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Die Erleuchtung (bodhi) des Buddha ist der allgemeine Bezugspunkt aller Formen des Buddhismus. Worin diese Erkenntnis und Erfahrung besteht, welche Grundlage sie hat, durch welche Formen der Praxis sie erlangt werden kann, wie man das Erreichte richtig einordnet und Fehlentwicklungen vermeidet, wird in dem chinesischen Sutra von der Vollkommenen Erleuchtung erörtert. Der Text berührt grundlegende Fragen wie das Verhältnis von Verblendung und Erleuchtung, Erkenntnis und Wirklichkeit, Praxis und Erkenntnis. Der Inhalt ist beispielhaft für eine Auslegung der buddhistischen Lehre, die seit der Tang-Zeit vor allem von den als Chan (japan. Zen) und Huayan bezeichneten Schulrichtungen vertreten wurde und den ostasiatischen Buddhismus mitgeprägt hat. Die Kerngedanken des Sutras lassen sich in den Kontext der Buddhanatur-Lehre einordnen. Die Übersetzung des chinesischen Textes wird durch einen Kommentar ergänzt. Er soll das Verständnis der deutschen Übertragung erleichtern und einen Einblick in die chinesische Tradition der Auslegung dieses Sutras ermöglichen. Die wichtigste Grundlage des Kommentars sind die Werke des Mönchs Zongmi (780-841). Sie haben die Interpretation des Sutras bis in die Gegenwart geprägt. Das Buch wendet sich an Menschen, die sich für den ostasiatischen Buddhismus interessieren und kanonische Schriften in deutscher Übersetzung lesen möchten.
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Seitenzahl: 252
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Das Sūtra von der Vollkommenen Erleuchtung (Yuanjuejing)
Übersetzung und Kommentar
Impressum
Dieses E-Book enthält den Text der 2023 veröffentlichten Printausgabe (ISBN 9783758427770) ohne chinesische Schriftzeichen, Glossar und Register.
Texte: © 2023 Copyright by Marcus Günzel
Umschlag: © 2023 Copyright by Marcus Günzel
Verantwortlich für den Inhalt:
Marcus Günzel
2F, 4 Alley 3, Lane 81, Ta Hsueh Road
300 Hsinchu, TAIWAN
Vertrieb:
epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Einleitung
Übersetzung
[0. Einleitung zur Versicherung der Echtheit dieses Sūtras]
[0.1 Der Ort der Darlegung]
[0.2 Die Versammlung]
[1. Was ist die Grundlage der Buddhaschaft?]
[1.1 Die Frage des Bodhisattva Mañjuśrī]
[1.2 Die Vollkommene Erleuchtung ist die Grundlage der Buddhaschaft]
[1.2.1 Einführung des Begriffs „Vollkommene Erleuchtung“ für die Wirklichkeit]
[1.2.2 Die Einsicht in diese Wirklichkeit führt zur Buddhaschaft]
[1.3 Die wahre Natur der Verblendung]
[1.3.1 Bestimmung des Begriffs „Verblendung“]
[1.3.2 Aufweis der Leerheit der Verblendung]
[1.4 Wie man die Grundlage der Buddhaschaft erlangt]
[1.4.1 Das Durchschauen des Scheins]
[1.4.2 Das Überwinden des Erkennens]
[1.4.3 Die Vollkommene Erleuchtung ist jenseits aller Unterscheidungen]
[1.5 Anknüpfung an die Frage des Bodhisattva]
[1.6 Wiederholung in Versform]
[2. Wie soll man die Vollkommene Erleuchtung praktizieren?]
[2.1 Die Frage des Bodhisattva Samantabhadra]
[2.2 Die Vollkommene Erleuchtung ist die Grundlage aller Scheinformen]
[2.3 Die Beseitigung der Scheinformen erfolgt mit Hilfe der Scheinweisheit]
[2.4 Die Methode des Sichlösens vom Schein]
[2.4.1 Das Durchschauen der Scheinobjekte]
[2.4.2 Das Durchschauen des Scheingeistes]
[2.4.3 Das Durchschauen der Scheinweisheit]
[2.4.4 Das Durchschauen des Durchschauens]
[2.4.5 Das endgültige Sichlösen]
[2.5 Quintessenz der Antwort: Es gibt weder Methode noch Abfolge]
[2.6 Wiederholung in Versform]
[3. Wie verläuft die allmähliche Praxis der Vollkommenen Erleuchtung?]
[3.1 Die Frage des Bodhisattva Allblick]
[3.2 Das Leitprinzip für die Praxis: Das Sichlösen von allen Scheingebilden]
[3.3 Die Lebensweise: Praxis der Sammlung und Einhaltung der Gelübde]
[3.4 Das Sichtbarmachen der Soheit durch die Meditation über die Leerheit von Körper, Geist und Dharmas]
[3.4.1 Betrachtung der Leerheit des Körpers]
[3.4.2 Betrachtung der Leerheit des Geistes]
[3.4.3 Betrachtung der Leerheit der Dharmas]
[3.4.4 Das Sichtbarwerden der Soheit]
[3.5 Meditation über die Sphäre der Vollkommenen Erleuchtung]
[3.5.1 Die Reinheit der Vollkommenen Erleuchtung bleibt unberührt von den Scheingebilden des Sinnesstaubs und der Scheinpraxis des Bodhisattva]
[3.5.2 Eintritt in die Sphäre der Vollkommenen Erleuchtung]
[3.5.3 In der Vollkommenen Erleuchtung ist alles gleich, rein und regungslos]
[3.6 Die Verwirklichung der Vollkommenen Erleuchtung]
[3.7 Anknüpfung an die Frage des Bodhisattva]
[3.8 Wiederholung in Versform]
[4. Wie löst man den Widerspruch zwischen der Wahrheit des ursprünglichen Erleuchtetseins und der Tatsache der anfanglosen Verblendung?]
[4.1 Die Frage des Bodhisattva Vajragarbha]
[4.2 Aufweis der Wurzel des Widerspruchs: Der Versuch, durch unterscheidendes Denken die Vollkommene Erleuchtung zu erkennen]
[4.3 Gleichnis zur Erläuterung des Verhältnisses der Vollkommenen Erleuchtung zum Entstehen und Vergehen der Unterscheidungen Verblendung/Erleuchtung, Daseinskreislauf/Nirvāṇa etc.]
[4.4 Gleichnis zur Erläuterung des Verhältnisses der ursprünglichen Erleuchtung zur Verwirklichung der Buddhaschaft]
[4.5 Die Sphäre der Vollkommenen Erleuchtung ist durch Operationen des unterscheidenden Geistes nicht zu erfassen]
[4.6 Wiederholung in Versform]
[5. Wie durchtrennt man die Wurzel des Daseinskreislaufs und welcheKlassen von Praktizierenden gibt es?]
[5.1 Die Frage des Bodhisattva Maitreya]
[5.2 Die Wurzel des Daseinskreislaufs ist das Begehren]
[5.3 Die Daseinsbahnen]
[5.3.1 Die drei üblen Daseinspfade]
[5.3.2 Himmelswesen und Menschen]
[5.3.3 Die Dhyāna-Himmel]
[5.4 Aufforderung zur vollständigen Überwindung des Begehrens]
[5.5 Die fünf Klassen von Praktizierenden]
[5.5.1 Die zwei Hindernisse]
[5.5.2 Erläuterung der fünf Klassen]
[5.5.2.1 Weltlinge ohne jede Praxis]
[5.5.2.2 Śrāvakas und Pratyekas]
[5.5.2.3 Bodhisattvas]
[5.5.2.4 Nicht festgelegte Naturen]
[5.5.2.5 Fremde Pfade]
[5.6 Die geschickte Methode der Bodhisattvas]
[5.7 Wiederholung in Versform]
[6. Welche Grade der Verwirklichung gibt es?]
[6.1 Die Frage des Bodhisattva Reine-Weisheit]
[6.2 Einschränkung der folgenden Ausführungen: In der Vollkommenen Erleuchtung gibt es eigentlich keine Grade der Verwirklichung]
[6.3 Die Scheingrade der Verwirklichung des Einklangs mit der Vollkommenen Erleuchtung]
[6.3.1 Die Weltlinge]
[6.3.1.1 Die gewöhnlichen Weltlinge]
[6.3.1.2 Das beginnende Erwachen beim Hören des Dharma]
[6.3.1.3 Der beginnende Einklang mit der Erleuchtung]
[6.3.2 Bodhisattvas vor dem Erreichen der Stufen]
[6.3.3 Bodhisattvas nach dem Erreichen der Stufen]
[6.3.4 Die Stufe der Tathāgataschaft]
[6.4 Die Methode des unmittelbaren Einklangs mit der Vollkommenen Erleuchtung]
[6.5 Wiederholung in Versform]
[7. Welche Methoden sollen die Bodhisattvas praktizieren?]
[7.1 Die Frage des Bodhisattva Unumschränkt-Erhabener]
[7.2 Die drei geschickten Methoden]
[7.2.1 Śamatha]
[7.2.2 Samāpatti]
[7.2.3 Dhyāna]
[7.3 Betonung der überragenden Bedeutung dieser drei geschickten Methoden]
[7.4 Die Verdienste dieser drei geschickten Methoden]
[7.5 Wiederholung in Versform]
[8. Wie viele konkrete Formen der Praxis dieser drei Methoden gibt es?]
[8.1 Die Frage des Bodhisattva Stimme-der-Überzeugungskraft]
[8.2 Einschränkung: Es gibt eigentlich keine Formen der Praxis]
[8.3 Die 25 Räder der Sammlung]
[8.3.1 Nur Śamatha]
[8.3.2 Nur Samāpatti]
[8.3.3 Nur Dhyāna]
[8.3.4 Zuerst Śamatha, danach Samāpatti]
[8.3.5 Zuerst Śamatha, danach Dhyāna]
[8.3.6 Zuerst Śamatha, danach Samāpatti, zuletzt Dhyāna]
[8.3.7 Zuerst Śamatha, danach Dhyāna, zuletzt Samāpatti]
[8.3.8 Zuerst Śamatha, danach gleichzeitig Samāpatti und Dhyāna]
[8.3.9 Zuerst gleichzeitig Śamatha und Samāpatti, danach Dhyāna]
[8.3.10 Zuerst gleichzeitig Śamatha und Dhyāna, danach Samāpatti]
[8.3.11 Zuerst Samāpatti, danach Śamatha]
[8.3.12 Zuerst Samāpatti, danach Dhyāna]
[8.3.13 Zuerst Samāpatti, danach Śamatha, zuletzt Dhyāna]
[8.3.14 Zuerst Samāpatti, danach Dhyāna, zuletzt Śamatha]
[8.3.15 Zuerst Samāpatti, danach gleichzeitig Śamatha und Dhyāna]
[8.3.16 Zuerst gleichzeitig Samāpatti und Śamatha, danach Dhyāna]
[8.3.17 Zuerst gleichzeitig Samāpatti und Dhyāna, danach Śamatha]
[8.3.18 Zuerst Dhyāna, danach Śamatha]
[8.3.19 Zuerst Dhyāna, danach Samāpatti]
[8.3.20 Zuerst Dhyāna, danach Śamatha, zuletzt Samāpatti]
[8.3.21 Zuerst Dhyāna, danach Samāpatti, zuletzt Śamatha]
[8.3.22 Zuerst Dhyāna, danach gleichzeitig Śamatha und Samāpatti]
[8.3.23 Zuerst gleichzeitig Dhyāna und Śamatha, danach Samāpatti]
[8.3.24 Zuerst gleichzeitig Dhyāna und Samāpatti, danach Śamatha]
[8.3.25 Vollkommene Praxis der drei Methoden]
[8.4 Die Auswahl der Praxis]
[8.5 Wiederholung in Versform]
[9. Wodurch wird die Praxis verunreinigt?]
[9.1 Die Frage des Bodhisattva Karmahindernisläuterer]
[9.2 Ursache der Verunreinigung ist die ursprüngliche Verblendung]
[9.2.1 Das Wesen der ursprünglichen Verblendung: Anhaften an der unwahren Vorstellung vom Selbst]
[9.2.2 Die Folgen der unwahren Vorstellung vom Selbst]
[9.2.2.1 Begehren und Abscheu, Karma und Karmabahnen]
[9.2.2.2 Die Unfähigkeit, das Wesen der Erleuchtung zu erkennen]
[9.3 Die vier Formen des Anhaftens]
[9.3.1 Die Form „Selbst“]
[9.3.2 Die Form „Person“]
[9.3.3 Die Form „Lebewesen“]
[9.3.4 Die Form „Leben“]
[9.4 Die Auswirkungen des Anhaftens am Selbst auf die Praxis]
[9.4.1 Verkennen des wahren Nirvāṇa]
[9.4.2 Selbstüberschätzung und Empfindlichkeit]
[9.4.3 Festhalten an der Vorstellung, man verkünde den Dharma]
[9.4.4 Verwechseln des wahren Dharma mit den Formen des Ichanhaftens]
[9.4.5 Anmaßung und Neid]
[9.5 Aufforderung zur Überwindung des Ichanhaftens]
[9.6 Wiederholung in Versform]
[10. Wie sollen die Lebewesen der Endzeit einen guten Ratgeber finden und den Dharma praktizieren?]
[10.1 Die Frage des Bodhisattva Allumfassend-Erleuchteter]
[10.2 Merkmale der guten Ratgeber]
[10.3 Die Einstellung gegenüber guten Ratgebern]
[10.4 Die vier Krankheiten, von denen der Dharma des guten Ratgebers frei sein muss]
[10.4.1 Das Bewirkenwollen]
[10.4.2 Das Sichtreibenlassen]
[10.4.3 Das Innehalten]
[10.4.4 Das Auslöschen]
[10.5 Der Umgang mit dem guten Ratgeber]
[10.6 Die erforderliche Geisteshaltung]
[10.6.1 Überwinden aller ichbezogenen Unterscheidungen]
[10.6.2 Ablegen des Bodhigelübdes]
[10.7 Wiederholung in Versform]
[11. Wie soll man die Vollkommene Erleuchtung in einer Klausur praktizieren?]
[11.1 Die Frage des Bodhisattva Vollkommen-Erleuchteter]
[11.2 Die Durchführung einer Klausur]
[11.2.1 Praxis ohne formale Klausur]
[11.2.2 Dauer und Aufbau einer Klausur]
[11.2.3 Was bei zeitlicher Überschneidung mit der Sommerklausur der Ordensgemeinschaft zu tun ist]
[11.2.4 Warnung vor besonderen Zuständen]
[11.3 Die Praxis der drei geschickten Methoden während der Klausur]
[11.3.1 Śamatha]
[11.3.2 Samāpatti]
[11.3.3 Dhyāna]
[11.3.4 Die vollständige Praxis der drei geschickten Methoden]
[11.3.5 Die Praxis der drei geschickten Methoden, wenn man auf Karmahindernisse stößt]
[11.4 Wiederholung in Versform]
[12. Schlussabschnitt zur Bezeichnung, Wirkung und Verbreitung dieser Lehre]
[12.1 Die Frage des Bodhisattva Haupt-der-Edlen-und-Guten]
[12.2 Der Stellenwert dieses Sūtras]
[12.3 Die fünf Titel dieses Sūtras]
[12.4 Welche Stufe der Verwirklichung durch die Verbreitung und Praxis dieses Sūtras erreicht werden kann]
[12.5 Eignung dieses Sūtras für Praktizierende mit unterschiedlichen Anlagen]
[12.6 Die Verdienste, die man sich erwirbt]
[12.7 Die Verdienste, die den Kontakt mit diesem Sūtra ermöglicht haben]
[12.8 Schutz der Praktizierenden durch Götter und Dämonen]
[12.9 Abschluss und Annahme dieser Lehrrede]
Kommentar
Zur Geschichte des Textes
Aufbau und Inhalt
Erläuterung des Titels
„Mahāvaipulya“ („Groß, recht und weit“)
„Vollkommene Erleuchtung“
„Endgültige Bedeutung der Sūtras“ und „Schrift“
Themen und inhaltliche Schwerpunkte der einzelnen Abschnitte
0. Einleitung zur Versicherung der Echtheit dieses Sūtras
1. Was ist die Grundlage der Buddhaschaft?
2. Wie soll man die Vollkommene Erleuchtung praktizieren?
3. Wie verläuft die allmähliche Praxis der Vollkommenen Erleuchtung?
4. Wie löst man den Widerspruch zwischen der Wahrheit des ursprünglichen Erleuchtetseins und der Tatsache der anfanglosen Verblendung?
5. Wie durchtrennt man die Wurzel des Daseinskreislaufs und welche Klassen von Praktizierenden gibt es?
6. Welche Grade der Verwirklichung gibt es?
7. Welche Methoden sollen die Bodhisattvas praktizieren?
8. Wie viele konkrete Formen der Praxis dieser drei Methoden gibt es?
9. Wodurch wird die Praxis verunreinigt?
10. Wie sollen die Lebewesen der Endzeit einen guten Ratgeber finden und den Dharma praktizieren?
11. Wie soll man die Vollkommene Erleuchtung in einer Klausur praktizieren?
12. Schlussabschnitt zur Bezeichnung, Wirkung und Verbreitung dieser Lehre
Stellenkommentar
0.1 - 0.2
1.1 - 1.4.3
2.1 - 2.5
3.1 - 3.6
4.1 - 4.5
5.1 - 5.5.2.4
6.2 - 6.4
7.1 - 7.2.3
8.1 - 8.4
9.1 - 9.6
10.2 - 10.6.2
11.2.2 - 11.3.3
12.2 - 12.8
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Das Sūtra von der Vollkommenen Erleuchtung (Yuanjuejing) gehört zu den bedeutenden Schriften des chinesischen Buddhismus. Sein Inhalt ist einerseits beispielhaft für eine Auslegung der buddhistischen Lehre, die seit der frühen Tang-Zeit (618-907) in China vor allem von den als Chan und Huayan bezeichneten Schulrichtungen vertreten wurde und den ostasiatischen Mahāyāna-Buddhismus mitgeprägt hat. Das Sūtra führt aber andererseits – wie der Titel anzeigt – seinem Selbstverständnis nach direkt zum Ursprung des Buddhismus. Dieser liegt bekanntlich in jener erlösenden Erkenntnis der Wirklichkeit, zu der Śākyamuni, der historische Buddha, im 5. oder 6. Jahrhundert v. Chr. nach jahrelangen Bemühungen gelangt war. Sie gab ihm die Gewissheit, dass er sich endgültig aus dem Kreislauf des Geborenwerdens und Sterbens befreit hatte. Auf diese im Sanskrit als Bodhi bezeichnete und im Deutschen mit „Erwachen“ und „Erleuchtung“ wiedergegebene Einsicht und Erfahrung berufen sich bis heute alle Formen des Buddhismus.
Der Buddha hatte seinen Mitmenschen von seiner Erkenntnis berichtet und ihnen mit dem von ihm gelehrten Dharma auch Konzepte und Handlungsanweisungen bereitgestellt, die zu dieser Erkenntnis führen sollen. Mit seinem ersten „Drehen des Dharma-Rades“ (Skt. dharmacakrapravartana), der Verkündung seiner Lehre, hat der Buddha eine Kommunikation über den Dharma in Gang gesetzt, die schon zu seiner Zeit in verschiedenen Gegenden fortgeführt und in den Jahrhunderten nach seinem Nirvāṇa auch außerhalb Indiens in sehr unterschiedliche soziokulturelle Kontexte integriert wurde. Dabei bildeten sich immer wieder neue Ausgestaltungen und Interpretationen des Dharma, die an die Grundlehre ‒ das Entstehen in Abhängigkeit von Bedingungen, die daraus folgende alles betreffende Vergänglichkeit und Leerheit sowie die Möglichkeit der Erlösung durch das Nirvāṇa ‒ anschlossen, sich aber in ihrer Zugangsweise zum Teil erheblich voneinander unterschieden. Diese Vielfalt und die scheinbare Widersprüchlichkeit der Auslegungen haben jedoch die Selbstwahrnehmung der verschiedenen Richtungen des Buddhismus als eine auf den Buddha zurückgehende gemeinsame Tradition nicht beeinträchtigt. Die Reflexion über die Abhängigkeit von Perspektiven und die Integration sehr unterschiedlicher Positionen gehören vielmehr seit frühester Zeit zu den Merkmalen des Buddhismus. So wird in den buddhistischen Schriften gelehrt, dass man den Dharma erst hören und dann gründlich darüber nachdenken sollte, bevor man ihn schließlich umzusetzen beginnt. Angesichts der im Buddhismus als selbstverständlich betrachteten Vielfalt der Anlagen und Bedingungen der Lebewesen muss dieses Nachdenken und Üben zwangsläufig zu sehr unterschiedlichen Zwischenergebnissen vor dem Erreichen des Ziels führen. Deshalb gibt es, wie die Schriften des Mahāyāna-Buddhismus betonen, unermesslich viele verschiedene „geschickte Methoden“ (Skt. upāya) der Darlegung und Praxis des Dharma, die aber letztlich funktional gleichwertig sind. Sie werden als das Ergebnis der Anpassung an die Bedürfnisse und Veranlagungen der Lebewesen aufgefasst.
Das Sūtra von der Vollkommenen Erleuchtung kann als ein Beispiel für diese Suche nach neuen Ansätzen, die unter veränderten Bedingungen das ursprüngliche Ziel verwirklichen sollen, gesehen werden. Es handelt sich um den Versuch einer konzisen Darstellung der wichtigsten Voraussetzungen und Methoden der Praxis des Dharma, mit dem Ziel, die Verwirklichung der Erleuchtung (Befreiung) möglichst rasch zu erreichen. Dabei werden einige Fragen und Unterscheidungen, die zur Zeit seiner Entstehung als grundlegend oder problematisch betrachtet wurden, angesprochen und erläutert: Das Verhältnis von Verblendung und Erleuchtung, von Erkenntnis und Wirklichkeit, und damit zusammenhängend die Unterscheidungen Praxis/Erkenntnis, unmittelbar/allmählich, teilweise/vollkommen, wahr/unwahr, rein/unrein etc. Der Text ist aber insgesamt handlungsorientiert, d.h. auf die Umsetzung in der alltäglichen Praxis ausgerichtet. Theoretische Grundpositionen werden nur knapp dargelegt. Auf der Grundlage des Vertrauens in die Wahrheit der vom Buddha gelehrten Möglichkeit der Befreiung durch die Erkenntnis der Wirklichkeit leitet der Text zu einer Form des Erkennens an, die alle Unterscheidungen zu überwinden versucht, weil keine Unterscheidung die Wirklichkeit erfassen kann. Es ist letztlich eine „Praxis im Praxislosen“.1 Damit ist das Sūtra auch ein Beispiel für die paradoxe Kommunikation des Mahāyāna-Buddhismus.
Wie bei anderen Werken der anonymen buddhistischen Sūtraliteratur lässt sich auch bei diesem Text der zeitliche und geografische Ursprung nicht genau bestimmen. Die historischen Quellen deuten darauf hin, dass es sich bei diesem Sūtra wahrscheinlich nicht um einen ursprünglich indischen Text, sondern um ein Beispiel für die Fortsetzung der in Indien begonnenen Kommunikation über den Dharma im Kontext der chinesischen Kultur handelt. Man kann das Sūtra auch heute noch zum Kernbestand der im religiösen Leben und Denken wirksamen Schriften der buddhistischen Überlieferung Chinas zählen. Der Text wird weiterhin in separaten Ausgaben gedruckt und verbreitet, ausgelegt und rezitiert.
Die deutsche Übersetzung basiert auf dem Text der japanischen Taishō-Edition des chinesischen buddhistischen Kanons: Dafangguang yuanjue xiuduoluo liaoyi jing, T. 842, 17.913-922.2 In der Übersetzung werden die Stellen im Originaltext jeweils am Ende inhaltlich zusammenhängender Textabschnitte angegeben.
Der chinesische Sūtratext ist zwar formal nicht in Kapitel eingeteilt, weist aber eine klare Strukturierung in Abschnitte auf, die traditionell als Kapitel behandelt werden. Um das Verständnis des Textes zu erleichtern, wurde in der Übersetzung eine ausführliche Gliederung vorgenommen. Die Überschriften dieser Gliederung, die mit Hilfe der chinesischen Kommentare erarbeitet wurde, sind durch [ ] als Ergänzungen des Übersetzers gekennzeichnet. Die Nummerierung bildet die Grundlage für die Verweise im Kommentar und in den Anmerkungen. Die Titel der Hauptabschnitte werden als Fragen formuliert, um zu verdeutlichen, von welcher Problemstellung der jeweilige Abschnitt ausgeht.
An manchen Stellen erschien es sinnvoll, einzelne Worte oder Ausdrücke, die sich inhaltlich aus dem Kontext ergeben, aber nicht wörtlich im Text stehen, in der Übersetzung einzufügen. Solche Ergänzungen des Übersetzers werden ebenfalls durch [ ] markiert.
Der Kommentar soll das Verständnis der deutschen Übersetzung erleichtern und gleichzeitig einen Einblick in die chinesische Tradition der Auslegung dieses Sūtras ermöglichen. Die wichtigste Grundlage sind die Kommentare des Mönchs Zongmi (780-841). Sie haben die Interpretation des Sūtras bis in die Gegenwart geprägt.
Die Mahāvaipulya-Schrift von der Vollkommenen Erleuchtung, der endgültigen Bedeutung der Sūtras3
Während der Tang-Dynastie von dem aus Kaschmir stammenden Tripiṭaka-Meister Fotuoduoluo übersetzt. [913a26]
So habe ich gehört: Zu einer Zeit war der Bhagavat in den Samādhi „Schatzhaus unvorstellbarer Durchdringungskräfte und großen Lichtglanzes“ eingetreten und verharrte in diesem Zustand der Versenkung, der von allen Tathāgatas im Schmuck des Lichtglanzes bewahrt wird. Dies ist die reine Grundlage der Erleuchtung aller Lebewesen; der Urzustand der Gleichheit, in dem Körper und Geist erloschen sind; der Einklang der Nichtzweiheit, der vollkommen alles in den zehn Himmelsrichtungen umfasst. Und in dieser Sphäre der Nichtzweiheit werden die Reinen Länder in Erscheinung gebracht. [913a27-b1]
Und bei ihm waren hunderttausend Bodhisattvas Mahāsattvas. Ihre Namen lauteten: Bodhisattva Mañjuśrī, Bodhisattva Samantabhadra, Bodhisattva Allblick, Bodhisattva Vajragarbha, Bodhisattva Maitreya, Bodhisattva Reine-Weisheit, Bodhisattva Unumschränkt-Erhabener, Bodhisattva Stimme-der-Überzeugungskraft, Bodhisattva Karmahindernisläuterer, Bodhisattva Allumfassend-Erleuchteter, Bodhisattva Vollkommen-Erleuchteter, Bodhisattva Haupt-der-Edlen-und-Guten usw. – diese standen der Versammlung vor. Sie alle waren samt ihrem Gefolge in den Samādhi eingetreten und weilten nun gemeinsam mit dem Tathāgata in dieser Dharmaversammlung der Gleichheit. [913b1-7]
Da erhob sich inmitten der großen Versammlung der Bodhisattva Mañjuśrī von seinem Platz, neigte ehrfurchtsvoll sein Haupt bis zu den Füßen des Buddha, umschritt ihn dreimal nach rechts herum, kniete dann nieder, faltete seine Hände und sagte zum Buddha:
„Mitleidsvoller Erhabener! Mögest du allen, die hier in dieser Versammlung der Angehörigen des Dharma zusammengekommen sind, von der ursprünglichen, reinen, grundlegenden Dharmapraxis der Tathāgatas erzählen und außerdem erklären, wie die Bodhisattvas im Mahāyāna eine reine Geisteshaltung entwickeln und alle Krankheiten vermeiden können. Dann werden auch jene Lebewesen, die in der Zukunft, in der Endzeit [des Dharma], nach dem Mahāyāna streben werden, nicht den irrigen Ansichten verfallen!“ Nachdem er dies gesagt hatte, warf er sich mit seinen fünf Körpergliedern auf den Boden nieder, und dann begann er noch einmal von vorn, bis er seine Bitte dreimal vorgetragen hatte. [913b7-13]
Da sprach der Erhabene zum Bodhisattva Mañjuśrī: „Sehr gut, sehr gut! Gute Männer, ihr versteht es, den Tathāgata um der Bodhisattvas willen nach der grundlegenden Dharmapraxis zu fragen, damit auch die Lebewesen, die in der Endzeit nach dem Mahāyāna streben werden, auf rechte Weise [im Dharma] verweilen und [ihn] bewahren, so dass sie nicht den irrigen Ansichten verfallen werden. Hört nun aufmerksam zu, ich werde es euch darlegen!“ Da freute sich der Bodhisattva Mañjuśrī auf die Unterweisung, und er sowie alle Versammelten hörten schweigend zu. [913b14-18]
„Gute Männer! [Ich], der unübertreffliche König des Dharma, habe ein großes Dhāraṇī-Tor: die ‚Vollkommene Erleuchtung‘. Ihr entströmt alles Reine: die Soheit, die Bodhi, das Nirvāṇa und die Pāramitās. Und diese werden den Bodhisattvas gelehrt. [913b19-21]
Die ursprüngliche, grundlegende [Dharmapraxis] aller Tathāgatas besteht in der vollkommenen Einsicht in die Form der reinen Erleuchtung, wodurch die Verblendung für immer beseitigt und die Verwirklichung des Pfades zur Buddhaschaft ermöglicht wird. [913 b21-22]
Was bedeutet ‚Verblendung‘? Gute Männer! Die vielfältigen Formen von Verwirrtheit und Verkehrtheit aller Lebewesen seit anfanglosen Zeiten gleichen dem Irrtum eines Menschen, der die vier Himmelsrichtungen verwechselt. So halten sie irrtümlich die vier Elemente für ihre eigene körperliche Form und die Spiegelungen des sechsfachen Sinnesstaubs im Bewusstsein für die Form ihres Geistes. Es ist wie bei einem Augenkranken, der in der Leere Blumen sieht oder einen doppelten Mond wahrnimmt.
Gute Männer! In der Leere sind eigentlich keine Blumen, doch der Augenkranke ist irrigerweise davon überzeugt. Aufgrund des irrigen Festhaltens [an seiner verkehrten Wahrnehmung] verkennt er nicht nur die Eigennatur der Leere, sondern täuscht sich auch über den wahren Ursprung der Blumen. Aus diesem Grund gibt es den eigentlich unwahren Kreislauf der Geburten und Tode. Deshalb spricht man von ‚Verblendung‘. [913b22-28]
Gute Männer! Diese Verblendung verfügt nicht wirklich über eine Substanz. Sie gleicht einem Menschen, der uns im Traum erscheint: Während des Traums ist er keineswegs nichtexistent, aber nach dem Erwachen ist er nirgends zu finden.
Ebenso verhält es sich, wenn jene Luftblumen wieder aus der Leere verschwunden sind: Man kann nicht sagen, sie seien an einer bestimmten Stelle verschwunden. Und warum? Weil sie nirgends entstanden sind.
Alle Lebewesen sehen irrigerweise dort, wo nichts entsteht, ein Entstehen und Vergehen. Deshalb spricht man vom Durchlaufen des Kreislaufs der Geburten und Tode. [913b28-c3]
Gute Männer! Wenn die Tathāgatas die Vollkommene Erleuchtung als ihre [ursprüngliche, reine, die] Grundlage [für die Verwirklichung der Buddhaschaft schaffende Dharmapraxis] üben, erkennen sie, dass es sich um Luftblumen handelt, und dass es daher gar keinen Daseinskreislauf gibt, und auch keinen Körper und Geist, die darin das Geborenwerden und Sterben erleiden. Nicht aufgrund eines Handelns existieren sie nicht, sondern weil sie keine Eigennatur haben. [913c3-5]
Das Wahrgenommene gleicht der Leere. Das Erkennen der Leerheit [des Wahrgenommenen] wiederum ist auch wie eine Luftblume. Und dennoch darf man nicht sagen, das Erkennen existiere nicht. [Sind die Auffassungen] ‚existiert‘ und ‚existiert nicht‘ beide überwunden, dann spricht man vom Einklang mit der reinen Erleuchtung. [913c5-7]
Und warum ist das so? Weil [die reine Erleuchtung] die Eigennatur der Leere hat. Weil sie unvergänglich und regungslos ist. Weil es im Tathāgatagarbha kein Entstehen und Vergehen gibt. Weil es darin kein Wissen gibt. Weil [die reine Erleuchtung] wie die Eigennatur des Dharmadhātu ist: absolut und vollkommen, alles in den zehn Himmelsrichtungen erfüllend und umfassend. [913c7-9]
Das bezeichnet man als die grundlegende Dharmapraxis. Auf dieser Grundlage können die Bodhisattvas im Mahāyāna eine reine Geisteshaltung entwickeln. Und davon ausgehend sollten die Lebewesen in der Endzeit ihre Praxis beginnen, damit sie nicht den irrigen Ansichten verfallen.“ [913c9-11]
Da wollte der Erhabene diesen Sinn noch einmal verkünden, und er sprach die folgenden Strophen:
„Mañjuśrī, du solltest wissen,
dass sämtliche Tathāgatas
am Anfang ihrer Praxis
bereits in weiser Einsicht
die Verblendung durchschauen.
Erkennt man sie als Luftblume,
entzieht man sich dem Kreisen.
Wie ein geträumter Mensch
beim Erwachen unauffindbar bleibt.
Diese Erleuchtung gleicht der Leere:
Sie ist immer gleich und regungslos,
umfasst alle Welten der zehn Richtungen.
So verwirklicht man den Buddhapfad.
Die Truggebilde verschwinden nirgendwo,
und nichts erlangt, wer den Pfad vollendet,
weil die Eigennatur schon immer vollkommen ist.
Die Bodhisattvas können auf diese Weise
den Geist der Bodhi in sich entwickeln.
Und die Lebewesen in der Endzeit vermeiden
durch diese Praxis irrige Ansichten.“ [913c11-22]
Da erhob sich inmitten der großen Versammlung der Bodhisattva Samantabhadra von seinem Platz, neigte ehrfurchtsvoll sein Haupt bis zu den Füßen des Buddha, umschritt ihn dreimal nach rechts herum, kniete dann nieder, faltete seine Hände und sagte zum Buddha:
„Mitleidsvoller Erhabener! Für alle hier versammelten Bodhisattvas und alle Lebewesen, die in der Endzeit [des Dharma] das Mahāyāna praktizieren werden, möchte ich erfahren, wie man diese reine Sphäre der Vollkommenen Erleuchtung praktizieren soll.
Erhabener! Wenn nun jene Lebewesen die Truggebilde als solche erkannt haben, dann sehen sie in Körper und Geist auch nur Truggebilde. Wie aber sollen sie mit etwas, das nur Schein ist, [das Sichlösen vom] Schein praktizieren? Und wenn alles, was seiner Natur nach Schein ist, vollständig erloschen ist, existiert auch der Geist nicht – wer praktiziert dann eigentlich? Und wie kann man dann von einer Praxis sprechen, die nur scheinbar besteht? Doch wenn die Lebewesen überhaupt nicht praktizieren, werden sie wieder und wieder im Kreislauf der Geburten und Tode ein Dasein aus Trug und Schein fristen. Wenn ihnen noch nie bewusst geworden ist, dass es sich um Truggebilde handelt, wie soll sich dann ihr Geist, da er durch unwahre Gedanken und Wahrnehmungen bestimmt wird, befreien können? Mögest du für alle Lebewesen in der Endzeit [darlegen], welche geschickte Methode sie in welcher Abfolge praktizieren sollen, damit sich alle Lebewesen für immer vom Schein lösen können!“ Nachdem er dies gesagt hatte, warf er sich mit seinen fünf Körpergliedern auf den Boden nieder, und dann begann er noch einmal von vorn, bis er seine Bitte dreimal vorgetragen hatte. [913c23-914a4]
Da sprach der Erhabene zum Bodhisattva Samantabhadra: „Sehr gut, sehr gut! Gute Männer, ihr versteht es, für alle Bodhisattvas und für die Lebewesen der Endzeit [danach zu fragen, mit Hilfe welcher] geschickten Methode und [in welcher] Abfolge die Bodhisattvas den Samādhi der Blend- und Zauberwerke praktizieren sollen, und ermöglicht damit allen Lebewesen, sich vom Schein zu lösen. Hört nun aufmerksam zu, ich werde es euch darlegen!“ Da freute sich der Bodhisattva Samantabhadra auf die Unterweisung, und er sowie alle Versammelten hörten schweigend zu. [914a5-9]
„Gute Männer! Sämtliche Lebewesen und all die Blend- und Zauberwerke entstehen im wunderbaren Geist der Vollkommenen Erleuchtung der Tathāgatas, so wie Luftblumen aus der Leere heraus erscheinen. Auch wenn die Scheinblumen sich wieder verflüchtigen, bleibt die Leerheit unversehrt. [914a10-12]
Der Geist der Lebewesen, der nur scheinbar besteht, wird zum Verlöschen gebracht, indem man sich auf etwas stützt, das auch nur scheinbar besteht. Auch wenn alle Truggebilde vollständig verlöschen, bleibt der Geist der Erleuchtung von all dem unberührt.
In Bezug auf den Schein spricht man von Erleuchtung, aber diese ist ebenfalls Schein. Wenn jemand sagt, dass es die Erleuchtung gibt, dann hat er sich noch nicht vom Schein gelöst. Wenn jemand sagt, dass es keine Erleuchtung gibt, dann verhält es sich aber ebenso. Daher heißt es, auch das Verlöschen des Scheins berühre [den Geist der Erleuchtung] nicht. [914a12-15]
Gute Männer! Alle Bodhisattvas und Lebewesen der Endzeit müssen sich von allen Objekten und Zuständen, die in Wirklichkeit nur Trug und Schein sind, lösen.
Weil aber der Geist, der beharrlich das Sichlösen übt, auch nur scheinbar besteht, muss man sich von diesem Geist ebenfalls lösen.
Dieses Sichlösen besteht nur scheinbar, so dass man sich auch davon lösen muss.
Das Sichlösen vom Sichlösen besteht nur scheinbar, so dass man sich auch davon lösen muss.
Wenn es nichts mehr gibt, wovon man sich lösen könnte, sind alle Formen des Scheins entfernt. Es ist wie beim Feuermachen: Wenn durch das Reiben zweier Hölzer ein Feuer entfacht worden ist, werden die Scheite selbst vom Feuer vollständig verzehrt, bis der Rauch sich auflöst und die Asche verweht wird. Genau so verhält es sich auch mit der Praxis [des Sichlösens] vom Schein mit Hilfe des Scheins. Obwohl alle Formen des Scheins vollständig verlöschen, bedeutet dies keine vollkommene Vernichtung. [914a15-20]
Gute Männer! Durchschaut man den Schein, hat man sich schon von ihm gelöst – es bedarf keiner Methode! Löst man sich vom Schein, ist man schon erleuchtet – es gibt keine Abfolge!
Wenn alle Bodhisattvas und die Lebewesen der Endzeit auf diese Weise praktizieren, dann können sie sich für immer von allen Formen des Scheins lösen.“ [914a20-23]
Da wollte der Erhabene diesen Sinn noch einmal verkünden, und er sprach die folgenden Strophen:
„Samantabhadra, du solltest wissen:
Die anfanglose Scheinverblendung aller Lebewesen
entsteht aus dem Geist der Vollkommenen Erleuchtung
der Tathāgatas.
Es ist wie mit den Blumen in der Luft,
die auf die Leere gestützt ihre Form erhalten.
Wenn die Luftblumen wieder verschwinden,
hat sich die Leere an sich doch nie geregt.
Auf die Erleuchtung gestützt entstehen die Scheinformen.
Verschwindet der Schein wieder, bleibt die Erleuchtung vollkommen,
denn der Geist der Erleuchtung ist regungslos.
Alle Bodhisattvas hier
und die Lebewesen in der Endzeit
sollten sich immerfort lösen vom Schein,
bis jegliche Form des Scheins entfernt ist.
So wie aus [zwei] Hölzern ein Feuer entfacht wird,
das die Hölzer verschlingt und dann selbst erlischt.
Erkennt man dies, dann gibt es keine Abfolge,
und mit der geschickten Methode verhält es sich ebenso.“ [914a23-b4]
Da erhob sich inmitten der großen Versammlung der Bodhisattva Allblick von seinem Platz, neigte ehrfurchtsvoll sein Haupt bis zu den Füßen des Buddha, umschritt ihn dreimal nach rechts herum, kniete dann nieder, faltete seine Hände und sagte zum Buddha:
„Mitleidsvoller Erhabener! Mögest du allen hier versammelten Bodhisattvas und allen Lebewesen der Endzeit [des Dharma] den Verlauf der Bodhisattva-Praxis erläutern. Wie sollen sie nachdenken? Wie sollen sie [im Dharma] verweilen und [ihn] bewahren? Mit Hilfe welcher geschickten Methoden können sie allen Lebewesen, die noch nicht zur Einsicht [in die Vollkommene Erleuchtung] gelangt sind, diese Einsicht ermöglichen? Erhabener! Wenn es jenen Lebewesen an der rechten Methode und der rechten Art und Weise des Nachdenkens mangelt, dann werden sie, wenn sie den Buddha, den Tathāgata, von diesem Samādhi sprechen hören, verstört sein. Und so wird ihnen die Einsicht in die Vollkommene Erleuchtung versagt bleiben. Mögest du dich erbarmen und uns sowie den Lebewesen der Endzeit behelfsmäßig die geschickten Methoden erläutern!“ Nachdem er dies gesagt hatte, warf er sich mit seinen fünf Körpergliedern auf den Boden nieder, und dann begann er noch einmal von vorn, bis er seine Bitte dreimal vorgetragen hatte. [914b5-13]
Da sprach der Erhabene zum Bodhisattva Allblick: „Sehr gut, sehr gut! Gute Männer, ihr versteht es, den Tathāgata um der Bodhisattvas und der Lebewesen der Endzeit willen nach dem Verlauf der Praxis, der rechten Art und Weise des Nachdenkens, des Verweilens und Bewahrens zu fragen, und ihn um die behelfsmäßige Darlegung der verschiedenen geschickten Methoden zu bitten. Hört nun aufmerksam zu, ich werde es euch darlegen!“ Da freute sich der Bodhisattva Allblick auf die Unterweisung, und er sowie alle Versammelten hörten schweigend zu. [914b14-18]
„Gute Männer! Jene Bodhisattvas, die am Anfang ihrer Praxis stehen, und die Lebewesen der Endzeit sollten sich, wenn sie nach dem reinen Geist der Vollkommenen Erleuchtung der Tathāgatas streben wollen, auf rechte Weise vergegenwärtigen, dass sie sich von allem, was nur scheinbar besteht, lösen müssen. [914b19-20]
Zunächst sollten sie sich auf die Śamatha-Praxis der Tathāgatas stützen. Streng auf die Einhaltung der Gelübde achtend und einträchtig in einer Gemeinschaft lebend, sollten sie sich in einem stillen Raum in Meditationshaltung hinsetzen. [914b20-22]
Dann sollten sie beständig auf folgende Weise nachdenken:
‚Dieser mein Körper ist aus den vier Elementen zusammengesetzt, nämlich: Kopfhaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Knochenmark, Gehirn, Schmutz und Farben gehören dem Erdelement an. Speichel, Nasenschleim, Eiter, Blut, Sekrete, Schleim, Schaum, Auswurf, Tränen, Sperma, Kot und Harn gehören zum Wasserelement. Die Wärme gehört dem Element Feuer, die Bewegung dem Wind an. Wenn man die vier Elemente voneinander trennt, wo bleibt dann dieser unwirkliche Körper?‘
Auf diese Weise erkennt man, dass der Körper eigentlich über keine Substanz verfügt. Durch die Verbindung [der Elemente] erhält er seine Gestalt, aber in Wirklichkeit gleicht er einem Trugbild. [914b22-26]
Durch die vorübergehende Verbindung dieser vier Bedingungen entstehen trügerisch sechs Sinnesorgane. Der Kontakt zwischen den sechs Sinnesorganen innen und [dem aus] den vier Elementen [gebildeten Sinnesstaub] außen ergibt trügerisch eine sich daran heftende Kraft, die sich im Inneren ansammelt. Und dieses scheinbare Sichanheften [an Objekte] wird mit der eigentlich unwahren Bezeichnung ‚Geist‘ versehen.