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Kenzie und Mazacan bleibt nichts anderes übrig, als ihre persönlichen Probleme auf dem denkbar schlechtesten Terrain auszubügeln; dem Schloss von Lachlan, dem letzten verfluchten Hexenjäger. Selbstverständlich macht dieses Wiedersehen die Dinge für keinen der Beteiligten leichter, von diversen Flüchen ganz abgesehen... Im vierten Teil der Hexenjäger können sich Kenzie und Lachlan endlich wieder ihre Verbalgefechte liefern - und die Leser dabei einiges über die Vergangenheit der Charaktere lernen.
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Seitenzahl: 405
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Anita Wolf lebt mit ihren zwei Katzen in Berlin und schrieb ihr erstes Buch, weil sie nicht die Geduld hatte, die Geschichte als Comic zu zeichnen.
Die Haustür öffnete sich mit einem leisen Quietschen und ließ einen Schwall eiskalter Luft ins Zimmer. Draußen, in der weißen Stille des Schneegestöbers, stand eine große Gestalt in einem langen, gefütterten Ledermantel und schwieg.
Der Diener stutzte kurz, dann nickte er höflich. „Lord Mazacan, nehme ich an? Tritt ein, der Hochlord erwartet dich bereits.“
Eher widerwillig trat Mazacan durch die Tür. Der Diener schloss sie hinter ihm gleich wieder und verharrte erwartungsvoll, bis Mazacan verstand, dass er ihm Mantel und Gepäck abnehmen wollte. Er streifte seine Reisetasche von der Schulter und pellte sich aus dem schweren Kleidungsstück, das vermutlich auch ohne Inhalt gestanden hätte, und reichte beides dem Diener. Dieser nahm es entgegen, nickte knapp und verschwand mit seiner Beute durch einen kleinen Durchgang, als wollte man den Nordmann so an einer Flucht in letzter Minute hindern. Mazacan seufzte, strich sich die schmelzenden Schneeflocken aus dem Haar und rieb sich unbehaglich die Oberarme. Er tat ein paar Schritte weiter in die Eingangshalle hinein und sah sich misstrauisch um. Er hatte Wolcod eine Weile nicht mehr gesehen, das machte ihn nervös.
„Da bist du ja“, meinte eine vertraute tiefe Stimme plötzlich.
Die Worte klangen nicht unfreundlich, eher behutsam, trotzdem zuckte der Angesprochene zusammen und fuhr herum. Der Hochlord stand mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor der Tür, durch die er eben lautlos gekommen sein musste. Er wirkte ernst und irgendwie müde.
„Wolcod“, murmelte Mazacan, halb erleichtert, halb verunsichert und wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. „Mazacan“, grüßte Wolcod zurück und brachte ein kleines Lächeln zustande, das seinen Gast etwas beruhigte.
Mazacan trat zu ihm und rieb sich verlegen den Nacken. „Ich habe deine Nachricht bekommen. Hat wohl etwas gedauert, bis sie mich erreicht hat. Ähem. Ist ja so schon eine ganze Weile her… Ich, äh… tut mir leid, dass ich erst jetzt kommen konnte. Vor allem tut es mir auch leid, dass ich nicht auf deiner Hochzeit gewesen bin, aber du weißt ja, ich war auf See und so… naja. Herzlichen Glückwunsch nachträglich. Äh.“ Er kam sich blöd vor und verstummte.
Der Hochlord hob beruhigend die Hand. „Das ist schon in Ordnung, danke. Weswegen ich dich sprechen wollte…“ Er stockte und räusperte sich. „Nun ja, genau genommen wollte nicht direkt ich dich sprechen.“
Wolcod trat zur Seite und gab die Tür frei, vor der er gestanden hatte. Durch deren Bogen kam nun Kenzie ins Zimmer. Bei ihrem Anblick wurde Mazacan ganz blass und erwog kurz, sich umzudrehen und auch ohne Mantel durch den Schnee davonzurennen, aber seine vor Schreck erstarrten Beine hätten sich ohnehin nicht vom Fleck bewegt. Kenzie, die ebenso langlebig war wie er selbst, sah kaum anders aus als bei ihrer letzten Begegnung. Er hatte sie viele Jahre nicht gesehen, er wusste nicht mal mehr, wie viele es inzwischen waren. Seit er sich freiwillig selbst verflucht hatte, machte ihm die Zeit noch mehr zu schaffen als zuvor. Schon, nachdem Kenzie ihn verlassen hatte um ihre gemeinsame Tochter zu schützen, waren ihm Tage, Wochen und Monate wie eine trübe, nicht unterscheidbare Masse erschienen, aber jetzt, wo ihn sein Fluch zwang, jede Nacht in seinen Träumen all das Leid zu sehen, das er damals als Hexenjäger verursacht hatte, konnte er nicht einmal mehr sicher sagen, ob etwas vor einem Jahr oder einem Jahrzehnt stattgefunden hatte. Kenzie hob den Blick und sah ihn an, der Ausdruck in ihren Augen schnürte ihm die Kehle zu. Wolcod drückte sacht ihre Schulter, bevor er sich diskret zurückzog und leise die Tür hinter sich schloss. Kenzie musterte Mazacan ernst. Abgesehen von seiner momentanen Blässe wirkte seine Wangenpartie ein wenig härter, um seine Augen lagen dunkle Ringe. Vermutlich die drastischsten Mittel, mit denen sein halbelbisches Blut seine miserable Verfassung äußerlich widerspiegeln konnte. Sie versuchte ein tapferes Lächeln. „Hallo, Mazacan.“
„Hallo“, murmelte er kläglich und hob zögerlich die Hand, als wollte er Kenzie berühren, ließ sie aber doch wieder sinken.
Sie konnte es kaum mitansehen und räusperte sich. „Nun. Ähem. Ich hatte Wolcod gebeten, dich zu rufen. Ich dachte, bei ihm würdest du am ehesten…“ Sie seufzte. „Es ist - ich muss mit dir sprechen.“
„Was ist passiert?“ fragte er leise.
„Vielleicht setzt du dich besser.“
Mazacan wurde noch etwas blasser. „Bitte… sag es mir einfach.“
Sie seufzte erneut und schaute kurz zur Decke, als erhoffe sie sich dadurch Kraft. „Wir haben uns lange nicht gesehen.
Es ist viel passiert… ich…“ Sie brach ab und ließ den Kopf hängen.
Allmählich überkam Mazacan ein stilles Grauen. So kannte er Kenzie nicht, sie war doch immer die Starke. Er trat einen Schritt zu ihr. „Was ist mit dir?“
Kenzie schüttelte den Kopf. „Nicht ich – es… Skadi…“ Bei dem Namen seiner Tochter durchfuhr es Mazacan eiskalt, als gefröre er innerlich. „Skadi? Wieso Skadi?“ Sie schluckte. „Sie… ist nicht… sie hat es nicht geerbt.“ „Geerbt?“
Kenzie hob den Kopf und sah ihn an. „Sie war nicht langlebig.“
„Wieso – was…“ Er stutzte. „Was meinst du mit ‚war‘?“
„Mazacan… wir haben uns lange nicht gesehen. Sehr, sehr lange. Skadi, sie… sie war nicht… sie war sechsundachtzig Jahre alt.“ Kenzie traten Tränen in die Augen. „Sie ist vor vier Monaten gestorben.“
Er starrte sie an, fassungslos, und verstand nicht, was sie ihm erzählte. „Was redest du da?“
„Sie ist ganz friedlich gegangen.“ Kenzie schniefte leise. „Ich soll dir sagen, dass sie ein erfülltes Leben hatte und sehr glücklich war. Sie sagt, du sollst nicht…“ Sie stockte und wischte sich eine Träne von der Wange. „Sie hat dich immer sehr liebgehabt.“
Mazacan schüttelte leicht den Kopf. „Was…?“
Kenzie schob den eignen Kummer beiseite, der jetzt wieder frisch in ihr hochkam und riss sich zusammen. Sie legte ihm tröstend die Hand auf den Arm und meinte fest: „Skadi ist tot, Mazacan. Es tut mir so leid.“
Jetzt endlich begriff er, und das ganze Ausmaß dieser Nachricht brach über ihn herein. Seine Tochter war gestorben. Er würde sie nie wiedersehen. Er hatte ihr Leben einfach verpasst! Sie war tot! Der Raum um ihn begann zu schwanken, Mazacan knickte auf die Knie, als hätte ihm jemand mit dem Schwert die Beine abgehauen. Kenzie trat sofort zu ihm und nahm ihn in die Arme. Er bekam nichts mehr davon mit, seine Welt kippte und versank in einem Schlund aus Schmerz und Schwärze.
„Immer noch nichts?“, fragte Cassidy besorgt.
Wolcod, der gerade aus Richtung Mazacans Zimmer kam, schüttelte den Kopf. „Nichts. Er sitzt einfach nur da und starrt vor sich hin.“
„Das ist nicht gut. Nicht so. Das ist zu lang.“
„Ist es.“ Er seufzte. „Ich habe eben sogar das Fenster weit aufgerissen um zu schauen, ob er vielleicht versucht rauszuspringen. Aber nichts.“
„Wolcod“, tadelte sie eher sacht.
„Ich weiß – aber ich hätte es an seiner Stelle wohl zumindest versucht, denke ich.“ Er kam zu ihr. „Wie war das denn damals bei dir, als dein Vater…?“
„Das war anders. Ganz anders. Ich habe mich auch geschämt, aber ich war vor allem wütend. Ich denke nicht, dass man die Ausgangssituationen vergleichen kann. Er hat sein Kind verloren – an Altersschwäche. Du weißt, wie sehr Kenzie darunter gelitten hat. Immer noch leidet.“
„Ja“, murmelte er betrübt. „Und jetzt muss sie da praktisch nochmal durch. Ach, am liebsten würde ich ihn einfach nehmen und schütteln, bis…“ Er brach ab und räusperte sich kaschierend, denn Kenzie kam um die Ecke.
Sie blieb bei den beiden stehen. „Gibt es etwas Neues?“, fragte sie erschöpft. Sie hatte die letzten Tage kaum geschlafen.
„Noch nicht“, antwortete Wolcod diplomatisch.
Kenzie trat zur Tür und griff die Klinke. „Ich rede nochmal mit ihm.“
„Du solltest dich lieber etwas ausruhen“, sagte Cassidy sanft.
„Ich kann mich nicht ausruhen, wenn er immer noch so dasitzt“, meinte Kenzie matt und verschwand hinter Mazacans Tür.
„Es ist wirklich kaum mitanzusehen“, murrte Wolcod leise seiner Frau zu. „Und das alles gerade jetzt – das ist doch bestimmt nicht gut für dich.“
„Um mich musst du dir im Moment am wenigsten Sorgen machen.“ Cassidy griff tröstend seine Hand. „Komm. Wir können etwas frische Luft gebrauchen.“
Kenzie schloss leise die Tür und blieb davor stehen. Sie hörte Wolcod und Cassidy auf der anderen Seite gedämpft murmeln, dann gingen die beiden davon. Jetzt erst drehte sie sich zum Zimmer hin. Die Luft war kühl und frisch, offenbar war vor kurzem sturmgelüftet worden. Mazacan saß, noch immer unverändert, zusammengesunken auf dem Bettende und starrte auf irgendeinen Punkt zwischen Fußboden und Wand.
„Mazacan?“ fragte Kenzie leise. Er reagierte nicht. „Kann ich irgendetwas für dich tun?“ versuchte sie es nochmal. Als wieder nichts kam, ging sie zum Bett und stellte sich neben ihn. „Bitte mach das nicht. Bitte sitz nicht weiter nur so da.
Sprich mit mir.“
Er rührte sich nicht, wie die ganzen Tage zuvor. Kenzie wurde langsam verzweifelt. Sie hockte sich hin und fasste ihn an den Knien, wie sie es schon früher in schweren Momenten getan hatte.
„Meinetwegen schimpf mit mir, schrei mich an oder erwürge mich, aber sitz nicht nur so da! Sag mir, wie ich dir helfen kann! Ich muss dir doch irgendwie helfen können!“
Sie war zum Ende hin recht laut geworden und sammelte sich kurz. Sacht drückte sie sein Knie und meinte leise: „Bitte, Elbenohr.“
Da, wie eingerostet, bewegten sich seine Augen. Er blickte sie an und ihr Herz machte einen Sprung. Aber dann, kaum merklich, schüttelte er den Kopf und wandte den Blick wieder ab.
Als Wolcod ins Wohnzimmer trat, stand Kenzie vor einem der großen Fenster und starrte hinaus, die Arme um den Oberkörper geschlungen als hielte sie sich selbst fest.
Wolcod stellte sich neben sie, fragte aber nicht, wie es Mazacan ging. Die Tränen in Kenzies Augen waren schließlich Antwort genug.
„Ich kann ihm nicht helfen“, meinte Kenzie leise. Sie wischte sich eine Träne vom Auge. „Er sitzt da und leidet und ich kann ihm einfach nicht helfen.“ Sie versteckte das Gesicht in ihren Händen.
Wolcod nahm sie tröstend in den Arm. Guten Freunden gegenüber hatte er seine Abneigung vor Berührungen überwunden, seit er und Cassidy zusammen waren. „Nicht doch, Kenzie. Das wird schon.“
„Nein“, weinte sie an seiner Schulter. „Du kennst ihn doch.
Er macht so weiter. Er denkt, er verdiene es nicht, weiterzuleben. Ich – ich ertrag es nicht, ihn auch noch zu verlieren. Das schaff ich einfach nicht. Nicht ihn auch...“
Der Schluss des Satzes ging in einem Schluchzen unter.
Wolcod sah so aus, als hätte er am liebsten mitgeweint, aber dann wurden seine Züge streng. Er wandte sich Richtung Cassidy, die gerade ins Zimmer gekommen war. Sie trat zu ihnen.
„Aber, aber, Kenzie“, meinte sie ruhig und löste sie sacht von ihrem Mann. „Was du jetzt brauchst, ist eine schöne heiße Tasse Tee. Komm.“ Sie legte einen Arm um das schniefende Häuflein Elend und führte sie Richtung Wohnzimmertür. Über die Schulter warf sie einen Blick zu Wolcod, deutete seine strenge Miene richtig und nickte leicht, bevor sie sich wieder Kenzie zuwandte.
Wolcod wartete, bis die beiden verschwunden waren, dann richtete er resolut seinen Surcot, drehte sich auf dem Absatz Richtung Flur und ging mit langen Schritten zu Mazacans Zimmer. Am liebsten hätte er die Tür einfach eingetreten, es war ja seine, doch er wollte den Zorn nicht Überhand gewinnen lassen, also öffnete er sie schwungvoll. Mazacan saß noch immer zusammengesunken auf dem Bett und versteckte sein Gesicht hinter einer wirren blonden Haargardine. Wolcod schnaufte missbilligend, kam ins Zimmer und schloss die Tür nachdrücklich hinter sich.
Einige Augenblicke musterte er Mazacan stumm, verdrängte das Mitleid und konzentrierte sich auf den Teil seines Selbst, der den Nordmann nur noch zur Vernunft schütteln wollte.
„Ja, ich weiß“ begann Wolcod streng, aber nicht zu laut.
„Ich weiß, es tut weh. Ich weiß, dass du leidest und wie du dich selber hasst für das, was passiert ist. Dass du meinst, dir nie verzeihen zu können, dass du es auch nicht verdienst, dass dir jemals jemand verzeiht. Das wird es nur leider auch nicht ändern. Davon wird deine Tochter nämlich kaum von den Toten auferstehen!“
Wolcod zuckte innerlich zusammen, als er das sagte, und auch Mazacans Schultern spannten sich kurz an. Er hörte ihm also zu. Wolcod stellte sich vor ihn.
„Weißt du eigentlich, was du da machst?“ fragte er. „Du hast dir ja einen sehr bequemen Weg ausgesucht. Die Realität ist unerträglich, also schalten wir sie einfach ab.
Wie praktisch, dann müssen wir uns ja gar nicht erst damit auseinandersetzen! Weißt du, wer sich diesen bequemen Weg nicht aussuchen konnte? Kenzie. Sie hat Skadi allmählich altern und sterben sehen, aber sie ist nicht weggerannt. Sie musste stark sein für ihre Tochter. Weißt du, wie es Kenzie ging nach Skadis Tod? Ich habe sie noch nie so gesehen. Sie…“ Wolcod brach ab und fuhr sich kurz durch die Haare, als er versuchte, die Erinnerung an Kenzies aschfahles Gesicht aus dem Kopf zu bekommen. „Wir haben alles getan, um für sie da zu sein, aber es ist einfach nicht das gleiche, verstehst du? Skadi war eben nicht unser Kind.“
Mazacan schien sich noch mehr in sich zu verkriechen, also trat Wolcod einen Schritt vor und packte ihn fest an den Schultern.
„Kenzie hatte sich gerade einigermaßen gefangen, sie wusste, du würdest sie brauchen, wenn du es erfährst. Sie dachte, gemeinsam steht ihr das durch. Sie braucht dich jetzt. Aber du rennst schon wieder weg, du lässt deine Familie schon wieder im Stich!“ Wolcod ließ den starren Mazacan abrupt los, sonst hätte er wirklich angefangen, ihn zu schütteln.
„Du denkst, wenn du dich hier versteckst und einfach vergammelst, wie ein echter Elb in deinem Kummer vergehst, ist allen gedient. Aber Kenzie erträgt es nicht, dich so zu sehen. Skadis Tod hatte noch den Trost des Natürlichen, aber das, was du hier machst, ist zu viel für sie, daran zerbricht sie. Du bringst also nicht nur dich um, sondern auch sie.“ Er ging zurück zur Zimmertür und legte eine Hand auf die Klinke. „Du warst nicht für deine Tochter da. Sei es wenigstens für ihre Mutter.“
Wolcod öffnete die Tür, ging hindurch und schmiss sie lautstark hinter sich ins Schloss, alles in einer fließenden Bewegung. Auf dem Flur atmete er tief durch. Das, was er eben gemacht hatte, hatte seine Großmutter einen ‚Arschtritt mit Anlauf‘ genannt.1 Trotz seiner Wut hatte Wolcod schon ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hätte er das nicht ganz so krass sagen sollen, was, wenn Mazacan jetzt doch aus Verzweiflung aus dem Fenster sprang? Aber Wolcod zwang sich, hart zu bleiben. Er verschränkte die Arme auf dem Rücken und ging ins Wohnzimmer, wo Cassidy und Kenzie auf dem langen Sofa saßen und Tee tranken. Kenzie, zerrupft und verweint, hielt eines der Kissen im Arm und saß dicht neben Cassidy, die sie mit irgendwelchen Anekdoten ablenkte. Bei Kenzies Anblick verhärtete sich Wolcods Miene, er war noch zu sanft mit diesem sturen Saftsack von Nordmann umgesprungen!
Wolcod ging stracks zu seinem Sessel und nahm mit einem frustrierten Plumps Platz. Cassidy hob den Kopf und schaute ihn fragend an. Er hob nur leicht die Schultern und ließ sie wieder fallen, also wandte sich Cassidy Kenzie zu und erzählte weiter von Alastairs letzten Briefen. Sie fuhr eine Zeitlang damit fort, denn Alastairs Besuch bei Claire und ihrer Familie in Gaulosa dauerte schon einige Wochen an und Alastair war ein sehr gewissenhafter Briefeschreiber.
Plötzlich stutzte sie mitten im Satz. Wolcod drehte sich knarzend in seinem Sessel herum. Im Türbogen vom Flur her stand Mazacan wie ein lebender Toter. Wolcod starrte, Kenzie traten wieder Tränen in die Augen, aber Cassidy überspielte die peinliche Situation nach ihrem ersten Stutzen gekonnt.
„Ah, Mazacan“, meinte sie so nebenbei, als hätte er sich die letzten Wochen täglich zum Tee eingefunden. „Setz dich doch.“
Er zögerte, ging dann steif zum Sessel am Fenster und ließ sich nieder, als seien seine Gelenke eingerostet. Der Sessel stand nicht zu nahe an den Sitzplätzen der anderen, aber nicht so weit weg, dass er isoliert gewesen wäre.
„Möchtest du auch einen Tee?“ fragte Cassidy und goss schon ein, da sie ein Nein nicht akzeptiert hätte. Sie wandte sich an Wolcod. „Würdest du, Schatz…?“
Der Hochlord guckte verdutzt, dann sprang er aus seinem Sessel, fasste sich wieder und empfing von seiner Frau ruhig die volle Tasse. Cassidy zwinkerte ihm diskret zu. Wolcod brachte den Tee hinüber zu Mazacan.
Der nahm die Tasse und hob scheu den Blick. „Danke“, murmelte er leise, und Wolcod wusste, dass sich das nicht auf den Tee bezog. Im Reflex strich er Mazacan kurz über den Kopf, wie man das macht, um ein Kind zu trösten, bevor er zurück zu seinem eigenen Sessel ging.
Kenzie hatte hart schlucken müssen, als Mazacan sprach.
Cassidy legte unauffällig beruhigend ihre Hand auf Kenzies, dann wandte sie sich wieder zu ihrem Mann. „Sag Wolcod, hattest du auch schon den letzten Brief gelesen, in dem Alastair von diesem Ball erzählt, der ihm und Claire zu Ehren gegeben wurde?“
Wolcod hatte, sagte aber: „Nein, noch nicht. War es ein schöner Ball?“
„Oh, das glaubst du nicht…“
Die beiden fuhren fort zu plaudern, gaben Kenzie und Mazacan gleichzeitig das Gefühl von Gesellschaft und eine Möglichkeit des Rückzugs, da sie sie nicht ermutigten, sich aktiv am Gespräch zu beteiligen. Tatsächlich sagten die beiden kein einziges Wort. Als Cassidy schon langsam heiser wurde, bemerkte sie, wie Kenzie leicht zusammenzuckte. Sie drehte sich zu ihr und folgte ihrem Blick. Mazacan saß in seinem Sessel, die Teetasse auf dem Fensterbrett abgestellt, der Kopf leicht zur Seite gefallen.
Erst erschrak sie, sah dann aber seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge.
„Er schläft“, beruhigte Cassidy Kenzie. „Ganz still und friedlich.“
„Hat er auch bitter nötig nach all der Zeit“, brummte Wolcod. Er stand auf und deckte Mazacan mit einer der dicken Plaiddecken zu. Der Nordmann schlief so fest, dass er nichts davon mitbekam.
Kenzie entspannte sich wieder, doch plötzlich runzelte sie die Stirn. „Warum schläft er so ruhig? Sein Fluch…“ Sie brach ab, ein Moment unangenehmer Stille folgte.
„Der Fluch wird gebrochen, wenn sein eigenes Leid das von ihm verursachte aufwiegt“, meinte Wolcod leise, er kannte die Bedingungen aller Flüche.
Kenzie wurde ganz bleich als ihr klar wurde, was das bedeutete. „Sein Fluch ist gebrochen, weil… oh Gott.“
Sie drückte sich die Hand auf den Mund und kniff die Augen zusammen, als könne sie so die Tränen unterdrücken, was natürlich nichts brachte, sie quollen trotzdem hervor. Cassidy nahm sie in den Arm und Kenzie vergrub ihr Gesicht zwischen ihrer Schulter und der Sofarückenlehne, damit Mazacan nicht aufwachte und sie weinen sah.
„Lass es nur raus“, meinte Cassidy müde. „Weg damit und dann wird alles wieder gut.“
Kenzie blickte aus dem Fenster hinunter auf den noch immer verschneiten Garten, in dem Cassidy mit Mazacan spazieren ging. Sie hatte sich bei ihm eingehakt, allerdings schien er eher sie als Stütze zu brauchen als andersrum.
Langsam schritten sie über die schmalen Wege und unterhielten sich leise. Kenzie war wirklich froh, dass Cassidy so zu Mazacan durchdrang und ihm bei seiner Trauer helfen konnte, denn sie konnte das noch nicht. Sie drückte die Handfläche an die kalte Scheibe, als käme sie Mazacan so näher.
„Geduld“, brummte Wolcod hinter ihr.
Kenzie hatte nicht gehört, wie er ins Zimmer gekommen war, erschreckte sich aber auch nicht. „Er redet immerhin schon das Nötigste mit mir.“ Sie seufzte leise. Jetzt, wo sie es aussprach, nahm es sie doch mit.
Wolcod trat neben sie und schaute mit hinaus. Nach kurzem Schweigen meinte er: „Er schämt sich. Deswegen braucht er etwas Anlauf. Bei Cassy ist das anders. Ich weiß nicht, wie sie das macht, aber man kann ihr alles erzählen… sie hat da einfach eine Gabe.“
Kenzie musste lächeln, weil seine Stimme so stolz und liebevoll klang. Selbst, wenn die Hexenjäger-Flüche sonst gar nichts Gutes bewirkt hätten, so hatten doch wenigstens diese beiden dadurch zueinander gefunden. Sie waren wundervoll zusammen. Man konnte nicht mal neidisch werden.
„Tut mir leid, dass wir euch solchen Ärger machen. So viel Stress, gerade jetzt für Cassy.“
„Du hast Glück, dass sie das nicht gehört hat, sonst hätte sie Stress.“
„Wolcod – du weißt, was ich…“
„Ja, ich weiß. Und jetzt Schluss damit.“
Kenzie schwieg wie befohlen. Sie hatte Wolcod lange Jahre kaum gesehen in der Zeit, als er noch verflucht gewesen war.
Sie hatte gedacht, es sei unangemessen, ihn oft zu besuchen, hatte sie seinen Fluch doch praktisch mit verursacht und all das. Jetzt war ihr klar, dass sie sich damit um ein Stück Familie gebracht hatte. Diesen Fehler würde sie nicht wiederholen. Sie legte den Kopf an seine Schulter.
Unten im Garten sah Cassidy Wolcod und Kenzie am Fenster stehen. Sie winkte kurz. Kenzie erwiderte die Geste mit einem matten Lächeln. Wolcod wirkte eher ernst, nickte ihr aber zu. Mazacan hatte nur flüchtig zum Fenster hochgesehen und den Blick wieder auf den Boden vor sich gerichtet.
„Kenzie?“ fragte Cassidy beiläufig ohne weitere Erklärung, denn er verstand auch so.
Er räusperte sich leise. „Ich… finde die richtigen Worte nicht.“
Cassidy klopfte ihm sacht auf den Arm. „Du brauchst doch erstmal keine. Nimm ihre Hand, umarme sie, zeig ihr einfach, dass du für sie da bist.“
Mazacan schaute erstaunt zu Cassidy hinunter, denn so hatte er das noch nicht gesehen. Dann schüttelte er den Kopf und murmelte: „Das steht mir doch nicht zu.“
„Du weißt, dass sie dich immer noch liebt?“, fragte Cassidy, denn bei Mazacan konnte man sich da nicht so sicher sein.
Er schwieg, ließ aber den Kopf hängen, was auch eine Antwort war, also beließ sie es dabei. Eine Weile gingen sie stumm, dann meinte er plötzlich: „Ich muss immer daran denken.“
„Woran?“
„Wie das für sie gewesen sein muss… zu sehen, wie ihr Kind immer älter… während sie selbst jung - entsetzlich.“
Cassidy nickte, denn daran konnte sie wenig rütteln, es war entsetzlich. „Ja, das war es. Es ist auch ganz richtig, dass du darüber nachdenkst. Aber du solltest auch an die anderen Zeiten denken.“
„Andere?“
„Die guten. Von dem was ich weiß, hat Skadi viele Abenteuer erlebt. Wusstest du, dass sie mal bei den Eiselfen war?“2 „Wirklich? Nein.“
„Kenzie war so stolz auf sie. Das war auch die Zeit, als Skadi ihren jungen Mann kennengelernt hat. Und dann ihre Hochzeit …“
„Ich war doch nicht dabei“, meinte Mazacan leise.
Cassidy überspielte die Tragik darin bewusst. „Aber Kenzie war dabei, sie kann dir alles erzählen. Hast du ihr denn mal von deinen Begegnungen mit Skadi erzählt?“
„Nein.“
„Das solltest du tun. Ihr solltet über sie reden. Über ihr Leben – nicht nur über ihren Tod. Meinst du nicht? Der Tod entwertet ja nicht das Leben.“
Mazacan nickte und schluckte schwer.
Cassidy drückte seinen Arm. „Ihr schafft das, Mazacan.
Ganz bestimmt.“
„Egal, was war?“ fragte Mazacan vorsichtig.
„Egal, was war und egal, was noch kommen mag.“
Wieder nickte er und seufzte leise, aber es klang nicht mehr so schwermütig.
Sie drehten um und gingen zurück zum Haus. Vor der offenen Hintertür, unter den Arkaden, standen Wolcod und Kenzie, doch sie waren nicht allein.
Cassidy blinzelte überrascht. „Dargh?“
Mazacan saß in dem Sessel am Fenster, der eine Art Rückzugsort für ihn geworden war und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie sich Dargh leise mit Kenzie und Wolcod unterhielt. Cassidy war nicht da, sie war müde gewesen und hatte sich kurz hingelegt. Mazacan schaute wieder aus dem Fenster und überlegte, wie lange es jetzt her war, dass er Dargh das letzte Mal gesehen hatte, aber irgendwie kam er zu keinem zeitlich einordbaren Ergebnis. Das letzte Zusammentreffen, das er genau bestimmen konnte, war ihr Abschied, nachdem sich Mazacan freiwillig selbst verflucht hatte. Es erschien ihm wie aus einem ganz anderen Leben.
Die Tatsache, dass sein Fluch nun gebrochen war, hatte Mazacan gleichgültig zur Kenntnis genommen. Jede Nacht das von ihm verursachte Leid zu sehen erschien ihm immer noch erträglicher, als von seiner verlorenen Tochter zu träumen.
„Mazacan?“ rumpelte eine tiefe Stimme neben ihm ruhig.
Er hob den Kopf und sah, dass Dargh zu ihm gekommen war. Wolcod und Kenzie befanden sich nicht mehr im Raum.
Der Schattenalb deutete auf den wuchtigen Fußhocker, der vor dem Sessel stand. „Darf ich…?“
Mazacan nickte ein bisschen verwirrt. Dargh rückte das Möbelstück zurecht und ließ sich behutsam darauf nieder.
Der Hocker knarrte erschrocken, hielt das Gewicht des großen Wesens aber aus.
Dargh legte die Pranken auf die Knie und kam unumwunden zur Sache. „Damals, direkt nach Skadis Tod, habe ich Kenzie telepathisch mit ihrer Trauer geholfen. Sie hat mich gebeten, dir das gleiche vorzuschlagen.“
Mazacan sah ihn groß an. „Das geht?“
„Nun, ich kann dir dabei helfen, wieder eine Struktur in deine Gedanken zu bringen. Das wird es dir leichter machen, mit deinen Gefühlen umzugehen.“
„Wenn das wirklich geht… wäre ich dir dankbar.“
„Gut. Dann schließ die Augen und mach deinen Geist frei.“
Die Augen gingen problemlos zu; das mit dem freien Geist brauchte ein paar Anläufe mehr. Wie üblich bekam man von Darghs telepathischem Wirken an sich nichts mit, die beiden saßen sich nur eine Weile mit geschlossenen Augen schweigend gegenüber.
Schließlich meinte der Schattenalb: „So. Du wirst merken, dass du deine Gedanken jetzt besser lenken kannst. Ich wünschte, ich könnte dir auch die Trauer nehmen, aber das können nur wenige, besonders versierte Empathen.“
Mazacan fuhr sich müde über die Augen. „Das würde ich gar nicht wollen. Es wäre respektlos Skadi gegenüber.“
Dargh verstand, was er meinte, aber es erstaunte ihn, so etwas ausgerechnet von Mazacan zu hören, der immer gern den vermeintlich leichteren Weg beschritten hatte.
Dieser sah kurz aus dem Fenster, bevor er leise fragte: „Warst du viel mit Skadi und Kenzie zusammen?“
„Ja. Skadi nannte mich mal ihren ‚Onkel, mit dem man angeben kann‘.“
Mazacans Mundwinkel zuckten kurz, bevor sein Gesicht wieder ernst wurde. „Ich bin froh, dass sie dich hatten. Dass du für sie da warst.“ Er seufzte. „Wie machst du das, Dargh?
Du hast so viel Schlechtes erlebt, so viel Schmerz und Verlust. Wie schaffst du es, damit umzugehen?“
Der Schattenalb bewegte nachdenklich die Finger, durch die Frage erneut überrascht. „Ich meditiere viel.“
„Und das hilft dir?“
Dargh räusperte sich belegt. „Ein Stück weit. Der Rest ist Wachsamkeit und Disziplin. Viel, viel Disziplin.“
Mazacan nickte. „Ich verstehe.“
Er verstand wirklich, und Dargh realisierte, wie sehr sich der Nordmann seit ihrem letzten Treffen verändert hatte. Er beugte sich vor und legte ihm eine dunkle Pranke auf die Schulter. „Du bist stärker als du denkst, Mazacan. Vergiss das nicht.“
Dargh drehte sich zu der kleinen Gruppe, die sich im Wohnzimmer versammelt hatte. Kenzie befand sich ihm am nächsten und lehnte an einem der Sessel, Wolcod und Cassidy saßen zusammen auf dem langen Sofa und Mazacan stand ein Stückchen abseits mit verschränkten Armen vor dem Fenster.
„Wie ich zuvor bereits andeutete - leider bin ich nicht nur aus Freundschaft hier“, begann Dargh. „Ich – wir – brauchen eure Hilfe. Eigentlich sollte Synn jetzt auch hier sein, aber er ist aufgehalten worden.“
Kenzie warf einen schnellen Blick hinüber zu Mazacan, dessen Gesicht sich bei Synns Namen verhärtete. Der Albenprinz hatte bei Kenzies Entscheidung, Skadi vor Mazacan zu verbergen, eine wichtige Rolle gespielt. Es war seine Idee gewesen und Mazacan hatte ihm das nicht vergeben. Dass andere Stimmen Skadi3 komplett aus der Welt hatten schaffen wollen, damit es in Goidelia keine neue Thronlinie geben würde und Synn sie demnach auch beschützt hatte, berücksichtigte er dabei nicht.
Dargh fuhr fort. „Wie ihr alle wisst, ist jetzt nur noch ein einziger der Hexenjägerflüche wirksam; der von Lachlan.4 Er sitzt noch immer festgebannt in seinem Familienschloss und kann dessen Grundstück nicht verlassen. Aber natürlich können wir jemanden wie ihn nicht all die Jahre gänzlich unbeaufsichtigt lassen. Deswegen ist in regelmäßigen Abständen jemand aus dem Kreis der ehemaligen Widerständler zu ihm gegangen und hat dort nach dem Rechten gesehen.“
Kenzie verzog erstaunt das Gesicht, das hatte sie nicht gewusst.
„Als ich das letzte Mal jemanden geschickt habe, kam er nicht wieder. Allerdings wurde er am anderen Ende des Landes gesichtet. Er wollte keine Auskunft darüber geben, was ihm passiert war und mit dem Ganzen generell und sehr nachdrücklich auch nichts mehr zu tun haben. Ich dachte mir, gut, er ist aus einer der Generationen, die die Hexenjäger nicht mehr selbst erlebt haben und mit den ganzen Mythen und Geschichten über sie aufgewachsen, vielleicht hatte er die Nerven verloren und sich gar nicht erst bis zu Lachlan vorgewagt. Ich schickte also jemand anderen, der nicht so leicht Nerven zeigen würde. Er kam ebenfalls nicht wieder, doch Wochen später erhielt ich einen Brief von ihm aus Gaulosa, in dem er mir das Ende unserer Beziehungen erklärte und mir eine Nachricht von Lachlan überbrachte.“
Dargh machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr.
„Er verlangt, dich zu sehen, Kenzie, und wenn du dich nicht bei ihm einfinden solltest, werde er dafür sorgen, dass alle anderen, die wir schicken, nicht wiederkommen werden, wobei der nächste auch keine Karte mehr wird schreiben können. Wenn wir niemanden mehr schicken sollten, werden eben andere, gänzlich unbeteiligte Leute verschwinden, und das so lange, bis du, Kenzie, zu ihm kommst.“
Kenzie war sehr blass geworden, während Dargh gesprochen hatte und musste sich in ihren Sessel setzen. Mazacan biss die Zähne zusammen, schloss die Augen und setzte sich ebenfalls. Egal, was noch kommen möge – an die verdammte Todesfee hatte er dabei nicht gedacht.
Wolcod runzelte die Stirn. „Warum macht er das erst jetzt?
Warum hat er diese Erpressung nicht schon viel früher versucht?“
Dargh räusperte sich leise. „Ich denke nicht, dass es ihm darum geht, Kenzie aus privaten Gründen zu sich zu holen.
Ich habe doch noch ein paar Informationen von den beiden verängstigten Boten bekommen können, und anscheinend hat Lachlan vor kurzem Kenntnis darüber erhalten, dass sie irgendetwas weiß, das ihm nützen könnte.“ Er wandte sich zu Kenzie. „Hast du eine Idee, was er damit meint?“
„Nein“, murmelte sie, doch Dargh merkte, dass sie dabei irgendetwas im Hinterkopf hatte.
„Was willst du also tun?“ fragte Wolcod.
„Ich habe gründlich nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir Lachlan schon zu lange ignoriert haben. Wegen dieser Nachlässigkeit konnte er anscheinend Dinge erfahren, die er nicht hätte wissen dürfen. Meiner Meinung nach führt kein Weg daran vorbei; wir müssen zu ihm.“
Kenzie hob den Kopf. „Wir?“
„Es gibt einige wenige Personen, die in Lachlans Gegenwart sicherer sind als andere, weil sie ihm etwas bedeuten. Von ihnen halten sich derzeit nur Kenzie, Wolcod und ich im Lande auf und ich meine, dass wir jetzt keine Zeit mehr verlieren dürfen. Deswegen bitte ich dich, Kenzie, und dich, Wolcod, mich zu Lachlan zu begleiten und diese Angelegenheit zu klären. Uns wird er wohl nichts tun.“
Einige Momente herrschte Schweigen. Dann brummte Wolcod: „Ich fürchte, Dargh hat recht. Lachlan einfach zu ignorieren erscheint mir als zu gefährlich, und wir drei haben noch mit die besten Chancen gegen ihn. Was meinst du, Kenzie?“
Kenzie starrte auf ihre Knie. „Ich habe geahnt, dass so etwas mal passieren würde – ich hatte nur gehofft, es käme zu einer besseren Zeit.“ Sie gab sich einen Ruck. „In Ordnung.
Was immer er sich da auch ausgedacht hat; hören wir es uns an und dann gehen wir wieder.“ Ihr taffer Gleichmut klang recht bemüht.
Wolcod drehte sich zu seiner Frau. „Cassy?“
„Oh ich… mir war schon klar, dass das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen war. Es geht mir nur wie Kenzie – das Timing ist nicht gut.“ Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch.
„Ich bin rechtzeitig wieder da“, versprach Wolcod. „Und wenn ich Lachlans Schloss niederreißen muss.“
Mazacan war innerhalb der letzten Minuten irgendwie in ein schwarzes Loch abgerutscht, in seiner jetzigen Verfassung war die Todesfee das letzte, das er gebrauchen konnte. Doch nun erwachte er mit einem Ruck aus seiner Trance. Er starrte Cassidy an. „Du – erwartest ein Kind?!“
„Ja – sicher, was…“ Cassidy war etwas verwirrt, denn jedem anderen im Raum wären die leichte Wölbung ihres Bauches, die normalen Begleitsymptome und gelegentlichen Bemerkungen in den letzten Wochen wohl längst aufgefallen.
Wolcod griff Cassidys Hand. „Ich werde wieder da sein.“
„Nein!“ herrschte Mazacan laut. Alle drehten sich erstaunt zu ihm. Der Nordmann stand aufrecht und streng vor dem Fenster. „Du wirst nicht mitgehen, ich gehe an deiner Stelle.“
„Mazacan“, begann Wolcod sacht. „Überleg doch - das geht nicht. Lachlan kann dich nicht leiden, die Gefahr wäre für dich viel größer.“
„Mag sein, aber du bleibst hier!“ bestimmte Mazacan in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldete. „Dein Kind braucht dich, Cassy braucht dich. Also bleibst du hier bei ihnen!“ Er wandte sich an Kenzie und fragte ungleich sanfter: „Ist das in Ordnung, wenn ich mitkomme?“
Kenzie spürte einen Kloß im Hals, ihr war klar, warum er so reagierte, warum ihm das so wichtig war. Sie nickte nur hastig. Mazacan sah fragend zu Dargh, der bedächtiger nickte, ums Neue vom Nordmann überrascht.
„Gut. Dann wäre das geklärt.“ Mazacan setzte sich wieder auf das breite Fensterbrett.
Ein kleiner Moment der Stille folgte, dann stand Cassidy unvermittelt auf, lief zu Mazacan und umarmte ihn.
„Danke“, flüsterte sie leise und gab ihm einen Kuss auf die Wange.5 Kenzie blickte starr auf ihre Füße und hielt tapfer die aus Bewunderung und Kummer gemischten Tränen zurück.
Daran, dass sie sich bald Lachlan würde stellen müssen, verschwendete sie in diesem Moment keinen einzigen Gedanken.
Mazacan stapfte etwas hinter Dargh und kurz vor Kenzie durch die verschneite Landschaft. Ihm tat der Rücken weh.
Sie hatten die letzte Nacht in einem kleinen Gasthaus an der Straße verbracht, dessen Betten eindeutig zu kurz für ihn gewesen waren. Er fragte sich, wie Dargh damit wohl zurechtgekommen war; vermutlich hatte es der große Schattenalb vorgezogen, auf dem Boden zu schlafen, wenn er denn überhaupt geschlafen hatte. Dargh blieb nicht auf den Wegen, sondern wählte die wesentlich kürzere Strecke querfeldein. Gleichmütig stieg er über eine der verschneiten kleinen Steinmauern, die die einzelnen Felder von der Straße abgrenzten. Mazacan folgte, drehte sich um und bot Kenzie eine Hand an. Sie stutzte fast unmerklich, ergriff dann seine Hand und ließ sich über das Mäuerchen helfen. Auf der anderen Seite sah sie Mazacan kurz an und meinte leise „Danke“, bevor sie weiterging.
Nimm ihre Hand, umarme sie, zeig ihr einfach, dass du für sie da bist, hatte er Cassidys Stimme im Ohr.
Mazacan kam wieder der Abschied von ihr und Wolcod in den Sinn. Beide hatten ihn umarmt, von Cassidy hatte er noch ein Küsschen bekommen und von Wolcod so ernsthaften Dank, dass es ihm ganz unangenehm geworden war. Er war echte, begründete Dankbarkeit nicht gewöhnt.
Noch schlimmer der Blick, den Kenzie ihm vermeintlich unbemerkt zugeworfen hatte. Traurigkeit lag darin, vor allem aber Stolz. Damit konnte er überhaupt nicht umgehen. Wann hatte er schon mal jemandem Grund gegeben, stolz auf ihn zu sein? So verwirrt hatte ihn das alles, dass das Ziel ihres Weges in den Tiefen seines Bewusstseins verschwunden war, es gab zu viele andere Dinge, über die er nachdenken musste, und nach dem, was er so mitbekam, ging es Kenzie ganz ähnlich. Nur Dargh blieb wachsam; er hatte nicht verdrängt, was auf sie zukam.
Kenzie saß mit angezogenen Knien auf dem umgestürzten Baumstamm, bei dem sie ihre Pause machten. Dargh war vorangegangen, den Weg zu erkunden und Mazacan lief herum, um ein paar frische Ästchen für ihr mickeriges Feuer aufzutreiben, das kaum Wärme spenden wollte. Kenzie war kalt. Dargh trug selbst bei diesem Wetter keinerlei Schuhwerk und Mazacan, gewöhnt an den nordischen Frost, rannte mit offenem Mantel durch die Gegend. Kenzie schauderte. Sie vermutete, dass bei ihr zu der äußeren Kälte auch eine innere dazukam, eine unbestimmte Angst, ein nervöses Grauen, das seit Beginn ihres Halts immer weiter zugenommen hatte. Wären sie bloß weitergelaufen, dann hätte sie keine Zeit gehabt, groß darüber nachzudenken, dass sie ihrem Ziel jetzt immer näherkamen. Doch nun wurde sie den Gedanken nicht mehr los und alle möglichen unliebsamen Erinnerungen quollen hoch. Kenzie unterdrückte ein erneutes Schaudern, rieb sich über die Arme und schloss die Augen. Etwas Warmes legte sich über ihre Schultern, als sich jemand neben sie auf den Baumstamm setzte. Kenzie sah auf und entdeckte Mazacan, der den Arm aus dem linken Ärmel seines schweren Mantels gezogen und die nun freie Mantelhälfte über Kenzie gelegt hatte. Als sie keine Anstalten machte, ihn zu vertreiben, rieb er ihr unter der Manteldecke ein paar Mal mit der Hand fest über den Rücken, damit ihr wieder warm wurde.
Schließlich ließ er die Hand auf ihrer Schulter ruhen und strich wie tröstend mit dem Daumen darüber. Kenzie hatte sich nicht gerührt, seit er den Mantel über sie gedeckt hatte.
Dann, langsam, kippte sie etwas zur Seite und legte den Kopf an Mazacans Schulter. Er drückte seine Wange in ihr Haar, sagte aber nichts.
Dargh kehrte von seiner Erkundung zurück. Als er das zusammengekuschelte Pärchen auf dem Baumstamm entdeckte, blieb er stehen und musterte sie einen Moment lang, auf den Lippen ein zufriedenes kleines Lächeln. Er wandte sich ab und machte nochmal einen großen Bogen um das Lager, damit sie nicht ganz so bald auseinandergerissen werden mussten. Schließlich aber trat Dargh wieder auf die Lichtung und meinte ruhig: „Wir müssen dann weiter.“
Mazacan und Kenzie erwachten aus ihrer Kuscheltrance. Er befreite sie sachte von seinem Mantel, stand auf und zog ihn wieder richtig an. Bevor er zum Feuer gehen konnte, um es zu löschen, griff Kenzie seine Hand und drückte sie kurz.
Dann huschte sie an ihm vorbei und half Dargh beim Zusammenpacken ihrer Sachen.
Es hatte leicht angefangen zu schneien. Kenzie wischte gerade eine dicke Flocke fort, die zielsicher auf ihrer Nase gelandet war, als sie ein Stück weiter weg einen kleinen See ausmachen konnte. Das Wasser war gefroren und blitzte hier und da dunkel unter der Schneeschicht hervor. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Mazacan ebenfalls aufs Wasser schaute.
„Ich kann jetzt schwimmen, weißt du“, meinte sie zu ihm.
Mazacan war erstaunt, zum einen, weil sie ihn einfach so ansprach, zum anderen, weil er Kenzie nur mit einer Phobie vor Wasser kannte, die ihr Beinahe-Ertrinken als Kind einst ausgelöst hatte. „Wirklich? Das ist ja toll!“
Sie lächelte stolz. „Skadi hat es mir beigebracht.“
„Donnerwetter.“
Kenzie nickte. „Sie hat fest daran geglaubt, dass ich es schaffen würde und nicht aufgegeben, bis ich es konnte. Es war so schön, diese alte Angst endlich los zu sein.“ Eine kleine Pause, in der Kenzie nachdenklich auf den gefrorenen See blickte. Plötzlich meinte sie: „Skadi ist wie selbstverständlich zu Synn gegangen um ihm zu sagen, dass sie ihm vergibt. Sie dankte ihm sogar, dass er uns gegen die radikalen Testamentler in Schutz genommen hat.“
Auf Mazacans Stirn zeigte sich eine lange tiefe Furche, doch er entgegnete nichts.
Kenzie fuhr fort. „Das hat Synn so beeindruckt - er hat sich verändert seitdem.“
Mazacan schwieg und sah einige Momente nachdenklich in den Schnee hinaus. „Hm. Anscheinend hat Skadi in vielen Leben ihre Wunder gewirkt.“
„Das hat sie“, meinte Kenzie sanft.
„„Da hinten ist es“, verkündete Dargh. Kenzie und Mazacan kamen neben ihm zum Stehen. Am Horizont zeichnete sich durch die jetzt dichter fallenden Schneeflocken der dunkle Umriss eines kantigen großen Gebäudes ab. Die zahlreichen Türmchen endeten in spitz zulaufenden Dächern, was sie ein bisschen wie Dornen erscheinen ließ. An der Dachtraufe hatten sich einige Wasserspeier aus Stein versammelt.
Details ließen sich aus dieser Entfernung nicht erkennen, doch es schien sich dabei um sehr bizarre Wesen zu handeln.
Das ganze Gebäude wirkte wie die düstere Verkörperung von Orgelmusik bei Vollmond.
„Ja, genauso habe ich es mir vorgestellt“, murmelte Mazacan und ließ seinen Blick über die Reihen an undeutlich erkennbaren Spitzbogenfenstern gleiten, die ihnen wie schwarze Augen entgegen zu sehen schienen.
„Die Familie väterlicherseits lebt schon sehr lange hier“, meinte Dargh.
„Hat es einen Namen?“ fragte Kenzie leise.
„Nein. Kommt weiter. Besser, wir bringen es hinter uns.“
Die drei setzten ihren Weg fort. Kenzie überkam ein merkwürdiges Déjà-vu von dem Moment vor so vielen Jahren, als sie Lachlan gefragt hatte, ob sein Pferd einen Namen hatte. Ob Namenlos dort im Stall wartete? Was erwartete sie außerdem? Je näher sie dem Gebäude kamen, desto nervöser wurde Kenzie, eine Angst, die sie nicht in Worte hätte fassen können. Es schien der pure Instinkt zu sein, der sie dazu anhalten wollte, umzudrehen und wegzulaufen, so schnell sie nur konnte. Die Mauer, die das Gebäude umgab, kam in Sicht, überwuchert von jetzt im Winter schwarzen, dornigen Ranken unbekannter Natur.
Die beiden Flügel des verschnörkelten Eisentors standen weit offen, fast wie ein Schlund. In Kenzie stieg Panik auf, ihre Schritte wurden stockend.
Eine warme Hand griff ihre. Mazacan sagte leise: „Den machst du fertig, Kenzie. Du hast ihn schon einmal fertiggemacht, und du wirst es wieder tun.“
Kenzie sah ihn an, unendlich dankbar. Sie drückte seine Hand und gemeinsam durchschritten sie das Tor zu Lachlans Anwesen.
Sie gingen die breite Auffahrt zur Vordertür entlang. Etwa achtzig Meter trennten hier Tor und Haus, die Gartenflächen dazwischen verbargen sich unter einer dicken weißen Schneeschicht und ließen keine Spekulationen darüber zu, wie es hier wohl im Sommer aussehen mochte.
Sieben Stufen führten zur Eingangstür, deren Holz im Laufe der Jahre eine fast schwarze Farbe angenommen hatte.
Mazacan warf einen unbehaglichen Blick auf die beiden drachenähnlichen Kreaturen, die am Fuße der Treppe als Antrittspfosten dienten. Warum hatte er eigentlich sein Schwert nicht mitgenommen? Bei Dargh waren die Klingen ja von Natur aus integriert und Kenzie fasste Waffen prinzipiell nicht an, aber er hätte nun wirklich daran denken sollen. Als ob dir ein Schwert hier irgendwie weiterhelfen würde, bemerkte sein Hinterkopf trocken.
Dargh blieb vor der untersten Stufe stehen und drehte sich zu ihnen. „Verhaltet euch am besten so, als sei das hier ein ganz normaler Besuch. Gebt Lachlan nicht das Gefühl, dass er uns irgendwie einschüchtern kann. Bereit?“
Mazacan brummte einen Ja-Laut, Kenzie nickte entschlossen. Bevor sie Dargh die Treppe hinauf folgte, drückte sie Mazacans Hand erneut und ließ sie dann los – wer immer die Tür öffnen würde, sollte keinen Hinweis auf ihre Nervosität bekommen. Dargh griff den Türklopfer – ein schwerer Ring im Maul irgendeines absonderlichen Tieres – und klopfte zweimal. Die Tür öffnete sich, ohne dass sie sich nähernde Schritte gehört hatten. Vor ihnen, die Klinke noch in der einen Hand, die andere förmlich auf dem Rücken abgelegt, stand eine lange, dünne Gestalt, fast noch ein bisschen dunkler als Dargh, mit spitzen Ohren und leuchtend gelben Augen mit horizontalen Spaltpupillen darin, ähnlich wie bei einer Ziege. Hinter seinen Beinen sah Kenzie einen dünnen Schwanz mit Dreiecksspitze vornehm in Haltung schwingen.
„Ah, Mister Dargh“, meinte der Dämon mit etwas heiserer, tiefer Stimme. „Miss Mackenzie. Oh, und Lord Mazacan - nun, die unerwarteten Gäste machen die Runde erst voll.
Bitte kommt doch herein, Master Lachlan erwartet euch bereits.“ Er wich zur Seite, verbeugte sich leicht und streckte einen Arm in Gangrichtung.
„Danke, Mordecai“, meinte Dargh gelassen und trat ein.
Kaum standen sie drinnen, fiel die Tür hinter ihnen mit nachdrücklichem Rumms ins Schloss.
„Möchtet ihr ablegen?“ fragte der Butler höflich.
Dargh wandte sich zu Kenzie und Mazacan und nickte knapp, also gaben sie ihm ihre Mäntel und Taschen. Dargh reichte alles an den Dämon weiter.
„Vielen Dank. Wenn ihr euch eine Sekunde gedulden möchtet, werde ich den Master über eure Ankunft unterrichten.“ Mordecai verbeugte sich elegant und verschwand dann einfach irgendwie in den Schatten, als hätten sie ihn verschluckt.
Kenzie griff Dargh am Arm und flüsterte fassungslos: „Ein Schattenschleicher-Dämon ist hier der Butler?“
„Aber ja. Hatte ich das nie erwähnt? Mordecai dient der Familie seit den Zeiten von Lachlans Urgroßmutter.
Unbedingt loyal und verlässlich.“
Sie starrte Dargh einige Augenblicke ungläubig an, aber dann gab Kenzie auf, denn darauf kam es jetzt auch nicht mehr an. Ein Dämonenbutler, was auch sonst. Sie folgte den beiden anderen weiter hinein in die Halle und sah sich staunend um. Vor ihnen stieg eine breite Prachttreppe mit dunkelrotem Läufer an, die ein Stück weiter oben in einem Absatz vor einem großen Buntglasfenster endete, sich dort teilte und in eine gebogene Galerie auf der nächsten Etage überging. Kenzie hob den Kopf und betrachtete die hohe Hallendecke, an der sich die Rundpfeiler von den Wänden in ein kompliziertes Geflecht aus Kreuzrippen aufteilten.
Alles war in edlem grauem Stein gehalten, nur der Marmorboden zeigte ein schwarzweißes Muster ähnlich eines Schachbretts. Bei Sonnenschein musste das Buntglas die Halle in spektakuläre Farbtupfer tauchen. Kenzie hätte es nicht erwartet, aber Lachlans Zuhause gefiel ihr.
„Schau an – wen hat es denn da zu mir hereingeschneit?“ kam es von der Treppe.
Kenzie zuckte zusammen, denn sie erkannte die fast schon unangenehm angenehme Stimme sofort. Widerwillig drehte sie sich um. Oben, auf dem Treppenabsatz vor dem Fenster, stand Lachlan. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, steckte er nicht in seiner Hexenjägerkluft, sondern trug zu schwarzem Hemd und Hosen eine schmal geschnittene violette Weste, auf der ein verschnörkeltes Stickmuster blau schimmerte, wenn er sich bewegte.6 Der Rest; die milchweiße Haut, die silbrig glänzenden schwarzen Haare und seine verdammten eisgrauen Augen mit ihrem merkwürdigen Leuchten waren noch genauso, wie Kenzie sie in Erinnerung gehabt hatte.
Sie senkte den Blick und starrte auf den Boden. Irgendwie hatte sie gehofft, rückblickend übertrieben zu haben.
Lachlan kam lässig die Stufen hinunter und legte den Kopf ein bisschen schief. „Na, Dargh mein Alter? Wir haben uns wirklich lange nicht mehr gesehen. Hast du abgenommen?“
Das war eine Spitze gegen den Verlust von Darghs Flügeln, den er, Lachlan, ja zu verantworten hatte. Doch Dargh ließ sich nicht provozieren und nickte seinem ehemals besten Freund nur würdevoll zu.
Dieser kannte ihn so gut, dass ihm das genügte und er sich an Mazacan wandte. Eine Augenbraue wanderte in die Höhe. „Was denn, der Nordmann? Ich hatte eigentlich mit Wolcod gerechnet.“7 „Wolcod hat Wichtigeres zu tun, als ausgerechnet dich zu besuchen“, knurrte Mazacan, behielt aber Haltung.
Die Todesfee lächelte spöttisch. „Tja nun. Ein faules Ei muss wohl immer dabei sein.“ Er drehte den Kopf zur letzten Person in der kurzen Reihe. „Und Kenzie“, sagte er so eisig, dass die Luft zwischen den Worten eigentlich hätte gefrieren müssen.
Sie hob langsam den Kopf und sah ihn an. Einen Moment lang herrschte absolute Stille.
„Dein Haar ist kürzer“, murrte Lachlan frostig.
„Ja.“
„Sieht besser aus so“, meinte er nicht weniger kühl und wandte sich ab.
„Du wolltest mit uns sprechen?“ erkundigte sich Dargh ruhig, allerdings mit leicht drohendem Unterton. Er wollte zur Sache kommen und die Angelegenheit schnell hinter sich bringen.
„Naja, mit dir jetzt nicht unbedingt so dringend, und mit dem Tölpel da schon gar nicht, aber mit ihr.“ Lachlan machte eine wegwerfende Handbewegung Richtung Kenzie.
„Und warum?“ hakte Dargh nach, da Kenzie im Moment nicht richtig zu funktionieren schien.
„Du erinnerst dich ja bestimmt, dass man dir damals, als ihr ach so ruhmreich die Hexenjäger verflucht habt – weil ausgerechnet der Heilige Wolcod tatsächlich weit durchtriebener war als ich es ihm jemals zugetraut hätte…“
Lachlan schüttelte kurz den Kopf, als könne er das immer noch nicht recht glauben. Allerdings schien er eher stolz als wütend auf seinen ehemaligen Schüler zu sein. „Wie auch immer, man hat damals erzählt, dass es für meinen Fluch keine Erlösung gäbe, was wohl mit dem persönlichen Groll seitens der Verfluchenden zu erklären ist.“
Mazacan gab ein kurzes abfälliges Schnaufen von sich. Die dunkelelbische Hochmagierin Adigis selbst hatte die Todesfee damals verflucht, und Lachlan hatte nicht nur seine ehemaligen Freunde verraten, sondern auch Adigis‘ Tochter Enara umgebracht – Mazacan hätte an ihrer Stelle noch weit schlimmere Dinge mit ihm angestellt.
Lachlan bedachte den Nordmann mit einem flüchtigen, finsteren Blick, bevor er fortfuhr. „Wie wir alle wissen, hat Adigis diesen immensen magischen Aufwand mit ihrem Leben bezahlt, Heldentod, niemand kann sie mehr irgendetwas fragen, der Schurke ist verflucht auf immer.
Nur, dass das eben alles so nicht stimmt.“
Mazacan bemerkte, wie Kenzie neben ihm unbehaglich ihr Gewicht verlagerte.
„Was soll das heißen?“ fragte Dargh streng.
„Das soll heißen, dass du, wenn du auch nur eine entfernte Ahnung von Magie hättest, wüsstest, dass ein Fluch immer zu brechen sein muss, denn das ist die erste Regel der Fluchkunde. Anscheinend dachten alle, genau das sei der Grund gewesen, warum die Magie Adigis verzehrt hat, dass sie gut genug war, einen unendlichen Fluch zu erschaffen, aber niemand ist so gut.“ Dargh öffnete den Mund, doch Lachlan ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ferner stimmt es nicht, dass sie niemandem mehr etwas erzählen konnte, niemanden in diesen Umstand eingeweiht und zur Komplizin gemacht hat - ist es nicht so, Kenzie?“ Er drehte sich energisch zu ihr. „Dunmore hat dir nach Adigis‘ Tod einen Brief von ihr gegeben, einen Brief, dessen Inhalt er nicht kannte und über den du nie mit jemandem gesprochen hast.“
„Du kannst das nicht wissen“, murmelte Kenzie tonlos.
„Wieso weißt du das?“
„Oh, ich hatte die Mittel und nun wirklich genug Zeit, alles Mögliche in Erfahrung zu bringen. Dass ihr Widerständler noch nie irgendetwas geheim halten konntet, ist doch nichts Neues!“
„Komisch, trotzdem haben sie es irgendwie geschafft, dich zu verfluchen“, bemerkte Mazacan trocken und erntete einen eisigen Blick von Lachlan.