Der Fluch der Hexenjäger - Anita Wolf - E-Book

Der Fluch der Hexenjäger E-Book

Anita Wolf

4,9

Beschreibung

Hundert Jahre leidet Wolcod, einst Anführer der berüchtigten 13 Hexenjäger, nun schon unter dem Fluch, den die Dunkelelben ihm auferlegten. Nach all der Zeit muss es jetzt ganz schnell gehen, denn Wolcod bleiben nur noch wenige Tage Zeit, den Fluch zu brechen, sonst wird etwas Schreckliches passieren - natürlich läuft erst mal alles gründlich schief ... Im dritten Teil der Hexenjäger wird mit dem üblichen Witz nicht nur gegen die gängigen Fantasy-Klischees, sondern auch gegen innere und äußere Dämonen gekämpft.

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Anita Wolf lebt mit ihren zwei Katzen in Berlin und schrieb ihr erstes Buch, weil sie nicht die Geduld hatte, die Geschichte als Comic zu zeichnen.

Eigentlich hatte Alastair nicht unbedingt damit gerechnet, dass ihm gerade an diesem Morgen ein Mädchen auf den Kopf fallen würde.

Der Tag begann wie einer von vielen, früh und arbeitsreich, wie fast alle Tage im Leben des Stallmeisters. Die meisten Menschen, die in den Stall kamen, hielten ihn für einen Hilfsstallknecht, bestenfalls für die Urlaubsvertretung.

Kaum einer traute einem so jungen Mann wie ihm zu, sich um derart edle Pferde angemessen kümmern zu können wie die im Stall des Hochlords. Einer der wenigen, der trotz seiner Jugend Vertrauen in ihn hatte, war der Hochlord selbst. Alastair wollte ihn nicht enttäuschen und arbeitete besonders hart und gewissenhaft. Nicht, dass ihm je etwas anderes in den Sinn gekommen wäre, doch er nahm seine Pflichten noch ernster, als er es ohnehin schon getan hätte, zumal die Tiere vom alten Stallmeister nicht gut behandelt worden waren. Alastair hatte nicht geglaubt, dass sie ihn nach ihren schlechten Erfahrungen gleich akzeptieren würden, aber vom ersten Tag an vertrauten ihm die Pferde und verhielten sich in seiner Nähe ungewöhnlich ruhig.

Doch als er an diesem Morgen den Stall betrat, waren die Tiere nervös. Nicht offensichtlich. Die meisten hätten ihre Unruhe wohl kaum gespürt. Ebenso wenig hätten sie das feine Rascheln und Knistern auf dem Heuboden vernommen, oder wenn doch, Mäuse dafür verantwortlich gemacht.1

Nicht so Alastair. Er hörte das Knacken der Halme, die sich unter einer Last bogen und brachen, ebenso wie das krampfhaft gedämpfte Atemgeräusch. Er roch, dass ein Mensch im Stall war, einer, der da nicht hingehörte.

Gelassen ging er zur Wand, nahm die Heugabel, die daran lehnte und stellte sich unter den Vorsprung des Heubodens, wo er die Forke hob und ihre Zinken sacht in das Heu über sich stach.

„Au!“ machte es erschrocken von oben, dann rumpelte es, als jemand das Gleichgewicht verlor.

Das alte Holz des Heubodens brach und etwas stürzte mit Heu, Holzfragmenten und einiger Wucht auf Alastair hinab. Schnell wich er zur Seite und verhinderte, dass der Eindringling aufgespießt auf der Heugabel endete. Als der aufgewirbelte Staub sich legte und die erschrockenen Pferde in den Boxen zur Ruhe zurückfanden, näherte sich der Junge dem halb verschütteten Neuankömmling und schob mit dem Stiel der Mistgabel die gröbsten Trümmer beiseite. Er bereute, nicht bedacht zu haben, dass der alte Heuboden unter einer plötzlichen Gewichtsverlagerung zusammenbrechen könnte.

„Alles in Ordnung?“ fragte er das eingestaubte Häufchen, das sich ächzend den Nacken rieb.

Als er es ansprach, stockte das Häufchen in der Bewegung, sprang erstaunlich schnell auf und verwandelte sich in ein Menschenmädchen, das einen Holztrümmer in der Hand hielt und drohend in die Luft hob.

„Taste mich an und die dir zustehenden Konsequenzen seien dir gewiss!“

Alastair runzelte die Stirn und stellte die Heugabel beiseite.

Dem Tonfall nach waren die gewählten Worte als Drohung gedacht, das Mädchen schien allerdings keine große Erfahrung damit zu haben, die meisten hier hätten gar nicht begriffen, was sie überhaupt gesagt hatte.

„Ich tu dir nichts“ versicherte Alastair ruhig. „Aber ich bin für den Heuboden hier verantwortlich und du darfst dort nicht herumkrabbeln. Was hast du da oben gemacht?“

Er hatte schon oft erlebt, dass seine ruhige Sprechweise die Menschen aus dem Konzept brachte. Zögernd senkte das Mädchen das Brett in ihrer Hand und ließ es schließlich fallen.

„Ich habe mich versteckt…“

„Wovor?“

Sie setzte zu einer Antwort an, als draußen vor dem Stall undeutliche Stimmen zu hören waren. Das Gemurmel verstummte, gleich darauf rief jemand laut: „He, Stallfutzi!“

Das Mädchen zuckte zusammen. Alastair schalt sich dafür, so abgelenkt gewesen zu sein, dass er die nahenden Menschen nicht schon früher gehört hatte. Er fackelte nicht lange, sondern verschränkte die Hände zu einer Räuberleiter.

„Versteck dich.“

Misstrauisch zögerte das Mädchen, doch nur kurz. Dann stieg sie flink auf seine Hände und verschwand wieder oben auf dem Heuboden.

Gerade als sich Alastair umdrehte, kamen zwei Männer in den Stall. Er kannte sie gut, auch ihre Pferde standen hier.

Sie hießen Diarmid und Cooper und gehörten zu der Schlosswache. Sie mochten ihn nicht sonderlich und er sie ebenso wenig.

„He, Stallfutzi“ wiederholte der größere der beiden zur Begrüßung. „Diarmid und ich brauchen unsere Pferde.“

Alastair antwortete nicht, sondern machte sich gleich daran, die Tiere zu satteln. Je schneller sie ihre Pferde hatten, desto eher würden sie auch wieder verschwinden. Eigentlich hätte ihm ein Stallknecht dabei helfen sollen, doch seit er, der letzte Stallknecht, Stallmeister geworden war, hatte sich noch kein neuer für die Stelle gefunden. Vielleicht kam das von den Geschichten, die über ihn im Umlauf waren.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich Cooper im Stall umsah, während Diarmid zu ihm hinüberkam und betont lässig den Ellenbogen auf die Stalltür legte.

„Sag mal, Kleiner“, fing er an. Eine Ungerechtigkeit, denn Alastair war größer als er. „Du bist doch den ganzen Morgen hier gewesen, oder?“

„Ja.“

„Da haste nicht zufällig was gesehen, oder?“

„Da ich nicht mit geschlossenen Augen arbeite, habe ich das wohl.“

Alastair war nicht nur intelligent, er war auch klug genug, das niemanden unnötig wissen zu lassen.

Diarmid verdrehte die Augen. „Mann, du weißt, was ich meine. Ist dir irgendwas Ungewöhnliches aufgefallen?“

„Ungewöhnlich? Nein. Geh besser nicht zu nah an Donners Box heran, Cooper.“

Der Angesprochene stoppte seinen auffällig unauffälligen Rundgang und wandte sich irritiert um, als auch schon ein großer dunkelbrauner Pferdekopf aus der Box neben ihm hervorgeschossen kam und nach ihm schnappte.

Erschrocken machte die Wache einen Satz nach hinten.

„Hör auf zu lachen, Vollidiot!“ schnauzte er seinen Kollegen gleich darauf an. „Die Bestie darf man ja nicht auf die Welt loslassen!“

Donner gehörte dem Hochlord. Er hatte ihn seinem vorherigen Besitzer abgekauft, gerade als dieser mit einer Armbrust auf das Tier losgehen wollte. Nähern konnten sich dem Hengst nur er und Alastair, allen anderen drohte ein ungewisses Schicksal.

Cooper fuhr sich durch die raspelkurzen dunklen Haare und deutete auf die Boxentür. „Ist die auch abgesperrt?“

„Wenn Donner nicht gelernt hat, wie man sie aufmacht, schon“, entgegnete Alastair ohne allzu großes Interesse.

Cooper schien dahingehend kein Risiko eingehen zu wollen und kam herüber.

„Hast du hier irgendwen gesehen heute?“ wollte er, noch immer gereizt, von Alastair wissen.

„Ist euch jemand abhandengekommen?“

Diarmid schnaufte. „Mir nicht, ihm.“

„Halt die Klappe“, knurrte sein Kollege. „Ich habe dir gesagt, du sollst nicht vor anderen…“ Er stockte, als ihm Alastair einfiel. „Hast du nun jemanden gesehen oder nicht?“

Alastair musste nicht lange überlegen. Selbst, wenn das Mädchen die Kronjuwelen gestohlen hatte, den beiden würde er sie nicht übergeben.

„Außer euch niemanden.“

Cooper kniff die Augen zusammen. „Bist du dir da auch sicher?“

„Mensch, Coop, lass uns gehen. Je länger wir hier rumstehen, desto weiter rennt sie weg in der Zeit“, maulte Diarmid.

„Ach, ihr sucht eine Sie?“ erkundigte sich Alastair mit neutralem Interesse.

Seinem Vater wäre dazu eine ganze Menge gehässiger Kommentare eingefallen, doch in der Kunst des Beleidigens schlug er eher nach seiner Mutter.

Cooper warf seinem Kollegen einen Blick zu, als ob er ihm sein loses Mundwerk gerne dauerhaft gestopft hätte.

Diarmid kratzte sich an einem seiner abstehenden Ohren und schaute betont arglos in die Luft.

Cooper wandte sich wieder an Alastair. „Das geht dich nichts an. Wir verschwinden.“

Die beiden Männer wandten sich gerade um, als Diarmid den Trümmerhaufen in der Ecke erblickte. „Fällt der Schuppen schon zusammen?“

Cooper folgte Diarmids Blick, stutzte und fuhr zu Alastair herum. „Wie zur Hölle ist das da passiert?“

„Das war Donner“, log der Junge glatt.

„Donner?“

„Ja. Er ist aus seiner Box ausgebrochen. Dann ist er wie von Sinnen und macht alles nieder, was ihm im Weg steht.

Jederzeit kann das passieren.“

„Du hast doch gesagt, dass er das nicht kann!“ bellte Cooper.

Alastair schüttelte ruhig den Kopf. „Ich habe gesagt, dass er vermutlich keine Schlösser aufbekommt. Ich habe nicht gesagt, dass er nicht ab und zu die Tür eintritt.“

„Mensch, lass uns endlich abhauen“, drängelte Diarmid.

Cooper zögerte. Er war davon überzeugt, dass der Stalljunge etwas verheimlichte. Auf einen ausgebrochenen Höllenhengst hatte er aber auch keine Lust.

„Na, meinetwegen. Gehen wir.“

Die beiden nahmen ihre Pferde an den Zügeln und verließen den Stall. Mit seinen feinen Ohren konnte Alastair sie noch diskutieren hören.

„Was sollte dieses Rumgedrängel? Ich bin mir sicher, der wusste was!“

„Mensch, Coop. Du weißt genau, dass mir der Bengel unheimlich ist.“

„Mach dich nicht lächerlich!“

„Ich sag dir, der redet mit den Gäulen. Der stiftet die dazu an, uns zu fressen, sag ich dir.“

„Pferde fressen keine Menschen, Trottel!“

„Ja? Warum hast du dann so einen Schiss vor Donner?“

Was folgte, war ein dumpfer Aufprall, als hätte jemand einem anderen gegen die Schulter geschlagen.

„Au!“ protestierte Diarmid. „Was kann ich dafür? Wenn der Chef sich einen Höllenhengst holt, braucht er dafür auch einen Dämonenstalljungen.“

„Der ist kein Dämon, du Idiot! Der ist bloß gepanscht.

Schau dir doch die Ohren an.“

„Umso schlimmer. Man sagt, wenn dem Jungen was passiert, kommen die Grauen und schlachten uns hin.“

„Wunderbar. Dann muss ich dein Gequatsche nicht mehr ertragen.“

Diarmid murmelte etwas Unverständliches, sie stiegen auf ihre Pferde und ritten davon.

Alastair schnaufte gereizt. Er konnte das Wort ‚gepanscht‘ nicht leiden. Er ging zu Donners Box. Sanft wie ein Lamm ließ sich der Hengst an der Nase kraulen. Dann erst trat Alastair unter den Heuboden.

„Du kannst jetzt herunterkommen.“

Der Kopf des Mädchens tauchte auf. „Sicher?“

„Ja.“

Sie zeigte zur Stalltür. „Das waren die beiden Männer, die mich hergebracht haben.“

Alastair nickte. „Komm herunter und erzähl mir alles.“

Er streckte ihr die Hände hin. Sie wog kurz pro und contra ab und entschied sich, Alastair vorerst zu vertrauen. Das Mädchen ließ sich von ihm herunterhelfen. Als sie vor ihm auf der Erde stand, strich sie sich mit beiden Händen die zerrupften braunen Haare aus dem Gesicht, die als dicke Zöpfe fast bis zum Boden fielen. Wobei der Abstand zum Boden nicht besonders beachtlich schien – sie war wohl eins der kleinsten Mädchen, die er je gesehen hatte und wirkte sehr weich und sauber, als wäre sie ohne großen Druck aus einem Stück Marzipan geformt worden. Sie roch sogar danach. Ratlos kratzte sich Alastair am Ohr. Mit so zarten Persönchen hatte er keine Erfahrung.

Sie hob den Kopf und musterte ihn streng aus ihren dunklen Rehaugen. „Es ist unhöflich, jemanden anzustarren.“

„Es ist auch unhöflich, sich in anderer Leute Stall zu verstecken.“

Das Mädchen blinzelte verwirrt. Eine so prompte Retourkutsche hatte sie nicht erwartet. „Touché“, gab sie zu.

Alastair lächelte schief, dann besann er sich auf den Ernst der Lage. „Du sagtest, Diarmid und Cooper, also die beiden Männer von eben, hätten dich hergebracht?“

„Ja. Ich konnte nachts nicht schlafen und war noch auf, als sie plötzlich in meinem Zimmer erschienen und mich gegen meinen Willen mit sich nahmen. Als sie auf dem Weg hierher einen Moment lang unachtsam waren, nutzte ich die Gelegenheit zur Flucht.“

Jetzt merkte Alastair, was ihn von Anfang an irritiert hatte.

Sie trug nur einen blassblauen Morgenmantel mit passendem Nachthemd darunter und kleine Samtschuhe an den Füßen.

Er nickte. „Verstehe. Ich habe zwar keine große Meinung von den beiden, aber so etwas hätte ich ihnen nicht zugetraut. Sie haben dir doch nichts getan?“

„Du meinst, außer mich in der Nacht aus meinem Schlafzimmer zu zerren? Abgesehen davon haben sie sich manierlich benommen. Sie schienen sehr darauf bedacht, mich nicht zu verletzen.“

„Wirklich? Das wundert mich…“ Alastair erntete dafür einen strengen Blick. „Wie dem auch sei, ich weiß nicht, wozu sie das getan haben oder ob sie im Auftrag eines Dritten handelten. Unrecht ist es in jedem Fall. Ich denke, es ist am besten, wenn wir uns an den Hochlord wenden…“

Sie wich zurück. „Wag es nicht! Er gab ihnen doch den Befehl dazu!“

Jetzt war es an Alastair, perplex zu blinzeln. „Was?“

„Ich habe gehört, wie sie darüber sprachen. Der Name des Hochlords ist doch Wolcod, oder irre ich mich?“

„Ja. Ich meine nein. Ich meine, ja, er heißt Wolcod.“ Er kratzte sich verunsichert am Ohr. „Aber… er würde doch niemals ein Mädchen rauben lassen…“

„Offenbar schätzt du ihn falsch ein.“

„Das kann ich mir nicht… Hör zu, äh… ich weiß gar nicht, wie du heißt.“

„Claire.“

„Ah. Ich bin Alastair. Hör zu, Claire… Moment, Claire?“

Er stockte entsetzt. Vor seinem inneren Auge fügte sich jetzt ein Bild zusammen. Ihre feine Kleidung, die gewählte Redeweise, der leichte Akzent… „Du bist Prinzessin Claire von Schöne!“ Schöne war die Hauptstadt von Gaulosa, Zweiinsels Nachbarland auf dem Euboischen Kontinent.

„Dein Vater ist auf dem euboischen Gipfeltreffen in Burgh!

Du begleitest ihn! Es stand in der Zeitung!“2

„Ja, diese Claire bin ich.“

Nervös ging der Junge hin und her. „Das ist nicht gut. Das ist was Politisches. Das macht nur Probleme.“

Er konnte sich zwar noch immer nicht vorstellen, warum Lord Wolcod jemanden entführen sollte, aber jetzt, wo er wusste, dass sie eine Prinzessin war, ergaben sich neue Möglichkeiten. Schließlich war Wolcod der Hochlord hier.

Wie konnte Alastair wissen, was er für politische Absichten hegte? Aber er wusste, dass es unter keinen Umständen in Ordnung war, ein Mädchen mitten in der Nacht aus ihrem Schlafzimmer zu entführen, egal, was man mit ihr vorhatte.

Alastair seufzte. Eigentlich konnte er Wolcod ganz gut leiden. Er hatte ihm geglaubt, als er sich über den alten Stallmeister beschwert hatte und ihm auch zugetraut, es besser zu machen. Doch offensichtlich hieß es, nur, weil er nett zu ihm gewesen war, nicht, dass er ein anständiger Mensch sein musste. Alastair spielte mit dem Anhänger, den er an einem Lederband um den Hals trug. Er hätte auf seinen Vater hören sollen, der ihm immer eingebläut hatte, dass man nie genau wissen konnte, woran man bei jemandem war. Alastair fasste einen Entschluss.

Er wandte sich an Claire. „Mach dir keine Sorgen. Ich helfe dir da wieder raus.“

Vorsichtig pirschte sich Alastair an sein Zielobjekt heran.

Die Wäscheleine schien unbewacht, doch jeden Augenblick konnte Dottie aus der Waschküche kommen, um die trockene Wäsche abzuhängen. Und Dottie, die eine große und kräftige Frau war, hatte eine feste Meinung, was mit jungen Männern zu geschehen hatte, die sich an der Wäsche der Mägde zu schaffen machten. Alastair hörte sie im Haus rumoren. Die Tür zum Hof war nur angelehnt. Er atmete tief durch, peilte seine potentielle Beute, ein dunkelblaues Kleid mit eingenähter Bluse, nochmals an und schoss dann hinter dem großen Stein hervor. Dottie drehte verwundert den Kopf als sie einen Luftzug von draußen spürte und etwas aus dem Augenwinkel an der Küchentür vorbeihuschen sah. Sie stützte die Hände in die machtvollen Hüften und trat stirnrunzelnd ins Freie. Aber dort war alles leer, die Wäsche wehte friedlich im Wind. Hatte die Leine vorhin nicht noch voller ausgesehen? Kurz vermutete Dottie, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zuging, dann zuckte sie die Schultern und widmete sich wieder ihren Pflichten.

Alastair spähte hinter dem Baum hervor, der ihm Blickschutz gewährt hatte und drückte das blau-weiße Wäscheknäuel fest an sich. Erleichtert atmete er aus, als Dottie aufgab und wieder im Haus verschwand. Mit einem siegreichen Lächeln auf dem Gesicht verließ der Junge sein Versteck. Er überprüfte nochmals, ob die Luft rein war und setzte sich zügig Richtung Ställe in Bewegung.

Er bereute, Claire nicht auch stabilere Schuhe mitbringen zu können, doch niemand auf dem Gut hatte so kleine Füße wie sie. Er, als jemand, der Menschen an ihren Fußspuren erkennen konnte, hatte dafür ein Auge. Aber darum würden sie sich auch noch später kümmern können. Jetzt galt es erst mal, Claire von hier fortzubringen, bevor sie jemand entdeckte, sonst…

In letzter Sekunde wurde er sich des Schattens gewahr, der scheinbar aus dem Nichts in seinem Weg auftauchte.

Alastair bremste ab und konnte gerade noch verhindern, mit dem Mann zu kollidieren. Sein Herz setzte kurz aus als er die große Gestalt von Lord Wolcod erkannte. Hastig verbarg er das Kleid hinter dem Rücken. Nicht zum ersten Mal fragte sich Alastair, wie sich ein Brocken wie Wolcod so leise bewegen konnte, dass man ihn nicht bemerkte. Er überragte Alastair zwar nur ein wenig, war um die Schultern dafür aber doppelt so breit.

Wolcod drehte eher beiläufig interessiert den Kopf und musterte Alastair aus seinen dunklen Augen, die immer merkwürdig müde schienen. Als er seinen jungen Stallmeister erkannte, wurde seine strenge Miene etwas weicher.

„Hast du es so eilig heute, ja?“ brummte er.

Alastair räusperte sich nervös. „Eigentlich nicht, Sir. Das ist nur die Gewohnheit.“

„Verstehe.“ Wolcod lächelte dünn.

Alastair gehörte zu dem erlesenen Personenkreis, dem gegenüber der Hochlord nicht so verschlossen war wie gegenüber dem Rest der Welt. Er wusste nicht genau, woran das lag – möglich, dass dafür die gleichen Faktoren verantwortlich waren, die Donner aus seiner Hand fressen ließen.

„Läuft denn alles gut mit den Pferden?“ riss ihn Wolcod aus seinen Gedanken.

„Ja. Allen geht es bestens.“

Bei sich hoffte Alastair diesbezüglich allerdings, dass Donner inzwischen nicht die Prinzessin zertreten hatte.

Wolcod nickte. „Das dachte ich mir. Neulich fragte mich Lord…na, wie heißt er noch? Dieser kleine Schmierlappen, der mir in den Ohren liegt, ich soll die Fuchsjagd wieder legalisieren…“

„Lord Bixby.“

„Ja, genau. Der hat mich gefragt, ob ich Donner inzwischen endlich in die Rossschlächterei gebracht hätte. Wirklich ein Schmierlappen.“ Er strich sich über den kurzen schwarzen Kinnbart. „Bixby heißt er, das muss ich mir endlich merken.

So viele Namen in den ganzen Jahren…“ Er stutzte und bemerkte Alastairs verständnislosen Blick. Für ihn sah Wolcod kaum älter aus als vierzig – aber er hatte ja keine Ahnung. Der Hochlord räusperte sich. „Ich meine, ich bin nicht mehr so jung wie du, nicht wahr?“

„Vermutlich nicht. Ich bin ja erst neunzehn.“

„Ich weiß noch, als ich so alt war…“ Wolcod brach ab.

Alastair runzelte die Stirn. Wenn die Leute normalerweise von alten Zeiten sprachen, klangen sie schwärmerisch bis wehmütig. Wolcod machte allerdings ein Gesicht, als erinnerte er sich an den Albtraum der letzten Nacht.

Der Lord räusperte sich erneut. „Sei’s drum. Ich will dich nicht länger von der Arbeit abhalten.“

Er wollte gehen. Irgendein ihm nicht ganz schlüssiger Impuls bewog Alastair, ihn aufzuhalten. Er musste noch was loswerden.

„Sir!“

Wolcod drehte sich um. „Was denn?“

„Ich – äh… ich wollte mich nur bedanken. Außer dir hatte mir niemand geglaubt, als ich mich über den Stallmeister beschwert habe. Das war sehr anständig von dir.“

In seinem Blick lag die stumme Frage, ob er sich diesbezüglich in Wolcod geirrt haben mochte.

Zu seiner Überraschung lachte Wolcod leise, aber glücklich klang es nicht. „Ja, das war anständig von mir. Denk nicht mehr daran.“

Er sagte es so bitter, dass Alastair sich die Frage nicht verkneifen konnte.

„Ist… alles in Ordnung, Sir?“

„War es das je?“

„Sicher nicht“, entgegnete Alastair ernst.

Wolcod fuhr sich durch die schwarzen Haare. Der Junge war viel zu aufmerksam und zu intelligent, auch wenn er das die meiste Zeit vor den Leuten verbarg, als hier sein Talent im Stall zu verschwenden. Vielleicht ahnte Alastair das selbst und traute sich jetzt nicht zu gehen, weil er meinte, dem Hochlord etwas zu schulden.

„Hör mal“, sagte Wolcod deshalb. „Du musst dir keine Sorgen um mich machen oder dich dafür interessieren, was ich tue. Du schuldest mir nichts. Du kannst tun und lassen, was du möchtest und wo du es möchtest.“ Er erinnerte sich an Alastairs familiäre Wurzeln. „Wenn du es genau hören willst; ich entlasse dich aus deiner Schuld. Du bist frei zu tun, was du meinst tun zu müssen.“

Er ließ den jungen Mann noch verwirrt nicken, dann drehte sich Wolcod herum und entfernte sich Richtung Hauptgebäude. Der Hochlord ahnte nicht, dass er mit seinen Worten Alastairs letzte Hemmung, ihn zu hintergehen, zerstreut hatte – und was das alles auslösen würde.

Alastair wippte verlegen auf den Füßen, während er es hinter sich leise rascheln hörte, als Prinzessin Claire das Kleid anzog. Donner hatte seinen Kopf aus der Box gesteckt. Der Anblick eines völlig untätig mitten im Stall stehenden Alastairs schien seinen Horizont zu überfordern.

„Du kannst dich jetzt umdrehen“, erlaubte Claire nach einer kleinen Ewigkeit.

Ein wenig unentschlossen wandte er sich um. Er hatte schon gesehen, wie Tess, eine der Mägde, dieses Kleid getragen hatte. Doch an ihr hatte es eine hohe Empire-Taille gehabt und über den Knien aufgehört. Claires Kürze ließ das Oberteil an ihrer tatsächlichen Taille enden, während der Rock fast bis zu den Knöcheln reichte.

Alastair kratzte sich am Ohr. „Ich denke, nicht mal die Besitzerin wird ihr Kleid wiedererkennen, wenn du es trägst.“

Claire kniff kurz die Augen zusammen, als sie abwog, ob das eine Kränkung war. Sie hob die Schultern. „Dann sollten wir daran arbeiten, dass auch mich niemand wiedererkennt, nicht wahr?“ Sie sah an sich herunter. „Was ist auffällig an mir?“

Alastair biss sich auf die Lippen und verkniff sich einen Kommentar.

Claire kam ihm ohnehin zuvor. „Na gut, meine unterdurchschnittliche Körperlänge werden wir nicht ändern können, fürchte ich.“

„Die Haare“, meinte Alastair und deutete auf ihre fast bodenlangen Zöpfe.

„Oh ja, natürlich. Ab damit. Hast du eine Schere?“

Er nahm die große Schere vom Haken, mit der er normalerweise Pferdemähnen stutzte. Doch angesichts der ehrfurchtgebietenden Länge der dicken braunen Zöpfe zögerte er.

„Du willst das wirklich abschneiden? Ganz sicher?“

„Seit Jahren will ich mich von dem Gestrüpp trennen. Sie haben es mir nur immer alle ausgeredet. Jetzt habe ich wohl endlich einen guten Grund. So kurz, wie es geht, bitte.“

Er seufzte tief, dann machte es ein paarmal schnapp und die verhasste Haarpracht fiel zu Boden.

Begeistert fuhr sich Claire durch ihre neuen, kurzen Haare.

„Du hast eine wahre Last von mir genommen!“

Alastair musterte sie nachdenklich. „Du siehst wirklich irgendwie anders aus. Steht dir gut.“

„Danke. Wir können die Zöpfe beim Perückenmacher verkaufen, um Reisekapital zu bekommen.“

Alastair zog die Augenbrauen hoch. Claire war vielleicht klein und weich von außen, innerlich schien sie jedoch knallhart zu sein.

Sie hob ihr Nachthemd auf. „Ich fürchte, wenn wir das hier verkaufen, erregt es zu viel Aufsehen. Mein Monogramm ist eingestickt.“

„Wir verstecken es.“

Als er ihr das Nachthemd abnahm, merkte Alastair erst, wie weich und fein der Stoff war. Er schien ihm zwischen den Fingern zu zerrinnen und duftete zart nach irgendeiner Hautcreme. Fasziniert ließ er den Stoff durch seine Hände fließen.

Claire hatte ihn beobachtet und lächelte amüsiert. „Das ist echt elbische Seide, weißt du.“

Ertappt stutzte Alastair. Plötzlich hatte er es eilig, das graziöse Kleidungsstück wieder loszuwerden, knüllte den Stoff, der sich nicht recht knüllen lassen wollte, zu einem Ballen und stopfte ihn schnell zwischen das Heu auf dem Heuboden.

Claire lächelte noch, zog ihn aber nicht weiter auf. „Woher wusstest du eigentlich, dass ich da oben war?“

„Ich habe dich gehört.“

„War ich so laut?“

„Naja, ich hab dich auch gerochen“, fügte er wie zum Trost an.

Das schien sie aber gar nicht zu trösten. „Wie bitte?!“

Er hob beschwichtigend die Hände. „Oh, nein, so meinte ich das nicht. Ich… na, schau?“

Alastair strich sich die dichten schwarzen Haare hinter die Ohren. Claire reckte vergebens den Hals, dann winkte sie ihm resolut, sich gefälligst auf ihre Sichthöhe zu begeben.

Alastair ließ sich der Konsequenz halber gleich auf ein Knie sinken und die Prinzessin betrachtete kritisch seine Ohren.

Sie hatten kleine Spitzen.

„Oh – du bist ein Hybride.“

Er musste grinsen. Das war aber mal was ganz anderes als ‚gepanscht‘. „Ja. Meine Mutter ist ein Mensch, mein Vater ist ein Dunkelelb.“

Claire musterte ihn neugierig, wie ein Modezar ein besonders pfiffiges Kleid. „Verstehe. Erhöhte Sinne, Nachtsicht…“ Fast vorwurfsvoll blickte sie auf seine bloßen Unterarme. „Keine Körperbehaarung. Und das erklärt auch deine ungewöhnlich grünen Augen.“

„Naja – was hattest du denn gedacht?“

Sie zuckte leichthin die Schultern. „Ich dachte, du wärst nur ein schöner Mensch.“

„Oh.“ Das war ihm ein bisschen peinlich. „Ich hoffe, du bist jetzt nicht enttäuscht.“

Sie überhörte die potentielle Spitze. „Ich möchte dir nicht zu nahe treten – aber bist du nicht zu… hell? Ich dachte, Dunkelelben hätten graue Haut. Du siehst nur aus wie jemand, der nicht viel an die frische Luft kommt.“

„Laune der Natur.“ Alastair hob eine Schulter.

Als er das tat, rutschte der verdrehte grüne Anhänger seiner Kette zurück nach vorn. Ohne Hemmung griff Claire danach. Im Licht schillerte der Anhänger in scheinbar unendlichen Grüntönen.

Sie nickte fachmännisch. „Grünalcyon. Blockt Telepathie.“

Sie lachte über sein erstauntes Gesicht. „Ich habe eine lange, mühsame Elite-Schulbildung hinter mir.“ Sie drehte den Anhänger um. „Was bedeutet die Schrift auf der Rückseite?“

„Ich weiß es nicht. Ich habe meinen Vater gefragt, aber der meinte, ihm sei die Schrift nie aufgefallen, dabei war die Kette sehr lange in seinem Besitz. Sie gehörte ursprünglich seiner Großmutter. Seiner Meinung nach ist da nie eine Inschrift gewesen. Alles, was er mir sagen konnte, war, dass es sich um Altes Dunkelelbisch handelt. Aber lesen kann er es nicht. Und auch sonst niemand, der greifbar gewesen wäre.“

Sie ließ die Kette los und Alastair stand auf.

„Was meinst du mit ‚greifbar‘?“

„Der Cousin meines Vaters könnte es lesen, aber er ist seit einer Weile unterwegs und nicht einfach aufzutreiben.“

„Ist er ein Gelehrter, ja?“

Unbehaglich kratzte er sich am Ohr. „Äh, ja, so was ähnliches.“

Claire öffnete gerade den Mund, um weiter zu fragen, als Alastair abrupt den Kopf hob. Diesmal hatte er sie rechtzeitig gehört.

„Diarmid und Cooper sind zurück. Versteck dich!“

Sie sah sich hastig um. „Wo?“

Auf den Heuboden würde sie es nicht mehr schaffen.

„In Donners Box.“

„Zu dem Höllenpferd?“ fragte Claire blass.

„Wenn du ihm nicht sagst, dass er eines ist, wird er es vielleicht vergessen.“

Kurzangebunden schob Alastair sie in die Box und schloss die Tür. Zögerlich blickte Claire an dem nun vor ihr aufragenden dunkelbraunen Hengst empor. Das Tier starrte sie unleugbar geringschätzig an.

Sie lächelte scheu und flüsterte: „Na du? Du bist ein ganz Lieber, oder?“

Der Hengst schien darüber nachzudenken, dann stupste er ihr sacht die Nase gegen die Schulter.

Claire atmete erleichtert auf und streichelte ihn. „Schön, dass du mir zustimmst.“

Alastair hatte sich inzwischen schnell die Heugabel geschnappt und gab vor, auszumisten. Cooper und Diarmid hielten draußen und stiegen ab, brachten ihre Pferde jedoch nicht hinein. Alastair war beunruhigt, tat aber, als interessierten ihn die beiden überhaupt nicht. Er musste das aufgeben, als ihm Cooper schwer auf die Schulter klopfte.

Möglichst gleichgültig drehte sich der Stallmeister herum.

„Ach, ihr. Schon zurück? Habt ihr denn gefunden, was ihr suchtet?“

„Sehen wir vielleicht so aus?“ schnauzte Cooper. „Wir haben alles abgesucht – alles, außer den Stall.“

„Hier findet ihr auch nichts“, behauptete Alastair und überlegte, ob er mit der Heugabel wohl eine reelle Chance gegen die Wachen haben mochte.

Als hätte Cooper seine Gedanken gelesen, nahm er sie ihm aus der Hand und reichte sie an Diarmid weiter, der etwas verdutzt darauf schaute.

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

Alastair hob die Schultern. „Bitte, dann sucht.“

„Das werden wir.“

Die beiden gingen umher und durchsuchten Kisten und Boxen.

„Was ist mit Donners Box?“ wollte Diarmid wissen.

Cooper verzog das Gesicht. „Näh, lass. Da soll der Chef halt selber nachschauen, wenn er sie so dringend finden will.“

Alastair biss die Zähne aufeinander. Also war es wirklich Wolcod, der Claire hatte entführen lassen und der sie jetzt suchte. Aber warum? Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sie heiraten wollte oder etwas in der Art, an sowas schien Wolcod keinerlei Interesse zu haben.3 Aber was wollte er dann von ihr? Ging es hier am Ende wirklich um politische Interessen? Wollte er Claires Vater erpressen? Aber warum dann die Prinzessin von Schöne? Warum nicht eine der Königstöchter in Caldon oder Kelld?

Während Alastair so überlegte, entging ihm völlig, dass die Wachen jetzt beim Heuboden suchten. Mehr aus Langeweile hob Diarmid die Heugabel, die er immer noch trug und stach damit ins Heu über sich.

„Was zur Hölle ist denn das?!“

Coopers lautstarker Fluch riss Alastair aus seinen Gedanken.

Entsetzt sah er, wie sich der Mann Claires Nachthemd vom Kopf zerrte, das nach Diarmids Wühlerei vom Heuboden auf ihn herab gesegelt war. Cooper starrte auf den hellblauen Stoff in seinen Fingern. So nebenbei dachte sich Alastair, dass es irgendwie brutal aussah, wie Coopers grobe Handschuhhände den duftigen Stoff da hielten.

Diarmid war schockiert. „Junge! Du hast Mädchen auf dem Heuboden? Von dir hätte ich das nun wirklich nicht erwartet!“

„Sei nicht blöd!“ fuhr sein Kollege ihn an. „Das gehört nicht irgendeinem Mädchen, sondern ihr!“

„Oh. Na, ich wusste doch, dass er nicht so einer ist.“

Cooper wedelte mit dem Nachthemd und kam wütend auf Alastair zu, der mühsam dem Reflex standhielt, zurückzuweichen. „Wo ist sie, ha?! Redest du jetzt bald oder muss ich…“

In diesem Moment flog die Tür von Donners Box auf und der Hengst kam rasend hervorgeschossen. Schnaubend blieb er in der Mitte des Stalles stehen, dann hatte er sein Opfer ausgemacht.

„Argh!“ kreischte Cooper. „Der Höllenhengst!“

„Lauf, Coop!“ rief Diarmid.

Der ließ sich das nicht zweimal sagen, sondern wetzte aus der offenen Stalltür. Donner schien ihm einen spöttischen kleinen Vorsprung zu geben, dann setzte er ihm hinterher.

„Lauf, Coop!“ wiederholte Diarmid, war aber nicht so dumm, seinem Kollegen nach draußen zu folgen. Erstaunt bemerkte er, wie ein Mädchen den Kopf aus Donners Box steckte. „Was denn, du?“

„Denkst du, man hat mir nicht beigebracht, wie man mit Rössern umzugehen hat?“ entrüstete sich Claire.

Diarmid kam nicht mehr dazu, das zu überdenken, weil in diesem Moment Alastair einen leeren Eimer ergriff und ihm über den Schädel zog. Diarmid schwankte kurz, dann fiel er rückwärts ins Heu und hörte dort die Englein singen.4 Alastair sah zu Claire. „Alles in Ordnung?“

„Ja. Ich habe Donner davon überzeugt, dass er doch ein Höllenhengst ist.“

Alastair grinste, schnappte sich seinen Rucksack, der auf einem Schemel an der Tür lag und stopfte einige Sachen hinein, auch Claires Zöpfe, die er hinter einem Futtersack versteckt hatte.

„Komm, wir verschwinden. Donner jagt Cooper nie länger als zehn Minuten, bevor Wolcod es merkt und ihn zur Ruhe bringt.“

„Aber - wohin denn?“

„Wenn ich dich über die Grenze der Lordschaft bringe und du dort um politisches Asyl bittest, kann Wolcod erst mal wenig dagegen machen.“

Alastair entschied sich gegen ein Pferd. Sie würden es weit schwerer haben, ihn zu finden, wenn er sich wie ein echter Dunkelelb durchs Gebüsch schlug. Er seufzte. Sie hatten so gut wie keine Reiseausrüstung.

Er wandte sich wieder an Claire. „Aber vorher besuchen wir noch jemanden, der uns helfen wird.“

Alastair hielt ihr die Hand hin, doch die Prinzessin zögerte.

„Es ist nicht weit“, ermutigte er sie.

Sie rieb sich nervös den Arm. „Das ist es nicht…“

Hastig warf Alastair einen Blick über die Schulter. Draußen, in einiger Entfernung, jagte Donner Cooper sadistisch langsam im Kreis über die große Wiese.

„Wir müssen uns beeilen“, drängte er.

„Ja… aber… woher weiß ich… ich meine, warum hilfst du mir denn eigentlich?“

Alastair blinzelte verwirrt. Dann meinte er betont ruhig: „Dir zu helfen ist das Richtige. Und da ich gerade da war, als du jemanden brauchtest, ist es einfach meine Pflicht, das Richtige zu tun.“

Claire nahm seine Hand.

Fast eine halbe Stunde. Cooper hatte Pech. Wolcod war so vertieft in irgendwelche alten Bücher, dass er erst nach 25 Minuten kam, um seinen Wachmann vor dem Hengst zu retten. Und Donner hatte Cooper erwischt, an einer delikaten Stelle zudem. Mürrisch rieb sich die Wache das Hinterteil, als er den Stall betrat und beobachtete finster, wie Wolcod sein Pferd, jetzt völlig ruhig, zurück in die Box führte und die Tür schloss.

Cooper bemerkte Diarmid auf dem Boden. Unsanft trat er ihn in die Seite. „Wach auf, du Penner!“

Diarmid kam zu sich und rieb sich den Kopf. „Schon Frühstück?“

Cooper verzog das Gesicht und ignorierte seinen beduselten Kollegen. Er bückte sich schmerzhaft und hob das Nachthemd auf, das er fallen gelassen hatte, als Donner auf ihn losgegangen war. Er reichte es Wolcod.

„Hier, Sir.“

Wolcod nahm das Knäuel entgegen und strich den zarten Stoff glatt. Ein fein gesticktes ‚C‘ sah ihn an. Es zuckte kurz in seiner Wange.

„Wo ist sie?“

„Wenn du die Kleine meinst, die ist mit dem Stallfutzi weg“, gab Diarmid zu Protokoll.

Cooper nahm mit einer gewissen Häme zur Kenntnis, dass diese Neuigkeit bei seinem Chef Bestürzung auslöste.

Ausgerechnet sein kleiner Lieblingsstalljunge war ihm jetzt in den Rücken gefallen. Ohne ein Wort drehte Wolcod sich um und verließ den Stall.

Cooper schloss zu ihm auf. „Wir werden unverzüglich mit der Suche beginnen, Sir.“

Der Hochlord blieb stehen. „Ihr? Ihr habt nicht mal ein flüchtiges Menschenmädchen im Nachthemd wiedergefunden. Was veranlasst dich zu denken, dass du dann imstande wärst, ihn zu finden?“

Cooper öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu.

Wolcod winkte ihn fort. „Kümmere du dich lieber um deinen lädierten Kollegen. Die beiden wird jemand aufspüren, der was von seinem Handwerk versteht.“

Cooper schaute seinem Chef düster hinterher. Er konnte sich schon denken, wer das sein sollte.

Alastair stoppte und hieß Claire wortlos, es ihm nachzutun.

Vor ihnen auf einer kleinen baumlosen Anhöhe erhob sich ein altes, doch gut in Stand gehaltenes Gebäude, das mit seinen kahlen, dicken Mauern ein wenig wie eine Festung anmutete. Alastair hatte sich von der Seite genähert, die ganze Zeit über ins Dickicht geduckt, damit ihn niemand sehen konnte. Claire verstand jetzt, warum.

„Du suchst Hilfe in einem Seaghie-Kloster?“ fragte sie befremdet.

„Ja. Ich bin mit einer der Priesterinnen befreundet.“

„Ach?“ Claire merkte selbst, dass ihre Stimme zu spitz klang.

Alastair warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. „Nicht das, was du denkst. Als ich noch neu als Stalljunge war, war eines der Klosterpferde krank. Die Priesterinnen kamen nicht mehr weiter, da ihre Stallmeisterin einige Wochen zuvor gestorben war und sie noch keine neue hatten. Da das Gut des Hochlords dem Kloster am nächsten liegt, haben sie eine der Schwestern geschickt, dessen Stallmeister zu holen. Aber der war gerade auf Zechtour, also musste ich einspringen.

Mit der Priesterin, die mich benachrichtigt hatte, habe ich mich dann angefreundet.“

„Ich dachte, Seaghies sehen es als unter ihrer Würde, sich mit Männern abzugeben.“

„Naja, es gibt Seaghies aus Überzeugung und welche aus Not, und sie ist letzteres. Sie ist nicht der Meinung, dass alle Männer Abschaum sind, auch wenn sie Grund genug hätte.“

Das hätte Claire jetzt weiter interessiert, doch Alastair berührte sie kurz an der Schulter und deutete zum Klostergebäude hinter sich.

„Pass auf, ich flitz schnell rüber und schau, ob sie da ist.

Wenn alles in Ordnung ist, gebe ich dir ein Zeichen und du kommst nach.“

„Was, wenn du erwischt wirst? Stimmt es, dass die Priesterinnen so kampfeslustig sind?“

„Wird schon schiefgehen.“ Alastair mochte lieber nicht über den Zorn der Seaghie-Priesterinnen nachdenken, wenn sie einen jungen Mann in ihrem Hause vorfanden.

Claire beobachtete, wie er geduckt über den Rasen lief. Er verschwand um die Ecke des Gebäudes und damit aus ihrer Sichtweite. Eine kleine Ewigkeit verstrich. Endlich tauchte Alastair wieder auf und winkte ihr. Claire fand es unsinnig, sich extra zu ducken, und huschte über die Wiese zu ihm hin. Alastair nahm sie an der Schulter und schob sie durch den offenen Hintereingang. Er folgte ihr und zog hinter ihnen die Tür zu.

Claire blickte sich im kahlen kleinen Zimmer um, das mehr eine Art Diele zu sein schien. Links sah sie einen offenen Torbogen, hinter dem sich anscheinend ein größerer Raum befand. Aus ihrem Blickwinkel erkannte sie die Ecke eines exorbitanten Ofens und beschloss, dass es sich bei dem Raum um die Klosterküche handelte. Sie hörte etwas klappern, dann kam eine Frau mit einem Bündel in der Hand durch den Bogen.

Sie blieb vor den beiden stehen und drückte Alastair das Bündel in die Hände. „Hier. Mehr habe ich so schnell nicht…“

„Du hilfst uns sehr“, bremste Alastair sie und wandte sich an die Prinzessin neben sich. „Claire, das ist Cassidy.“

Das Mädchen starrte die Frau an, die sie knapp um einen Kopf überragte.5 Cassidy wirkte weniger wie eine Klosterfrau als wie jemand, der in einer riesigen Muschel dem Schaum des Meeres entstieg. Sie musterte Claire freundlich aus ihren klugen olivgrünen Augen und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Angesichts dieser hüftlangen, dunkelroten Lockenpracht von Haar wünschte sich Claire plötzlich ihre Zöpfe zurück. Unwillkürlich befingerte sie die kurzen Haarspitzen in ihrem Nacken.

Cassidy wandte sich direkt an sie. „Das war bisher bestimmt kein sehr erfreulicher Tag für dich, hm? Aber du musst dir keine Sorgen machen, bei Alastair bist du in wirklich guten Händen.“

Ihre Stimme hätte eine grölende Kneipengemeinschaft andächtig verstummen lassen. Claire grinste leicht gequält und fragte sich, wie die Frau es schaffte, ihre Haut wie Marmor aussehen zu lassen.

Cassidy schien unsicher. „Alastair erzählte, du hättest gehört, dass Wolcod etwas damit zu tun hat?“

Claire blinzelte. „Ja. Ja, so habe ich die Wachen reden hören.“

Die Priesterin schüttelte gedankenvoll den Kopf. „Ich kann das gar nicht glauben…“

„Willst du sagen; ich lüge?“ fragte Claire spitz.

Cassidy sah sie fast erschrocken an. „Aber nein.“

Die Prinzessin kam sich mit einem Mal blöd vor.

„Entschuldige, ich bin ein bisschen… strapaziert.“

„Natürlich, wer wäre das nicht in so einer Situation. Ich wäre völlig fertig, wenn mir sowas passierte. Und du bist sogar ganz alleine den Wachen entkommen.“

Claire wünschte sich fast krampfhaft, dass Cassidy gönnerhaft klang, aber vergebens. „Naja… die beiden zählten nicht unbedingt zu der intellektuellen Elite.“

Alastair hatte den beiden Frauen still zugehört, er wusste, Cassidy war für die meisten Menschen ein leichter Schock.

Schließlich räusperte er sich leise. „Sag mal, Cassy, kannst du Claire vielleicht mit Schuhen aushelfen?“

Die Priesterin schaute auf Claires Füße und machte eine bedauernde Geste. „Oh, tut mir leid. Keine der Schwestern hat so zierliche Füße. Ich habe noch die Kleinsten, und schau dir meine Latschen an!“

Claire lächelte müde. Sie wusste nicht, ob sie es gut fand, dass Cassidy so nett war, dass man ihr nicht mal wegen ihrer verflixten Schönheit zürnen konnte.

Cassidy warf einen schnellen Blick über die Schulter. „Ihr solltet jetzt lieber gehen. Wenn euch eine der Schwestern erwischt…“

Alastair nickte und schnappte sich den Sack mit der neu gewonnenen Reiseverpflegung. „Wir sind weg. Hoffentlich bekommst du unseretwegen keine Probleme.“

Cassidy hob beliebig die Schultern. „Und wenn.“

Alastair berührte sie kurz am Arm, schnappte sich Claires Hand und zog sie mit sich zur Tür hinaus, ohne dass sie noch zu einem weiteren Wort kommen konnte.

Cassidy schaute den beiden nach, wie sie in der Ferne zwischen den Bäumen verschwanden. Das mit Wolcod… es besorgte sie. Sie hatte nicht den Eindruck, dass sich Claire da etwas aus den Fingern gesogen hatte. Wenn Wolcod also zu so drastischen Maßnahmen griff, musste etwas nicht in Ordnung sein. Ganz und gar nicht in Ordnung. Sie seufzte und schloss die Hintertür. Sie würde ihn darauf ansprechen müssen. Oder vielmehr, ein ernstes Wort mit ihm reden.

Egal, was er in der Vergangenheit für sie getan hatte, es gab Dinge, die sie niemandem jemals würde durchgehen lassen.

Cassidy verließ die Diele und ging über die Küche in die große Halle, wo sie wie angewurzelt stehenblieb. Die versammelte Schwesternschaft wartete dort. Die Mutter Oberin hatte die Arme vor der Brust verschränkt und trommelte gereizt mit den Fingern.

„Missy, du steckst in gewaltigen Schwierigkeiten.“

Cassidy ließ sich das kurz durch den Kopf gehen, dann hob sie kühl eine Augenbraue. „Das passt mir ganz gut.“

„Du verstehst, warum es mir ernst ist?“ Wolcod drehte sich zu seinem Gegenüber herum.

„Ja, Sir, ich verstehe das.“ Corcoran nickte knapp.

Wolcod räusperte sich leise. „Bekommst du eigentlich Ärger mit der Söldnergewerkschaft, wenn du für mich arbeitest?“

„Nein. Die Gewerkschaft lehnt nur den Welteroberungstypus als Arbeitgeber ab. Nicht Personen, die in der Vergangenheit zwischen solche Leute geraten waren.“ Corcoran verzog gleichmütig das Gesicht.

Über dessen ziegelrote Haut zog sich an Hals und kahlem Schädel eine lange helle Narbe. Anders als ihre Verwandten, die Elben, waren Orks dagegen nicht gefeit. Die Narbe hatte er in jener Nacht in Burgh davongetragen, als der Hochkönig gestürzt worden war. Auch Corcoran war damals vor der Zeitenwende in Caldon gewesen und hatte auf Seiten des Widerstandes gekämpft – unentgeltlich. Von einst wusste Corcoran, wer Wolcod war und was er getan hatte. Nach Wolcods Informationen war der Ork die einzige Person in der ganzen Lordschaft, die über dieses Wissen verfügte. Und er würde es wohl auch eine Weile bleiben, denn Orks waren verschwiegen. Ein Umstand, der Verhöre meistens damit enden ließ, dass die befragende Partei weinend zusammenbrach und sich vom verdächtigen Ork die Schulter klopfen ließ.

Wolcod strich über die Tischplatte des Schreibtisches zwischen ihnen. „Ich begreife noch immer nicht ganz, warum du für mich arbeitest.“

Corcoran zuckte mit den breiten Schultern. „Du bezahlst pünktlich.“

„Du weißt, ich war…“

Der Ork bewegte die Gesichtsmuskeln, die ihn eine Augenbraue hätten heben lassen, wenn er welche gehabt hätte: „Wichtiger ist wohl, was gewesen wäre, wenn du nicht dort gewesen wärst, wo du warst. Für mich steht fest, dass ich dann nicht hier wäre, weil ich der kompletten Hexenjäger-Elite in die Arme gelaufen wäre.“

Wolcod musterte den Söldner nachdenklich. Er war größer und breiter als Wolcod selbst, und das hieß schon etwas.

Eine der langen Spitzen seiner Ohren wirkte, als wäre sie von etwas oder jemandem abgebissen worden. Corcoran trug eine dunkle, nietenbeschlagene Ledermontur6 mit zwei Beilen am breiten Gürtel. Auch, wenn der Blick aus seinen roten Augen eher kühl als mordlüstern schien, war Corcoran niemand, dem man unvorbereitet begegnen mochte.

Trotzdem, wusste Wolcod, wäre von dem Ork nichts übriggeblieben, wenn er damals gegen den einen oder anderen Hexenjäger angetreten wäre.7 Der Hochlord nickte und hielt es für das Beste, das Thema nicht weiter anzusprechen. Er holte etwas aus seinem Schreibtisch hervor und reichte es dem Ork über die Tischplatte hinweg. Es war Claires Nachthemd. Corcoran hob den hellblauen Stoff an die Nase und schnupperte konzentriert. Er runzelte die Stirn. Menschen und ihr Parfum! Er musste sich durch mehrere sich überlagernde Duftnoten von Körperpflegeprodukten arbeiten, bis er endlich auf den Eigengeruch der Prinzessin stieß. Roch irgendwie nach Marzipan. Er gab Wolcod das Kleidungsstück zurück und prägte sich den Geruch gut ein.

Wolcod verstaute das Nachthemd wieder im Schreibtisch.

„Und denk daran, sie muss absolut unbeschadet bleiben. Ihr Schutz steht für dich an vorderster Stelle.“

„Was ist mit dem Jungen?“ wollte Corcoran wissen.

Es war sinnlos, nach Alastairs Duftnote zu forschen, denn Elben hatten scheinbar keine, Halbblüter ebenso wenig.

Einer der Gründe, warum Orks und Elben nicht immer so gut miteinander auskamen.

Wolcod seufzte leise. „Lass ihn nach Möglichkeit unverletzt. Er ist kein Krieger. Wenn er dir aber unumgänglich im Weg steht…“

„Verstehe, Sir.“

„Brauchst du ein Pferd?“

Corcoran wirkte fast beleidigt. „Mein Volk muss sich nicht anderer Kreaturen bedienen, um voranzukommen.“

Es klopfte. Unmittelbar im Anschluss wurde die Zimmertür geöffnet und eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren kam herein. Sie trug die Uniform der Wache und blieb an der Tür stehen.

„Sir. Corc.“

Der Söldner hob kurz die Finger zum Gruß an die Stirn, verzog ansonsten aber keinen Muskel.

„Was gibt es, Blair?“ fragte Wolcod. „Was machst du hier?

Solltest du nicht…“

„Genau darum geht es ja, Sir“, unterbrach sie ihn. „Das, worauf ich ein Auge haben sollte… nun ja, da hat sich was getan.“ Sie warf einen kurzen Seitenblick zu Corcoran, dann fuhr sie zögernd fort. „Sie, naja, sie wollen sie endgültig… rausschmeißen.“

Wolcods Miene verfinsterte sich schlagartig.

Cassidy seufzte verhalten. Seit einer halben Stunde musste sie sich nun schon anhören, warum sie eine Schande für das Kloster, ihre Mitschwestern und das weibliche Geschlecht an sich zu sein hatte. Sie trug inzwischen wieder jene zivile Kleidung, mit der sie vor fünf Jahren in das Kloster gekommen war; eine weiße Bluse, schwarze Hosen und eine Art dunkelbraunen Lederreitrock, der vorne an der Taille endete und hinten bis zu den Knöcheln fiel. Ihre schwarzweiße Priesterinnentracht war verbrannt worden, ob der Schande, mit der ihre Trägerin sie besudelt hatte.

Die Mutter Oberin wollte gerade zum großen Finale ihrer Predigt über Cassidys verkommenen Charakter ansetzen, als eine der Novizinnen an sie herantrat und schüchtern an der Robe zupfte.

„Was wagst du es, mich zu stören, dumme Gans?“ fuhr die Oberin sie an.

Cassidy verzog das Gesicht. Folgte man den stereotypen Klischeedefinitionen der Seaghie, war der Oberin ein männlicher Jähzorn inne, für den sie eigentlich auf Knien um Vergebung hätte bitten müssen.

Die Novizin drehte verhuscht an den Ärmeln ihrer Robe und murmelte kaum hörbar: „Vergib mir, Mistress, aber vor dem Tor steht…“

Sie kam nicht weiter, denn in diesem Moment betrat ein Neuankömmling die große Halle, sichtlich unbeeindruckt von den Novizinnen, die versuchten, ihn daran zu hindern, sich aber nicht recht trauten, ihn anzufassen. Die Schwestern stellten sich vor Cassidy und versperrten ihr die Sicht.

„Männern ist der Zutritt hier untersagt!“ bellte die Oberin kasernenhofreif.

Wolcod warf den Novizinnen um sich einen flüchtigen Blick zu. „Ihr dürft gehen.“

Die Mädchen schienen erst unsicher, dann suchten sie eilig das Weite.

Die Oberin war ganz blass vor Zorn. „Du wagst es, meinen Schwestern Befehle zu erteilen? Du, ein Mann!“

Er verzog keine Miene. „Ich bin kein Mann, ich bin dein Hochlord.“

Die Oberin biss sich wütend auf die Lippen, fasste sich aber.

„Das bist du zu meinem Bedauern tatsächlich.“

Sie konnte Wolcod nicht leiden. Sie nahm es ihm übel, dass sie ihn nicht einschüchtern oder aus der Ruhe bringen konnte, wie sonst jeden, der in die Nähe ihres Klosters kam oder darin lebte. Dass er nicht berückt war von ihrer kühlen Schönheit. Ihr hingegen war nicht entgangen, dass Wolcod ein verteufelt stattliches Mannsbild war.

„Und was will der Hochlord hier?“ fragte sie kalt.

Als Wolcod diesmal sprach, konnte er seinen Zorn nicht mehr völlig unterdrücken. „Ich bin vor fünf Jahren schon einmal hier gewesen um dir eine neue Schwester anzuvertrauen, und du hast mir zugesagt, sie in diesen Mauern vor dem zu schützen, was ihr in der Außenwelt droht. Doch nun höre ich, dass du sie von hier verbannen willst!“

Die Oberin verschränkte die Arme. „Ich sehe, du hast überall deine Spione, Hochlord. Was sie allerdings vergaßen, dir mitzuteilen, ist der Grund, warum ich diese Person hier unter keinen Umständen länger dulden kann!“

Sie genoss den kurzen Moment der Verunsicherung auf Wolcods Gesicht.

„Und der wäre?“ fragte er.

„Äh – Verzeihung“, kam es da von hinter dem Haufen der Priesterinnen. Jemand kämpfte sich zwischen ihnen hindurch, und schließlich kam Cassidy zum Vorschein. „Da es hier um mich geht, meine ich ein Recht zur Mitsprache zu haben. Ich denke auch nicht, dass diese Angelegenheit noch im Interesse der Schwestern ist.“

Das stimmte natürlich nicht, wann bekamen die Priesterinnen schon mal jemanden wie Wolcod zu Gesicht, aber Cassidy dachte nicht daran, ihnen hier ein Spektakel zu liefern.

Die Oberin schnaufte verächtlich. „Du meinst? Du denkst?

Ja, meinen und denken, das tust du die ganze Zeit, statt zu beten und dich zu fügen!“ Sie wandte sich an die Priesterinnen. „Und ihr, geht wieder an die Arbeit!“

Die Frauen verstreuten sich auf die verschiedenen Flure und ließen Wolcod, Cassidy und die Oberin allein in der Halle.

Als sich die Oberin an die Schwestern wandte, warf Wolcod einen schnellen Blick zu Cassidy. Er hatte sie noch vor Augen, wie er sie vor fünf Jahren in einer Kerkerzelle gesehen hatte. Weder Kerker noch Kloster hatten es geschafft, ihr etwas von ihrer Schönheit oder ihrem Geist zu nehmen. Er lächelte kaum merklich. Sie drehte den Kopf und schaute zu ihm herüber. Sofort richtete Wolcod seinen Blick wieder ungerührt geradeaus.

Die Oberin deutete in einer anklagenden Geste auf Cassidy.

„Ich habe gar keine andere Wahl, als sie des Klosters zu verweisen. Sie hat sich hier, in diesen heiligen Mauern, mit einem Mann abgegeben!“

„Tatsächlich?“ Wolcod merkte selbst, wie kalt seine Stimme dabei klang.

Cassidy schnaufte gereizt, verteidigte sich aber nicht.

Die Oberin hob zufrieden den Finger. „Allerdings! Und ich weiß auch, wer es war.“

Jetzt schien Cassidy nervös. „Das ist doch völlig…“, versuchte sie, die Oberin zum Schweigen zu bringen, doch die wollte ihren Triumph über die ihr so lästige Ex-Schwester jetzt auch voll auskosten.

„Es war dieser merkwürdige junge Stallbursche aus dem Schloss! Der Gepanschte, der damals wegen des Pferdes hier war!“

Langsam drehte Wolcod den Kopf und richtete seinen nun harten Blick auf Cassidy. „Du hast Alastair getroffen?“

Cassidy entgegnete nichts und wich seinen Augen aus.

Er wandte sich an die Oberin. „Wann war er das letzte Mal hier?“

„Heute Mittag. Ist keine drei Stunden her. Eine Schwester hat es gesehen und mich alarmiert. Er hatte auch so eine kleine Brünette dabei.“

Wolcod trat zu Cassidy, als wolle er sie an den Schultern packen, fasste sie aber nicht an. „Wo sind sie hingegangen?“

Jetzt hob Cassidy den Kopf und blickte ihn an. Sie hatte damals lange gebraucht, bis sie erkannt hatte, dass Wolcods Augen dunkelblau waren. Sie wirkten fast schwarz, wenn er niedergeschlagen oder wütend war. Wie jetzt.

Sie verzog nicht eine Miene. „Denkst du tatsächlich, er wäre zu mir gekommen, wenn er hätte glauben müssen, dass ich dir das verrate?“

Wolcods Gesicht wurde noch ein bisschen finsterer.

Eigentlich war er hergekommen, um dafür zu sorgen, dass Cassidy im Schutz des Klosters verbleiben konnte oder sie gegebenenfalls an einen anderen sicheren Ort zu bringen.

Doch jetzt…

„Du bist verhaftet“, knurrte er.

Sie hob eine Augenbraue. „Wieder mal?“

Wolcod wandte sich kurz angebunden ab und pfiff nach jemandem, der sich vor dem Kloster befand. Eine Frau von der Wache kam herein.

Der Hochlord zeigte auf Cassidy. „Blair, diese Person steht unter dem Verdacht, mit gesuchten Flüchtigen zu konspirieren. Sie bleibt unter Arrest, bis sie ihre Informationen preisgegeben hat.“

Blair schien erstaunt, fasste sich aber schnell. „Ja Sir.“ Sie nahm Cassidy eher symbolisch als fest an der Schulter.

„Bitte komm jetzt mit.“

Bevor sich Cassidy widerstandslos aus der Halle führen ließ, bedachte sie Wolcod mit einem langen durchdringenden Blick, dem er schließlich auswich.

Der Hochlord drehte sich zur Oberin. „Du wirst niemandem Auskunft darüber geben, wo sich Cassidy nun aufhält.“

„Natürlich, wir wollen doch nicht, dass die Vergangenheit sie einholt.“ Sie lächelte spöttisch. „Weißt du, Wolcod, ich bin erstaunt über deine Härte. Als du damals herkamst, um sie hier zu verstecken, hätte ich schwören können, dass du ihr völlig verfallen warst.“

Wolcod zeigte keine Rührung. „So kann man sich irren.“

Er wandte sich zum Gehen und verließ ohne ein weiteres Wort das Kloster. Die Oberin schaute ihm kurz hinterher, dann rief sie eine der Schwestern zu sich.

„Hol mir eine Botin her. Es gibt da etwas über jemanden, das ich jemand anderen wissen lassen möchte.“

Alastair und Claire kämpften sich durch das Gestrüpp des Waldes, da es zu riskant schien, die Wege zu benutzen.

Obwohl, Alastair kämpfte nicht, er ging einfach hindurch, als gäbe es keine Zweige, die sich in seiner Kleidung verhakten und keine Wurzeln, die ihn zum Stolpern zwingen wollten. Claire, die hingegen keines dieser Hindernisse ausließ, spürte schon bald einen gewissen Groll deswegen.

„Cassidy ist sehr hübsch, nicht wahr?“ fragte sie ohne Einleitung.

Alastair drehte sich zu ihr herum. „Die meisten Menschen würden das wohl so sehen.“

Er wartete, bis sie auf seiner Höhe angekommen war und ging von da an neben statt vor ihr her.

Claire hielt den Blick beharrlich auf den Boden gerichtet.

„Sie sieht viel mehr wie eine Prinzessin aus als ich.“

„Das kann ich nicht beurteilen. Du bist die erste Prinzessin, die ich sehe.“

Sie hob den Kopf. „Äußerlichkeiten interessieren dich nicht, oder?“

„Ja, nicht wirklich. Ich sehe das elbisch. Alles und jeder ist irgendwie schön. Schönheit wird uninteressant, wenn jeder sie hat.“

„Wer alles schön findet, findet gar nichts schön.“

„Nein. Wer alles schön findet, findet alles schön.“

Claire bedachte ihn wieder mit einem ihrer strengen Blicke, ließ es aber dabei. „Trotzdem, Cassidy wirkt wie eine echte hohe Dame.“

„Na ja – sie war auch eine Zeitlang eine, aber ihr Vater war ein einfacher Schneider.“

„Hat sie einen Lord geheiratet?“

Claire kannte den Adel. Angesichts einer Frau wie Cassidy dürfte es den meisten von denen ziemlich gleichgültig erscheinen, aus welcher Schicht sie stammte.

„Ja. Sie war mit Shea, dem Lord von Ramsay verheiratet.“

Claire kniff die Augen zusammen und hob unwissend die Schultern. Die Lords von Zweiinsel waren ihr weitestgehend unbekannt. „Das sollte mir etwas sagen, oder?“

Alastair seufzte. „Ich weiß, Cassy hat nichts dagegen, wenn ich es dir erzähle. Sie war unglücklich in der Ehe. Als sie ihn verlassen wollte, ist Lord Shea so außer sich geraten, dass sie ihn in Notwehr töten musste.“

Claire stutzte kurz, fing sich aber erstaunlich schnell wieder.

„Es kommt leider häufiger vor als man denken möchte, dass jemand den Ehepartner als seinen persönlichen Besitz betrachtet. Ich bin da auf ihrer Seite.“

„Leider sehen das nicht alle so. Die Ramsays sind ein mächtiger Clan. Sheas Familie kann sich nicht damit abfinden, dass Cassy aus Notwehr freigesprochen wurde.

Um sie zu schützen, hat der Hochlord sie im Seaghie-Kloster versteckt.“

Claire hob die Augenbrauen. „Wolcod hat das getan?“

Alastair zuckte die Schultern. „Ja. Er ist sehr konsequent, wenn es um häusliche Gewalt geht, egal, welcher Natur sie ist und wo.“

Claire zupfte sich gedankenverloren am Ohr. „Das ist… anständig von ihm. Zumindest das.“ Sie seufzte. „Ich komme mir dumm vor. Eben war ich noch eifersüchtig auf Cassidy, dabei muss sie durch die Neunte Hölle gegangen sein. Ich schäme mich, das war unreif.“

Alastair nutzte die Gelegenheit, machte einen inhaltlichen Sprung und schnitt das Thema an, das ihn beschäftigte.

„Wie alt bist du, Claire?“

Wieder so ein Blick. „Warum fragst du mich das?“

„Ich möchte nur wissen, ob du schon volljährig und regierungsfähig bist.“

„Ach so.“ Sie zuckte die Schultern. „Nein. Ich bin erst neunzehn, zwei Jahre fehlen noch. Und selbst dann bin ich nicht thronberechtigt.“

Alastair stutzte. „Nicht?“

„Nein. Ich habe zwei Schwestern und einen Bruder, die älter sind als ich. Die sind alle noch vor mir dran. Außerdem hat die Kronprinzessin, meine älteste Schwester, schon zwei Kinder. Die stehen auch noch vor mir in der Thronfolge.“

„Und deine Eltern, die sind nicht vielleicht speziell in dich vernarrt und können ihre anderen Kinder nicht so recht leiden?“

„Natürlich nicht! Sie lieben jedes ihrer Kinder gleichermaßen!“8

„Aber… warum will dich Wolcod dann entführen? Dann hat das doch nichts mit Politik zu tun.“

„Nun, ich weiß es nicht. Warum entführen Lords denn traditionellerweise Prinzessinnen?“

„Hm. Um sie zu… heiraten?“

„Soll dieses ‚heiraten‘ umschreiben, dass sie sie befingern wollen?“

„Äh – ja.“

„Dann sag es doch.“

„Ich denke nicht, dass er sich extra eine Prinzessin entführt, die er gar nicht kennt.“

„Wer versteht schon die Motive dieser Leute? Wenn ich ein böser Lord wäre, der eine Dame befingern will, dann hole ich mir sowieso keine Prinzessin und riskiere einen politischen Eklat, wenn ich mir einfach ein bürgerliches Mädchen nehmen könnte, das eh niemand vermissen würde.“

Alastair streifte sie mit einem etwas schockierten Blick, bevor er sagte: „Nein, er ist einfach nicht der Typ dazu.

Wolcod hat schon viele umschwärmte Edeldamen abblitzen lassen…“

„Vielleicht fühlt er sich zu Männern hingezogen?“

Alastair schüttelte den Kopf. „Er scheint Männer eher zu hassen.“

„Tarnung?“

Er fühlte sich ein wenig hilflos angesichts Claires reger Vorstellungskraft. „Nein. Er vermeidet es, irgendwem zu nahe zu kommen und er kann es nicht ausstehen, wenn er angefasst wird…“

„Oh.“ Claire nickte erleuchtet. „Ich verstehe. Wurde er als Kind missbraucht?“

Alastair blieb stehen. „Hör auf, mir diese Bilder in meinen Kopf zu stopfen! Wolcods Privatleben interessiert mich nicht und ich will gar nicht wissen oder auch nur darüber