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»Ein warmherziger Roman über die Schönheit und den Schmerz der ersten Liebe, über Freundschaft und über die Grenze dazwischen. Stephan Lohse findet dafür eine zarte Sprache mit umso eindrücklicheren Bildern.« Isabel Bogdan
Hamburg, 1977. Julle ist vierzehn Jahre alt. Kurz vor den Sommerferien bekommt er einen neuen Mitschüler, Axel. Sofort ist Julle verliebt. Dass er schwul ist, weiß keiner. Bis auf seine Schwester und seine Mutter vielleicht, Mütter sollen so etwas ahnen. Julle zählt die Stunden, die er Axel kennt, und freundet sich mit ihm an. Zusammen gehen sie ins Freibad, füttern Axels Kaninchen und entdecken eine versteckte, halb abgebrannte Hütte im Wald. Als sie deren Geheimnis beinahe gelüftet haben, ist Axel plötzlich verschwunden – und Julle ahnt, dass nach diesem Sommer nichts mehr so sein wird wie davor.
Mit viel Fantasie, Einfühlungsvermögen und Witz erzählt Stephan Lohse von zwei Jungen und den Dingen im Leben, die alles bedeuten. Das Summen unter der Haut ist ein Roman über Liebe und Freundschaft, über das Aufwachsen in den siebziger Jahren – einer Vergangenheit, wie sie vielleicht nie war, aber hätte sein sollen. Und über einen aufregenden Sommer, der alles verändert.
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Seitenzahl: 193
Stephan Lohse
Das Summen unter der Haut
Roman
Insel Verlag
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eBook Insel Verlag Berlin 2023
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2023.
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Umschlagabbildung: Pool: © eikonas/Alamy Stock Foto© Römerbad: Fulvio Zanettini
eISBN 978-3-458-77799-1
www.suhrkamp.de
Cover
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Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
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Informationen zum Buch
Das Summen unter der Haut
Was passiert ist, ist passiert. Mehr kommt jetzt nicht.
Maik Klingenberg
Vielleicht liegt es an seinen Brustwarzen. Sie haben ihn in die Mitte genommen, er liegt auf den Kanten ihrer Handtücher. Ihre Füße wippen, ihre Ellenbogen bohren sich ins Gras, ihre Schultern berühren sich. Sie lachen über etwas, was er gesagt hat. Ich habe es nicht verstanden, ich lache aber auch. Das Rauschen der schwarzen Tannen am Zaun verschluckt es. Mein Handtuch ist mir peinlich. Ein Badezimmerhandtuch, zu schmal fürs Freibad und zu weiß, die farbigen Streifen sind verblasst, es ist hart vom häufigen Waschen. Meine Mutter hat es eingepackt. Zum Glück ist meine Badehose in Ordnung. In einer kleinen Tasche mit Reißverschluss kann man den Schlüssel für den Schrank verstauen. Ich versuche, mit meinem Körper mein Handtuch zu verdecken. In der Kuhle auf meinem Rücken juckt der Schweiß. Ich liege abseits, auch wegen Claudia, niemand will direkt neben ihr liegen, keiner weiß so richtig, warum.
Vielleicht liegt es an seinen Brustwarzen. Sie sind winzig. Kleiner als Rüdigers, kleiner als Guidos, kleiner als meine. Und viel kleiner als die von Matthias aus der Parallelklasse. Die sehen wie Untersetzer aus, wie rosa Gummideckchen, in der Mitte gewölbt. Matthias ist dick, aber keiner sagt was, weil er Diabetes hat und Punkte auf dem Bauch von den Spritzen. Vielleicht liegt es an seinen Haaren. Sie sind hell und nach der Dusche struppig. Blonde Büschel. Auf seinen Armen sehen sie wie Stroh aus, wie Halme, die im Sand stehen. Vielleicht liegt es daran, dass er schön ist.
Axel ist vor kurzem hergezogen und neu in der Schule. Wir kennen ihn seit achtzig Stunden oder 4800 Minuten oder 288000 Sekunden. In der ersten Stunde am Dienstag, Bio bei Herrn Stahnke, Mitose und Meiose, hat Dr. Lachmann Axel in die Klasse gebracht und, ohne ihn uns groß vorzustellen, gesagt, er solle sich einen Platz suchen, und: »Hallo. Guten Morgen 8 b. Ausgeschlafen?« Dr. Lachmann leitet neben der Schule auch die Theater-AG und ist extrem locker. Manchmal geht er in der Pause zu den Rauchern aus der Oberstufe und schnorrt sich eine Zigarette. Er trägt Schlaghosen und hört Popmusik, nicht nur Schubert oder Brahms wie die anderen Lehrer. Wir sind ein musisches Gymnasium. Wir spielen alle ein Instrument und kennen sämtliche italienischen Tempobezeichnungen. Axel hat sich in die vorletzte Reihe gesetzt, auf den freien Platz neben Guido, rechts schräg hinter mir. Ich sitze in der vorvorletzten Reihe. Auf die Frage von Herrn Stahnke, wie er heißt, hat er »Peschke« geantwortet und auf die Frage, ob das wohl sein Vor- oder Nachname sei, »Nein« und erst nach einer Pause, vielleicht weil sich alle außer Claudia nach ihm umgedreht haben, »Axel«. »Und welches Instrument spielst du, Axel?« Das fragen bei uns alle Lehrer. »Geige«, hat Axel gesagt, und es klang wie »Leck mich«. Er hat sich umgesehen und nach einem Mikroskop gefragt. Wir hatten gerade angefangen, Zwiebelhäutchen zu mikroskopieren, und versucht, im Glibber die Zellkerne zu erkennen.
Von den achtzig Stunden waren zweiundzwanzig Stunden Unterricht. In diesen zweiundzwanzig Stunden habe ich, weil ich mich ja schlecht umdrehen konnte, versucht, Axel mit dem Rücken wahrzunehmen. Meine rechte, ihm zugewandte Seite wurde zu einer Art Antenne. Keine Antenne, wie man sie kennt, mit Stäben und Drähten, eher eine empfindliche Fläche, die summend warm wurde. Als würde sich mein Gehirn in dieser Fläche befinden und sie aufheizen. Habe ich Axel in der Pause irgendwo stehen sehen, habe ich in eine andere Richtung geblickt. Oder was im Ranzen gesucht. Oder so getan, als würde ich was beobachten. Oder mich gekratzt. Eigentlich zahlt der Staat dafür, dass ich in der Schule etwas lerne. In diesen zweiundzwanzig Stunden war das aber rausgeschmissenes Geld.
In den achtundfünfzig Stunden, in denen wir keinen Unterricht hatten, habe ich an nichts anderes denken können als an Axel Peschke. Ich habe in den Buchrücken meiner Eltern, in der Suppe zu Mittag, im Obst zum Nachtisch, in meinen Wasserfarben, meinen Hemden und Hosen, sogar in meinen Schulsachen, in unserem Garten, in den Gärten am Hang, im Mercedes auf der Einfahrt von Sierkes und dem verbeulten Ro80 auf der Straße, selbst im Himmel, als am Abend ein Gewitter aufzog und die Wolken sich wie Schwefel färbten, die Farbe seiner Haare erkannt.
Morgens bin ich in die Schule gerast, im siebten Gang, wenn die Kette gehalten hat, und habe mich, manchmal schon um zwanzig vor acht, entweder am Kiosk postiert, weil man von dort ungesehen die Einfahrt zum Schulparkplatz überblicken kann, durch die nicht nur die Schüler mit den Fahrrädern kommen müssen, sondern auch die, die die U-Bahn nehmen, oder ich bin auf den Parkplatz rauf und habe einen Lehrer, der seinen Wagen eben geparkt hatte, in ein Gespräch verwickelt und ihm dabei über die Schulter gesehen, oder ich habe am Fahrradständer herumgestanden und so getan, als würde mein Fahrradschloss nicht aufgehen. Zweimal hat es funktioniert. Einmal hat Axel auf den Boden gesehen, einmal hat er einem Mädchen schweigend bei etwas zugehört.
Auch im Unterricht sagt er nicht viel. Falls aber doch, dann mit einer Stimme, die zwar nicht tief ist, einem aber tief erscheint. Eine Zukunftsstimme, eine, von der man jetzt schon weiß, wie sie einmal klingen wird. Wenn er spricht, kommt es mir vor, als hörten wir anderen auf, Galgen in die Tische zu ritzen oder eckige Herzen. Nur Andi findet Axel bescheuert. Er findet Neue immer bescheuert, angeblich, weil er sich die Sitzordnung neu merken muss, weshalb ihm wahrscheinlich auch nicht auffällt, dass Claudia vergisst, sich mit der Spitze ihres Zopfes ins Auge zu stechen, was sie sonst ständig tut, und Natalja ihren Kopf in den Nacken wirft und Axel anlacht, obwohl sie eine Zahnspange trägt, an der manchmal noch Essensreste hängen, von Kohlroulade zum Beispiel.
Jetzt liegt Natalja rechts neben Axel auf einem Leinenhandtuch und saugt sich das Duschwasser aus den Haaren. Links liegt Guido auf einem großen Badetuch. Er hat am Stand eine Tüte Chips besorgt und teilt sie sich mit den anderen. Rüdiger, der zur Hälfte auf Guidos Handtuch liegt, sagt, er würde nie im Leben vierzig Pfennig für ein paar fettige Kartoffelscheiben ausgeben. Sein Mars bestehe aus Schokolade, aus Karamell und zusätzlich aus einer luftigen Creme.
»Aber es schmeckt überall gleich«, sagt Guido. »Die Chips schmecken hier aber besser als anderswo.«
»Und warum?«, fragt Natalja und schafft es, selbst bei einer so langweiligen Frage Axel anzulachen.
»Wahrscheinlich wegen dem Chlor«, sagt Guido. »Danach schmeckt alles wie neu.«
»Und warum mein Mars dann nicht?«
»Weil es zu süß ist«, sagt Guido. Er rollt die Chipstüte ein und schiebt sie unter sein Badetuch.
»Oder weil es viel zu heiß ist«, sagt Natalja, räkelt sich und seufzt.
Claudia sagt, und ich glaube, sie meint mich, zumindest sieht sie in meine Richtung, wenn auch irgendwie über mich hinweg, sie könne sich vorstellen, dass in ihrem Eis Holzstückchen seien. Für Krokant seien die Krümel in der Masse zu hart. Ich tue so, als würde ich sie wegen des Abstands zwischen uns nicht hören. Es wird still. Nur die schwarzen Tannen rauschen in den Kronen ihr Nadelgeflüster. Irgendwann sagt Axel, er glaube, dass Claudia recht haben könnte. Die Pfirsichstücke im Pfirsichjoghurt seien ja zum Beispiel auch kein Pfirsich, sondern eingeweichte Baumrinde, weil die Lebensmittelindustrie lügen und mit solchen Tricks Geld sparen würde.
Während ich darüber nachdenke, warum es billiger sein sollte, Bäume zu entrinden, die Rinde in Würfel zu zersägen, die klein wie Pfirsichstücke sind, sie in Zuckerwasser einzuweichen, mit Joghurt zu verrühren und in Becher abzufüllen, springen die anderen von ihren Handtüchern auf und rennen wie auf einen geheimen Befehl über die ausgetrocknete Wiese, staksen wie Störche durchs eiskalte Duschbecken und spritzen sich gegenseitig nass. Axels Zukunftsstimme überschlägt sich. Sie rempeln sich an, springen vom Beckenrand, klatschen ins Wasser, und Matthias, der für den Weg länger gebraucht hat, macht eine Arschbombe. Sie bekommen extrem viel Ärger mit dem Bademeister.
Ich will ihnen nach, doch ein weiterer Befehl hält mich zurück. Er kommt aus den schwarzen Tannen. Das Rauschen will, dass ich sie lasse. Sie haben schon Spaß. Ich suche mir einen Weg zwischen den Handtüchern und verschwinde im Gebüsch. Es gibt einen Trampelpfad, den man nehmen kann, wenn man nicht durchs kalte Duschbecken möchte. Auf der anderen Seite tänzle ich auf Zehenspitzen über die heißen Platten. Am Einstieg im Nichtschwimmerbereich sind sie nass und riechen stumpf nach Stein. Ich steige Stufe für Stufe die Leiter ins Schwimmerbecken hinab, dann tauche ich unter. Auf den Kacheln am Grund liegt ein Schrankschlüssel, zum Glück ist es nicht meiner. Ich lasse mich an die Oberfläche treiben und schwimme einige Bahnen Brust mit Ausatmen unter Wasser. Ich muss Badekappen ausweichen, die mit Gummiblumen geschmückt sind oder gerüschtem Tüll. Ein Junge trägt eine Kappe mit Rallye-Streifen. Ich kann gut schwimmen und bin fürs volle Freibad eigentlich zu schnell. Als ich vom Ausweichen genug habe und aus dem Becken will, steht Axel neben der Leiter. Sein Körper hat im Gegenlicht einen flimmernden Rand. Er reicht mir seine Hand und zieht mich nach oben. »Du hast einen blauen Fleck auf der Schulter.«
»Ich weiß«, sage ich mit Piepsstimme. »Das war Pech. Da hat mir mein Cousin Kickboxen gezeigt.« In Wahrheit habe ich vor ein paar Tagen bei uns im Flur aus irgendeinem Grund das Gleichgewicht verloren und bin gegen die Garderobe gefallen. Meine Schwester ist an mir vorbeigegangen und hat mit den Schultern gezuckt. »Der ist da voll mit dem Fuß drauf«, sage ich. Ich habe gar keinen Cousin. Nur einen sehr jungen Onkel. Er ist dreieinhalb Jahre älter als ich und war schon mal auf Bali. Er macht kein Kickboxen. Er spielt Poolbillard. Ich sehe Axel an, und es geschieht nichts in meinem Gesicht. Es fällt mir leicht zu lügen. Das war schon immer so.
»Abgefahren«, sagt Axel und, während die Sonne auf seiner Haut flimmert: »Julle.«
Das Freibad wird unscharf. Die Kinder werden unscharf. Der Bademeister. Die ausgetrocknete Wiese. Der Stand, an dem man Chips und Süßigkeiten bekommt. Alles wird unscharf. Auch Axel Peschke und seine winzigen Brustwarzen werden unscharf. Denn eigentlich nennen mich nur meine Freunde Julle.
Ich spiele auch Geige. Sogar im Quartett. Meine Mutter möchte, dass ich täglich zwanzig Minuten übe. Nachdem ich eine Zeit lang leere Saiten gespielt habe, weil das nach Musik klingt, ohne sich viel Mühe geben zu müssen, bohre ich den ersten Finger ins Griffbrett und schüttle mein Handgelenk. Der zweite Finger hat einigen Abstand zum ersten, diese Position ist schwer zu treffen. Der dritte ist mein Lieblingsfinger. Beim vierten Finger wimmert der Ton, weil der Winkel zum Brett nicht stimmt. Ich hasse es. Meine Mutter meint, ich sollte auf Bratsche umsteigen, da sei die Konkurrenz nicht so groß. Sie findet, dass wir uns im Quartett nicht auf den Füßen stehen sollten. Was bitte hat sie für eine Vorstellung von einem Quartett? Sie verwechselt Moll mit Dur und hält Oboe und Klarinette für dasselbe Instrument. Trotzdem glaubt sie, dass das Erlernen eines Musikinstruments für die geistige Entwicklung ihrer Kinder von elementarer Bedeutung sei. Elementar, sagt sie und lässt meine Schwester Etüden auf der Querflöte spielen. Das Mundstück ist total vollgeleckt, im Flötenkasten riecht es nach Spucke. Anfangs mochte ich es noch. Frau Erdmann, meine erste Geigenlehrerin, hat mir beigebracht, dass mein Körper ein schöner Rosenstock ist, dessen Zweige in den Himmel greifen, und man das linke Handgelenk beim Spielen locker lassen muss, weil man sonst, wenn man später Berufsgeiger ist, das Vibrato nicht vernünftig hingewackelt bekommt. Doch dann ist sie nach Indien ausgewandert, um aus dem ewigen Kreislauf des Samsara auszubrechen. So hat sie es ausgedrückt. Ich habe sie gebeten, mir das ins Übungsbuch zu notieren. Ihre Nachfolgerin hieß Frau Petersen. Sie trug eine Hornbrille im Pferdegesicht. Ich habe immer weniger geübt und immer häufiger geschwänzt. Im Dezember, kurz vor Weihnachten, habe ich mich auf eine Bank vor der Musikschule gesetzt, in der das Pferdegesicht auf mich gewartet hat, habe die Kekse gegessen, die meine Mutter für sie gebacken hatte, und in den Schal geheult, weil ich mir leidgetan habe. Geschmeckt hat das nicht. Meine Mutter hat herausbekommen, dass ich geschwänzt habe, weil sie Frau Petersen ein paar Wochen später nach den Keksen gefragt hat. Seitdem habe ich bei Herrn Böhler Geigenunterricht. Er war mal Orchestermusiker, aber meine Mutter meint, das müsse im letzten Jahrhundert gewesen sein. Ihm ist es gleich, ob ich schwänze.
Ich fixiere die Ziffernanzeige des Radioweckers und spiele nur noch lange Töne. Exakt nach zwanzig Minuten höre ich auf und verstaue die Geige im Kasten. Auf das schmale Ende habe ich dick U-11 geschrieben. Allerdings mit schwarzem Filzer, so dass man es auf dem schwarzen Kunststoffbezug nur von der Seite erkennen kann. Das U-11 ist ein U-Boot der Bundesmarine. U-Boot-Klasse 205. Sechzehn Torpedos in acht Torpedorohren. Ich bin U-Boot-Freund. Deshalb habe ich mir als Wandfarbe auch ein dunkles Blau mit Wellenmuster gewünscht. Mein Vater hat ausnahmsweise zugestimmt. Er wäre gerne Mitglied in einem Segelclub. Das können wir uns aber nicht leisten. Also ist er Mitglied in einem Hockeyclub. Ich bin mir nicht sicher, ob sie da wirklich Hockey spielen. Sie treffen sich samstags, so wie heute, trinken Aquavit und unterhalten sich, wahrscheinlich über ihre Berufe, ihre Hobbys und ihre Frauen. Mein Vater hält mich für dumm wie eine Pfandflasche, weil ich mir nicht merken kann, was er als Beruf macht. Irgendwas mit Listen und Verkauf. Mit Rückstellungen. Wenn er von Rückstellungen spricht, klingt er wie jemand aus der Tagesschau. Guidos Vater ist Physiotherapeut, das würde ich mir leichter merken können.
Ich gebe dem Geigenkasten den Befehl zum Abschuss der Torpedos. Das Sonar rechnet mit dreiundzwanzig Sekunden bis zum Einschlag. Ich zähle mit. Bei sieben zieht mich Axel aus dem Wasser, bei neun sieht er meinen blauen Fleck, bei zwölf habe ich ihn das erste Mal belogen, bei fünfzehn das zweite Mal, bei siebzehn scheine ich alles verdorben zu haben, doch bei zwanzig sagt er »Abgefahren«, und bei einundzwanzig nennt er mich bei meinem Spitznamen. Dreiundzwanzig. Die Explosion erschüttert die Wände meines Zimmers. Das Wasser peitscht auf, eine Fontäne, die die Überreste des feindlichen U-Boots emporschleudert und Teile der Besatzung: ganze Beine, halbe Beine, Arme, Hände, Finger, einen gespaltenen Kopf. Die Gischt wird rot und rollt blutig über die tosende See. Im Garten wässert meine Mutter die Forsythie.
Ich lasse mich aufs Bett fallen und zwinge mich, nicht an Axel zu denken, nicht an seine Stimme, nicht an seine Haare und nicht an seine Haut, die im Sonnenlicht flimmert. Ich denke an meine Fischertechnik, mit der ich mir ein Periskop bauen könnte, an die Nickelvorkommen in Tansania, die wir in eine leere Afrikakarte einzeichnen müssen, die uns Herr Becher ins Heft gestempelt hat, daran, dass ich, während ich Geige übe, oft am Kolophonium rieche, dass ich seit dem Freibad weiß, dass Axel ihn in der Badehose rechts trägt, obwohl ich das sonst von keinem in meiner Klasse weiß, und dann schnell daran, dass ich gerne ein Haustier hätte, mich aber nicht entscheiden kann, welches, vielleicht einen Hund, vielleicht eine Schildkröte, vielleicht einen Wellensittich, bestimmt keinen Goldhamster, aber vielleicht ein Frettchen. Meine Schwester hätte gern ein Pony, aber nur, um meine Eltern zu provozieren. Sie hat kein einziges Pferdeposter in ihrem Zimmer.
Mein Vater ist aus dem Hockeyclub zurück und findet, dass sich meine Mutter mal wieder wichtigmacht. Sie hat uns zum Essen gerufen, danach hat sie geseufzt, und wenn sie seufzt, erwartet sie von uns, dass wir das Essen loben. Also sagen wir: »Mhm«, und: »Lecker«, und mein Vater: »Warum nicht gleich, Ute?« Er ist ohne Hockeyschläger nach Hause gekommen. Seine Augen sind glasig, seine Lippen sind schwer. Es gibt Brathähnchen aus dem Römertopf, und ich versuche, an nichts anderes zu denken als an Brathähnchen aus dem Römertopf. Der Vogel liegt in seinem Saft wie angeschwemmt, im Bauch steckt eine Zitrone, ein gelbes Riesenei. Wir sind noch nicht fertig mit dem Essen, da geht es schon los. Die Pall Mall von meinem Vater sind leer, er muss die Eve von meiner Mutter rauchen. Den Ladyscheiß lehne er ab, da könne er sich ja gleich einen Wattebausch anstecken, wieso zahle er für so was überhaupt Tabaksteuer? Auf jeden Scheiß müsse er Steuern zahlen. Was bitte gehe es das Finanzamt an, was er für einen Wagen fahre? Oder wie viele Zimmer sein Haus habe? Ob er im Club ein kleines Geschäft klarmache? Unter Freunden. Unter Sportsfreunden. Er gießt sich einen Whiskey ein, und meine Mutter muss ihm die Eiswürfel aus dem Gitter drücken. Der Herr Staat habe seine Finger ja überall drin, sagt er und spricht so laut, als wären da außer uns noch andere. Nichts bleibe von dem übrig, für das er sich täglich plattmache. »Platt?«, sagt meine Mutter. »Wohl eher besoffen.« Woraufhin mein Vater sie anschreit, schon gar nicht, wenn die eigene Frau das Huhn für ihre bescheuerte Tonschüssel unbedingt frisch vom Markt braucht und nicht tiefgekühlt zum halben Preis, weil das so in ihrem Rezeptbuch steht, um, na? Um was? »Um sich wichtigzumachen«, sagt mein Vater und sieht meine Schwester und mich an, als sei das unser Text. Eigentlich ist mein Vater ganz nett, aber Aquavit bekommt ihm nicht. Meine Mutter mixt sich einen Martini und prostet ihm zu. Sie starren sich an. Uns Kinder haben sie vergessen. Jede andere Frau würde so ein Huhn auch tiefgekühlt hinkriegen. Selbst die von Dr. Schlierhammer, die aus dem Katalog. Und die würde dabei sogar noch bisschen schmusig sein, das sei bei der im Preis mit drin. Meine Mutter hat genug, sie knallt mit der Hand auf den Tisch, so dass die Teller mit dem Nachtisch hüpfen. Was jetzt passiert, passiert immer. Wirklich immer. Während meine Mutter meinem Vater sagt, sie würde ihm gleich mal zeigen, wie schmusig es bei den Schlierhammers zugehe, beginnt er, statt völlig durchzudrehen, nach Luft zu schnappen, als würde er gleich losheulen. Er vergräbt sein Gesicht in seinen Händen, zieht Rotz hoch, den es nicht gibt, dann steht er schwer atmend auf. Meine Mutter folgt ihm. Sie verlassen die Küche in unterschiedliche Richtungen, was nicht viel bringt, so groß ist unser Haus nicht. Meine Schwester wischt Nachtisch vom Tisch. Sie stellt das Whiskey-Glas in den Geschirrspüler und wirft die zerdrückte Eve in den Müll. Dann verschwindet sie in ihrem Zimmer und dreht ihre Supertramp-Platte auf. Ich bleibe am Küchentisch sitzen. Wenn ich mich nicht bewege, habe ich das Gefühl, als würde es mich nicht geben.
Am Sonntag bleiben meine Eltern im Bett. Ihr Flüsterlachen schwebt wie Watte durch den Flur.
Ich mache mir einen Kakao. Das Pulver löst sich in der kalten Milch nicht auf, für warme Milch wäre aber meine Mutter zuständig. Meine Schwester filtert sich einen Kaffee. Seit sie mit Benjamin von Mackensen zusammen ist, trinkt sie morgens Kaffee. Sie raucht auch heimlich und hat im Keller eine Flasche Asti Spumante versteckt. Benjamin geht aufs Pablo Neruda. Ich frage mich, wieso ausgerechnet er und nicht zum Beispiel Felix ihr fester Freund ist. Felix geht in ihre Klasse, ist ihr bester nicht fester Freund und außerdem der netteste, den sie jemals haben wird. Er spielt Klarinette, obwohl er nicht müsste. Er wäre auch als Geiger gut. Wenn meine Schwester mit Benjamin vorm Sofa sitzt, liegen ihre Beine parallel nebeneinander auf dem Teppich. Mit ihm sitzt meine Schwester nie auf dem Sofa, nur davor. Sie kratzt sich dann am Knöchel und sagt Worte wie »immanent« oder »relevant« oder dass sich »Emanzipation« vom lateinischen Wort für »Hand« herleite, was nicht nur bedeute, sich aus dem Griff des Patriarchats zu lösen, sondern selbst zuzugreifen. Ich verziehe mich mit dem Kakao in mein Zimmer und setze mich an meinen Schreibtisch.
Ich hasse es, wenn meine Eltern sich streiten. Es ist wie am Ende eines Diaabends, wenn im Projektor die Dias durch sind. Beim letzten Wechsel kommt Licht, obwohl man ein Foto erwartet hat. Eines, auf dem die Straße die gleiche Farbe wie der Himmel hat und mein Vater zum Beispiel meine Mutter den Wagen fahren lässt. Beim Plätzetausch begegnen sie sich auf halber Strecke und geben sich einen Kuss – in Wirklichkeit ist mein Vater zwar grundsätzlich für Frauen am Steuer, aber nicht bei meiner Mutter. Man sitzt auf dem Sofa oder davor, es gibt Chips und Erdnussflips, man sieht sich die Dias an, lacht, rätselt, erinnert sich und wird plötzlich von diesem leeren Licht geblendet. Man schließt die Augen und hofft, dass jemand aufsteht, den Projektor ausschaltet, die Leinwand einrollt, die leeren Schälchen für die Chips und Flips ineinanderstellt und »Schluss jetzt« sagt und vielleicht noch, dass irgendjemand den Aschenbecher ausleeren müsse, und zwar draußen in den Müll.