Mikrofone lügen nicht - Tom Crispa - E-Book

Mikrofone lügen nicht E-Book

Tom Crispa

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Pat & Ally! Ein Tontechniker hat Dinge gehört, die nicht für seine Ohren bestimmt waren. Das hat tödliche Folgen … Die fünfzehnjährige Holly-Mae hat alles, wovon andere Teenager nur träumen können: Geld, Berühmtheit, Karriere. Ihre Eltern unterstützen und fördern sie. Doch die perfekte Fassade bekommt plötzlich Risse. Als in Hollys Elternhaus ein Sprengstoffanschlag verübt und die verletzte Holly im Krankenhaus eingeliefert wird, bringen die Untersuchungen überraschende Ergebnisse.

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Inhalt

Titel

Impressum

Zitat

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Tom Crispa

Mikrofonelügen nicht

Kriminalroman

© 2022 LANA-Film e.K. 

- Alle Rechte vorbehalten -

Dieses Werk ist rein fiktional.

Umschlaggestaltung: Christian Vesper

Umschlagfoto: Fer Gregory/Shutterstock.com

Lektorat: Kirsten Vesper

Verlag: 

LANA-Film e.K.

61267 Neu-Anspach

Dürerstr.53 

www.lana-encore.de

LANA-Encore® ist eine Marke der LANA-Film e.K.

ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-946914-11-2

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-946914-13-6

Das E-Book wurde publiziert: Januar 2022

Zum Begräbnis der Wahrheit gehören viele Schaufeln.

                                                                    Sprichwort

1

Sie hatte Angst. Wieder einmal. 

Angst zu haben war ihr nicht fremd, gewissermaßen sogar vertraut wie eine alte Freundin, wenn auch keine gute, aber eben eine, die man in- und auswendig kennt. 

Ihr Herz klopfte unnatürlich laut, sie spürte, wie es gegen den Brustkorb hämmerte und das Blut in ihren Ohren rauschte. Ihre Hände und Füße waren eiskalt, obwohl es in dem Raum eigentlich angenehm warm war. Mit leerem Blick starrte sie auf den Kalender. Sie sah die Zahlen, die Wochen, die viel zu kurze Zeit, die ihr noch blieb. 

Sie hatte es hinausgeschoben, versucht, es, wenn irgendwie möglich, zu vermeiden. Sie brauchte so dringend seinen Rat, zugleich fürchtete sie, was er sagen würde. Er war bisher immer absolut offen und ehrlich zu ihr gewesen. Nie war er hinterlistig, aber schonungslos, gar erbarmungslos – ja, das war er schon. Dieser Ruf eilte ihmvoraus und brachte ihm bisweilen sogar stille Bewunderung ein.

Sie hielt es ihm unter die Nase und achtete dabei sorgsam auf den nötigen Abstand, den er aufgrund seiner Lesebrille brauchen würde, um die Tragweite auf Anhieb zu erfassen.

Er sagte nichts, sah sie einfach nur stumm an.

»Was … was meinst du dazu?«, fragte sie zögernd.

»Willst du das wirklich wissen?«, grummelte er.

»Ja, bitte«, hauchte sie unterwürfig. 

»Du willst meine Meinung wissen?«

Sie nickte.

»Eine gottverdammte Scheiße ist das! Das ist meine Meinung!«, rief er aufbrausend.

»Nicht so laut«, ermahnte sie ihn, »es muss ja nicht gleich jeder mitkriegen.«

»Ich scheiß drauf, was jeder … Was soll mir schon passieren? Was, hä?!«, brüllte er.

»Dass du auch immer so ausfallend werden musst.«

»Na und? Bisher hast du dich ja nicht beschwert, und selbst wenn, ich …«

»Ja, ja – ich weiß schon, was du sagen willst.«

»Musst du mir immer ins Wort fallen?«

»Das geschieht mit Absicht, wie du weißt.«

»Ach, fi…«

»Nicht dieses Wort«, schimpfte sie, »du weißt, welche Wörter tabu sind, also lass es!«

»Dann sag’ ich eben gar nichts mehr.«

»Ach, komm …«

»Kacke ist es trotzdem, oder darf ich das auch nicht sagen?«

»Weniger gern, aber im Grunde hast du recht, das finde ich nämlich leider auch.«

»Stimmt das denn überhaupt? Bist du dir ganz sicher?«

Sie zeigte ihm drei ähnliche Teile verschiedener Hersteller.

»Na toll. Und, was willst du jetzt machen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Deshalb bin ich ja zu dir gekommen.«

»Mmh. Hast du schon die anderen gefragt?«

»Nein. Ich glaube, die wären zu zurückhaltend«, log sie, dabei wusste sie genau, auf wen er im Besonderen anspielte. Er konnte Mr. Fox auf den Tod nicht ausstehen. Natürlich hatte sie aber seinen Lieblingsfeind gefragt.

»Darauf kannst du deinen Arsch verwetten: Das sind allesamt solche Weicheier. Luschen. Die kannste echt vergessen.«

Ausbrüche dieser Art ließ sie ihm durchgehen. Er hätte sich sowieso nicht darum geschert, wenn sie ihn gerügt hätte.

»Und, weiß dein Vater es schon?«

»Großer Gott, nein, der würde mir die Hölle heiß machen!« Sie vermied den Augenkontakt, damit er sie nicht bei dieser weiteren Lüge ertappte.

»Na und? Was schert’s dich? Was soll er schon groß tun, es sei denn …«

»Was?«

»Was, denkst du, wird er dir raten?«

»Das möchte ich nicht sagen.« Sie wich seinem Blick aus.

»Aha, dann weiß er es also doch schon?!«

»Nein, aber ich bin mir ohnehin ziemlich sicher, was er will.«

»So? Dann raus mit der Sprache, ich hab noch Besseres zu tun, als hier herumzulungern.«

»Herumlungern? Mehr ist das hier nicht für dich? Na vielen Dank auch!«

»Nun spiel’ mal nicht die beleidigte Leberwurst, du kennst mich doch. Also halt’ mal schön den Ball flach und mach’ hier nicht einen auf Diva. Das steht dir nicht und außerdem bis du viel zu jung für so ’nen Bullshit.«

Sie konnte und wollte ihm nicht widersprechen. In drei Tagen hatte sie Geburtstag, ihren sechzehnten. Nicht, dass dies etwas entscheidend in ihrem Leben ändern würde. Über das bestimmten sowieso längst andere. 

Gedankenverloren schaute sie durch das große Panoramafenster in den Garten. Eine grüne Wand aus Büschen, Sträuchern und Bäumen vermittelte die Illusion, sie vom Rest der Welt abzuschotten und ihre derzeitige Einsamkeit zu vergrößern. Nur die sanfte Bewegung der Zweige und Blätter bewies optisch, dass dort draußen überhaupt Leben stattfand, denn hören konnte man hier drin so gut wie nichts davon.

Nachdem sie sich in den ersten vierundzwanzig Stunden die Augen ausgeweint hatte, war sie innerlich absolut leer. Die unvermeidbaren Nachfragen hatte sie damit abgetan, sie hätte sich beim Schneiden einer frischen Chilischote versehentlich ins Gesicht gefasst. So etwas brannte höllisch und machte Schmerzen und Tränen hinreichend plausibel.

»Hey, nicht träumen. Stichwort Vater!«, brachte er sich wenig einfühlsam in Erinnerung.

»Abtreibung«, flüsterte sie. »Er würde eine Abtreibung wollen.«

»Abtreibung ist Mord!« Der Satz schoss schnell und brutal durch die Luft und versetzte ihr einen tiefen Stich im Herzen, obwohl sie ihn hatte kommen sehen.

Verzweifelt blickte sie auf den Schwangerschaftstest, der mit zwei Strichen ›positiv‹ anzeigte. Bei einer Zuverlässigkeit von über 95 Prozent gab es da wenig Hoffnung auf einen Irrtum. Den allerersten Test hatte sie verloren. Auch die anderen vier Tests verschiedener Hersteller wollten jedoch nichts Gegenteiliges behaupten und schienen sie gnadenlos zu verspotten.

Aber das war doch unmöglich! Seit ihrer ersten Periode hatte ihr Vater darauf bestanden, dass sie die Pille nahm.

Die Frauenärztin war damals von diesem Ansinnen wenig angetan gewesen, hatte sich aber darauf eingelassen, ihr wenigstens ab zwölf die entsprechenden Rezepte auszustellen. Seitdem nahm sie das Verhütungsmittel penibel genau und zuverlässig ein. Wie zur Hölle konnte sie dann schwanger sein?

Ohne das Spannungsgefühl in den Brüsten, die wiederkehrende Übelkeit, Müdigkeit und Schwindel wäre sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, sich unauffällig einen Schwangerschaftstest besorgen zu lassen. Und danach fand sie im Netz die Ursache: vor etwa zehn Wochen hatte sie nach Einnahme der Pille einen bösen Magen-Darm-Infekt mit Erbrechen und Durchfall gehabt. Sie erinnerte sich genau daran, weil sie deswegen mehrere Proben hatte ausfallen lassen müssen.

Und nun – ein Kind? Dabei fühlte sie sich selbst noch wie eines. Zumindest gelegentlich.

Mord. 

Der Begriff spukte in ihrem Kopf herum. Mord – wie oft hatten sie in den letzten Tagen darüber gesprochen! 

Nun sollte sie auf einmal neues Leben schenken, ein Kind in die Welt setzen, während ihr eigenes Leben seit Tagen von Unbekannten mit dem Tode bedroht wurde. 

Wie absurd!

Sie verließ wortlos das Zimmer, ohne sich zu bedanken. Er war ihr keine Hilfe gewesen.

War ja klar. 

Sie verfluchte sich selbst.

2

Er hatte sich schon darauf eingestellt, dass es wieder mal ein wenig länger dauern würde. Seine Kleidung befand sich bereits sorgsam zusammengelegt in dem Weidenkörbchen am Boden und er war bis auf seine Unterhose nackt. Wie immer lag er mit dem Gesicht nach unten, wurde rasch mit Handtüchern abgedeckt und hörte: »Ich komme gleich«, was ein ebenso stereotyper wie wenig zutreffender Satz dieses Etablissements war. Es sei denn, man dehnte die Definition von gleich auf bis zu fünfzehn Minuten.

Die hier tätigen Damen waren wahre Meisterinnen ihres Fachs. Fast jede hatte bereits sachkundig und erfolgreich Hand an ihn gelegt. Die Massagen boten grenzenlose Entspannung, nur mit der Organisation ihrer Termine waren sie häufig überfordert. Zu ihrer Ehrenrettung musste man sagen, dass nicht gerade selten Kunden ihre Terminvereinbarungen nicht einhielten und dann alle Folgetermine für weitere Kunden ins Trudeln kamen. Er, anstelle der Betreiberin, hätte kurzen Prozess gemacht, frei nach dem Motto: Du bist für 14:00 Uhr angemeldet, wenn du um 14:20 Uhr erscheinst, ist deine für sechzig Minuten gebuchte Massage eben nur noch vierzig Minuten lang. 

Aber es war eben nicht seine Entscheidung. Womöglich hatte es auch etwas mit der asiatischen Kultur zu tun, niemanden enttäuschen zu wollen, nicht Nein-sagen zu können? Falls es eine derartige Kultur überhaupt gab, in diesem Punkt war er sich nicht so sicher.

Anstelle weiter mit dem Gesicht nach unten in der Aussparung zu liegen, hatte er sich umgedreht, ein Kissen unter den Kopf geschoben und sah nun nach oben. In großen Bögen hingen tiefviolette Gazeschleier herunter, um den Raum etwas heimeliger zu gestalten und nicht den Blick auf eine schnöde kalkweiße Decke in dreieinhalb Metern Höhe ertragen zu müssen. Wenn alles nach Plan lief, sah man die allerdings ohnehin kaum: reinkommen, hinlegen, Massage, anziehen, gehen.

Heute lief es mal wieder nicht nach Plan.

Links und rechts von ihm waren weitere Liegen durch bodenlange, blickdichte Vorhänge in fantasielosem Beige verborgen und den Geräuschen zufolge befanden sich die Kabinen in Betrieb. Als Stammgast kannte er jede der zehn auf der Etage verteilten ›Räumlichkeiten‹. 

Der Duft aus Massageölen und asiatischen Wohlgerüchen durchwob das gesamte Areal bereits ab dem Moment des Eintretens, verfing sich auch in der Kleidung und auf seiner Haut dann sowieso. Die CD mit thailändischen Klängen lief in Dauerschleife und war über die Monate hinweg bestimmt inzwischen um einiges dünner geworden. Nach einer Stunde ging alles wieder von vorne los. Es gab hier nur diese eine CD. Vielleicht waren es auch mehrere, dann aber alle identisch bespielt. Als Angestellte musste man bei der Dauerberieselung entweder wahnsinnig werden oder die Kunst entwickeln, sie schlicht auszublenden. Dem fröhlichen Gemütszustand der Ladys zufolge beherrschten sie eindeutig auch letzteres.

Ein Fleck an der Deckenkante erregte seine Aufmerksamkeit: eindeutig eine Verfärbung. Genau konnte er es nicht erkennen, aber es wirkte gerade so, als hingen dort einige dicke, schwerfällige Tropfen, die sich noch nicht dazu durchgerungen hatten, sich fallen zu lassen. 

Ein Wasserschaden, was sonst? Es hatte ja vor ein paar Tagen ein heftiges Gewitter gegeben.

Ihm fiel wieder ein, dass dies ein beliebtes Motiv in Krimis war – Tropfen, die sich rot verfärbten und Blut, das durch die Decke sickerte. Erst langsam, dann immer schneller. Dann würde jemand den Raum betreten, das Malheur wahrnehmen und schreien. 

Eine Frau. 

Es musste immer eine Frau sein, die schrie. 

Klang von der Frequenz auch besser als der Schrei eines Baritons. Wenn er es recht bedachte, war die ganze Schreierei doch nur dazu da, um dem Zuschauer klarzumachen, dass da etwas Schreckliches passiert war. 

Mmh, ein Tablett. Sie könnte auch noch ein Tablett mit Geschirr fallen lassen. Schön dramatisch. Am besten in Zeitlupe.

Er brummte. Keine der Frauen, die er kannte, würde sich so verhalten. Die Zeiten hysterischer Weiber waren schon lange vorbei. Gott sei Dank. 

Außerdem brauchte es wohl auch etwas mehr als ein paar Blutstropfen, da müsste schon eine echte Leiche her, aber selbst dann …

»Bin glei’ daaa«, tönte es vor dem Vorhang, der zum Flur führte. Der Klang war heute etwas befremdlich, aber die Intention war eindeutig.

Anong würde gleich kommen, sie würden wie üblich ein paar Scherze machen. Wenn Anong aus der kurzen Pause kam, dann gluckerte ihr Darm lautstark und sie machten sich jedes Mal gemeinsam darüber lustig, ohne je hinterfragt zu haben, warum das überhaupt komisch sein sollte.

Es war besser, sich nun in die richtige Position zu begeben. Er zog das Kissen weg, drehte sich und schmiegte sich mit dem Gesicht in die handtuchumkleidete Vertiefung der Massageliege. Die Arme hingen seitlich herunter. Alles wie immer. 

Hinter ihm wurde der Vorhang auf- und wieder zugezogen. Das große Badetuch war etwas verrutscht, wurde wieder gerichtet und ein Handtuch über seinen Hinterkopf gelegt.

»Das ist aber neu«, sagte er. Kein besonders origineller Satz, um ihn als letzte Worte für die Nachwelt zu bewahren.

Anstelle einer Erklärung gab es ein hässlich knackendes Geräusch. Das Frotteehandtuch begann sich vollzusaugen und dabei seine Farbe zu wechseln. Tobey Wernet tropfte aus Mund und Nase das Laminat voll, wobei tropfte hinsichtlich Volumen und Geschwindigkeit durchaus als Euphemismus verstanden werden durfte. 

Etwa drei Minuten später hörte man erneut ein lauteres »Bin glei’ daaa.« Die Metallösen des Vorhangs erzeugten beim Gleiten über den Stahldraht ein unverwechselbares Geräusch.

Anong, seine Lieblingsmasseurin, machte indes kein Geräusch und bewegte sich lautlos. Sie lächelte kurz, als sie den rosa Papierflamingo auf der sauber zusammengefalteten Kleidung erblickte. Ihre Finger glitten flink unter das Handtuch am Fußende und ebenso schnell wieder heraus.

Mit etwas Stolz hätte er somit darauf hinweisen können, dass seine Einschätzung bezüglich der heutigen Frauengeneration richtig gewesen war. Sie warf kurz einen Blick auf ihren Kunden, hob mit spitzen Fingern das durchtränkte Handtuch an und bedeckte sofort wieder den zertrümmerten Schädel.

Sie stöhnte. 

Dieser Kunde benötigte keine Massage mehr und auch keinen Arzt. Als Stammkunde würde man ihn streichen müssen.

Anong war wenig begeistert. Die Chefin würde ihr die ausgefallene Stunde vom Lohn abziehen.

3

Holly sah aus dem Fenster, vergeblich auf der Suche nach Wolken oder einer Spur von Regen und warf sich auf ihr Bett. Que sera, sera?, kam ihr in den Sinn. Was sein wird, wird sein. Aber wer konnte schon sagen, was sein würde? Vor allem, wenn man erst im Nachhinein erfuhr, welche Auswirkungen eine einmal getroffene Entscheidung für die Zukunft nach sich ziehen würde. Manchmal war es womöglich sogar gut, Entwicklungen nicht im Voraus zu kennen. Im Falle Tobey Wernet hatten eine abgrundtief dumme Selbstüberschätzung sowie ein loses Mundwerk unerwünschte Nebenwirkungen gehabt, von deren Ausgang sie noch nichts wusste. Seit Tagen beschlich sie das Gefühl, dass etwas Schreckliches passieren würde. Sie starrte eine Weile die Decke an.

Sollte sie reden? Mit wem? Oder besser schweigen, stumm bleiben? Einfach mal einen Schalter umlegen …

Einer der ersten Punkte, den man ihr freundlich eingebläut hatte, als sie zum ersten Mal auf einer Fernsehbühne stand: schalte stets deinen Mikrofonsender auf stumm, wenn du nicht auf der Bühne stehst! Die Mute-Taste zu betätigen war ihr seitdem genau so vertraut wie das abendliche Zähneputzen, das genauso automatisch und routiniert funktionierte, ohne eine Sekunde darüber nachzudenken. Um so belustigter zeigte sie sich an jenem denkwürdigen Nachmittag, als sie auf der Bühne darauf wartete, dass die Beleuchter mit ihrer Arbeit fertig würden. 

Der Regisseur hatte sich nach dem ersten Probendurchlauf entschieden, eine andere Lichtstimmung einzusetzen und sie saß auf dem Barhocker und geduldete sich. Fast hätte sie laut losgelacht, als sie bemerkte, dass der Tonmeister, der sie nun seit vielen Monaten begleitete, seinerseits wohl vergessen hatte, das Mikrofon im FOH abzustellen. Mit Front of House war der Punkt im Zuschauerraum gemeint, an dem der Tontechniker die von der Bühne kommenden Töne, wie Sprache und Musik, für das Publikum so aufbereitete, dass alles klar und verständlich mit der richtigen Lautstärke, den passenden Effekten und natürlich ohne lästige Rückkopplung ankam. Neben ihm saß häufig der Lichttechniker, manchmal auch hinten im Regieraum der jeweiligen Halle, wenn es einen entsprechend gut ausgestatteten gab. 

Top-Stars wie Holly brachten meist ihren eigenen Tonmann mit, der ihren Showact in- und auswendig kannte und die Probenzeit damit deutlich reduzierte, wichtiger aber war es, ihr einen perfekten Auftritt ermöglichte. 

Tobey Wernet unterhielt sich mit dem Tonmeister des TV-Senders, einem schlaksigen, ganz netten Typen mit einem Gesicht, das einem in Erinnerung blieb. Auch sie mussten auf die Lichtgestalter warten.

Während der Show spielte man Hollybei den Gesangsnummern die eigene Stimme mit dem abgemischten Instrumentalton auf ihre genau angepassten In-Ear-Kopfhörer. Genauso hörten sie dann auch die Zuschauer. Über diesen Kanal kommunizierte sie auch während der Probe mit Tobey. Offenbar hatte er den Regler nicht weit genug heruntergezogen, sodass sie unfreiwillig Zeugin der Unterhaltung wurde.

»Doch, doch – wenn ich’s dir doch sage, das ist ein absolut geiler Schuppen! Erst kriegst du eine hervorragende Thai-Massage und danach verpassen sie dir auf Wunsch noch ein Happy End. Steht natürlich draußen nicht dran.«

»Was – echt?«

»Klar doch. Das ist ein ganz normaler Salon, man muss halt nur um die Spezialitäten wissen. Der Alte von unserer kleinen Prinzessin da unten weiß das auch zu schätzen.«

Die Scheinwerfer blendeten sie, aber sie war sich sicher, dass sie in ihre Richtung geschaut hatten. Glücklicherweise war sie derart überrascht, dass sich ihr Gesichtsausdruck noch nicht verräterisch geändert hatte.Die beiden setzten ihr Gespräch ungerührt fort.

»Und du meinst …«

»… genau. Der alte Bock lässt sich da auch einen runterholen.«

»Äh, und woher weißt du das?«

»Na, weil er’s mir gesagt hat! Was glaubst du wohl, woher ich von dem Schuppen weiß?«

»Sowas erzählt der dir? Kaum zu glauben.«

»Hat mich ja selbst gewundert. Wir sind mal nach einer Show in Dublin ziemlich versackt. Er hatte dauernd erfolglos versucht, eine blutjunge Kellnerin anzumachen, die hat ihn aber heftig abblitzen lassen. Dann hat er plötzlich davon angefangen, dass er sich am nächsten Tag dann eben wieder mal eine Spezialmassage gönnen würde. Ich hatte wohl etwas weniger getrunken als er, jedenfalls habe ich mir seinen Trick gemerkt.«

»Trick? Was für einen Trick?«

»Versprich erst, dass du es für dich behältst und nur für dich verwendest! Und kein Wort zu den Bullen!«

»Okay, abgemacht!« 

»Gut. Also zwanzig Pfund für’n Handjob, für vierzig setzt sie sich auf dich drauf – natürlich mit Gummi! Der kostet nix extra!« Tobey lachte über seinen Witz und fuhr ungefragt fort: »Wenn du dort ankommst, gibt’s da in den Räumen so einen kleinen, aus Papier gefalteten rosa Flamingo auf der Liege. Den nimmst du und setzt ihn auf deine abgelegten Klamotten. Die passenden Geldscheine für deinen Wunsch schiebst du am Fußende unter das Handtuch auf der Liege.«

»Und dann?«

»Dann legst du dich hin und genießt. Ach ja, die normale Massage buchst und bezahlst du natürlich vorne am Tresen! Da sitzt übrigens auch immer ein etwas stämmiger Typ. Du solltest dich also in diesem Etablissement besser gut benehmen.«

»Also, ich weiß nicht recht …«

»Wieso, wo ist das Problem?«

»Woher willst du denn wissen, ob die das freiwillig …«

»Alles auf Anfang, bereit für die Probe«, dröhnte die Regie über die Hallenlautsprecher dazwischen, während alle Scheinwerfer in die Startposition zurückfuhren.

»Holly, bist du soweit?«, vernahm sie Tobeys Stimme in gewohnter Lautstärke aus den Kopfhörern. Er schien nicht bemerkt zu haben, wo sich der Regler kurz zuvor befunden hatte.

»Bei mir alles klar«, antwortete sie und war erleichtert, dass keiner etwas von ihrer Lauscherei mitbekommen hatte. Dass ihr Vater kein Heiliger war, dessen war sie sich seit langem bewusst. Später würde sie sich bestimmt nochmals in Ruhe Gedanken darüber machen, ob sie sich mehr vor ihrem Vater oder vor Tobey ekeln sollte. Unabhängig davon waren beide gerade in ihrer Achtung erheblich gesunken.

»Ruhe bitte – wir proben! Und … Bitte!«

Das Rotlicht an der ersten Kamera leuchtete auf, die Steadicam bewegte sich wie beim ersten Durchlauf auf sie zu und von hinten setzte sich der Kran in Bewegung.

Sie knipste ihr Bühnengesicht an und begann mit ihrer Show. 

Hätte Tobey nur nicht im Papierkorb gewühlt oder sie nicht mit ihrem Vater gesprochen. Andererseits … wenn sie nicht auf den Test gepinkelt hätte … Ach, zum Teufel mit allen! Konnte man sie nicht einfach in Ruhe lassen?

Plötzlich fröstelte sie und verließ das Bett. Die Klimaanlage war wohl zu tief heruntergeregelt. Das Display stand auf 18 Grad Celsius und sie korrigierte die Einstellung. Dann sah sie sich um und holte tief Luft.Es würde sich etwas ändern. Es musste sich etwas ändern. 

Nicht irgendwann.

Bald. 

Sehr bald.

4

Sie wagte nicht, sich umzudrehen.Sich jetzt umzuwenden wäre ein folgenschwerer Fehler. Es gab Dinge, die musste man einfach akzeptieren, auch wenn sie einem wirklich sehr, sehr selten passierten. 

Ally holte tief Luft und versuchte ein weiteres Mal sich zusammenzureißen. Was sie sonst mit schlafwandlerischer Sicherheit beherrschte, war bereits zweimal misslungen. Im Moment hatte sie keine Vorstellung, ob und wie sie da jemals wieder herauskommen würde. Die Sonnenbrille, die sie in ihr Haar geschoben hatte, zitterte vor dem drohenden Absturz auf den Asphalt. 

»Hast du’s jetzt endlich mal?«, rief es hinter ihr.

Die Stimme hatte recht, es half ja nichts. Langsam drehte sie sich um und sah ihre Freundin an.

Pat stand mit verschränkten Armen in einigen MeternEntfernung und bemühte sich wie zuvor, ihre Missbilligung auf dem Gesicht abzubilden. Kaum hatten sich ihre Blicke gekreuzt, brach Ally schon wieder derart in Gelächter aus, dass Pat sich langsam Gedanken machte, ob sie sich womöglich doch sorgen müsste. Das ging jetzt seit ein paar Minuten so, aber gefühlt schon wirklich zu lange. 

Pat hatte mal etwas Ähnliches bei Outtakes von Filmen gesehen: Lachflashs – wenn sich bei einem Darsteller einer festgesetzt hatte, konnten sie die Szene so oft wiederholen wie sie wollten, immer an der gleichen Stelle ging das Lachen wie krampfartig wieder von vorne los. 

Ein probates Mittel war es wohl, dem Opfer des Lachanfalls kräftig eine zu scheuern.

»Ey, du bist gerade echt so eine Bitch, du …«, schimpfte sie und überlegte, ob sie Ally ebenfalls ohrfeigen sollte beziehungsweise sogar müsste.

Ally stützte sich mit beiden Händen im Neunzig-Grad-Winkel knapp oberhalb ihrer Knie ab und versuchte offenbar, sich mit Atemtechnik wieder einzukriegen. Pat konnte sehen, dass sie die Augen geschlossen hielt und wartete.

Nach einer Minute richtete sie sich wieder auf und sah Pat direkt an. Das Gröbste schien überstanden, auch wenn immer noch ein unverschämtes Grinsen in ihrem Gesicht stand und sie ein aufkommendes Kieksen erkennbar unterdrückte.

»Bitch hab’ ich gehört.«

»Geschieht dir recht, was musst du dich auch so über mich lustig machen«, schmollte Pat, ohne überzeugend zu wirken.

Ally legte den Kopf in den Nacken und atmete abermals tief ein. Dann ging sie auf Pat zu und machte eine entschuldigende Geste.

»Sorry. Ich wollte mich nicht lustig machen, aber dein Gesichtsausdruck vorhin – der war so umwerfend komisch, dass ich mich beim besten Willen nicht mehr beherrschen konnte. Und du weißt, was das bedeutet, wenn ich so etwas sage!«

»Ach ja? Und womit durfte ich zu Mylady’s Erheiterung beitragen?«

»Na, die Frage und dann dein Gesicht auf meine Antwort.«

»Die Frage?Wenn du aber eine Angehörige des MI5 wärest – dann müsstest du das doch leugnen?«

»Genau die! Und dann dein Gesicht, als dir klar wurde, dass du nach meiner Antwort genauso schlau warst wie zuvor.« 

Ally kannte inzwischen einige der wunden Punkte ihrer Freundin und wich, soweit möglich, meist thematisch aus, ehe sich größerer Frust ausbreiten konnte.

»Sei bitte nicht böse, ich weiß nicht mal genau, warum ich das so wahnsinnig witzig fand, aber mich hat es eben erwischt. Das letzte Mal, als ich so einen Koller bekommen hatte, war ich vierzehn und habe mich unter einen Tisch verkrochen, bis ich wieder normal war. Aber hier gibt’s eben keinen Tisch. Du weißt, dass ich mich nie über dich lustig machen würde.Dich aufziehen, mit dir lachen – das wird vorkommen. Dich verspotten – niemals! Falls dich das also gekränkt haben sollte, bitte ich um Entschuldigung.« 

»Entschuldigung angenommen«, sagte Pat, »kostet dich aber einen megagroßen Eisbecher!«

»Soll so sein, Sergeant! Frieden?«

»Frieden!«, bestätigte sie und trat näher an das Fahrzeug heran.Dort steckte sie die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans und blieb vor der Fahrertür stehen. 

Ally sah über das Wagendach zu ihr herüber und erahnte die unausgesprochene Frage.

»Steig erstmal ein, es müssen ja nicht alle zusehen.« Mit dem Kopf deutete sie auf die Fassade der Seniorenresidenz, auf deren Parkplatz sie sich befanden.

Sie stiegen ein und schnallten sich an. Bevor sie den Wagen anließ, sah Pat abwartend herüber.

»Nein, Pat, ich bin wirklich nicht vom Inlandsgeheimdienst. Das wolltest du doch wissen, nicht?«

»Ja, wollte ich. Danke.«

»Bitte.«

Der Motor startete und Ally gluckste erneut.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, fauchte Pat genervt.

»… aber vielleicht vom MI6, dem Auslandsgeheim…«, ergänzte Ally halblaut grinsend, konnten den Satz aber nicht beenden, da Pat ihr eine Kopfnuss verpasste.

»Aua! Hey, das tut weh«, jammerte sie übertrieben und rieb sich die Stelle.

»Das mach ich jetzt jedes Mal, und zwar solange, bis du den Clown wieder ausgespuckt hast, den du offensichtlich zum Frühstück hattest. Ich fass’ es nicht! Womit habe ich so einen gackernden Teenie verdient? Ist es jetzt endlich mal gut?«

Ally hielt sich die Nase zu und nickte. Es war ihr zunehmend peinlich, derart ausgeflippt zu sein, besonders, weil sie keine befriedigende Erklärung dafür hatte, wieso das auf einmal passiert war. Hoffentlich kam jetzt nicht noch irgendeine andere Vorlage von Pat, die sie in die nächste Runde katapultierte. 

Pat sah sie prüfend an und schüttelte den Kopf. Drogen oder ein Nervenzusammenbruch, das wäre wohl plausibel, passte aber nicht zu Ally. Es machte aber auch wenig Sinn, weiter zu spekulieren. 

»Schön. Jetzt bringen wir die Karre wieder in den Yard, schließlich haben wir in Kürze Feierabend und dann werde ich dich in der Eisdiele arm machen.«

»Ist mir recht«, bestätigte Ally und rieb sich abermals die Stelle am Kopf. Die Lachkrise verebbte Gottsei Dank endlich spürbar. Sie schielte unauffällig zu Pat hinüber, die gerade auf den Querverkehr konzentriert war und sich mit dem Wagen Richtung City einfädelte. Es würde um diese Uhrzeit noch etwas länger bis zum Zielort dauern, da die Straßen noch gut gefüllt waren.

Mehr und mehr begann Ally sich darüber zu freuen, dass Pat die Ansagen machte und sie völlig die Verantwortung abgeben durfte. 

Folgen.

Einfach folgen.Wie wunderbar entspannend!

5

Holly stand unschlüssig vor dem Zimmer. Sollte sie noch einmal zurückgehen oder doch lieber die anderen fragen? Sie schlug mehrfach sanft, aber deutlich gegen den Türrahmen. Aber die berühmten leichten Schläge auf den Hinterkopf, die angeblich die Denkfähigkeit anregen sollten, gehörten offenbar auch ins Reich der Märchen. Außer einer Beule, die sie bei einer weiteren Steigerung der Intensität ereilen würde, war nicht mit sinnvollen Ergebnissen zu rechnen. So stellte sie dieses Unterfangen frustriert ein, zog ihr Shirt hoch und strich nachdenklich über ihren nackten, flachen Bauch. 

Eine Mutter wäre die natürliche Anlaufstelle, um Rat zu suchen, aber nicht ihre Mutter. Mit Jenny zu sprechen – pah, dann konnte sie auch gleich wieder zu ihrem Vater gehen! Ein Meinungsaustausch zwischen Jenny und ihrem Vater endete ausnahmslos damit, dass Jenny mit ihrer Meinung hineinging und mit Vaters Auffassung wieder herauskam. Witzlos. Völlig witzlos.

Hatte die Frau überhaupt so etwas wie einen eigenen Willen?

Sie lachte bitter. Woher nahm sie eigentlich die Arroganz, sich darüber lustig zu machen und sich zu erheben, wo sie selbst doch seit Jahren nach seiner Pfeife tanzte?

Brian Stobb bestimmte ihr komplettes Leben. Schon immer. Er war mehr als ihr Vater, auf unerbittliche und rücksichtslos egoistische Weise viel mehr. 

Er war ihr Manager.

Mit dem ersten Erfolg, den sie nach Hause brachte, strich er ihren Vornamen Holly-Mae auf Holly zusammen. Ihren Nachnamen musste sie als Künstlernamen auf den Mädchennamen ihrer Mutter ändern: van Dongen. Den eigentlichen Familiennamen Stobb wollte er im Zusammenhang mit ihr nicht gedruckt sehen. Zu sehr hatte sich die Hänselei aus seiner Schulzeit eingebrannt, als sie aus Stobb die Verballhornung Slob – Lümmel, Chaot, Schlamper, Tölpel– machten. Schon damals hatte er den Entschluss gefasst, es eines Tages allen zu zeigen.

So wurde aus Holly-Mae Stobb die gefeierte Holly van Dongen – sein Goldesel. 

Er selbst wollte von ihr mit Daddy angesprochen werden, seine Frau, ihre Mutter, mit Jenny. »Nomen est Omen«, hatte er ihnen vor vier Jahren verkündet und dabei kein Geheimnis daraus gemacht, dass er, im Gegensatz zu seinem Nachnamen, seinen Vornamen als besonders treffend empfand. Brian, aus dem Keltischen stammend: der Erhobene, der Erhabene, der Edle!

Ihr war es recht. 

Bei dem, was die beiden mit ihr anstellten, würde sie sich lieber die Zunge abbeißen, als sie als Mutter zu bezeichnen. Daddy und Jenny ging, auch wenn sie danach immer ein Würgereiz überkam. Sie fühlte sich verraten und verkauft.

Verkaufen? Bei Gott, wenn es etwas gab, was dieser Mann konnte, dann war es das – verkaufen! Zweifellos war er es, der die Blaupause abgegeben hatte für den Ausspruch: »Er könne Eskimos Kühlschränke und Beduinen Sand verkaufen.« Ausgestattet mit einem Ego, das Grenzen nur als theoretischen Begriff aus der Fachliteratur kannte, und einem Charme, den man als Schmiermittel in Flaschen hätte abfüllen und alleine damit ein Vermögen machen können, schenkte ihm Fortuna im Dezember vor vier Jahren die Lizenz zum Gelddrucken. Nicht wortwörtlich, so doch im übertragenen Sinne. Die optische Unterstreichung der Fügung war ein Goldregen aus kleinen Kunststoffstreifen, der auf seine damals knapp zwölfjährige Tochter herabregnete. Noch während Holly die letzten Töne in den Saal schmetterte, schlug der kritischste und berüchtigtste der Juroren auf den Golden Buzzer und katapultierte sie direkt in die Finalrunde.

Brian Stobb hatte Tränen in den Augen, wie die meisten im Publikum, bei ihm erweitert um Dollarzeichen, denn so viel war gewiss – bei England sollte nach diesem Auftakt-Triumph nicht Schluss sein, die USA wären das wahre Eldorado. Konkurrenz hin oder her, die hatte ihn noch nie von etwas abgehalten. 

Brian fing an zu managen und hatte bis heute nicht damit aufgehört. Er hatte seitdem alles und jeden im Griff, außer vielleicht Dana. Das hatte er aber noch nicht bemerkt. Wie ihm in seiner Selbstherrlichkeit das eine oder andere zu entgleiten drohte. 

Das letzte, das allerletzte, was er in dieser Situation gebrauchen konnte, war eine schwangere Tochter! Zu viel Geld stand bei den geplanten Tourneeauftritten auf dem Spiel, obwohl Brian sie vorsorglich ebenso hoch wie umfänglich versichert hatte.

Holly wusste genug, um ihre Eltern diesbezüglich richtig einschätzen zu können: das Geschäft zuerst! 

Sie seufzte tief und begann sich mit dem Gedanken an eine Abtreibung anzufreunden. Sich beraten, mit wem?

Mit Rupert? Sonst ja, aber diese Sache war doch zu heikel.

Dana. 

Dana vertraute sie. Vielleicht hatte sie ja doch recht mit ihrem Vorschlag.

Holly nahm die Hand von ihrem Bauch. Unbewusst hatte sie sie unter dem wieder darüber hängenden Shirtwie schützend darauf gelegt. 

Dana, sie sollte mit Dana sprechen!

Auf den Klavierlehrer hatte sie heute keine Lust.Außerdem würde sie ohnehin zu spät kommen und das Gemecker über Unpünktlichkeit konnte sie sich sparen. Irgendjemand würde sowieso an ihr herumkritteln. Sie beschloss Menstruationsschmerzen bekommen zu haben, rief ihre Mutter an und teilte mit, dass sie heute hierbliebe. Kurz danach hörte sie, wie Jenny das Haus verließ und wegfuhr. Der Weg war frei. Nun musste sie nur noch Dana finden.

Schnell stopfte sie das Hemd wieder in die Hose und ging nach unten. Wo steckte sie bloß? Weder in der geräumigen Küche, noch in den Wohnräumen, ihrem eigenen Zimmer, noch dem Hauswirtschaftsraum, der Sauna, dem Pool oder dem gesamten Untergeschoss war sie zu finden. Unter dem Dach musste sie gar nicht erst suchen, das war Brians Bereich. Hin und wieder rief sie laut ihren Namen. Eigentlich blieben nur noch die ebenerdige Garage und der Garten. 

Sie ging wieder nach oben.

Nach den jüngsten Drohmails sollte sie strikt im Haus bleiben und auf keinen Fall allein das Grundstück verlassen, aber weder das eine noch das andere hatte sie vor.

Sie hörte auf einmal ein leises elektrisches Summen durch die Wand. Offensichtlich öffnete sich gerade das breite Garagentor.

»Dana?«, rief sie zum wiederholten Male und drückte die Klinke nieder. Wo zum Teufel nochmal war die abgeblieben?

Für einen ganz kurzen Augenblick sah sie im Gegenlicht des fast vollständig geöffneten Tores eine Gestalt in den Gelände-Mercedes ihres Vaters gebeugt. Ein scharfer Benzingeruch raubte ihr fast den Atem. Sie drückte das Türblatt rasch etwas weiter zu, um dahinter Luft zu holen. Die letzte Lamelle rollte währenddessen in die vorgesehene Ruheposition. Gleichzeitigereignete sich eine heftige Explosion. Das schwere Blatt der noch handbreit geöffneten Tür schleuderte sie mit voller Wucht in den Gang zurück und fiel danach durch den Schließmechanismus langsam wieder zu. 

Holly lag reglos an Boden und selbst die schrillenden Rauchmelder vermochten sie nicht zu wecken.

6

Rupert Dalrymple war damals noch von dem alten Mr. Stobb als Kfz-Mechaniker eingestellt worden. Seit seinem Renteneintritt verdiente er sich bei Stobb junior etwas zu seiner kärglichen Rente hinzu. Brian Stobb hatte ihm großzügig angeboten, in seinem Privathaus als Hausmeister zu fungieren, und wenn er schon mal da war, gleich auch noch die Gartenarbeit zu übernehmen. Stobb sparte sich den Gärtner und knauserte am Stundenlohn. 

Gerne hätte er ihm gesagt, wohin er sich seine Großzügigkeit stecken könne, aber das Geld war wirklich knapp und für einen Mann seines Alters gab es andernorts außer völlig unregelmäßigen, unsicheren Gelegenheitsjobs kaum Angebote und damit keine rosigen Aussichten.

Also hatte er leidenschaftslos zugestimmt. Er wollte auch nicht allzusehr aufbegehren, da auch seine Tochter Cathy nach ihrer Scheidung auf die Stelle als Stobbs Sekretärin angewiesen war. Sieben Jahre waren seither schon wieder vergangen. Die ersten Jahre waren ziemlich unerfreulich gewesen, denn Stobb jr. erwies sich als richtiges Ekelpaket. Ständig hatte er völlig kleinkariert an der Arbeit etwas herumzumäkeln. Vermutlich aus purer Lust, weil er es konnte.

Im zweiten Winter hatte er es dermaßen auf die Spitze getrieben, dass der sonst so stoische Dalrymple es nicht mehr aushielt. In jenen Tagen waren die Wege sehr glatt und häufig vereist. So hatte er am frühen Abend, bevor er nach Hause ging, vorsorglich Rollsplitt auf die Auffahrt und die Wege rund um das Gebäude gestreut. Am darauffolgenden Vormittag taute es etwas und Mr. Stobb schnauzte ihn an, er solle seine Arbeit gefälligst ordentlicher machen, die Wege sauber halten und das Granulat unverzüglich wegkehren. Seinen Einwand, dass er direkt nach dem Kehren das gleiche Granulat zwei Stunden später wieder ausbringen müsste, weil für den Nachmittag der nächste Eisregen angekündigt war, ließ Stobb nicht gelten. Im Übrigen stünde es ihm nicht zu, Widerworte zu geben und sich auf eine so unerhörte Weise undankbar zu zeigen.

Es war wohl das erste Mal in seinem Leben, dass seine Leidensfähigkeit restlos aufgebraucht worden war. Ohne nachzudenken, warf er seinem Dienstherrn wortlos die Arbeitshandschuhe vor die Füße, machte auf dem Absatz kehrt und ging einfach. Er hörte auch gar nicht hin, was ihm nachgerufen wurde. 

Zu Hause, bei einer Tasse Tee, mischte sich eine grenzenlose Erleichterung mit der Sorge um die finanzielle Zukunft. Nach kurzer Zeit gewann die Erleichterung die Oberhand: Er empfand das alles wie einen Befreiungsschlag. An diesem Abend malte er sich zum ersten Mal aus, wie er es Brian Stobb heimzahlen würde.

Nach dem Eisregen schneite es zwei Tage fast ununterbrochen. Rupert sah aus dem Fenster der kleinen Stube nach draußen und genoss den Umstand, die Schneeberge auf der Straße wachsen zu sehen und nicht einmal das Haus verlassen zu müssen.

Am Morgen des dritten Tages läutete es. Mrs. Stobb stand vor seiner Tür. Sie druckste erst etwas herum und schlich wie die Katze um den heißen Brei. Im Ergebnis stellte es sich für Rupert so dar, dass selbst Stobb aufgegangen war, dass er ohne einen funktionierenden Hausmeisterdienst ein Problem hatte. Sicherlich hätte er auch eine externe Firma beauftragen können, aber die wäre ihn wesentlich teurer gekommen. Jennifer Stobb faselte umständlich von der hohen nervlichen Belastung ihres Mannes und dass auch sie gelegentlich mit seinen Ausbrüchen zu kämpfen hätte und brachte es fertig, Rupert milde zu stimmen, ohne auch nur einmal das Wort Entschuldigung in den Mund genommen zu haben.

Sie ließ ihn wissen, dass man sich darüber freuen würde, wenn er wieder die Arbeit aufnähme. Er bekäme auch zwanzig Prozent mehr Stundenlohn und sie steckte ihm als Einmalzahlung einhundert Pfund zu. Rupert wollte sie nicht bloßstellen, aber er war sich sehr sicher, dass das Geld von ihr stammte. In den zwei Jahren hatte er schon mitbekommen, dass Mrs. Stobb alles unternahm, um nicht das Missfallen ihres Gatten zu erregen. Es blieb also offen, ob er sie vorgeschickt oder sie von sich aus erboten hatte, die Sache zu regeln. Rupert kehrte zurück und verlor kein Wort mehr darüber. 

Brian Stobb schwieg die Sache ebenfalls tot. 

Nach einigen Monaten kehrte er wieder in das alte Fahrwasser zurück, aber Rupert hatte seine innere Ruhe wiedergefunden.Schließlich hatte er bereits einmal gewonnen und hielt sich daran fest, es jederzeit wieder tun zu können. Außerdem machte es ihm große Freude, mit der kleinen Holly herumzualbern, wenn ihre Eltern außer Sichtweite waren. Holly hatte ihm immer die Treue gehalten und der Umstand, dass sie quasi über Nacht zu einem Star geworden war, hatte nichts daran geändert. 

Mr. Stobb hatte als nächstes die Hauswirtschafterin ins Visier genommen, um seine Launen abzureagieren. Eigentlich hieß es doch: ›aus Schaden wird man klug‹. Stobb wurde nicht klug.

Die Hauswirtschafterin schmiss fristlos hin.

Von Holly erfuhr Onkel Rupert, wie sie ihn insgeheim nannte, dass ihr Vater größere Schwierigkeiten hatte, Ersatz zu finden. Der Markt war ziemlich leergeräumt. Vielleicht hätte er sich vorher kundig machen sollen, stellte Rupert genüsslich fest. Ihm selbst hätte er allerdings keinen größeren Gefallen tun können, denn Dana Hemphill kam als Nachfolgerin zum Zuge. Hochsympathisch, fachkundig und – wie er aufschnappte – dreimal so teuer wie ihre Vorgängerin.

Sie hatte nicht nur immer ein offenes Ohr und ein freundliches Wort für ihn, sondern versorgte ihn auch insgeheim mit gutem Essen und zeichnete seine Stundenzettel ab.

Einige Monate nach ihrem Dienstbeginn hatte sie einen klaren Überblick über die Verhältnisse im Haus und über die eine oder andere charakterliche Eigenschaft der Herrschaft.

Ohne dass sie jemals eine Silbe darüber verloren hätte, schrieb sie hin und wieder in unauffälligem Rahmen noch zusätzliche Stunden auf den Zettel, die er gar nicht geleistet hatte. Die Frau hatte nicht nur ein Herz aus Gold, sondern entwickelte sich zusehends zu Hollys engster Vertrauten.

Ihn wunderte das gar nicht. Was man Dana anvertraute, blieb auch bei Dana. Wenn man Mrs. Stobb etwas sagte, hätte man es auch gleich ihrem Mann mitteilen können. Wichtige Dinge besprach Holly also mit Dana, obwohl die fast dreimal so alt war wie sie.

Rupert Dalrymple hatte zwar keine Angst mehr vor Brian Stobb, aber er wollte auch nicht, dass Dana überflüssigerweise eine Rüge bekam, weil er dummerweise vergessen hatte, die durchgebrannte Birne in der Auffahrt auszutauschen. Es wurmte ihn ein wenig, weil dies doch ganz klar mit allen anderen Aufgaben auf seinem Zettel gestanden hatte, auf den er gerade kurz vor dem Entsorgen noch einmal einen Blick geworfen hatte. 

Alles hatte er abgehakt, nur diesen einen Punkt nicht. Er war ihm schlicht durchgerutscht.

Eigentlich könnte er es auch morgen noch erledigen, aber er wusste ja, wie Stobb mit derlei Dingen umzugehen pflegte. Kurzentschlossen wendete er sein Fahrrad und radelte die dreiviertel Meile noch einmalzurück. Es würde alles ganz schnell gehen, deshalb stellte er das Fahrrad direkt hinter den Zaun, lief hoch zur Garage und drehte den Schlüssel. Sofort setzte sich das Rolltor leise in Bewegung.Er bückte sich, noch während es hochlief, darunter durch und ging hinein. Es stank grässlich nach Benzin. Eigentlich hatte er nur einen Schraubenzieher und eine Ersatzbirne holen wollen, so aber öffnete er die Tür des Geländewagens, aus dessen Innenraum die Benzinwolke zu stammen schien.

Er erfasste nicht mehr, dass die Tür zum Gebäudeinneren aufging und auch nicht das sanfte Klicken, mit dem der Motor zum Stillstand gekommen war. Alles mündete letztlich übergangslos in der Explosion.

Das Benzin-Luftgemisch war zwar nicht der Auslöser, wie die Brandermittler später feststellen würden, für ihn selbst hatte das allerdings maximal eine rein akademische Bedeutung. Genau genommen überhaupt keine Bedeutung, denn er würde es nicht mehr erfahren. 

In dieser Sekunde waren seine Lungen bereits verbrannt, er stand in Flammen, ein herumfliegendes Metallteil hatte ihn am Kopf getroffen und gnädigerweise in die Bewusstlosigkeit katapultiert.

---ENDE DER LESEPROBE---