Mary darf nicht sterben - Tom Crispa - E-Book

Mary darf nicht sterben E-Book

Tom Crispa

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Beschreibung

In einem Londoner Theater im Westend häufen sich seltsame Unfälle. Und das ausgerechnet jetzt, wo die Premiere des neuen Musicals »Mary« dem Theater aus der Schuldenfalle helfen soll! Kellyanne Malloy, eine junge Security-Angestellte, hat einen Verdacht. Der nächste Unfall endet tödlich und die Serie scheint nicht abzureißen. Pat und Ally ermitteln undercover. Die Lage droht zu eskalieren, denn auf einmal wird es persönlich

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Tom Crispa

 

 

Mary darf nicht sterben

 

 

 

Kriminalroman

 

 

 

LANA-Encore®

Impressum

© 2020 LANA-Film e.K.

- Alle Rechte vorbehalten -

Dieses Werk ist rein fiktional.

 

Umschlaggestaltung: Christian Vesper

Umschlagfoto: Fer Gregory/Shutterstock.com

Lektorat: Kirsten Vesper

 

Verlag: LANA-Film e.K., 61267 Neu-Anspach, Dürerstr. 53

Das E-Book wurde publiziert: 12. Februar 2020

Reihe Pat & Ally Band 2

 

ISBN der Taschenbuchausgabe: 978-3-946914-02-0

ISBN der E-Book-Ausgabe: 978-3-946914-03-7

 

www.LANA-Encore.de

LANA-Encore® ist eine Marke der LANA-Film e.K.

 

 

Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

 

Arabisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Titelblatt

Impressum

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Weitere Werke

1

Er zog den Reißverschluss wieder hoch und drückte die Spülung. Für einen Augenblick sah er noch dabei zu, wie die gelbe Flüssigkeit in dem schmutzig-grauen Urinal von rostbraunem Wasser umhergewirbelt wurde, bis sie mit einem gurgelnden Gluckern als Mischung im Abflussrohr verschwand. Beim Hinausgehen drückte er abermals den metallenen kleinen Hebel nieder. Das wimmernde Geräusch, das der Ventilkopf von sich gab, bis die Feder ihn wieder in die Ausgangsstellung brachte, erinnerte ihn irgendwie entfernt an den Kraftraum. Wesentliche Teile seines jungen Lebens hatte er dort inzwischen verbracht. Er fühlte sich dort heimisch, geradezu geborgen. Wenn er dort die schweren Gewichte stemmte, entfuhr ihm bisweilen bei einem der letzten Sätze eines Durchganges auch ein ähnlich stöhnendes Wimmern.

Vor dem blechernen Waschbecken machte er halt, drehte den Wasserhahn auf, schloss ihn aber kurzerhand wieder. Er nahm das Stück Stoff vom Haken, das ursprünglich aus beigefarbenem Frottee bestanden haben musste. Anstelle einen Aufhänger zu befestigen war es rüde durchbohrt worden. Ein fingerdickes ausgefranstes Loch dokumentierte den Stellenwert, den man an diesem Ort Pflege und Hygiene beimaß. Wie er vermutet hatte, war das Tuch völlig verdreckt, in der Mitte feucht und stank nach Schweiß. Damit würde er seine Hände jedenfalls nicht abtrocknen. Der kleine dicke Pete war doch eine echte Drecksau! Wie oft hatte er ihm gesagt, dass Wasser und Seife eine bessere Idee waren, als den Arbeitsschweiß unter den Achseln einfach mit dem Handtuch wegzuwischen.

Mit spitzen Fingern hängte er den Lappen zurück und verzichtete abschließend auf das Händewaschen.

Pete war ihm zwar ein echter Kumpel, aber in vielen Dingen verstand er ihn einfach nicht. Die Wände des Klos waren zugepflastert mit Playmate-Centerfolds. An die Fotos der nackten Girls ließ Pete kein Stäubchen kommen, aber ein sauberes Handtuch war wohl zu viel verlangt. Er fragte sich, wie Pete jemals eine Frau abbekommen wollte, zuckte aber letztlich die breiten Schultern. Ihm konnte es im Grunde egal sein. Er wusste jedenfalls, worauf es ankam, und lächelte sein Spiegelbild an.

Pete hatte sich über ihn lustig gemacht, als er vor Wochen den großen Spiegel vom Sperrmüll angeschleppt und hier montiert hatte. Der Spiegel wirkte wie ein Fremdkörper an diesem Ort. Er war leicht geneigt an der Wand befestigt, sodass Bill sich in voller Größe darin bewundern konnte. Oft hatte er sich geärgert, dass er mit 1,68 Metern nicht so groß wie die meisten seiner Altersgenossen war, aber hier war es sogar von Vorteil. Mehr hätte der Spiegel in der Enge des Raumes ohnehin nicht erfassen können.

Aus der Werkstatthalle drang belanglose Popmusik durch die leicht geöffnete Tür, ab und zu blubberte ein Moderator irgendetwas genauso Belangloses, nur gelegentlich durch irgendwelche Verkehrsmeldungen unterbrochen. Seinetwegen war diese Berieselung nicht nötig. Pete hatte es aber so eingerichtet, dass mit dem Einschalten des Hallenlichtes automatisch sein Lieblingssender anging und über drei Lautsprecher verteilt einen gleichmäßigen Geräuschteppich über die schmuddelige Werkstatt legte.

Bill pumpte seinen Brustkorb auf und bemerkte zufrieden, wie sich die Brustmuskeln unter dem zu engen Muscle-Shirt nach oben wölbten. Dabei drehte er leicht über die Hüfte nach rechts und links. Nach einem kleinen Schritt zur Seite spannte er seinen rechten Bizeps. Sein Spiegelbild zeichnete eine dicke Vene auf das Glas, die sich windend und krümmend vergeblich einen Ausweg suchte. Der Muskelberg drückte sie jedoch unbarmherzig nach oben gegen die bis zum Bersten gespannte Haut.

»Ja, Sir, so muss das aussehen!«, sprach er sich anerkennend zu, wobei er mehrfach den Arm lockerte und wieder anspannte.

Aus der Halle drang das Quietschen der Schlupftüre an sein Ohr.

»Pete, bist du das?«, rief er nach hinten durch den Türspalt. Keine Antwort. Die Musik hatte derzeit Pause und den Nachrichten Platz gemacht.

»Pete?« Er öffnete die Tür und schaute prüfend in der Halle umher. Die metallenen Drei-Meter-Tore waren allesamt geschlossen, die Schlupftüre allerdings ebenfalls. Etwas natürliche Helligkeit kam durch die Oberlichtstreifen der in die Jahre gekommenen Tore und aus einigen trüben Acrylglassegmenten im Wellblechdach. Von den Leuchtstoffröhren war beinahe die Hälfte ausgefallen. Eine Röhre leistete noch erbitterten Widerstand und bemühte sich ärgerlich brummend Licht zu spenden, der Starter brachte aber nur ein sehr klägliches Flackern zustande. Unter ihr stand der olivgrüne Range Rover des alten Perkins mit geöffneter Motorhaube. In der Mitte klaffte die Inspektionsgrube, der dritte Stellplatz war mit Ausnahme der bereit gelegten Felgen und Reifen ebenfalls frei.

Niemand war zu sehen. Merkwürdig. Die Schlupftüre war leicht verbogen, die Scharniere rostig und sie gab eigentlich ein sehr charakteristisches Quietschen von sich. Gerade so, wie er es gehört zu haben glaubte.

Samstagabends kam nie ein Kunde. Deshalb hatte Bill auch die Werkstatt für sich und verdiente sich nebenbei ein paar Pfund dazu. Diesmal sollte er die rund hundert Felgen abstrahlen und wieder einlagern. Es war eine Arbeit nach seinem Geschmack. Die Felgen und Reifen waren Pete zu schwer, aber für ihn war es ein leichtes und dazu willkommenes Nebenbei-Training, für das er auch noch bezahlt wurde. Das erste Drittel hatte er aus dem angrenzenden Schuppen schon herübergeholt. Die Nachrichten waren zu Ende und hatten Glenn Millers Moonlight Serenade die Lautsprecher überlassen.

Bill lauschte durch die Orchesterklänge hindurch in die Halle. »Hallo?« Die Zweige der großen Buche klatschten von außen an Tor drei und Regen hatte eingesetzt.

Der Niederschlag war schon den ganzen Tag von den meisten sehnlich erwartet worden und begann sich nun einzurichten. Vielleicht war auch nur die Türe aufgeweht und wieder zugefallen, überlegte Bill. Er hatte sich wohl getäuscht. Womöglich hatte er sie vorhin doch nicht richtig geschlossen. Fast ein wenig enttäuscht ging er zu dem Spiegel zurück. Gerne hätte er einem Eindringling mal gezeigt, wozu diese Muskeln imstande waren. Rasch zog er das spartanische Shirt über seinen Kopf und begann, nur noch in seiner Jeans zu posen.

Er fühlte sich mächtig, unbesiegbar und mit jedem Pumpen seiner Oberkörpermuskulatur geradezu einem Rausch näher kommend.

Der Regen prasselte inzwischen in einer Lautstärke auf das Blechdach, dass vom Radio fast nichts mehr zu hören war. Auch das Leerlaufgeräusch des Kompressors nicht. Der Hochdruckreiniger wartete immer noch geduldig auf seinen weiteren Einsatz und summte unbeachtet vor sich hin.

Bill sah missmutig zur Decke. Es klang, als schütte ein Lastwagen langsam und gleichmäßig Rollsplitt auf ein gigantisches Kuchenblech. Scheiß Regen, dachte er. Der Blick auf sein Spiegelbild besserte seine Laune sofort wieder.

Vielleicht sollte er der Kleinen heute Abend mal zeigen, was er zu bieten hatte? Ja, das war eine ausgezeichnete Idee! Dazu musste er allerdings rechtzeitig mit seiner Arbeit fertig sein. Er seufzte, spannte abermals den rechten Bizeps an, gefolgt von dem linken, schließlich beide und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die erneut malträtierte Vene. Dann betrat er mit nacktem Oberkörper wieder die Fahrzeughalle. Die angelehnte Tür schwang nach rechts auf.

Bill konnte ein reflexhaftes Zusammenzucken nicht verhindern, als hinter ihm eine Gestalt in Regenkleidung hervortrat. Sein kurzes Erschrecken verflog rasch und verwandelte sich in aufrichtige Überraschung.

»Was machst du denn hier? Ich hätte dich ja so gar nicht erkannt!«, rief er gegen das Geprassel an. Sein Gegenüber antwortete nicht, sondern lenkte stattdessen geschickt seinen Blick in die gewünschte Richtung. Bill grinste breit und war zweifelsfrei von der vielversprechenden Beute begeistert. Sein Gegenüber bemerkte es mit großer Genugtuung.

Genau ließ es sich nicht mehr auseinanderhalten, ob die Überraschung über das, was er sah oder das, was er nicht hatte kommen sehen, seinen vorletzten Gesichtsausdruck charakterisierte. Der heftige Hammerschlag, der seine linke Schläfe auf Anhieb durchdrang, brachte seine Mimik ohnehin gehörig durcheinander.

Eigentlich waren weitere Schläge geplant gewesen, aber der Muskelberg taumelte umgehend nebst festeckendem Hammer nach hinten weg und entzog sich aktuell weiterer Behandlung. Bill drehte sich, offensichtlich orientierungslos, um die eigene Achse. Von einem Schreien war kaum etwas zu hören, vielleicht war es auch eher ein Röcheln gewesen? Um hier Gewissheit zu bekommen, hätte jemand den Regen, das Radio und vielleicht sogar den Kompressor abstellen müssen. Die mutmaßlichen Lautäußerungen Bills in dieser Lage durfte man getrost als ein eher nachgelagertes Problem betrachten. Bill zeigte sich nämlich hinsichtlich seines geplanten Ablebens völlig uneinsichtig und zunächst auch wenig kooperationsbereit.

Dass das Wetter hingegen höchst erfreulich mitspielen würde, war ein ebenso angenehmer wie nützlicher Zufall gewesen. Bill, der Unbesiegbare, zeigte sich letztlich nach einigem Zick-Zack-Kurs doch noch so entgegenkommend, an den Rand der Grube und nicht anderswo in der Halle umherzutaumeln. Ein kleiner, aber kräftiger Schubs, und er landete unsanft in besagter Vertiefung. Bis hierhin lief alles fast zu glatt. Kaum gedacht, schon bereut, denn Bill wollte allen Bemühungen zum Trotz partout nicht sterben. Unerhört. Er versuchte sich aufzurichten. Seine Hände griffen suchend, aber erfolglos nach einem Halt. Der Hammer steckte immer noch fest, es war kaum Blut zu sehen.

Auch wenn man über Bill vielleicht böse hätte sagen können, dass in seinem Schädel nur eine Tasse Wasser und ein eingeweichtes Brötchen vorzufinden wären – das Risiko war einfach zu groß, dass sich dieser Schwachkopf erinnern würde, wer ihm diesen kleinen Streich gespielt hatte. So jedenfalls konnte man nicht einfach weggehen und ihn seinem Schicksal überlassen.

Wie bedauerlich, dass es angesichts der unerwartet einge-tretenen Konstellation keinen echten Plan B gab. Die Gestalt in der Regenkleidung sah sich daher etwas ratlos um und griff leicht unschlüssig nach der Lanze des in der Nähe im Leerlauf tuckernden Reinigers. Unter dem Licht einer tatsächlich sogar funktionstüchtigen Leuchtstoffröhre zeichneten sich bei genauem Hinsehen die Konturen perfekt sitzender hautfarbener OP-Handschuhe ab. Fingerabdrücke würde es nicht geben. Soweit schon mal gut. Nachdenklich wog sie die Dreckfräse prüfend in beiden Händen, richtete sie dann in etwa vier Zentimetern Abstand auf einen am Boden liegenden Reifen und löste aus. Nach wenigen Sekunden bildeten sich Blasen und Gummiteile spritzten seitlich weg. Beeindruckend.

Autoreifen waren hart, Bill war hart. Zeit für einen Vergleichstest.

»Sag schön Aaah«, rief die Gestalt in die Grube. Im Grunde mehr zu ihrer eigenen Befriedigung, denn Bill konnte sie so oder so nicht mehr hören. Es war zu laut und er hatte sowohl aufgehört zu zappeln als auch zu kämpfen. Aus seinen weit aufgerissenen Augen ließ sich nicht mehr ablesen, ob und was er noch verstand.

Die Gestalt wartete einen jener noch reflexhaft wiederkehrenden Momente ab, in denen Bill vor Schmerzen oder wie ein sterbender Fisch japsend den Mund aufriss, und nutzte den Augenblick, um den Kopf der Dreckfräse dort zu platzieren. Sie wandte vorsorglich ihr Gesicht ab und betätigte den Zugschalter. Bereits nach wenigen Sekunden rutschte die Lanze mangels Halt ab. Ein Blick in die Grube offenbarte, dass einhundertzwanzig bar Überdruck die Welt rasch von Schmutz jeglicher Art befreien konnten, auch wenn dabei bisweilen eine durchweg unappetitliche Sauerei mit einherging.

Vom Gesicht und allem Weichgewebe war so gut wie nichts mehr übrig. Jedenfalls nicht an den ursprünglich dafür vorgesehenen Stellen. Aus dem blutigen Brei herausragend zeigten nur das restliche Gebiss, der Unterkiefer und Teile der Wirbelsäule, dass nach dem Abrutschen der Fräse dort die Überreste eines Menschen lagen. Blut und Gewebe sowie einige Zähne waren auf der Innenseite der Grube nach oben gespritzt und hatten dort neuen Halt gefunden, die Regenjacke hatte auch etwas abbekommen. Mit dem Blick in die Tiefe war klar – der Gerichtsmediziner würde seinen Spaß haben!

Die Gestalt war zufrieden, setzte schon zum Gehen an, beschloss aber spontan, nochmals umzukehren. Der Gedanke an die Gerichtsmedizin hatte sie auch an die Kriminalbeamten denken lassen. Eine falsche Spur zu legen wäre doch auch ganz nett. Ein eifersüchtiger Liebhaber oder eine verschmähte Geliebte? Eine Abrechnung unter Ganoven? So setzte sie die Lanze nochmals auf eine andere Stelle von Bills geschundenem Körper, nicht ohne vorher noch besser in Deckung zu gehen, und befreite ihn kurzerhand von seinen primären Geschlechtsmerkmalen. Sollten sie doch selbst sehen, was sie daraus machten.

Für Bill oder dessen Überreste würde es sicher keine Rolle mehr spielen.

Dankenswerterweise schüttete es draußen immer noch wie aus Kübeln. Wer nicht musste, würde heute nicht unterwegs sein. Nicht mal Hundebesitzer würden bei diesen Wetterbedingungen eine Gassirunde drehen. So wäre es eine geschenkte und durchaus willkommene Gelegenheit, Blut- und Spritzreste einfach während des Spazierganges zum Auto von den himmlischen Wassergaben fortspülen zu lassen.

Kurz vor der Schlupftüre befand sich einer der Lautsprecher, den man an dieser Stelle trotz Regengeprassels erstaunlich gut vernehmen konnte. Das Radio spielte einen Hörerwunsch: Ennio Morricones Spiel mir das Lied vom Tod.

Wie überaus passend, lächelte die Gestalt, hörte sich noch die erste knappe Minute an und trat dann hinaus in den Regen, den der Wind inzwischen in Schräglage vor sich her peitschte.

Auf dem unebenen Platz hatten sich in den Vertiefungen bereits zahlreiche Pfützen und kleine Seen gebildet. Weit und breit war wie erhofft keine Menschenseele zu sehen. Der Abend war noch jung und bot jedwede Möglichkeit, sich auch anderen Ortes noch trefflich zu amüsieren.

Mission completed.

Die Gestalt lächelte zufrieden und ließ für den Rückweg keine der Wasserlachen aus. Binnen Minuten würde jede Spur weggewaschen sein.

2

Eine besondere Nacht. Es war gleich wieder soweit. Ihr Herz klopfte wie wild. Ein Adrenalinschub erfüllte ihren Körper, gefühlt sogar bis in die Haarspitzen. Sie wusste, wie wichtig das Timing war. Jeder Fehler zog unweigerlich unerwünschte Konsequenzen nach sich. Keinesfalls würde sie leichtfertig oder nachlässig werden. Weder heute noch sonst.

Wie immer wartete sie also auf das Zeichen. Sechs Takte der Reprise, dann sprang sie mit leicht federnden Schritten aus der rechten Seitenbühne auf die Hauptbühne. Im ohrenbetäubenden Applaus, der noch weiter anzuschwellen begann, verbeugte sie sich nach rechts, nach links und wieder in die Mitte. Sie schloss kurz die Augen, um wie ein ausgetrockneter Schwamm die bewegende Atmosphäre in sich aufzusaugen.

Bravorufe wurden laut.

Sie schickte einen Luftkuss über die flach vor den Mund gehaltene Handfläche in den Zuschauerraum und verbeugte sich abermals knicksend tief und demutsvoll. Die Arme waagerecht ausgestellt, die Finger leicht gefiedert. Kleiner Finger nach oben, Daumen und Mittelfinger abgesenkt, Zeigefinger und Ringfinger waagerecht.

Gelernt.

Geprobt.

Und hunderte Male gezeigt.

Das Klatschen wurde wie auf ein geheimes Zeichen hin rhythmischer und schwoll zu einem Crescendo an. Es bestand kein Zweifel, dass eine Zugabe gefordert wurde und der Dirigent nur noch auf ihren Blickkontakt wartete. Sie richtete sich auf, winkte hoch in den zweiten Rang.

Den Olymp durfte man nie vergessen. Dort saßen schließlich auch Fans, wenn auch mit kleinerem Geldbeutel. Der Blick ging zum Dirigentenpult, als ihr Smartphone unwirsch zu brummen begann und einen schrillen Signalton dazu absonderte. Obwohl sie damit gerechnet hatte, zuckte sie dennoch beim ersten Ton leicht zusammen.

Sie seufzte kurz, rannte von der Bühne hinaus in die dunklen Seitenkulissen, stieß im Lauf mit voller Kraft die schwere eiserne Feuerschutztür auf und sprintete den hell erleuchteten Flur entlang.

3

»Nie wieder!«, klang es undeutlich aus dem Badezimmer.

»Was sagst du?«

»Nie wie…« Der Rest ging in einem wenig erbaulichen Geräusch unter.

»Du musst dich schon entscheiden, ob du mit mir sprechen oder kotzen möchtest«, rief Pat spöttisch, zuerst entfernt aus der Kochnische, lehnte aber kurz darauf bereits mit dem Rücken am Türrahmen zum Badezimmer.

»In dieser Bude gibt es keinen Kaffee«, stellte sie ernüchtert fest. »Und jetzt muss ich meine Aussage von gestern Abend korrigieren.«

»So?«, klang es etwas gequält aus den Niederungen des gefliesten Etablissements.

»Yep. Du siehst richtig Scheiße aus. Total weiß. Passt zu den Kacheln. Soll ich mal ein Foto machen?«

»Untersteh dich!« Ally warf eine Klopapierrolle nach ihr. Pat wich aber geschickt aus und die Rolle kullerte Blatt für Blatt abrollend in den Wohnbereich.

»Ich hab’ doch gesagt, ich vertrag’ nix«, murmelte sie in die Kloschüssel, die sie mit beiden Händen umklammerte, als wollte sie sie an der Flucht hindern.

Pat lugte an dem zerzausten roten Haarschopf vorbei in die Keramik.

»Sieht aber nicht so aus, als käme da noch was.«

»Mir reicht’s jetzt auch.«

»Wie lange machst du das schon? Ich hab’ heute Nacht gar nichts gehört.«

»Du hast ja auch geratzt wie ein Bär im Winterschlaf. Mich hat es so ab vier Uhr mit Unterbrechungen hierher verschlagen.«

»Kopf hoch, waren ja nur drei Stunden«, meinte Pat und grinste sarkastisch.

»Jaaa, danke, hab’ dich auch lieb!«

»Na los, komm hoch. Ich päppel dich wieder auf.« Pat reichte ihr die Hand und zog Ally in einem Rutsch auf die Beine.

Ally sah in den Spiegel über dem Waschbecken und schaute in ein bleiches Gesicht mit farblosen Lippen.

»Hast recht. Hab’ schon mal besser ausgesehen.«

»Na los, komm schon«, damit bugsierte Patricia ihre Freundin hinaus ins Wohnzimmer. »Setz dich aufs Sofa!«

Ally gehorchte, rollte sich aber gleich auf die Seite, zog die nackten Beine an und umklammerte mit beiden Händen die Knie.

»He, du Bild des Jammers. So viel haben wir doch gar nicht getrunken.« Sie breitete eine Decke über Ally aus, die sie aus dem Schlafzimmer organisiert hatte.

»Für mich waren anderthalb Flaschen Wein – oder waren es zwei –?«, sie grübelte einen Augenblick, »eben zu viel, zumal ich vorher nichts gegessen hatte.«

»Klassischer Anfängerfehler«, konstatierte Pat und besah sich das geleerte Flaschensortiment. »Du hattest eineinhalb und ich auch. Drei leere Flaschen, keine Reste. Ging prima auf.«

»Nur, dass du jetzt hier fit wie ein Turnschuh herumspringst und in meinem Kopf die Amboss-Polka gespielt wird.«

»Du Arme. Willst du eine Tablette?«, erkundigte sich Pat.

Ally nickte, war sich aber nicht sicher, ob Pat sie schon wieder aufzog oder tatsächlich bemitleidete.

»Hast du welche?«

»Bad. Spiegelschrank.« Selbst das Reden schien jetzt auf einmal zu viel.

Pat förderte eine neue Medikamentenschachtel zutage und kam mit einem halbgefüllten Wasserglas zurück. Sie drückte eine Tablette Paracetamol aus der Blisterpackung, hielt sie Ally hin, zog sie aber, bevor sie zugreifen konnte, wieder weg.

»Wie schwer bist du?«

»Neunundsechzig Kilo, warum?«

»Dann nimmst du besser zwei.«

»Wie du meinst.«

»Die sind bitter, also schön in einem Stück runter damit und gut nachspülen!«

»Ja, Mama.« Ally schnitt eine Grimasse.

»Soso, die junge Dame bekommt wohl schon wieder Oberwasser. Dann kann ich mich ja mal um ein Frühstück kümmern. Mal sehen, wie gut deine Bodyguards spuren.«

»Was haben die denn damit zu tun?«

»Wirst du schon sehen.«

Pat wuselte im Zimmer herum, zog ein paar Schubladen und Schranktüren auf, was Ally widerstandslos geschehen ließ. Bewaffnet mit Kugelschreiber und einem Block, den sie auf ihrem Streifzug ergattert hatte, setzte sie sich auch aufs Sofa und schob mit ihrem Po Allys inzwischen ausgestreckte Beine zur Seite.

»Zwei, nein drei große Becher Kaffee. Milch. Vier Croissants und vier Käsebrötchen«, diktierte sie sich selbst und brachte zeitgleich ihre Wunschliste zu Papier.

»Willst du noch was dazu oder was ganz anderes?«

»Wer soll das denn essen?«, stöhnte Ally.

»Na, du und ich natürlich.«

Ally bekundete ihre Abneigung zu Ess- und Trinkbarem mit einem gespielten Würgegeräusch.

»Da gibt es kein Pardon. Ich nenne das Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit.«

Pat öffnete das Fenster und stieß einen gellenden Pfiff aus.

Ally hatte keine Ahnung, was und wie Pat jetzt anstellen würde, es war ihr auch egal. Der Kopf dröhnte wie Big Ben zur vollen Stunde und ihr war einfach nur noch übel.

 

Der gestrige Regen hatte die sommerlichen Temperaturen über Nacht deutlich abgesenkt. Ein kühler Luftzug erfüllte den Raum und sie holte die Decke etwas dichter an sich heran. Durch halbgeschlossene Lider sah sie Pat gestikulieren, etwas nach unten werfen und das Fenster wieder schließen. Pat schien mit sich zufrieden und ließ sich auf das Sofa fallen.

»Kaffee und Frühstück kommen«, strahlte sie.

4

Sie hatte die Zeit auf der Bühne inzwischen bereits auf das maximal Mögliche ausgedehnt. Infolgedessen ignorierte sie notgedrungen wie zuletzt immer die Prüfung der weiteren Zimmer und Ateliers auf dieser Etage. Irgendwann würde sie auffliegen, aber nicht jetzt, nicht heute.

Sie sprintete weiter den schnurgeraden Flur entlang. Die Gummisohlen ihrer schwarzen Sportschuhe gaben beim Abstoßen von dem grob genoppten Kunststoffboden jeweils helle quietschende Laute von sich. Fünf Meter vor ihrem Ziel hielt sie noch im Laufen bereits den Scanner in der Hand und schaute prüfend auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Acht Sekunden zu früh! Sie zog die Kopfhörer aus den Ohren, wartete, bis die rückwärts laufenden Ziffern des Countdown-Timers 00:00:00 zeigten und hielt dann den Scanner an den Strichcode, der mit Nieten an der Wand fixiert war. Das Gerät quittierte mit einem hellen Piep, dass der Lesevorgang erfolgreich vollzogen war.

Zufrieden nickte sie sich selbst zu und sog mit einem tiefen Atemzug die Luft ein. Es roch, zwar noch schwach, aber dennoch, wieder nach dem billigen Essigreiniger, den sie zutiefst verabscheute.

»Bäh«, sagte sie in die Stille und setzte ihren Kontrollgang in regulärem Tempo fort. Offensichtlich war sie heute schneller gerannt. Wenn sie das Timing noch weiter optimierte, bedeutete dies morgen acht Sekunden längeren Applaus. Andererseits fürchtete sie auch zu überreizen. Während sie weiterging, Tür um Tür öffnete, das Licht anschaltete, sich umsah und das Licht wieder löschte, stockte sie beim dritten Raum und schüttelte den Kopf. Nein, man sollte den Bogen wirklich nicht überspannen. Es war auch so schon heikel genug. Sie stöpselte die Kopfhörer aus dem Handy und wickelte sie im Gehen zu einem kleinen Bündel zusammen, das sie behutsam in einer der zahlreichen Taschen ihrer Uniform versteckte. Das Handy schaltete sie vollständig ab und schob es in die Innentasche der dunkelgrauen Jacke. Der Applaus hatte Pause.

Als nächstes kamen die Toiletten dran. Prüfen, ob die Lichter aus waren oder irgendwo Wasser lief. Sie hoffte inständig, dass nicht irgendein Depp in einem der übersprungenen Räume eine Kaffeemaschine angelassen hatte. Das würde für sie selbst auch richtig Ärger geben. Zurückzugehen kam aber nicht in Frage. Die Zeiten zwischen den Kontrollpunkten waren eng getaktet. Die maximale Toleranz betrug vier Minuten und durfte nur überschritten werden, wenn man eine Beobachtung machte, die dann im Wachbuch festgehalten und dem Facility-Management gemeldet werden musste. Dazu musste sie sich über Funk an den Wachleiter wenden und berichten. Kam sie zu spät an einem Kontrollpunkt an, wurde das registriert und sie beim zweiten Mal verwarnt. Überschritt sie die Zeit um eine weitere Minute ohne Funkmeldung, galt sie und jeder andere, der die Runde drehte, als überfällig und erzeugte einen internen Alarm. Dann rückten zwei Alarmfahrer aus der Zentrale an und man steckte mächtig in der Scheiße. Das war ihr zu Beginn bereits einmal passiert. Den seinerzeitigen Kontakt mit dem Wachleiter würde sie ewig in Erinnerung behalten. Nichts, was man sich wirklich wünschte.

 

Sie war jetzt im Vorraum des Herren-WC angekommen und betrachtete sich dort kritisch im Spiegel.

Aus einer zwar größenmäßig gut sitzenden Funktionsuniform blickte sie eine junge sommersprossige Frau mit grünen, hellwachen Augen an. Jede weitere Form von Weiblichkeit, mit Ausnahme eines sehr ansprechenden femininen Gesichtes, wurde zu ihrem Leidwesen von Jacke und Hose kaschiert. Ihre schulterlangen kastanienbraunen Haare waren zu einem breiten Zopf geflochten, der an ihrer rechten Seite nach vorne über die Brust hing. Sie trug kein Make-up, lediglich etwas transparentes Lipgloss, das einen leicht feuchten Schimmer auf ihre vollen Lippen zauberte. Sie hatte es nach einer Party einmal versehentlich vor Dienstbeginn nicht abgewischt und dann bemerkt, wie ihr älterer Schichtkollege Mason Villiers immer wieder verstohlen hingesehen hatte. Seitdem benutzte sie es hin und wieder mit voller Absicht. Sie testete bisweilen solche subtilen Spiele, so wie sie Spielen als ihren Lebenszweck erachtete; das war ihr Wunsch, ihr Ziel, ihre Bestimmung. Nirgendwo wollte sie lieber sein als hier. Hier im Theater.

 

Aus dem Funkgerät knarzte Masons Stimme: »Bühnentechniker im Haus«.

Ohne den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden löste sie das Teil aus ihrem Gürtel – »Verstanden. Ende« – und klemmte es wieder an seinen vorgesehenen Platz. Ein rascher Seitenblick auf die Armbanduhr zeigte 3:45. Zwischen ein und fünf Uhr morgens hatten alle Personen ausschließlich durch den Nachteingang Zutritt und mussten sich anmelden. Ohne dass aus der Wachstube die Außentür freigeschaltet wurde, kam in dieser Zeit im Grunde niemand unbemerkt rein oder raus. Seit den Vorkommnissen der letzten Wochen wurde das inzwischen auch akribisch eingehalten und überwacht. Auch für sie bestand durchaus die Möglichkeit, einen ›Unfall‹ erleiden zu können. Aber Mason würde auf sie aufpassen. Bei diesen Gedanken war ihr die Konzentration abhanden gekommen und der Blick kurzzeitig verschwommen.

»Bin ich wirklich eine Schlampe?«, fragte sie leise ihr Gegenüber, ohne auf eine Antwort hoffen zu können. Was denkt wohl Mason darüber?

 

Mason. Sie lächelte bei dem Gedanken an ihn. War er wirklich scharf auf sie? Seine verstohlenen Blicke ließen eigentlich wenig Raum für Zweifel. Ihre Zunge glitt provokativ über die Oberlippe. Er war so anders, nicht so …

Bei der Erinnerung, wo sich diese Lippen vor einem Vierteljahr befunden hatten, presste sie sie verbittert und missmutig zu einem Strich zusammen. Gewiss, es war ihre Entscheidung gewesen. Zumindest dachte sie es. Sie hatte sich vorgenommen zu diesem Theater zu kommen, egal wie.

Zwei erfolglose Castings, nur immer am Choreographen gescheitert. Aber dessen Tage waren gezählt, zumindest wenn es nach ihr ging. Geduld und Ideenreichtum waren gefragt. Wenn nicht durch den Haupteingang, dann eben hintenrum. Wie hieß es so schön – viele Wege führen nach Rom! Ihre Karriere machte dann eben einen kleinen Umweg über den nächtlichen Wachdienst. Ein Job, für den sie jedoch keinerlei Qualifikation aufzuweisen hatte. Aber wer wusste das schon und wen interessierte es, wenn sie erst mal die Uniform trug und drinnen war?

 

Ihre innere Uhr hatte mittlerweile ein ziemlich präzises Timing entwickelt und machte sie ungefragt aufmerksam, wenn etwa eine Minute vergangen war. Sie machte sich also wieder auf den Kontrollgang, aber die Gedanken sprangen zu ihrem Einstellungsgespräch zurück, während sie nun weiter Raum um Raum kontrollierte. Wie so oft machte sie sich dann wieder insgeheim Vorwürfe. Nicht wegen des Abteilungsleiters, der gar nicht mal so schlecht aussah. Es war eben nur, na eben … ein verdammter Blowjob gewesen. Hätte er es doch dabei bewenden lassen! Aber nein, das blöde Schwein hatte ja sein Maul nicht halten können und sich über ihre besonderen ›Fertigkeiten‹ ausgelassen. Seinetwegen hatte sie zwar die Einstellung erhalten, aber ebenso den Stempel Schlampe und in der Folge reichlich Mühe, den Männern der Firma klarzumachen, dass sie eben keine war. Ihre Fäuste ballten sich. Sie hätte ihn dafür umbringen können. Wie zur Hölle hatte er sie dazu bekommen?

 

Aus der links vor ihr liegenden Abzweigung des Ganges hörte sie Schritte näher kommen. Sie nahm rasch die schwere Stabtaschenlampe aus der Gürtelhalterung und das Funkgerät in die andere Hand. Der Flur war hell erleuchtet, aber man konnte diese Lampe auch gut als Schlagwaffe einsetzen. So hatte es ihr Mason empfohlen, falls sie mal in Bedrängnis geraten sollte.

»Sicherheitsdienst – wer ist da?«, rief sie energisch.

Angst hatte sie keine, es musste ja der angekündigte Techniker sein, aber der wusste nicht, dass es der Sicherheits- Leitstand stets per Funk kommunizierte. Und so hinterließ sie jedenfalls einen wachsamen Eindruck bei einer nächtlichen Begegnung. Es sollte sich ruhig rumsprechen, dass sie sehr aufmerksam und pflichtbewusst war. Wer wusste schon, ob es sich nicht auch auf solchem Wege irgendwann mal auszahlte?

Ein unangenehmer Gedanke durchzuckte sie. Was, wenn er es doch nicht war, denn in dieser Etage hatte er eigentlich nichts verloren. Schon gar nicht zu dieser Stunde. Mitten in diese Überlegung hinein bog der Mann gerade um die Ecke und antwortete laut: »Jona Fitz, Bühnentechnik!«, dabei lächelte er ihr zu und ging zielstrebig an ihr vorbei.

Ein Impuls, eine Idee, eine Eingebung – ehe sie das klar hatte, hörte sie sich rufen: »Halt! Mr. Fitz, was machen Sie hier oben?«

Der Mann stoppte abrupt und drehte sich um.

»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht«, fauchte er gänzlich unerwartet und ging bedrohlich langsam die fünf Meter zurück, die beide bereits getrennt hatten.

Sie weigerte sich, der in ihr aufkommenden Panik nachzugeben und umklammerte die Stablampe noch fester. Er sollte nichts von der Furcht erahnen, die sie bereits ergriffen hatte. So reckte sie also ihr Kinn hoch und versuchte dem Blick des Mannes standzuhalten, der sie um mehr als eine Haupteslänge überragte. Auch wenn sie nicht zurückgewichen war und noch immer inmitten des Flures stand, sich nicht schützend mit dem Rücken zur Wand gedreht hatte, strahlte sie offensichtlich nicht die von ihr beabsichtigte Selbstsicherheit und Gelassenheit aus.

Fitz lächelte spöttisch auf sie herunter.

»Nun, wollen Sie mich etwa aufhalten?« Er beugte sich weiter vor, als könne er das Namensschild von oben nicht lesen. »Miss Malloy oder Mrs.?«

In ihren Ohren begann der Puls so heftig zu pochen, als würde jemand ihr Trommelfell als Bongos benutzen. Sie hatte mit ihren 22 Jahren schon zu viel mit Männern erlebt, als dass sie sich von jedem dahergelaufenen weiter nach Belieben einschüchtern und als Freiwild betrachten lassen wollte. Allzu gerne wäre sie eine der starken Heldinnen, die sie im Kino immer bewunderte und die so einen frechen Typen mal eben durch den Flur geworfen oder ihm den Arm verdreht hätten. Stattdessen blieb ihr höchstens die Variante, ihm die Lampe auf dem Kopf zu zertrümmern, was wohl eine Reihe von Scherereien nach sich gezogen hätte. So schluckte sie auch diesen Frust im buchstäblichen Sinne hinunter und ärgerte sich zudem, dass ihre Kehlkopfbewegung dabei allzu deutlich sichtbar gewesen sein musste. Fitz schien nämlich ihre Unsicherheit zu bemerken und auszukosten. Er machte keine Anstalten, sich wegzubewegen.

Aber … wurde sie nicht gerade bedroht? Zumindest könnte sie sich bedroht fühlen. Schlagartig fielen ihr die diversen Sabotagen der letzten Zeit ein. Könnte nicht Fitz …? Ihr Zeigefinger lag immer noch leicht auf der Sendetaste des Funkgerätes. Sie müsste nur vier Sekunden gedrückt halten und das Signal würde als Überfall-Alarm gewertet und über den Leitstand sogar Polizeieinheiten auf den Plan rufen. Alternativ könnte sie sich fallen lassen, was nach sechzig Sekunden durch den Totmannmelder den gleichen Effekt haben würde.

Gestärkt durch die Erkenntnis, dass eigentlich sie am längeren Hebel saß, ohne dass sich der unverschämte Typ dessen bewusst war, blickte sie Fitz auf einmal fest in die Augen, während sie das Funkgerät anhob.

»Ich habe hier ein Problem mit einem Mr. Fitz, der sich ohne Erklärung im 4. OG aufhält und Widerstand leistet.«

Mit absoluter Sicherheit hätte sie sich im Nachhinein anders entschieden, hätte sie die Konsequenzen absehen können.

So aber stach sie, wie ein altes Sprichwort sagt, gewissermaßen der Hafer.

›Zeig’s ihm, lass dir nicht immer alles gefallen! Mach ihm richtig Scherereien‹, flüsterte ihr die Versuchung ins Ohr. Und sie gab dieser im gleichen Moment ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden nach.

»Ich werde bedroht!«, rief sie laut in das Gerät.

Zu ihrer trotz allem grenzenlosen Überraschung verpuffte die Großspurigkeit des Mannes wie eine Seifenblase.

Fitz wurde weiß wie die Wand.

»Das stimmt doch gar nicht – so war das doch gar nicht gemeint, ich …«

Der Rest des Satzes war nicht verständlich, da der Lautsprecher lautstark dazwischen quakte: »Verstärkung auf dem Weg.«

»Bitte stoppen Sie das doch, das ist doch alles ein wirklich schreckliches Missverständnis.«

Ein völlig anderer Mann stand auf einmal vor ihr, er wirkte auf einmal ein ganzes Stück kleiner, irgendwie zusammengefallen, lamentierte und gestikulierte. Sie hörte ihm aber gar nicht zu. Je mehr er sich wand, umso mehr genoss nun sie seine Mimik.

Die Freude währte indes kurz, höchstens zwei Minuten, während derer sie stets auf der Hut war, falls er es sich doch anders überlegte und sie wirklich angreifen würde. Beim Blick auf ihre Hand realisierte sie, dass sie immer noch fest die Lampe umschloss. So fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Durch den somit unterbrochenen Augenkontakt tat ihr Gegenüber etwas zwar Verständliches, aber dennoch Unkluges. Während er weiter auf sie einredete, ergriff er sie an beiden Oberarmen und schüttelte sie leicht, um ihre Aufmerksamkeit zurückzuerlangen.

»Ich wollte nicht unangemessen reagieren, es tut mir leid. Vielleicht war ich ein bisschen zu forsch, aber immer hacken alle auf mir herum und jetzt auch noch Sie. Das war doch nur ein unglücklicher Moment, das müssen Sie mir glauben.«

›Unglücklicher Moment‹ – dieses Satzfragment beschrieb gewissermaßen prophetisch die nächsten Sekunden. Mason Villiers schoss um die Ecke, sah, wie Fitz seine Kollegin an den Armen hielt und stürmte nach vorne. Fitz hatte Masons wütenden Gesichtsausdruck richtig gedeutet. Er ließ sofort los, riss seine Hände zur Seite, als hätten sie auf einer heißen Herdplatte gelegen, und sprang einen Meter weg.

Mason holte im Lauf aus und zertrümmerte Fitz’ Nase. Sein nächster Schlag ging ins Leere, da Fitz wie ein gefällter Baum zu Boden gestürzt und auf seinem Hinterkopf gelandet war. Masons Gesicht zeigte Fassungslosigkeit. Entweder hatte er noch nie jemanden geschlagen oder er war ob der heftigen Wirkung des Schlages völlig erstaunt. Die Verblüffung machte umgehend der Sorge Platz, als er zu Kellyanne Malloy hinübersah, die mit offenem Mund auf die Szene blickte.

»Kelly, alles in Ordnung mit dir?«

Sie schaute ihn mit großen Augen an.

»… mit Ihnen«, schob er verlegen hinterher, da er ihren Blick nicht richtig deuten konnte und sie bisher immer noch das Sie gepflegt hatten.

Sie nickte stumm. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Er hatte sie verteidigt! Tatsächlich, wie von ihr vermutet, wie insgeheim erhofft. Noch nie hatte sich jemand für sie geprügelt.

»Wow!«, hörte sie sich sagen. Sie fühlte sich lebendig wie nie. Ein Gefühl, rauschhaft, wie unter Drogen. Zu dem Adrenalin mischte sich unerwartet eine sexuelle Erregung, die man ihr hoffentlich nicht ansah. Mason war gefühlt zwar fast doppelt so alt wie sie, aber in diesem Augenblick hätte sie ihren Beschützer an Ort und Stelle vögeln wollen.

Fitz röchelte, anscheinend war er bewusstlos. Blut lief aus Nase und Mund, er drohte zu ersticken. Auch unter seinem Hinterkopf bildete sich langsam eine kleine Blutlache. Mason schaute zwischen Kelly und Fitz hin und her und schien überfordert. Kellyanne hingegen erfasste die Lage und die Konsequenzen blitzschnell, war in Gedanken schon bei einem später unvermeidlich erscheinenden Verhör und ergriff somit die Initiative.

»Dreh ihn auf die Seite, damit er nicht erstickt!«, kommandierte sie und stellte befriedigt fest, dass er umgehend gehorchte. Nachdem sich Fitz in Seitenlage befand und weiter vor sich hin blutete, beorderte sie Mason zu sich.

»Zeig deine Hände!«

Er tat wie geheißen.

»Gut, noch kein Blut dran. Später fasst du ihn noch mal an. Dann kann alles blutig werden, weil du ihm Hilfe geleistet hast. Jetzt gilt Folgendes: Hörst du zu, genau zu?!«

Mason nickte.

»Dieser Mann da hat mich angegriffen, dazu braucht es Spuren an meinen Armen. Du fasst mich gleich so fest an wie möglich, am besten so, dass es richtige Blutergüsse gibt. Danach schlägst du mir ins Gesicht. Ab dann hat sich alles genauso zugetragen wie vorhin, ich rufe um Hilfe, du befreist mich aus der Umklammerung und schlägst ihn, er fällt unglücklich und du rufst den Rettungsdienst!«

Mason nickte.

»Hast du verstanden?«, insistierte sie.

»Ja, alles klar«, bestätigte er, wirkte aber dennoch etwas neben der Spur.

»Dann los jetzt!« Damit stellte sie sich in Positur.

Mason wirkte ratlos.

»Los, Oberarme!«

Er verstand und ergriff sie.

»Fester!«

Er drückte etwas mehr.

»Fester!«

Er drückte zögerlich noch etwas mehr.

»Fester! Ich bin kein zerbrechliches Ei. Du drückst jetzt bis ich genug sage.«

»Meinst du das ernst?«

»Ich sag’s nicht nochmal!«, fauchte sie ihn giftig an und Mason drückte zu. Ihre Arme fühlten sich jetzt wie in einer Schraubzwinge. Sie begann kürzer zu atmen, aber der Schmerz war immer noch gerade so auszuhalten. Sie spürte buchstäblich den Boden unter den Füßen nicht mehr. Mason hatte sie hochgehoben, ohne es zu bemerken.

»Genug!«, keuchte sie schließlich und Mason setzte sie sanft ab.

»Und jetzt noch der Schlag ins Gesicht. Sieh zu, dass du nicht mein Ohr triffst, dann bleibt das Trommelfell ganz!«

»Ist das wirklich nötig?«

»Los, mach schon. Die Geschichte muss nachprüfbar sein.« Schützend hielt sie die linke Hand vor ihr Ohr.

»Flache Hand und alles, was du drauf hast.« Sie nickte ihm aufmunternd zu und verlagerte ihr Gewicht auf das linke Standbein.

Mason holte aus und schlug wie befohlen mit aller Kraft zu.

 

Der stechende Schmerz auf ihrer Wange und der Hand bekam keine Gelegenheit, sich angemessen bemerkbar zu machen, denn ihre fünfundfünfzig Kilo hatten der seitlich auftreffenden Kraft nichts Wirksames entgegenzusetzen. Der Schlag fegte sie von den Füßen und katapultierte sie mit dem Kopf voran seitlich an die Wand.

 

Für Kellyanne Malloy, 22, Security-Kraft, ging das Licht aus.

5

Pat hatte sich zwischenzeitlich frisch gemacht und auch im Wesentlichen angezogen, als sich der Türsummer krächzend bemerkbar machte.

»Der klingt ja scheußlich«, stellte sie fest, ohne eine Reaktion aus der Sofaecke zu erwarten.

Da Ally in der Tat keinerlei Anstalten machte, sich auch nur zu bewegen, huschte sie barfuß zur Tür und lugte durch den Spion. Sie erkannte den jungen Personenschützer, dem sie vor etwa zwanzig Minuten ihre Wunschliste und dazu Geld hinuntergeworfen hatte. Der Mann balancierte in einem der dafür üblichen Papp-Gestelle drei große Becher Kaffee und einen kleineren, der höchstwahrscheinlich die Milch enthielt. Pat öffnete in Jeans und T-Shirt, bereit, dem Boten ein freundliches Lächeln zu schenken. Der sah jedoch ungerührt und zielstrebig an ihr vorbei in den Raum.

»Ist alles in Ordnung, Ma’am?«, fragte er besorgt in das Zimmer, als er seinen Schützling zusammengerollt auf dem Sofa liegend entdeckte.

Ally kannte das Procedere, wusste, dass er nun den aktuellen Security Code erwartete und rief: »Ja, Patricia, zero.«

Pat fühlte sich angesprochen und drehte sich um.

»Was – Null?«

»Nicht du!«

»Hä?«

»Danke, Ma’am. Ich wünsche guten Appetit und einen schönen Tag!«

Pat wandte sich konsterniert wieder dem Mann zu, der ihr nun entspannt den Kaffee überreichte. Er schien mit Allys Antwort hinreichend zufriedengestellt, drückte Pat die Brötchentüte nebst Wechselgeld in die andere Hand und verschwand zügig in Richtung Treppenhaus.

Sie schüttelte den Kopf, konnte gerade noch »Danke« in den leeren Flur rufen, drehte sich und drückte die Tür hinter sich mit der Fußsohle zu.

»Frühstück ist da. Ach ja, selber Null!« Sie schnitt eine Grimasse und balancierte die Beute in Richtung Tisch.

Ally richtete sich langsam auf.

»Vielleicht doch keine schlaue Idee, Patricia als Codeword zu nehmen«, stöhnte sie. »Das zero heißt Null Probleme, also alles okay.«

Pat grinste. »Ja, ja. Jetzt habe ich es auch getickt.«

Sie stellte die Becher ab und riss die Papiertüte auf. Dann biss sie herzhaft in eines der Käsebrötchen, nuschelte mit vollem Mund: »Auf Prinzessin, zurück ins Leben!« und reichte Ally auch ein Brötchen.

Ally lächelte gequält und drehte das Teil unschlüssig in den Händen. Pat hatte inzwischen etwas Milch in ihren eigenen Becher gegossen, mit dem Kugelschreiber umgerührt und abgetrunken.

»Na los jetzt. Hör auf die Kater-Expertin.

---ENDE DER LESEPROBE---