter ihre Arme auf das Fensterbrett und sank wie üblich ein kleines Stückchen darin ein.

Vor dem Haus stand ein Krankenwagen mit Warnblinkanlage und offenen Hecktüren. Ach ja, den hatte sie also vorhin gehört. Wen die wohl hier abholen wollten?

Eine gewisse Neugier konnte man ihr nicht absprechen, freundlicher formuliert, ein Interesse an den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie musste sich diesmal aber weder weiter vorbeugen noch gedulden, denn schon kamen zwei Sanitäter mit einer Trage angerollt, auf der sie zu ihrer Überraschung die kleine Jessica Turbin erblickte.

Die anderen Autos stoppten kurz, als einer der Sanitäter durch Handzeichen zu erkennen gab, dass sie jetzt die Straße überqueren müssten.

Einige kurze Sirenentöne waren zu hören und kurz danach hielt ein Polizeiwagen hinter der Ambulanz, als sie gerade die Trage durch die geöffneten Doppeltüren schoben. Eine junge Frau stieg aus, ging auf die Männer zu und schien mit ihnen zu reden.

»Soso, auch noch die Polizei, da schau her«, dachte sie verwundert und war nun ernsthaft interessiert. Man konnte durch die Motorengeräusche nichts richtig verstehen, aber selbst mit ihren dicken Brillengläsern konnte sie die weißen Großbuchstaben POLICE auf dem Rücken der Blonden erkennen. Eine weitere Polizistin stieg aus und wartete neben dem Wagen.

Die erste Frau sprach offenbar auch kurz mit dem Kind und verabschiedete sich dann von den Dreien. Der Wagen des London Ambulance Service setzte sich kurz darauf in Bewegung und schaltete seine Blinkleuchten aus.

Die blonde Beamtin sah ihm nach, ging zu ihrer Kollegin und schaute unvermittelt zu ihrem Fenster hoch. Sie sahen sich einen Moment lang an, gerade so lange, als ob der Blick der Blonden etwas Fragendes angenommen hätte. Rosie winkte ihr zu und die Blonde erwiderte das Winken, etwas zögernd, aber freundlich lächelnd. Dann stieg sie in ihren Wagen.

Das Gefühl, sich schwerer konzentrieren zu können, etwas vergessen zu haben, überkam Rosie in den letzten Monaten zwar des öfteren, fand aber diesmal keine Gelegenheit, sich eindringlicher bemerkbar zu machen.

Das Timing der Einsatzkräfte hätte kaum besser sein können, denn die Gäste klingelten bereits und Rosie machte sich auf, sie in Empfang zu nehmen.

Minuten später würde ihre nette, plauschige Runde ungeplant erweitert werden. Rosie würde abermals öffnen und gleichermaßen überrascht wie erfreut ausrufen: »Ah, Polizei!«

6

Sie standen mit reichlichem Abstand an einer Ampel mit zeitlich sehr ausgeprägten Rotphasen, die bei grün gerade mal zwei Fahrzeuge durchließ. Vor ihnen warteten noch etwa fünfzehn Wagen auf die erlösende Farbe. Es hatte sich gerade eine längere Gesprächspause ergeben. Pat schien leicht abwesend und bohrte ausgiebig in der Nase.

Ally sah sich das Schauspiel von der Seite an, während Pat, ohne von ihrem Tun abzulassen, mechanisch wieder zwei Fahrzeuglängen aufschloss.

»Na, fündig geworden?«

»Was?« Pat war immer noch woanders.

Statt zu antworten hielt Ally ihr ein zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmtes Taschentuch hin.

Pat nahm nur die Bewegung wahr, blickte einen Augenblick verständnislos auf das Zellstofftuch und realisierte dann schlagartig, wo sich ihr linker Zeigefinger gerade befand. Rasch zog sie ihn aus der Nase und bemächtigte sich mit einem »Sorry, alte Angewohnheit« des Tuches.

Ally grinste.

»Ach, und Mylady bohren wohl nie in der Nase?«, knurrte Pat.

»Mylady lassen bohren!«, spottete Ally und schob nach: »Vor allem lassen sich Mylady nicht dabei beobachten und schon gar nicht erwischen!«

»Wir sind ja hier unter uns!«

Ally wollte sie gerade darüber belehren, dass sie schließlich von Fenstern umgeben waren, als ihr aufging, dass Pat tatsächlich recht hatte. Beim Einsteigen in der Tiefgarage hatte sie es gesehen: die Scheiben waren mit dunklen Spezialfolien beklebt, die nach draußen eine gute Sicht ermöglichten, aber aus Sicherheitsgründen keinen Blick ins Innere erlaubten. So wusste niemand, wieviele Beamte sich aktuell in dem Einsatzfahrzeug befanden.

Pat wischte übertrieben gründlich an ihrem Finger herum und hielt ihn Ally unter die Nase.

»Na, zufrieden?«

»Yesss, Sergeant!«

»Gut. Wenigstens ein Erfolgserlebnis.« Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. »Ich kotz’ gleich im Strahl, welches Arschloch hat denn diese Verkehrsführung geplant?«

Sie rüttelte heftig am Lenkrad und katapultierte sich damit zwischen Lenksäule und Sitz ein paar Mal hin und her. Es fehlte nicht mehr viel, bis ihr der Geduldsfaden vollständig riss. Sie setzte plötzlich ein – milde umschrieben – diabolisches Grinsen auf.

»Lass es!«, ermahnte Ally sie, als Pat ihren Zeigefinger langsam in Richtung Display bewegte.

Pat stoppte in der Bewegung und beklagte sich mit schlecht gespielter Empörung: »Du weißt doch gar nicht, was ich vorhatte!«

»Echt jetzt?«

Pat nickte bekräftigend.

»Du wolltest Blaulicht und Sirene einschalten und vor zur Kreuzung fahren, weil da ja ein ›Unfall‹ passiert sein könnte. Anders wäre der Rückstau ja gar nicht zu erklären und da man ja als Freund und Helfer die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten und natürlich auch den Straßenverkehr am Fließen halten muss und …«

»Bla, bla, bla – kannst aufhören!«

»Und, stimmt’s?«

»Ja, schon, nur ohne die Begründung. Ich wär’ einfach so drübergefahren.«

»Also lass es.«

»Spielverderber.«

»Kindskopf.«

Pat stöhnte, sagte aber nichts mehr.

Draußen flirrte die Luft über dem Asphalt. Gott sei Dank hielt die Klimaanlage zumindest den Innenraum im angenehmen Temperaturbereich.

Das nicht enden wollende Stop-and-Go zerrte natürlich auch an Allys Nerven, aber sie verkniff sich jegliche Andeutung, um Pat nicht doch noch einen Vorwand zu liefern, und schloss einfach die Augen, um über etwas zu sinnieren. Zur Verbesserung der Lage oder der Stimmung konnte sie schließlich nichts beitragen.

Pat hatte sich einstweilen einen neuen ihrer geliebten wie unvermeidlichen Kaugummis zwischen die Zähne geschoben und reagierte sich mit unentwegtem Aufblasen-und-platzen-Lassen etwas ab.

---ENDE DER LESEPROBE---