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Es ist Jahrzehnte her, dass der letzte Menschenkönig von Goidelia starb, ohne einen Nachfolger zu hinterlassen, da sein Testament unauffindbar war. Nun plötzlich soll ausgerechnet die ahnungslose Matanie als Erbin herhalten und gerät durch verschiedene Interessengruppen der finsteren Art ziemlich unter Druck. Gemeinsam mit ihren elbischen Freunden macht sie sich auf, das verschollene Testament zu finden und zu vernichten. Doch schon bald weiß niemand mehr so recht, wer hier eigentlich auf wessen Seite steht. Auch im zweiten Teil der Hexenjägerchroniken können sich sowohl Fantasy-Fans als auch Hasser über jede Menge Anspielungen und trockenen Witz freuen.
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Seitenzahl: 471
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Anita Wolf lebt mit ihren zwei Katzen in Berlin und schrieb ihr erstes Buch, weil sie nicht die Geduld hatte, die Geschichte als Comic zu zeichnen.
Wenn er erwischt würde, wäre er so gut wie tot. Sie würden ihn hängen oder im Kerker verrotten lassen oder einfach an Ort und Stelle erschlagen. Das war alles, woran er denken konnte, als er durch die dunklen Gänge des Schlosses eilte. Er spürte die potenziell verhängnisvolle Beute unter seinem Hemd. Das Papier raschelte leise, als er seinen Schritt beschleunigte. Nicht zum ersten Mal kamen ihm Zweifel, ob er die richtige Person für diesen riskanten Auftrag war; schließlich war er nur ein unbedeutender Diener und fühlte sich seinem König nach wie vor verpflichtet. Er wusste, dass er gerade Hochverrat an ihm beging, doch die Argumente der anderen hatten ihn überzeugt. Was der König tat, war Unrecht, und das Land durfte nicht noch über seinen Tod hinaus unter seiner Willkür leiden.
Er stockte abrupt, als er um die Ecke trat. Vor einem der hohen Fenster, durch das der trübe, verregnete Himmel zu sehen war, standen einige der Ritter. Die kräftigen Männer trugen alle das schwere Samtwams in den Farben ihres Herren, ihre Schwerter hatten sie innerhalb des Gebäudes abgeben müssen. In seinen letzten Tagen war seine Majestät Gael, König von Goidelia, so paranoid geworden, dass er nicht einmal mehr seinen eigenen Rittern vertraute. Gaels Vertrauen in ihn, seinen Diener, war hingegen ungebrochen und wurde nun im Gegenzug verraten. Das schlechte Gewissen regte sich wieder, und er hätte am liebsten einen weiten Bogen um die Ritter gemacht - mied er Begegnungen mit ihnen doch schon, wenn er nicht das kostbarste Dokument des Landes unter seinem Hemd verbarg. Aber die Zeit drängte und dieser Weg war der kürzeste. Er zog den Kopf ein und wollte möglichst ungesehen an den Männern vorbeihuschen.
Als er einen breiten, dunkelhaarigen Ritter passieren wollte, streckte dieser die Hand aus und hielt ihn an der Schulter fest. „He, du.“
Er ließ sich nichts anmerken und fragte höflich: „Ja, mein Lord?“
Der große Mann nickte mit dem Kopf in die Richtung, aus der der Diener eben gekommen war. „Ist der Alte immer noch nicht tot?“
Der blonde Ritter neben ihm machte ein missbilligendes Geräusch. „Meine Güte, Aberdeen, ein bisschen mehr Feingefühl, ja?“
Aberdeen drehte sich halb zu ihm um. „Tu doch nicht so. Du hast genauso die Schnauze voll von ihm wie wir alle hier.“
Die restlichen Ritter brummten zustimmend. Der Blonde deutete auf den Diener, den Aberdeen immer noch an der Schulter hielt. „Selbst wenn, lasse ich es nicht an seinen Dienstboten aus. So eilig, wie er es hatte, hältst du ihn bestimmt von einem wichtigen Auftrag ab, und er bekommt Ärger, nur, weil du dich gelangweilt hast.“
Der Diener machte sich zu diesen Worten seine eigenen Gedanken und wandte sich an Aberdeen: „Was deine Frage angeht, mein Lord, seine Majestät ist noch nicht verschieden. Ich fürchte jedoch, es kann nicht mehr lange dauern, bis er von uns geht.“
Durch die Gruppe der Ritter ging ein erleichtertes Murmeln.
„Wird aber auch Zeit“, brummte Aberdeen. Er ließ den eingefangenen Diener los und meinte übertrieben höflich: „Da will ich dich nun nicht noch weiter aufhalten, bevor unser guter Mazacan hier“, er warf einen Blick zu seinem blonden Kollegen, „noch anfängt, um dich zu weinen in seiner elbenhaften Güte.“
Ein paar der Ritter lachten leise, Mazacan warf Aberdeen nur einen müden Blick zu. Der Diener verbeugte sich knapp, fuhr auf dem Absatz herum, stürmte den Gang hinunter und verschwand.
„Der hat’s aber wirklich eilig“, stellte Mazacan fest.
„Vielleicht muss er mal“, brummte Aberdeen. „Schließlich lässt der Alte seine Leibdiener kaum noch aus dem Zimmer, damit er auch ja nicht alleine sterben muss.“
„Bisschen weniger Zynismus“, meinte Mazacan dumpf.
Sein Kollege hob die Schultern. „Du bist doch sowieso unser Seelchen. Siehst aus wie ein Nordmann, benimmst dich wie ein Elb, sowas muss es erstmal geben.“
„Eine Form von Mimikry, wie mir scheint“, bemerkte eine ruhige Stimme hinter ihnen. Sie gehörte zu Fairbanks, dem Captain der Ritterschaft.
Mazacan wusste nicht, wie lange der Captain schon dort gestanden hatte, sein Vorgesetzter verfügte über das Talent der gewollten Unauffälligkeit.
„Sir“, murmelte Aberdeen nur. Er wollte nicht zugeben, dass er nicht wusste, was Mimikry war. Mazacan schien ihm da voraus, denn er grinste verlegen.
Der Captain wandte sich an die versammelte Mannschaft. „Ich denke, es ist überflüssig, euch zu fragen, worauf ihr hier wartet. Dennoch möchte ich euch daran erinnern, dass ihr die Ritter des Königs seid. Das bedeutet, ihr habt euch vorbildlich zu verhalten. Und alles, was da kommen möge, mit Haltung und Anstand aufzunehmen.“
Im Klartext hieß das: Wenn einer jubelt, sobald Gael tot ist, bekommt er mächtig eins hinter die Ohren von mir. Die Ritter nickten, vereinzelt war eine Art gegrunzte Zustimmung zu hören. Versprechen wollte hier niemand etwas. Fairbanks warf einen Blick in die Runde und ging davon, gefasst und würdevoll natürlich.
„Der hat leicht reden“, grummelte Aberdeen, als sein Chef verschwunden war. „Der scheißt doch Anstand und kotzt Ehre.“ Er kratzte sich die dunklen Bartstoppeln und knackte mit dem Hals. „Der Alte hat’s erstaunlich lang gemacht. Aber irgendwann hält ihn nicht mal mehr seine verdammte Bösartigkeit am Leben.“
„Naja“, meinte Mazacan nur. Er hatte in seinem Leben einiges an Bösartigem gesehen, und Gael kam höchstens ins obere Mittelfeld. „Wie machen die das jetzt eigentlich mit der Nachfolge? Gael hat doch Zeit seines Lebens kein Kind zustande gebracht - nicht, dass das schlecht wäre.“
„Die regeln das über sein Testament. Das wurde schon ein paar Mal so gemacht. Der Monarch ernennt in seinem Letzten Willen einen Nachfolger, und wehe, man hält sich nicht daran.“
„Wieso sollte man? Der Verfasser ist schließlich tot und kann einen nicht mehr dazu zwingen.“
Aberdeen schnaufte verächtlich. „Du bist echt kein Goide, Mann.“
„Du doch auch nicht“, warf Mazacan ein. „Du bist erst vor zehn Jahren aus Caldon gekommen!“
Der entlarvte Ausländer ignorierte diesen Einwand. „Hier passt man bei sowas auf. Nicht, dass dir der Tote aus dem Jenseits hinterherhetzt, als Geist oder über eine Todesfee und Unglück über dich und das Land bringt und…“
Mazacan war bei dem Wort Todesfee zusammengefahren und erinnerte sich daran, wieviel Ärger er mit einem Vertreter dieses Volkes einst gehabt hatte. Als er Aberdeen wieder zuhörte, war dieser gerade zum Abschluss seiner Rede über Rache, Flüche und Ehre gekommen.
„…deshalb würde es keiner hier wagen, das Testament des Königs zu missachten, was immer auch drinsteht.“
„Seit wann bist du denn so königstreu? Soweit ich mich erinnern kann, wurde der letzte Hochkönig von Zweiinsel doch in deiner Heimat gestürzt.“
Aberdeen warf ihm einen missmutigen Blick zu. „Erstens ist das ewig her…“
„Fünfzehn Jahre!“
„Dann eben einigermaßen lange her, zweitens war da nun mal der Hauptsitz der verdammten Hexenjäger und drittens war der Hochkönig nicht nur ein Versager, er war auch noch ein Kellde! Ist doch klar, dass wir uns den nicht haben gefallen lassen, genauso wie die Goiden ihn nie akzeptiert haben. Da sind wir uns ähnlich! Ein Volk von mutigen…“
Mazacan ließ Aberdeen reden. Fünfzehn Jahre. Ihm kam das vor wie ein ganz anderes Leben. Niemand von seinen Kollegen wusste, dass er einer der dreizehn Hexenjäger der Elite gewesen war. Bloß fünfzehn Jahre – was hatte sich alles getan in dieser Zeit. Der alte Hochkönig gestürzt, die Hexenjäger zerschlagen, die Dunkelvolkverfolgungen damit eingestellt – und weil sich die Welt so allumfassend verändert hatte und gerade alles so schön war, wurde gleich ein neues Zeitalter ausgerufen. Bei null anfangen und alles wird gut. Mazacan kam damit nicht zurecht. Wenn ihn jemand fragte, wann er geboren war, musste er jetzt sagen: achtundzwanzig vor dem Neuen Zeitalter, sonst verstanden ihn die Leute schon nicht mehr. Überhaupt, die meisten taten so, als hätte es vor dem Jahre Null nichts gegeben. Über Hexenjäger wollten sie nicht sprechen, das Dunkelvolk; eine schlimme Sache, aber schönes Wetter heute, nicht? Die hatten doch keine Ahnung, dass die zwölf restlichen Elitehexenjäger immer noch lebten, verflucht und gebannt, überall verteilt auf Zweiinsel… „Hörst du mir überhaupt zu?“ riss ihn Aberdeen aus seinen Gedanken.
Mazacan erwog kurz eine Lüge, ihm fiel aber keine gute Ausrede ein. „Entschuldige. Ich war in Gedanken.“
„Machst du dir wieder Sorgen um dein Schätzchen?“ fragte Aberdeen fast teilnahmevoll.
Mazacan wurde nicht gern daran erinnert. „Äh – ja.“
„Na, lass mal. Das findet sich wieder.“
„Hm.“
Aberdeen kannte Kenzie flüchtig, so wie ein Arbeitskollege die Freundin eines anderen wohl kennt. Aber er hatte keine Ahnung, dass sie im Widerstand gewesen war und dabei geholfen hatte, die Hexenjäger zu entmachten, damals, im Jahre 5 v. NZ, wie man heute sagen würde. In letzter Zeit stimmte etwas nicht mit ihr. Sie war so niedergeschlagen. Sicher, Dunmores Tod letztes Jahr hatte ihr schwer zu schaffen gemacht. Auch Mazacan hatte das getroffen. Aber da war noch mehr. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm irgendetwas verheimlichte. Er würde mit ihr darüber reden. Heute noch. Wenn er in der Vergangenheit eines gelernt hatte, dann dass es böse enden konnte, Probleme zu verdrängen.
„Der König!“ scholl es da den Gang hinunter.
Die Ritter drehten die Köpfe. Der Hofmarschall kam betont dramatisch herangerauscht. Er blieb vor der Gruppe stehen, und als er sicher war, ihre volle Aufmerksamkeit zu haben, jammerte er unter großen falschen Gesten: „Der König! Der König ist tot!“ Er sonnte sich noch kurz im erzwungenen Rampenlicht, dann lief er weiter, damit auch der Rest des Schlosses in den zweifelhaften Genuss seines geheuchelten Kummers kommen konnte.
„Na“, meinte Aberdeen und streckte sich. „Dann kann ich ja endlich was essen gehen.“
Die Gruppe löste sich auf und verstreute sich in verschiedene Flure. Mazacan und Aberdeen wollten gerade in den Hof, um erstmal etwas frische Luft zu schnappen, als jemand sie anrief.
Fairbanks kam ihnen entgegen. Er sah besorgt aus. „Meine Herren, aus der Pause wird leider nichts. Wir haben ein Problem. Es geht um das Testament unseres verblichenen Herrschers.“
„Könnt ihr seine Handschrift nicht lesen?“ flapste Aberdeen.
Der Captain warf ihm einen Blick zu, halb verärgert, halb verlegen. „Das kann ich dir nicht sagen. Es wurde gestohlen.“
„Oh“, machte Aberdeen.
„Ja“, murmelte Fairbanks. „Ich wäre euch dankbar, wenn ihr das nicht an die große Glocke hängen würdet - vor allem sagt es nicht dem Hofmarschall, sonst weiß es morgen schon das ganze Land. Ist euch irgendetwas aufgefallen? Offene Fenster? Verdächtige Personen? Hat sich jemand sonderbar verhalten?“
Mazacan traf ein Geistesblitz. „Der Diener! Der es so eilig hatte!“
Aberdeen nickte. „Stimmt. Der war schon merkwürdig.“
„Welcher Diener?“ fragte der Captain aufhorchend.
Mazacan und Aberdeen sahen sich hilflos an. „Äh… naja… welcher war das denn?“
„Für mich sehen die alle gleich aus!“
Fairbanks seufzte. „Hört zu, wir müssen dieses Testament unbedingt finden. Fangt an zu suchen, erstmal unauffällig, bis ich weiß, wie wir das der Öffentlichkeit klarmachen.“ Er nickte ihnen zu und eilte davon.
Aberdeen war platt. „Mann. Wer klaut denn ein Königstestament?“
„Vermutlich jemand, der mit dem benannten Nachfolger nicht einverstanden ist.“
„Ja – aber wenn es keinen offiziellen Nachfolger gibt, dann können wir doch nicht einfach irgendwen nehmen! Dann gäbe es keinen nächsten König!“
Mazacan konnte sich Schlimmeres vorstellen, er fand die Art, wie die Dinge hier geregelt wurden, grotesk. Aber Aberdeen schien wirklich bestürzt, also sparte er sich einen Kommentar und versuchte es mit Optimismus. „Na komm. Weit kann der Dieb ja nicht sein. Wir werden das Testament schon finden.“
Das taten sie nicht. Sechzig Jahre lang.
„Was soll das darstellen?“
„Das? Das ist die Wäsche, Tante Truud.“ Matanie wusste sofort, dass das als Antwort nicht gelten würde.
Truud schnaufte abfällig und stemmte die Hände in ihre barocken Hüften. „Nennst du das vielleicht sauber?“ Sie fischte mit spitzen Fingern ein nasses Wäschestück aus dem Korb, unter dem ihre schmale Nichte fast zusammenbrach. „Da! Immer noch fleckig! Schau! Schau dir das an!“ Auf der weißen Schürze zeigten sich tatsächlich noch ein paar schwache bräunliche Flecken.
„Entschuldige, Tante, aber Blut geht so schwer…“
„Die anderen Metzger haben saubere Schürzen! Die müssen ihre Flecken ja wohl auch irgendwie rausbekommen haben! Wie meinst du, ist das zu erklären?“
Matanie überlegte aufrichtig. „Äh - mit der Wäscherei?“
„Auch noch frech werden!“ tobte Truud. „Wasch das nochmal, aber diesmal anständig! Nichts als Ärger haben wir mit dir!“
„Ja, Tante Truud.“
Die pedantische Tante bedachte sie mit einem ihrer berüchtigten Womit-haben-wir-dich-nur-verdient-Blicke, dann rauschte sie hinaus. Mit wackeligen Knien schleppte Matanie den Wäschekorb zurück in den Hof, wo noch der volle Zuber stand. Dort ließ sie ihn auf die Erde plumpsen und schüttelte ihre Hände aus, die vom Tragen zwei rote Henkelabdrücke bekommen hatten. Sie warf die in Ungnade gefallene Schürze wieder in den Zuber und fiel mit der Scheuerbürste darüber her. Nun gut, ihr Onkel war der reichste Metzger in der Stadt, und als solcher musste er natürlich untadelig und sauber aussehen, auch wenn er gerade in das Innere einer toten Kuh gekrochen war. Aber warum ließ er seine Wäsche dann nicht professionell reinigen, sondern von seiner Nichte, die von solchen Dingen wenig bis gar keine Ahnung hatte? Ein Stimmchen in ihrem Kopf wies auf die Möglichkeit hin, dass Onkel und Tante vielleicht einen gewissen Spaß daran hatten, Matanies kostenlose Arbeitskraft so viel wie irgend möglich auszunutzen. Aber solche Überlegungen wies sie wie immer sofort zurück. So sollte man nicht über andere denken. Immerhin hatten die beiden sie nach dem Tod ihrer Eltern aufgenommen und großgezogen. Und sie hätte wirklich gründlicher schrubben sollen. Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Matanie war nicht dumm, sie war nett. Sie war eine jener Personen, die man gnadenlos ausnutzen konnte, und die sich dafür höchstens selbst die Schuld gaben. Ihr Prinzip war, andere so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte. Ihre Eltern hatten danach gelebt. Vielleicht waren sie deshalb so früh gestorben.
„Hallo, Mattie. Immer noch am Waschen?“
Sie hob den Kopf. Am Zaun stand Danior. Matanie warf die Schürze zurück in die Lauge. „Eher schon wieder. Ist nicht ganz sauber geworden.“
Danior nickte. „Das Bittere ist, sie wird sowieso gleich wieder schmutzig werden. Ist es das dann wert, wo die neuen Flecken die alten überdecken? Zumal es doch ein Arbeitsutensil ist?“
Matanie zuckte die Schultern. „So sind sie halt. Man sollte ihnen das nachsehen.“
„Übertreib es nicht damit. Du hast schließlich auch Rechte.“
Sie lächelte. Danior hatte schon ihre Eltern gekannt. Als Einziger hielt er immer noch Kontakt zu Matanie, alle anderen hatten sich nach dem Tod der Eltern abgewandt. Mit solchen Leuten verkehrte man nicht. Schließlich hatte es sich herausgestellt, dass sie Testamentler gewesen waren. Sie mochte die Bezeichnung nicht. Aber so nannte man gemeinhin jene Gruppe, die seit sechzig Jahren das Testament von König Gael verbarg und mit allerlei Verschwörungen verhinderte, dass es einen neuen König oder eine neue Königin gab. Im Volksmund dichtete man ihnen darüber hinaus noch alles Mögliche an, von der Rettung der Welt bis zur Herrschaft über selbige, je nachdem, mit wem man sprach. Ihre Familie war offiziell immer königstreu gewesen, in hohen Positionen. Und dann verliebte sich einer der ihren in eine Testamentlerin und lief heimlich einfach über – was bis zu seinem Tod nicht ans Tageslicht gekommen war. Aber nun wussten es alle, und Matanie erinnerte sie täglich an diese Familienschande. Danior interessierte sowas nicht. Vielleicht, weil er ein Elb war. Die dachten anders als Menschen. Seine Mutter war Tiana, Königin der Waldelben. Er gab nicht viel darum. Zwar war er nicht der Thronfolger, da er ältere Geschwister hatte, aber warum jemand wie er so ganz normal unter den Leuten wandelte und sich auch noch mit einer wie ihr abgab, verstand Matanie nicht wirklich.
Danior legte neugierig den Kopf schief und musterte sie aus seinen braunen Augen. „Was ist mit deinen Fingerspitzen?
Die sind so verschrumpelt?“
Sie schaute überrascht auf ihre Hände. „Hm? Ach so. Das kommt vom Wasser, weißt du. Das ist bei Menschen so, wenn die Hände zu lange nass sind. Bei den Zehen ist das auch.“
Danior war beeindruckt. „Erstaunlich. Hat das eine bestimmte Funktion?“
„Ich – ich weiß nicht. Es passiert einfach.“
„Erstaunlich“, wiederholte der Elb. Er interessierte sich sehr für die menschliche Kultur, deshalb hielt er sich auch so oft unter Menschen auf. Bei seinem Volk wurde das als eine Art Schrulle aufgenommen, wie jemand, der ganz versessen darauf war, Käfer zu katalogisieren.
Tante Truud kam aus dem Haus. „Was bist du hier am Schwätzen? Du sollst… oh, Prinz Danior.“ Ihr Tonfall wurde süßlich, wie immer, wenn sie mit einflussreichen Leuten sprach. „Ich hoffe, unsere Nichte hat dich nicht von wichtigen Pflichten abgehalten!“
„Nicht im Geringsten. Aber wie es scheint, ich sie.“
„Oh, aber nicht doch, das hat doch Zeit, die alte Wäsche da. Klärt nur, was immer zu klären ist, ihr habt alle Zeit der Welt.“
„Gut“, meinte Danior nur.
Truud merkte, dass ihr Typ hier nicht gefragt war. Sie grinste nochmal wie ein Honigkuchenpferd und machte eine Art krummbeinigen Knicks, bevor sie sich zurückzog.
Danior ging davon aus, dass die Tante noch immer lauschte und meinte leise: „Mattie – wenn du mal das Gefühl hast, es hier nicht länger… nun ja, wenn du einfach mal wegwillst, du bist uns jederzeit willkommen. Auch langfristig.“ Matanie wurde ein bisschen rot. „Ich – das ist furchtbar nett, Danior, wirklich. Aber ich kann doch nicht einfach fort von hier, nach allem, was Tante Truud und Onkel Oswic für mich getan haben…“
Danior nickte verständig, er wusste, dass Argumente hier keinen Sinn hatten. Matanie würde nie auf den Gedanken kommen, dass ihre Verwandten ihre Rücksicht nicht eben verdient hatten. „Wenn du es dir anders überlegst – gib mir Bescheid. Oder komm einfach. Geh nur bis zum Waldrand, da triffst du schon einen von uns, der bringt dich hin. Du musst keine Angst vor meinen Leuten haben, die tun dir nichts.“
Matanie lächelte verlegen. „Ich weiß.“
„Gut. Ich bin jetzt bei meiner Familie, so bis morgen Abend.
Falls bis dahin irgendein Notfall sein sollte…“
„Was für ein Notfall?“ fragte Matanie verunsichert. „Was denkst du, könnte passieren?“
Der Elb versuchte, die Äußerung abzutun und strich sich etwas ertappt das rote Haar hinters spitze Ohr. „Ach, nichts weiter. Ich meinte ja nur. Mach‘s gut, Mattie.“ Er winkte ihr kurz und ging die Straße hinunter. Er hatte wieder diese Ahnung, dass da Ärger ins Haus stand. Das letzte Mal hatte er sich ähnlich gefühlt, bevor Matanies Eltern umgekommen waren. Das musste sie nicht unbedingt wissen. Und auch nicht, wie schuldig er sich fühlte, damals nichts unternommen zu haben.
Die Sonne bereitete sich schon darauf vor, für heute unterzugehen, als Matanie nach Hause kam. Nachdem sich Danior verabschiedet hatte, wurde sie von Truud plötzlich in die Stadt geschickt, um einen Käse zu besorgen, den es nirgends gab. Sie musste in vier verschiedene Geschäfte, bis sie endlich fündig wurde. Da sie dabei quer durch die halbe Stadt und wieder zurück lief, hatte sie die Unternehmung mehrere Stunden gekostet. Das kleine Stimmchen in ihrem Kopf äußerte den Verdacht, dass Truud sie nur eine Weile hatte loswerden wollen, aber Matanie brachte es sofort zum Schweigen.
Als sie sich dem Haus näherte, konnte sie aus einem erleuchteten Fenster im Erdgeschoss Stimmen hören. Es waren Truud und Oswic, aber da war auch eine Stimme, die sie nicht kannte. Leise schlich sie sich zum Fenster. Offenbar war Besuch anwesend, und sie wollte nicht hineinplatzen. Es war besser, erstmal in Erfahrung zu bringen, wer das da drinnen war. Matanie kauerte sich unter das leicht geöffnete Fenster und spitzte die Ohren.
„…selbstverständlich macht uns das keine Umstände“, hörte sie Truud gerade sagen. Wenn ihre Tante so flötete, musste ihr Gegenüber eine ziemlich einflussreiche Person sein.
„Ähm – ja“, murmelte die tiefe Stimme eines fremden Mannes. „Es war nicht leicht, sie aufzuspüren nach all der Zeit.
Und nachdem ihre Eltern doch so plötzlich…“
„Eine scheußliche Sache, wirklich“, bekräftigte Oswic.
„Nach dem Schock wollten wir das Mädel lieber von der Welt fernhalten. Damit sie sich unter unserer Obhut wieder ganz erholen kann.“
„Hm“, machte der Fremde. Er schien seinen Gesprächspartnern weder zu glauben, noch sie zu mögen. „Und wo ist sie jetzt?“
„Oh, ich hatte sie einkaufen geschickt, damit wir ungestört reden können“, meinte Truud. „Aber allmählich müsste sie wieder da sein - in dem Alter bummeln sie ja immer mal gerne, nicht, mein Lord?“
Donnerwetter, ein Lord war das. Er klang nicht unbedingt wie einer, oder zumindest wie das, was sich Matanie darunter vorstellte. Anscheinend sprachen sie über sie. Aber warum?
„Sie ist jetzt achtzehn?“
„Jawohl, mein Lord, seit letztem Monat.“
Damals hatte sich keiner der Verwandten für ihren Geburtstag interessiert.
„Und sie ist Davis‘ einziges Kind? Die einzige noch lebende Erskine?“
Oswic war zwar Davis‘ Bruder, aber Truuds Clan war reich und hatte einen guten Ruf, deshalb hatte er nach der Heirat gerne ihren Clannamen angenommen.
„Ja, mein Lord“, antwortete Oswic. Vielleicht regte sich bei ihm irgendwo der Verdacht, es gäbe hier etwas abzustauben und er seinen Namen besser behalten hätte.
„Darf ich fragen, mein Lord, was du von Matanie möchtest?“ fragte Truud
„Ich möchte mit ihr reden“, wurde geantwortet, auf eine Weise, die nahelegen sollte, dass das Thema nur Matanie anging.
Truud konnte oder wollte das nicht heraushören. „Und worüber?“
Der Fremde seufzte sehr leise. „Es ist vertraulich. Betrifft ihre Kindheit und ihre Eltern.“
Matanie erstarrte. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater sie kurz vor seinem Tod beiseite genommen hatte und ihr eingeschärft, dass vielleicht irgendwann mal jemand kommen und nach ihr fragen würde. Und wer immer das auch sei, sie sollte ihm nichts erzählen, besonders nicht über ihre Eltern, sondern machen, dass sie wegkam. Mehr müsse sie jetzt noch nicht wissen. Wenn sie älter sei, würde er es ihr erklären. Stattdessen war er gestorben. Matanie hatte sich die Worte ihres Vaters daher umso fester eingeprägt. Wer immer da drinnen saß, ihre Eltern hatten ihn für gefährlich gehalten und wollten nicht, dass sie mit ihm sprach. Aber was sollte sie tun? Sobald sie das Haus betrat, würde sie gar keine andere Wahl mehr haben, als ihm gegenüberzutreten. Und wenn sie sich versteckte, bis er fort war? Dann würde er bestimmt wiederkommen, abgesehen von dem Ärger, den sie mit Truud bekommen würde.
„Jetzt müsste sie aber wirklich bald da sein“, sagte ihre Tante gerade. Es klang schon wieder gereizt.
Matanie biss sich auf den Daumennagel. Nein, sie konnte da nicht rein, sie durfte nicht mit diesem Fremden sprechen.
Er durfte sie nicht finden. Sie musste verschwinden. Ihr fiel Danior ein. Was hatte er gesagt? Sie war jederzeit willkommen. Bis zum Waldrand, und dann würde sie schon jemanden treffen. Matanie fasste in ihre Hosentasche. Sie hatte noch ein bisschen Kleingeld, das musste erstmal reichen. Dennoch zögerte sie – sie konnte nicht einfach…
„Vielleicht sollten wir sie suchen gehen?“ gab Oswic drinnen zu bedenken.
„Ach was“, meinte Truud. „Der ist nichts passiert. Die trödelt bloß wieder, das faule…“ Sie wurde sich ihres Gastes bewusst. „…das kleine Schätzchen!“
Zum ersten Mal spürte Matanie einen gewissen Groll gegen ihre Tante, ohne sich innerlich zurückzuhalten. Geduckt lief sie vom Fenster weg und zum Tor hinaus, wo sie stockte und sich umsah. Dann lief sie weiter. Nicht, ohne zuvor den Käse auf die Gartenmauer zu legen. Schließlich hatte sie ihn von Truuds Geld gekauft.
Matanie versteckte sich bis zum Morgen in einem alten Schuppen und versuchte, dort trotz der beachtlichen Spinnenpopulation ein wenig zu schlafen. Dennoch war sie froh, als sie das Kabuff beim ersten Sonnenstrahl verlassen konnte. Ihr Plan besah folgendes: Zum Waldrand kommen. Weiter voraus wollte sie noch nicht denken. Und schon dieser erste Schritt war nicht ganz so einfach. Sie musste quer durch die Stadt, möglichst ungesehen, damit sie niemand erkannte oder gar nach Hause schickte. Natürlich verlief sie sich bei all den Umwegen in den unzähligen Gassen.
Matanie konnte nicht mal mehr beurteilen, in welcher Richtung der Wald lag. Ratlos versuchte sie, die Gegend einzuordnen, passte dabei kurz nicht auf und rannte prompt in jemanden.
„Oh – das tut mir so leid, wirklich“, stammelte sie und rieb sich die Nase.
„Aha“, meinte das unvermutete Hindernis lahm.
„Wirklich, ich…“ Matanie sah auf. Sie stutzte, als sie ihr Gegenüber erblickte. Er hatte spitze Ohren und graue Haut. Die schwarzen Haare waren von dunkelgrünen Strähnen durchzogen, im Nacken kurz geschnitten und vorne lang und fransig wie bei einem Stachelschwein. Das war keine Frisur für anständige junge Herren. Überhaupt, er trug mehrere silberne Ohrringe in jedem Ohr, und seine Arme, die aus seiner ärmellosen, schwarzgrünen Lederweste ragten, waren großflächig mit schwarzen Wellen- und Strichmustern tätowiert. Tante Truud hätte ihn als einen ‚dreckigen Rumtreiber‘ oder dergleichen beschimpft – selbst, wenn er kein Dunkelelb gewesen wäre. Er warf ihr einen genervten Blick zu, und Matanie sah, dass seine Augen dunkelgrün waren, wie der Stein auf dem Verlobungsring ihrer Mutter, den sie sich früher so gern angeschaut hatte. Sie wurde rot.
„Hast du irgendein Problem mit mir, oder gaffst du alle Leute so an?“, blaffte er.
Nun gut, höflich war er wirklich nicht. Aber vielleicht hatte er nur einen schlechten Tag. „Nein, natürlich nicht, bitte entschuldige“, meinte Matanie begütigend. „Aber bitte, könntest du mir vielleicht helfen? Ich fürchte, ich habe den Weg verloren. Kannst du mir sagen, in welcher Richtung der Wald liegt?“ Sie streckte die Hand aus. „Ich bin Matanie.“ Ihr war eingebläut worden, ja immer freundlich zu sein und sich brav und höflich vorzustellen, egal, ob es vielleicht Leute gab, die ihren Namen besser nicht wissen sollten.
„Enorm“, meinte der Dunkelelb nur und wollte einfach weitergehen. Er stockte jedoch plötzlich und drehte sich um.
„Du bist Matanie?“
„Kennen wir uns?“ fragte sie überrascht.
„Nein.“ Es klang so abfällig, als sei das eine Beleidigung gewesen. „Aber… mich hat jemand nach dir gefragt. Jemand sucht dich.“
„Das habe ich befürchtet…“ murmelte sie düster. „Wie sah er aus? Was wollte er von mir?“
„Hah?“
„Na, der, der mich gesucht hat.“
Ihr Gegenüber hob bloß die Schultern und verzog unwissend das Gesicht. Das war keine große Hilfe.
„Hey, Murdoch!“ röhrte da eine Stimme hinter ihnen.
Da der Dunkelelb den Kopf drehte, schloss Matanie, dass das sein Name war. Sie drehte sich ebenfalls um. Im Eingang der kleinen Gasse standen zwei massige Kerle, bei deren Anblick Tante Truud hysterisch geworden wäre.
Einer von ihnen stemmte großkotzig die Fäuste in die Seiten. „Wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen, Grauchen.
Was hast du hier zu suchen? Willst du Ärger?“
Der andere warf Matanie einen verwirrten Blick zu. „Wer ist die Schnepfe?“
Dem Ersten kam ein für ihn skandalöser Verdacht. „Sag mir nicht, du hast den Nerv, mit einem von unseren Weibern rumzumachen!“
Murdoch sah irgendwie müde aus. Er wandte sich ab und hatte offenbar vor, zu gehen.
„Och, hast du Schiss bekommen, Aschefresse?“ höhnte der Erste.
Murdoch blieb stehen. Langsam drehte er sich um. „Wie hast du mich genannt?“
Matanie wurde es unbehaglich. Sie verstand nicht, was hier plötzlich los war.
„Hm – wie habe ich ihn genannt?“ fragte der Erste seinen Kompagnon.
„Aschefresse?“ sprang der bei.
„Ja, genau, Aschefresse! Und das ist noch der beste Name für einen miesen, dreckigen Dunkelelben, wie du einer bist!“
„Wie könnt ihr sowas nur sagen!“ tönte eine helle Stimme. Es war Matanie.
„Was‘n, die kann sogar reden?“ fragte der Zweite erstaunt.
Offenbar war seine Damenbegleitung dazu üblicherweise kaum imstande.
„Was seid ihr nur für Menschen, über jemanden herzuziehen, bloß weil er einem anderen Volk angehört?“ Murdoch drehte sich zu ihr um und starrte sie an, als sei sie tobsüchtig, doch Matanie bemerkte es gar nicht. „Wenn das eure Mütter wüssten, schämen würden sie sich!“
„Mutti?“ fragte der Zweite erschrocken. „Du erzählst ihr doch nichts davon?“
„Wird sie nicht“, knurrte der Erste. „Weil sie niemandem mehr was erzählen wird können!“
Er machte einen Schritt auf sie zu. Ehe sie sich versah, sprang Murdoch vor, im nächsten Moment flog der Völkerfeind durch die Luft, ohne dass Matanie mitbekommen hatte, wie der kleinere, schlankere Dunkelelb das fertiggebracht hatte. Der menschliche Abschaum krachte unsanft in einen nahegelegenen Komposthaufen und ächzte leise. Murdoch drehte den Kopf zu seinem Spießgesellen.
„Mutti!“ fiepte der und rannte davon.
„Komm“, meinte Murdoch und zog Matanie mit sich. Erst ein paar Straßen weiter blieb er stehen.
„Warum sind wir davongelaufen?“ wollte Matanie atemlos wissen. „Die haben doch uns angegriffen!“
„Und du glaubst, das interessiert irgendjemanden? Die sehen mich und alles andere ist egal.“
„Aber warum denn?“
„Warum?“ Murdoch war fassungslos. „Ich bin ein Dunkelelb!“
„Ein Grund mehr, dir zu glauben!“
Einen Augenblick schaute er sie nur stumm an. „Warte mal – diesen Blödsinn von wegen andere Völker, das hast du tatsächlich ernst gemeint, oder?“
„Natürlich.“
„Spar dir dieses naive Friede-Freude-Eierkuchen-Getue.“
„Das ist kein Getue. Ich meine das so.“
Murdoch hob nur die Schulter und verdrehte die Augen gen Himmel. „Sicher.“
„Ja. Und danke, dass du mir geholfen hast.“
„Habe ich nicht.“
„Doch, und wie.“ Sie wurde rot und sah zu Boden.
Murdoch blieb stehen und versuchte, einzuschätzen, ob Matanie ihn veräppelte oder einfach spann. Sie war für einen Menschen, soweit er das beurteilen konnte, wohl eher ein etwas herberer Typ, jedenfalls niemand, der rosa Schleifchen tragen sollte. Ihr goldblondes Haar fiel ihr bis über den Rücken und wäre an sich recht spektakulär gewesen, aber irgendwie schien es das nicht zu wissen. Ihre dunklen Augen blickten ruhig und keinesfalls wahnsinnig. Anscheinend war sie eine dieser verdrehten Weltverbesserinnen, die wildfremde Leute aufforderten, sich zu umarmen, um den Hass zu besiegen. Großartig. Musste das so eine sein? Am liebsten hätte Murdoch sie einfach stehenlassen, sie hatte ja mit ihren Idealen Gesellschaft genug, aber er war nur in die Stadt gekommen, um sie aufzuspüren.
Er seufzte. „Wie auch immer. Komm mit.“
„Wohin?“
„Du wolltest doch zum Wald, oder?“
„Danke. Das ist sehr nett von dir.“
Murdoch steckte die Hände in die Hosentaschen und setzte sich in Bewegung. „Ja“, grummelte er. „Wahnsinnig nett.“
„Da wären wir.“ Murdoch blieb stehen. Unmittelbar vor ihnen begann der Wald, als hätte jemand eine Linie gezogen.
Matanie stoppte ebenfalls und lächelte ihren Begleiter zaghaft an. „Danke. Jetzt will ich dich nicht länger aufhalten.“
Sie wollte gehen.
Murdoch machte hastig einen Schritt vor. „Hey – warte doch mal!“
Das Mädchen wandte sich zum Dunkelelben um.
Der suchte nun nach einer Begründung für seine Aufforderung und drehte die schwarzen Lederbänder an seinen Handgelenken. „Ähm – äh – was… was willst du überhaupt hier?“
Eigentlich hätte er sie das auch schon auf dem Weg hierher fragen können, statt sie die ganze Zeit anzuschweigen, während sie fast verzweifelt versucht hatte, die Stille zu brechen.
„Ich möchte mich mit jemandem treffen“, gab Matanie zur Auskunft.
„Hier? Mit wem?“
„Ich treffe mich mit einem Freund von mir. Er lebt hier in der Nähe.“
Im Wald …? sagte Murdochs Gesichtsausdruck.
„Er ist ein Waldelb. Sein Name ist Danior“, hängte Matanie an.
„Du kennst Danior?“ fragte Murdoch erstaunt.
„Du kennst ihn auch?“
Murdoch schnaufte. „Seit meiner Kindheit. Bevor Dan seinen Menschentick bekam, hing er bei den Dunkelelben rum.“
„Kannst du… könntest du mir den Weg zu ihm nach Hause beschreiben?“
Der Dunkelelb warf ihr einen muffigen Blick zu. „Du willst dich bei ihm verstecken, was?“
„Na ja… schon…“
„Ganz schlechte Idee. Deinen Ärger zum Königshaus der Waldelben tragen und so sie und Danior mit hineinziehen.“
Matanie war erschüttert. „Oh… so habe ich das gar nicht gesehen… aber wo soll ich denn sonst hin?“
„Naja…“ begann Murdoch. Er stockte abrupt und hob den Kopf, als hätte er etwas gehört.
Wortlos schob er Matanie hinter einen nahen Baum. Wenige Augenblicke später kam eine hochgewachsene Gestalt aus dem Schatten der Baumgrenze, die die beiden nur von hinten sehen konnten. Erst erschrak Matanie – dann erkannte sie den roten Pferdeschwanz wieder.
„Danior!“ rief sie und trat hervor.
Der Elb drehte sich erstaunt um. Er hatte eine Tasche über der Schulter, offenbar kam er gerade von seinen Eltern und war auf dem Weg nach Hause. „Mattie! Was machst du denn hier?“ Er wurde sich ihres Begleiters gewahr, der sich missmutig gegen einen Baumstamm lehnte. „Murdoch? Du? Wir haben uns seit Jahren nicht gesehen.“
„Drei“, brummte der Dunkelelb nur.
Danior schien ihn wirklich gut zu kennen, denn er nahm Murdochs lakonisches Geknurre einfach so hin und wandte sich wieder an Matanie. „Was ist passiert?“
Sie erzählte es ihm. Murdoch rührte sich die ganze Zeit nicht vom Fleck, nur als Matanie berichtete, wie er den Unhold in den Komposthaufen geworfen hatte, drehte er den Kopf weg und blickte konzentriert in Richtung Nirgendwo. Daniors Gesicht war ernst geworden. „Und du hast keine Ahnung, wer dieser fremde Lord gewesen sein könnte?“
„Nein. Danior…“ Matanie zögerte. „Wo er doch über meine Eltern sprechen wollte – meinst du, es hat etwas mit dem… Testament zu tun?“
Sie warf einen unentschlossenen Blick Richtung Dunkelelb, aber Danior winkte beruhigend ab.
„Du kannst ruhig vor Murdoch darüber sprechen. Er ist kein Spitzel der Königstreuen.“
Der Verteidigte schnaufte nur spöttisch und schwieg.
Matanie fuhr sich ratlos durch die Haare. „Vater war der Verwahrer. Er war der Einzige, der wusste, wo das Testament von Gael verborgen ist. Aber – meine Eltern haben das doch von mir ferngehalten. Wenn dieser Lord ein Königstreuer ist und die Monarchie erneuern will, kann er mich dazu wohl kaum gebrauchen. Ich habe doch keine Ahnung davon!“
„Bist du dir da sicher?“ murrte Murdoch. Es klang wie ein Vorwurf. Sie drehte sich zu ihm. Er löste sich vom Baumstamm und verschränkte die Arme vor der Brust. „Du warst doch noch recht jung, als sie starben?“
„Woher weißt du das?“ fragte sie.
Wieder schnaufte er. „Du hast mir auf dem Weg hierher deine ganze Lebensgeschichte erzählt, hast du das vergessen?“
Matanie sah auf ihre Füße. Vielleicht hatte sie wirklich zu viel geredet, aber sein Schweigen war ihr so unangenehm gewesen. Sie hätte nicht gedacht, dass er wirklich zuhören würde.
„Was willst du damit sagen?“ schaltete sich Danior ein.
„Ganz einfach. Vielleicht hat sie als Kind irgendetwas mitbekommen, das sie vergessen hat. Und vielleicht weiß der Kerl das und denkt sich, es müsste ja noch irgendwo in ihrem Kopf drin sein. Und da will er ran.“
Unwillkürlich berührte Matanie ihre Schläfe. „Aber… wie will er mich dazu bringen, mich zu erinnern?“
Murdoch schaute in die Landschaft und spielte mit dem ovalen Anhänger, den er an einem kurzen Lederband um den Hals trug. „Wie der das machen will, weiß ich doch nicht“, schnauzte er. „Aber ich wüsste, wie ich es machen würde. Ich kenne jemanden, der deinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen könnte.“
„Wirklich?“
Danior sah nicht begeistert aus. „Murdoch, du und deine zweifelhaften Kontakte. An wen denkst du? An Synn? Ich bezweifle, dass er zu sowas imstande ist. Alben können nur Träume beherrschen, keine Erinnerungen.“
„Alben?“ fragte Matanie erschrocken.
Murdoch ignorierte sie und pflanzte sich vor Danior auf.
„Oh, bitte, Dan! Was ist los mit dir? Zu lange unter Menschen gewesen? Hast du die ganzen dreckigen Lügen verinnerlicht, die sie über Dunkelvolk verbreiten? Hast du auf einmal Angst vor Alben? Nun, ich nicht! Ich halte zu meinesgleichen.“
Danior seufzte. Es klang nicht böse, eher müde, als hätte er solche Reden schon zu oft von ihm gehört. „Du bist Lichtvolk, Murdoch.“
Der Dunkelelb blinzelte verdutzt, als hätte er gar nicht mitbekommen, was er eigentlich gesagt hatte. Er fuhr sich ärgerlich durch die kurzen Nackenhaare. „Tja, siehst du, das kommt davon, wenn man andauernd hört, man sei Dunkelvolk, nur weil Menschen zu blöd sind und von Stammbäumen nichts verstehen! Nicht mehr lang, und ich gehöre in ihren Lexika offiziell zu den Dämonen!“
Matanie spürte, dass er unter seinem Ärger verlegen und wohl auch unglücklich war. Daher hielt sie es für das Beste, nicht weiter nachzufragen und den Wortwechsel der beiden jungen Männer erstmal so stehenzulassen. „Wenn es eine Möglichkeit gibt, dass ich mich erinnere, möchte ich sie nutzen“, sagte sie fest.
Danior drehte sich zu ihr. „Mattie…“
„Nein, hör zu. Wir müssen dieses Testament finden, bevor die es finden.“
„Ja?“ schnappte Murdoch. „Wozu?“
„Um es zu vernichten.“
Der Dunkelelb sah sie mit einem merkwürdig baffen Ausdruck an. „Vernichten?“
„Es war dumm, dass die Testamentler es nicht schon längst getan haben. Aber wenn irgendwer das Testament findet - vielleicht will er es fälschen oder er weiß, wer der Erbe war und ist sein Nachkomme, auf jeden Fall will er Macht. Und Leute, die das wollen, sollten ihr Ziel besser nicht erreichen.“ Sie merkte, dass Murdoch sie immer noch verwundert anstarrte, kam sich blöd vor und lief rot an.
Danior nickte langsam. „Ich denke, du hast recht.“ Er seufzte. „Nun gut. Ich werde dir helfen, Mattie. Murdoch, wo hält sich Synn gerade auf?“
Murdoch betrachtete grimmig seine Schuhspitzen. „Ihr stellt euch das wohl vor wie eine große bunte Schnitzeljagd.
Wenn euch Testamentler oder Königstreue an einen Baum genagelt haben, werdet ihr schön blöd aussehen.“ Er schnaufte abwertend. „Ich bring euch hin, sonst wird das nichts“, motzte er schon im Losgehen.
Danior lächelte und beugte sich zu Matanie. „Das ist seine Art, zu fragen, ob er mitkommen darf, weil er sich Sorgen um uns macht.“
„Wer ist Synn?“ fragte Matanie, als sie neben Danior herlief.
Murdoch marschierte schon seit einer ganzen Weile ein gutes Stück weit vorneweg, als sei es ihm peinlich, mit den beiden gesehen zu werden.
„Der Prinz der Alben. Seine Schwester ist die zukünftige Königin.“
„Und woher kennt Murdoch ihn?“
Danior seufzte leise. „Murdochs Mutter und Onkel waren mit Synn befreundet.“
„Waren? Haben sie sich zerstritten?“
„Nein. Sie sind gestorben.“
„Oh. Und Murdochs Vater?“
„Auch der ist tot“, tönte Murdoch fünf Meter weiter vorne.
„Meine Familie ist ein einziger großer Totentanz und geht dich verdammt nochmal nichts an!“
Matanie war überrascht, Danior zeigte nur auf seine spitzen Ohren. „Die Ohren der Dunkelelben arbeiten noch effizienter als die der Hoch- und Waldelben.“
Seine Gesprächspartnerin war schon wieder damit beschäftigt, sich zu schämen. „Du hättest mich warnen sollen.“
„Vorsicht, Dan“, meinte Murdoch, ohne sich umzudrehen.
„Sonst platzen ihre Kapillaren.“
Danior beobachtete fasziniert, wie sich Matanies Wangen noch röter verfärbten. „Ich finde das erstaunlich, wie die Menschen Blut in ihr Gesicht pumpen können. Und so schnell! Es erinnert mich an das Imponiergehabe mancher Echsenarten.“
„Woher weißt du überhaupt, dass ich rot werde?“ wollte Matanie von Murdoch wissen.
Der schaute über seine Schulter. „Du riechst anders.“
Sie war entsetzt. „Müffel ich etwa?“
Der Dunkelelb öffnete gerade den Mund, um ihr eine Antwort zu geben, aber Danior war schneller. „Nein, Mattie. Natürlich nicht. Dunkelelben haben sehr feine Nasen, fast wie Orks.“ Er warf einen Blick zu Murdoch. „Aber eben nur fast. Und sie brauchen gar nicht damit anzugeben.“
Murdoch drehte sich zurück nach vorn und bedachte Danior mit einer kurzen Handgeste.
„Was bedeutet das?“ fragte Matanie.
Der Elb winkte ab. „Nichts, was eine kultivierte Person wissen müsste.“
„Oh.“ Einen Moment schwieg sie und dachte nach. „Alben – stimmt es, dass sie… in die Träume der Leute eindringen können?“
Danior nickte. „Ja, das stimmt. Alben sind telepathisch begabt. Sie sind darin nicht so versiert wie ihre Verwandten, die Mahre oder die Schattenalben, aber als Einzige der Albenfamilie können sie die Träume anderer beeinflussen. Untereinander sind sie resistent, aber soweit ich weiß, geht es bei Menschen sehr gut.“
„Warum wohl“, murmelte Murdoch abfällig.
Danior war begeistert, sein Wissen teilen zu dürfen. „Es gab sogar schon Fälle, bei denen die Träume so realistisch waren, dass die Betroffenen an einem Herzinfarkt gestorben sind. Daher kommt das Wort Albtraum, weißt du.“
„Verstehe.“ Matanie war etwas mulmig zumute. „Und… ich habe gehört… naja, manchmal…“ Sie zog Danior am Ärmel und flüsterte ihm ins Ohr.
„Oh, ja, natürlich, das kommt vor!“ antwortete der Elb so laut, dass Matanie zusammenfuhr. „In die Träume einzudringen, das ist die sogenannte Geistige Albung. Und das, was du meinst, ist die Körperliche Albung. Es gibt kein Schlafzimmer, in das ein Alb nicht reinkommt, wo der Kopf durchpasst, passt auch der Alb durch, wirklich erstaunlich. Das Opfer wacht meist mehr oder weniger auf, aber Alben verfügen über eine Art der Hypnose, die sie unwiderstehlich wirken lässt, eine Spontanverführung, wenn man will, und… was hast du?“
Matanie war rot wie eine Tomatenlaterne und drehte exzessiv ihre Finger.
Murdoch drehte sich um. „Ihr ist das peinlich, du Idiot. Wer weiß, ob sie richtig aufgeklärt ist!“
„Oh, ja, natürlich, ich vergaß, bitte verzeih.“ Danior klapste ihre Schulter. Matanie wäre am liebsten im Boden versunken. „Nun, dann überspringen wir das. Sollte das Albungsopfer weiblich gewesen sein und schwanger werden, trägt sie weit kürzer als bei Menschen üblich, etwa vier Monate. Dann kehrt der Alb zurück und nimmt das Kind mit sich.
Den meisten Damen ist das ganz recht.“
„Warum?“ wollte Matanie wissen.
„Nun ja, man kann nicht sagen, dass sie absichtlich schwanger wurden, vielleicht passt ein Kind nicht in ihre Lebensplanung und…“
„Nein. Warum nimmt der Vater es mit?“ erklärte sie.
„Ah. Die Geburtenrate bei Alben ist niedrig. Sie sind nicht besonders fruchtbar. Aber ihre Erbanlagen sind sehr dominant, und es hat sich gezeigt, dass bei der Verpaarung mit Menschen alle albischen und keine menschlichen Merkmale auftreten, zumindest in der ersten Mischgeneration. Von daher werden die Erbanlagen der Gesamtpopulation nicht verunreinigt, wenn sich die Mischlinge der ersten Generation mit Reinerbigen paaren.“
„Bitte?“ Matanie hatte irgendwo den Faden verloren.
Murdoch blieb stehen. „Die machen das, weil sie sonst Gefahr laufen, auszusterben.“
„Ach so.“ Sie schien unsicher. „Also tun sie das nicht… aus Spaß?“
„Spaß?“ fuhr Murdoch auf. „Aus Spaß? Weißt du, warum die das machen müssen? Weil die Menschen sie im Alten Zeitalter so dezimiert haben, dass ihr gesamtes natürliches Gleichgewicht zusammengebrochen ist! Solange die Menschen nicht da waren, hatten die Alben auch keine Albungen nötig! Es war sogar ein Kapitalverbrechen. Aber weil ihr hirnlosen Menschen so viele von ihnen abgeschlachtet habt, müssen sie jetzt das tun, was sie am meisten verabscheuen, auch noch mit dem Volk, das ihnen all das eingebrockt hat! Meinst du, das macht ihnen Spaß? Fändest du es spaßig, mit einem Oger ins Bett zu müssen?“
Murdoch war ziemlich laut geworden. Matanie hatte ihm ruhig zugehört, es aber nicht geschafft, ihn dabei anzusehen. Auch jetzt hob sie nicht den Kopf.
„Nein. Natürlich nicht. Ich hätte das nicht sagen sollen.
Bitte entschuldige. Ich wusste das nicht. Ich bin froh, dass ich es jetzt weiß, denn jetzt kann ich den Alben anders gegenübertreten, als ich es vielleicht zuvor getan hätte.“
Murdoch glotzte sie an, dann warf er Danior einen Seitenblick zu, ob er das eben auch so gehört hatte.
Der Elb lächelte stolz. „Jaja, wenn alle Menschen wie Mattie wären, sie wären das beliebteste Volk.“
„Bah!“ machte Murdoch. „Blödsinn! Auf das Getue fall ich nicht rein. Nichts dahinter. Ein Mensch kann sich nicht so benehmen, als sei er ein Elb!“
„Warum nicht?“ meinte Matanie dumpf. „Du bist ein Elb, der sich benimmt wie ein Mensch.“
Danior drehte sich erschrocken zu ihr.
Murdoch stutzte und baute sich dicht vor ihr auf. „Was hast du gesagt?“
Irgendwie schaffte sie es, den Blick zu heben. „Du hast eine Meinung von mir, ohne mich zu kennen. Du ordnest mir Charaktereigenschaften zu, nur, weil ich ein Mensch bin. Du siehst mich als Mensch, nicht als Person. Du diskriminierst mich. Das ist es doch, was Menschen tun?“
Murdochs Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an. Irgendwie hatte Matanie das Gefühl, er hätte jetzt wirklich gern richtig angefangen, zu weinen. Er wirkte so einsam und verloren, dass sie ihm reflexartig die Hand auf den Oberarm legte. Er hatte Arme wie Stahlseile, aber seine Haut war weich wie die eines Babies; eine Kombination, die Matanie erneut rot werden ließ. Murdoch starrte sie einen Moment lang so entsetzt an, als hätte sie ihm in den Schritt gegriffen.
Dann zog er mit einem Ruck seinen Arm weg.
„Fass mich nicht an, Weltverbesserin!“ Er fuhr herum und marschierte weiter.
Matanie drehte scheu ihre Finger und murmelte: „Das ist kein Getue, Danior, wirklich.“
Der Elb drückte ihre Schulter. „Ich weiß Mattie. Aber Murdoch hat so viel Schlechtes erlebt, dass ihn das Gute völlig aus der Bahn wirft; er denkt, es kann nicht wahr sein.“
„Was ist ihm denn Schlimmes widerfahren?“
„Ich denke, das sollte besser er dir erzählen, nicht ich. Vielleicht tut er es eines Tages, wenn er dir vertraut.“ Danior zögerte und sah zu Murdoch, der nur noch als kleiner grauschwarzer Fleck in der Ferne zu erkennen war. Er hatte wieder dieses leise Gefühl.
Matanie sah sich ratlos um. Für ihre Augen waren sie völlig wahllos mitten im Wald stehengeblieben, um auf Synn zu warten. Auch, wenn Murdoch ihr barsch versicherte, er hätte sich ohnehin mit ihm an dieser Stelle treffen wollen, erschien es Matanie doch ein seltsamer Ort zum Verabreden. Auf die Frage, warum er denn vorgehabt hatte, sich mit dem Alben zu treffen, schnauzte der Dunkelelb nur, das ginge sie einen feuchten Kehricht an.
Sie seufzte. „Wenn Synn der Prinz der Alben ist, was macht er dann hier?“
„Eine Art Urlaub, würde ich sagen“, antwortete Danior.
„Synn kommt eigentlich von der Ostinsel, aus Kelld. Murdoch übrigens auch; er ist aus Caldon.“
„Murdoch ist ein Caldoner? Das erklärt so einiges.“
Danior lachte leise. Murdoch warf ihr einen wenig amüsierten Blick zu. Die einzelnen Landeseinwohner von Zweiinsel machten dauernd Witze über einander und drückten sich Stempel auf. Die aus Caldon waren mürrisch und geizig, die Kellden steif und pingelig, die Goiden ungehobelte Säufer und die Lyddwyr – da wohnten sowieso nur Schafe. Diese Witzchen gingen über die Völkergrenzen hinaus. Die goidelischen Elben machten durchaus Scherze über ihre kelldischen Verwandten und andersrum. Zumindest bei ihnen war das nicht böse gemeint, bei Menschen konnte man sich nie so sicher sein.
Murdoch schnaufte. „Ach, ihr Menschen. Was tätet ihr nur, wenn ihr nichts mehr zum Aussondern hättet? Ihr diskriminiert euch wegen eures Aussehens, dem Geschlecht, der Religion oder wegen der Himmelsrichtung, aus der ihr kommt. Wenn ihr nicht die ganzen anderen Völker hättet, über die ihr euch aufregen könnt, ihr wärt den ganzen Tag damit beschäftigt, euch selbst zu vernichten.“
Danior nickte fachmännisch. „Ja, ich denke, das hat die Natur so eingerichtet, weil sich Menschen so schnell vermehren. Wenn sie sich nicht selbst dezimierten, würde die Welt überschwemmt von ihnen und alle würden zugrunde gehen. Das ist wie unter Tieren, die bei Überpopulation ihre eigenen Jungen fressen…“ Danior stockte, als er Matanies Gesichtsausdruck sah. Er räusperte sich. „Aber mal ehrlich, Murdoch, es ist nicht so, dass die Elbenvölker keine Tendenz dazu hätten. Auch bei uns gibt es unzählige Vorbehalte, speziell gegen Orks und Zwerge, inklusive platter Witzchen.“
„Habt ihr auch Menschenwitze?“ erkundigte sich Matanie.
„Oh ja.“
„Erzählst du mir einen?“ fragte sie neugierig.
Danior wusste nicht so recht. „Also, Mattie, ich denke nicht…“
Murdoch schnitt ihm das Wort ab. „Woran erkennt man, dass ein Mensch im Wald gewesen ist? Die Bäume sind gefällt und alle Nymphen schwanger.“
Matanie sah ihn einen Moment verblüfft an, dann fing sie an zu kichern. „Der ist gut!“
Der Dunkelelb schien etwas anderes erwartet zu haben. „Bist du nicht beleidigt?“
„Nein, wieso?“
Murdoch fuhr sich über die Nackenhaare und sagte nichts dazu.
Danior beugte sich zu Matanie. „Aber bitte – frag nie einen Zwerg, ob er dir einen Menschenwitz erzählt. Und bloß keinen Ork!“
„Aber…“
„Keinen Ork!“
„Ich werd‘s mir merken.“
„Fast hätte ich mich entschuldigt, zu spät zu sein, aber ich habe nicht den Eindruck, dass ihr euch hier langweilt“, meinte eine samtige, dunkle Stimme hinter ihnen.
Alle drei fuhren herum. Murdoch schnaufte und – eine Premiere – grinste schief. „Du wirst nie müde, es auszunutzen, dass ich dich nicht wittern kann, was, Synn?“
„Ich wollte dir nicht die Pointe ruinieren.“ Synn wandte sich an Matanie und lächelte freundlich. „Albische Menschenwitze solltest du lieber auch nicht hören, die sind in letzter Zeit etwas extrem geworden.“
Matanie hatte nie zuvor einen Alben gesehen. Synn war noch größer als Danior, aber äußerst schlank, als hätte man eine durchschnittlich große Person in die Länge gezogen. Er hatte sehr spitze Ohren, milchig weiße Haut und weiße Haare, die glatt bis fast zu den Hüften fielen. Die Spaltpupillen in Synns orangenen Augen verengten sich wie bei einer Katze zu Schlitzen, wenn er ins Licht sah. Matanie fand, dass Alben auf eine sehr unheimliche Art und Weise überaus schön waren und verstand, was Danior mit der ‚Hypnose‘ gemeint hatte. Sie brachte nur ein gequältes Schmunzeln zustande.
Synn wandte sich an Danior. „Was verschafft mir die Ehre?“
„Leider nichts Gutes. Du erinnerst dich an Gaels Testament?“
„Natürlich.“
„Tja, anscheinend gibt es da ein bisschen Ärger.“
„Ah“, machte der Alb und Matanie sah, dass seine Eckzähne ein klein wenig zu lang waren, um harmlos zu wirken. „Ich verstehe. Und ich darf dir anvertrauen, ich weiß sogar mehr als ihr.“ Er sah Matanie an. „Du bist also Davis‘ Tochter.“
Matanie war baff und geriet ins Stammeln. „Ja - aber… woher weißt du?“
„Synn ist immer gut informiert“, brummte Murdoch.
„Je geheimer etwas gehalten wird, desto eher erfahre ich davon. Aber wir müssen uns wirklich nicht hier die Beine in den Bauch stehen. Kommt mit, dann erkläre ich euch alles.“
Er wandte sich um und ging mit Murdoch Richtung Dickicht.
Matanie bemerkte, dass Danior kurz zögerte, bevor er ihnen folgte. Das Mädchen ging zu ihm. „Du sagtest, Synn wäre ein zweifelhafter Kontakt. Wieso?“ fragte sie leise.
Der Elb drehte den Kopf. „Er weiß einfach zu viel. Ich fürchte, damit das gewährleistet ist, muss er sich in ziemlich riskanten Kreisen bewegen.“
„Du denkst, wir sollten ihm besser nicht trauen?“
„Nein, das habe ich damit nicht gemeint. Aber meiner Erfahrung nach bringen Synns Informationen immer jede Menge Ärger mit sich. Also mach dich auf was gefasst.“
Matanie seufzte, als sie sich ihren drei spitzohrigen Begleitern anschloss. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, gestern eine störrische Schürze geschrubbt zu haben, als seien Flecken wirklich von Bedeutung.
Synn brachte sie zu seinem, wie er es nannte, ‚Notfall-Reisedomizil‘. Er flüchtete sich nach Goidelia, wenn ihm die strenge höfische Etikette zu viel wurde. Das Leben von albischen Prinzen wurde sehr genau überwacht. Erst, seit seine Schwester als Thronfolgerin auf der Welt war, genoss er ein gewisses Maß an Freiheit, das er weit mehr ausdehnte, als man bei Hofe gern gesehen hätte. Bei seiner Zuflucht handelte es sich um eine große Höhle zu ebener Erde, in unmittelbarer Nähe eines Sees. Links neben dem Eingang stürzte ein kleiner Wasserfall den Felsen hinunter. Auf die Innenwände der Höhle waren abstrakte Figuren und Muster gemalt und bezeugten, dass schon prähistorische Kulturen dieses Fleckchen gemocht hatten. Die Sonne würde gleich untergehen. Matanie tat es den anderen gleich und ließ sich auf den Boden sinken, wenn auch mit deutlich weniger Eleganz. Sie war erschöpft. Auf Daniors Aufforderung hin berichtete sie Synn von ihren Erlebnissen. Als sie erzählte, wie sie Murdoch getroffen hatte, wechselten dieser und der Alb einen undeutbaren Blick.
„So“, meinte Synn, als sie geendet hatte. „War dann für dich kein so toller Tag, zumal du dich auch noch mit dem Stinkstiefel herumplagen musstest.“
Matanie musste lächeln, Murdoch weniger. „Armleuchter“, murrte er.
Danior meldete sich zu Wort. „Nun, Synn, dann erzähl uns mal, was wir alles nicht wissen.“
„Alles bestimmt nicht.“ Wieder erntete er einen finsteren Blick von Murdoch. „Aber ich berichte euch gern, was mir über das Schicksal dieser jungen Dame bekannt ist.“
Matanie wusste kurz nicht, von wem er sprach, dann wurde ihr klar, dass sie gemeint war.
Der Alb schlug die langen Beine unter und wurde etwas ernster. „Dein Vater Davis war der Erbe und die Hoffnung einer der ältesten und königstreuesten Clans von Goidelia. Früher waren die Erskines recht einflussreich, doch mit dem Ende der Monarchie endete auch ihre Macht. Umso schlimmer, dass sich dein Herr Papa auch noch in die falsche Frau verliebte, deine spätere Frau Mama nämlich, die Mitglied bei den Testamentlern war und auch Davis dafür erwärmen konnte. Er wurde der Verwahrer, der Einzige unter den Testamentlern, der wusste, wo sich Gaels Testament befand. Soweit kennst du es ja.“
Matanie nickte. „Warum wurde das Testament eigentlich nie vernichtet?“
Synn zuckte die Schultern. „Die Menschen dachten, es brächte Unglück. Wenn es sie glücklich macht. Aber dafür mussten sie auch dieses Versteckspiel die ganzen sechs Jahrzehnte lang durchziehen.“
Murdoch kommentierte den menschlich dummen Aberglauben mit einem abfälligen Schnaufen und brummte leise: „Vollidioten.“
Synn fuhr fort. „Davis und deine Mutter kamen leider nicht mehr dazu, jemanden in den Ort des Verstecks einzuweihen, bevor sie ihren…“ Er zögerte kaum merklich. „…Unfall hatten.“ Matanie sah betrübt auf ihre Stiefel. „Jetzt zu dem, was du nicht weißt. Ich kann dir sagen, wer der Lord ist, der dich gesucht hat. Er war früher einer von Gaels Rittern. Der letzte, der noch lebt. Sein Name ist Mazacan.“
Danior entging nicht, wie sich die Pupillen in Murdochs unbewegtem Gesicht bei diesem Namen kurz weiteten.
Matanie hingegen blickte stirnrunzelnd zu Synn. „Wie kann das sein? Er klang recht jung.“
„Mazacan ist ein Halbelb. Er ist langlebig. Auch, wenn er inzwischen fast hundert ist, du siehst es ihm nicht gerade an.“
„Oh“, machte sie. Mehr fiel ihr nicht ein.
„Damals, als du noch ein Kind warst, vier oder fünf Jahre alt, hast du gesehen, wie dein Vater den Lageplan zum Testament versteckt hat. Das ist bekannt geworden, weil er vor anderen Testamentlern darüber scherzte, dass du ihn gefragt hast, warum er so ein angegammeltes, altes Papier nicht einfach wegwirft. Und irgendwie hat Mazacan davon erfahren. Er will das Testament finden, warum auch immer, und er weiß, dass du ihn hinführen kannst.“
Matanie schüttelte energisch den Kopf. „Aber ich kann mich an nichts erinnern!“
„Trotzdem ist es da oben drin. Du musst es nur wiederfinden.“
„Woher weißt du all das?“ fragte Danior etwas zu streng.
„Ich könnte es dir sagen, aber dann müsste ich dich umbringen“, antwortete Synn bedächtig.
Matanie spielte nervös mit ihren Haaren. „Ich weiß gar nichts mehr davon…“
„Kannst du ihr helfen, sich zu erinnern?“ wollte Murdoch wissen.
„Ich? Wüsste nicht, wie. Dazu reicht meine Telepathie nicht aus. Da müsstest du dich schon an Dargh wenden.“
„Wo ist er?“ Murdoch schien diese Antwort erwartet zu haben.
„Mal wieder auf Wanderschaft.“
„Wer ist Dargh?“ fragte Matanie.
„Ein Schattenalb aus Caldon“, meinte Danior.
„Ich dachte, Schattenalben seien ausgestorben?“
„Genau das versucht Dargh auf seinen Wanderschaften rauszukriegen.“
Synn machte eine entgegenkommende Geste. „Er wollte hier vorbeikommen, aber das wird erst in einigen Tagen sein.
Wo wollt ihr so lange bleiben?“
Danior überlegte. „Wenn nach uns gesucht wird, wäre es vielleicht besser, wenn wir uns versteckten.“
Der Alb lächelte. „Da wüsste ich ein Plätzchen. Ein Kloster. Dort leben die Ordensschwestern der Göttin Dede, eine sehr liberale Religion. Ich weiß, dass du mich jetzt schief anschaust, Danior, und dich fragst, was ich mit Nonnen zu tun habe, aber die Damen waren während der Verfolgungen so nett, Albenflüchtlinge aufzunehmen, vor allem über männliche haben sie sich gefreut. Schlaft heute Nacht hier, morgen bringe ich euch hin.“
Matanie lag mit offenen Augen in der Dunkelheit und konnte nicht schlafen, obwohl sie hundemüde war. Sie richtete sich halb auf und sah sich in der nachtschwarzen Höhle um. In einiger Entfernung lag Danior flach auf dem Rücken mit über der Brust gekreuzten Armen, als wäre er tot. Er ruhte, denn Elben schlafen sehr selten völlig. Wenn sie ihn jetzt leise gerufen hätte, Danior wäre sofort hellwach gewesen. Vor dem Höhleneingang konnte sie Murdoch und Synn ausmachen, die so leise miteinander sprachen, dass nicht mal Danior sie hätte verstehen können. Es sah nicht unbedingt nach einem netten Plausch aus, eher nach einer Diskussion. Schließlich winkte Murdoch entnervt ab und verschwand nach draußen aus ihrem Blickfeld. Der Alb sah ihm kurz nach, kam dann geräuschlos zurück in die Höhle und huschte an Matanie vorbei in den hinteren Bereich, wo er leise irgendetwas rumhantierte. Dann war völlige Stille.
„Kannst du nicht schlafen?“ fragte Synn plötzlich unmittelbar neben ihr.
Matanie bekam fast einen Herzinfarkt und fuhr auf.
Der Prinz lachte leise. „Entschuldige. Wir Alben sind leider die reinsten Schleicher.“ Er ging neben ihrem Lager in die Hocke. „Bist du denn gar nicht müde?“
Sie seufzte. „Ich falle um vor Müdigkeit, aber ich kann einfach nicht einschlafen.“
„Soll ich dir helfen?“
Automatisch witterte Matanie Gefahr. „Inwiefern?“ fragte sie verkrampft.
Synns Stimme wurde ein wenig säuerlich. „Auf jeden Fall nicht, indem ich dich albe.“
Matanie gab sich der sinnlosen Hoffnung hin, dass er in der Dunkelheit nicht sehen konnte, wie sie rot anlief. „Ich… ich wollte nicht… ich dachte nicht…“
Synn klang wieder friedlich. „Schon gut. Ich versteh dich ja irgendwo. Aber von mir musst du nichts befürchten.“ Er machte eine kleine Pause. „Ich hoffe, das enttäuscht dich nicht.“ Mit seiner absoluten Nachtsicht bemerkte er ihren reinweg entsetzten Gesichtsausdruck. „Na gut, das war gemein von mir.“ Sie konnte hören, dass er grinste.
Matanie druckste herum. „Ich – äh – hab mich gefragt… äh…“
„Was willst du wissen?“
„Äh… musstest… musstest du schon mal…?“ murmelte sie kaum hörbar.