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Ganz Caldon ächzt unter dem Joch der Hexenjäger, die gnadenlos Dunkelvölker, unkontrollierte Magie und Freidenker verfolgen. Nur wenige wagen, etwas dagegen zu unternehmen. Eine von ihnen ist Kenzie, deren Aktivitäten im Widerstand deutlich komplizierter werden, als ausgerechnet ihr bester Freund den Hexenjägern beitritt. Mit viel schwarzem Humor und scharfem Wortwitz werden hier nebenbei die gängigen Fantasy-Klischees verdreht und auf die Schippe genommen, wobei auch unsere eigene Welt ihr Fett weg kriegt.
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Seitenzahl: 483
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Anita Wolf lebt mit ihren zwei Katzen in Berlin und schrieb ihr erstes Buch, weil sie nicht die Geduld hatte, die Geschichte als Comic zuzeichnen.
In manchen Momenten denkt man, es könne unmöglich noch schlimmer kommen. Auch Wolcod hatte das früher gedacht, ohne zu ahnen, wie sehr er sich damit irren sollte. Damals, vor zwei Jahren, als er noch mit seiner Mutter und seinem ewig saufenden, ständig prügelnden Vater in einem heruntergekommenen Haus in einer heruntergekommenen Gegend im Norden von Burgh gelebt hatte, war ihm der Gedanke wohl zum ersten Mal gekommen: Noch schlimmer konnte es einfach nicht werden. Dann hatte der Vater einmal zu oft zugeschlagen und die Mutter war nicht wieder aufgestanden. Um sich ein ähnliches Schicksal zu ersparen, war dem vierzehnjährigen Wolcod nur die sofortige Flucht aus dem Elternhaus geblieben. Mit etwas Glück bekam er eine Stelle als Tellerwäscher bei einem mitleidigen Wirt und durfte sogar in der Küche unter der Treppe schlafen. Er war zwar allein, hatte aber immerhin Arbeit und ein Dach über dem Kopf. Es hätte schlimmer kommen können. Und wieder kam es das.
In jener Nacht sah er zufällig, wie ein paar Widerlinge ein Mädchen belästigten, das so dumm gewesen war, eine Gegend wie diese allein und unbewaffnet zu betreten. Er ging dazwischen. Die junge Dame war immerhin praktisch genug veranlagt, die Gelegenheit zur Flucht zu nutzen und nicht wiederzukommen. Sie brachte sich dadurch um einen recht spektakulären Kampf, bei dem ein hagerer Junge drei Männer, alle älter als er und etwa von doppeltem Leibesumfang, in Grund und Boden prügelte. Wolcod hätte später nicht sagen können, wie die drei aussahen; für ihn hatten sie alle das Gesicht seines Vaters gehabt. Als sich um ihn herum nichts mehr regte, dämmerte ihm langsam, was er eben getan hatte. Wolcod wurde übel. Ein dumpfes Pochen in seiner Hand ließ ihn ahnen, dass er sich wohl ein paar Finger gestaucht hatte, vielleicht sogar etwas gebrochen. Es war ihm egal. Er stolperte über seine bewusstlosen Gegner, die in ungesund verrenkten Haltungen am Boden lagen und wollte nur noch weg.
Da hörte er ein schleppendes Geräusch hinter sich. Jemand klatschte langsam. Zögernd drehte Wolcod den Kopf und entdeckte den Reiter. Er war komplett in Schwarz gekleidet, hatte die Kapuze seines Mantels tief ins Gesicht gezogen und saß auf einem großen schwarzen Pferd. Wolcod erinnerte sich daran, wie ihn seine Mutter früher vor solchen Leuten gewarnt hatte, da sie ihn ohne Gnade verschleppen würden. Er hatte daraufhin aufmerksam nach diesen Herren Ausschau gehalten, aber keiner von ihnen war so nett gewesen, ihn von Zuhause wegzuholen. Heute verstand er natürlich, wovor ihn seine Mutter so eindringlich hatte warnen wollen. Er wandte sich um und wollte schnellstmöglich verschwinden.
„Keine Sorge, so schnell stehen die nicht mehr auf.“
Der Fremde hatte eine Stimme, die sich dem Jungen ins Ohr wand und dort alles Misstrauen und jede Ablehnung ersäufte. Menschen hatten keine solchen Stimmen. Wolcod blieb stehen.
„Du hast ja eine Menge Wut in dir“, fuhr der Reiter im Plauderton fort.
Wolcod musterte ihn argwöhnisch und entschied sich für die aggressive Taktik. „Was geht dich das an? Für dich ist noch genug davon übrig, also hau ab!“
Der Fremde lachte leise. Wolcod hatte das Gefühl, als würden seine Ohren davon schmelzen. „Mit mir solltest du dich besser nicht anlegen, glaub mir.“
Der Junge glaubte ihm tatsächlich.
„Du scheinst großes Potential zu haben. Aus dir könnte etwas werden.“
Wolcod sah seine Vermutungen bestätigt und bereitete sich auf eine Blitzflucht vor.
„Hast du je darüber nachgedacht, ein Hexenjäger zu werden?“ fragte der Fremde.
Wolcod verhaspelte sich vor Schreck in der Bewegung und legte statt eines Sprints nur einen unwürdigen kleinen Hüpfer zur Seite hin. „Was?!“
„Du weißt, was ein Hexenjäger ist.“
Natürlich wusste er das, jeder wusste das. Ein Grund, wieso er sich von diesen Leuten fernhielt. Die Hexenjäger stellten die höchste Elitetruppe des Königs und waren damit beauftragt, schwarze Magie, Hexenmeister und Dämonen auszulöschen. Das mit dem Auslöschen wurde dabei wörtlich verstanden.
„Ja, das weiß ich. Und ganz bestimmt will ich keiner von euch werden.“
„Es wäre ein Weg für dich aus deinem Elend.“
„Ich bin zufrieden, wie es ist. Ich habe Arbeit und ein Dach über dem Kopf. Das reicht mir.“ Wolcod wurde sich bewusst, dass er eben einem leibhaftigen Hexenjäger eine Abfuhr erteilt hatte und legte nach: „Äh – trotzdem danke für das Angebot.“
Der Fremde entgegnete nichts. Wolcod rechnete damit, jeden Moment aus verschmähter Eitelkeit – oder nur so zum Spaß - in Streifen geschnitten zu werden. Aber der Hexenjäger rührte sich nicht und musterte ihn nur aus dem Dunkel seiner Kapuze heraus. Wolcod konnte beinahe spüren, wie sich dieser Blick in seinen Schädel bohrte.
„Na gut“, sagte der Reiter. „Wie du meinst.“ Er wendete sein Pferd. „Aber vielleicht überlegst du es dir nochmal. Ich komme in einem Monat wieder und erneuere mein Angebot.“
Das war das Letzte, das sich der Junge wünschte. „Danke, aber…“ „Bis dahin, Wolcod.“
Wolcod sah zu, wie die Dunkelheit den Fremden schluckte.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass er seinen Namen gekannt hatte. Am nächsten Tag verlor Wolcod seine Stelle. Der Wirt schien es plötzlich sehr eilig damit zu haben, ihn loszuwerden. Er gab ihm keine Antwort auf die Frage, was Wolcod falsch gemacht hatte, sondern versuchte nur, ihn möglichst schnell aus der Wirtsstube zu scheuchen, wobei ein Schlachtermesser seinen Worten den nötigen Nachdruck verlieh. Wolcod machte sich lieber davon und dachte dabei, dass der Wirt auf den Kopf gefallen sein müsse.
Und es ging so weiter. Überall gerieten die Leute nahezu in Panik, wenn sie ihn sahen. Niemand dachte daran, ihm eine Stelle geben, alle wollten ihn ja bloß wieder loswerden, als hätte er die Trollwut.1 Wolcod überlegte, ob diese plötzliche Ablehnung an seinem Auftreten lag oder es sich hierbei gar um eine Art Hirnfieber handelte. An sich konnte er keine Veränderung zu früher feststellen, er benahm sich angemessen höflich und müffelte nicht. Wenn also ganz Burgh den Verstand verloren hatte, musste er eben woanders hin.
Aber auch in den umliegenden Dörfern war es dasselbe. Lief er die Dorfstraße entlang, schlossen sich alle Türen und Fenster. Bauern gingen mit Mistgabeln auf ihn los, wenn er in ihren Scheunen unterkroch.
Ein paar Mal hatte Wolcod das Gefühl, verfolgt zu werden. Ihm dämmerte eine leise Ahnung, wer ihm da nachschlich. Diese Hexenjäger würden ihn ganz sicher nicht bekommen, schwor er sich. Doch ohne Geld und etwas zu essen schmolz seine so inbrünstige Entschlossenheit langsam zu einem kleinen Häufchen sturen Trotzes zusammen.
Und am Ende saß er nun hier im Regen, irgendwo auf einer gottverlassenen Landstraße, hungrig und durchgeweicht, zu müde zum Weitergehen und hatte genug. Wenigstens, dachte er sich mit einem matten Lächeln, konnte er nicht noch tiefer sinken. Es konnte unmöglich schlimmer kommen. Diesmal nicht.
Ein Schatten fiel auf ihn. Widerwillig sah er auf.
„Hallo, Wolcod“, grüßte der Hexenjäger gelassen. „Hattest du jetzt genug Zeit zum Nachdenken?“
Wolcod ließ geschlagen den Kopf hängen.
Zwanzig Jahre später, in einem kleinen Wald in der Nähe von Burgh, ächzte und brach das Unterholz unter der schweren lebenden Last, die grob in Richtung Waldrand geschleift wurde.
Sie hatten ihn in einem ungünstigen Moment erwischt. Daran musste es liegen. Wie sonst könnten ein paar schwache Menschen jemanden wie ihn überwältigen? Es waren ja bloß sechs von ihnen. Hexenjäger im ersten Jahr vermutlich, die waren weitaus leichter zu ersetzen als jemand von der Elite.
Die legendären 13 Hexenjäger waren jetzt nur noch zu zwölft. Vor ein paar Monaten hatte er einen aus deren Reihen reißen müssen, obwohl er Gewalt eigentlich verabscheute. Angesichts dieser Schuld wäre der Tod fast schon eine Erlösung für ihn gewesen.
Irgendwo in seinem Hinterkopf meldete sich eine leise Stimme und murmelte ihm zu, dass er dennoch nichts dagegen hätte, aus dieser Lage lebend herauszukommen.
Dargh schalt sich schwach. Solche Gedanken gehörten sich nicht für einen Schattenalben. Wenn der Tod auf ihn wartete, dann wollte er ihn furchtlos akzeptieren.
Theoretisch ist das schon recht anständig, meldete sich das Stimmchen, aber da die Hexenjäger fast dein gesamtes Volk ausgelöscht haben, wäre es für die Zukunft der Schattenalben doch besser, wenn du überlebst. Au!
Ein Zweig schlug ihm ins Gesicht. Wohin ihn diese Trottel auch schleiften, er hoffte, sie würden bald ankommen. Wenn sie nur für eine Sekunde ihren Griff lockerten, könnte Dargh seine Flügel ausbreiten und… Sie warfen ihn auf den Boden, leider ohne von ihm abzulassen.
„Abschaum!“ knurrte Dargh. „Wenn ich hier rauskomme, werde ich…“
„Du wirst da nicht mehr rauskommen, keine Sorge.“
Die Stimme kannte er. Diese verdammte, schöne, einlullende Stimme! Mit einem Ruck hob Dargh den Kopf, weswegen der für diese Region zuständige Hexenjäger einen Hops nach oben machte. Vor ihm saß eine dunkle Gestalt, ganz in Schwarz gekleidet, auf einem großen schwarzen Pferd, das ob des plötzlichen Krachs nervös seine Ohren drehte. Der Reiter klopfte es beruhigend auf den Hals.
„Du!“ grollte Dargh.
„Haben wir dich endlich“, meinte die Gestalt. „Du hast uns ziemlichen Ärger gemacht, Dargh. Einfach Floyd zu zerfetzen, das war dreist von dir. Wir mussten ziemlich suchen, bis wir einen Ersatz gefunden haben.“
„Lachlan, du heimtückischer Verräter! Du bist ebenso Dunkelvolk wie die, die du ermordest!“
Lachlan legte den Kopf schief, stieg ab und schlug seine Kapuze zurück. Wie alle Angehörigen seines Volkes hatte er schwarzes Haar, eine sehr blasse Haut und war auf unwirkliche Weise attraktiv. Er hockte sich so dicht vor Dargh hin, dass dieser nur einen kurzen Satz nach vorne hätte machen müssen, um ihm die Kehle durchzubeißen. Dargh hätte es vielleicht sogar getan, wäre ihm nicht die Sinnlosigkeit eines solchen Versuches bewusst gewesen.
„Die Lichtvölker schlachten einander ständig ab. Menschen töten Zwerge, Zwerge töten Elben, alle töten Orks. Niemand spricht da von Verrat. Und du willst mir weismachen, eine Todesfee, die einen Schattenalben tötet, würde ihr Volk verraten? Ah-ah. Damit kommst du bei mir nicht durch.“
„Du bist widerlich, Lachlan! Du bist noch schlimmer als die Menschen, denen du dienst.“
„Ich diene ihnen?“ Lachlan schnaufte spöttisch und wandte sich an die Hexenjäger. „Habt ihr das gehört?“
Hier und da war ein verlegenes Räuspern zu hören. Die meisten von ihnen wünschten sich seit Stunden nichts sehnlicher, als irgendwo ganz anders zu sein. Das lag nicht an dem Schattenalben, den sie hatten niederringen müssen - obwohl die immerhin über zwei Meter groß waren, schwarz wie die Nacht und von der Natur mit sehr scharfen Klauen und Zähnen bedacht. Wovor sich die Hexenjäger wirklich fürchteten, war Lachlan, ihr Vorgesetzter. Keiner von ihnen hätte je gewagt, sich seinen Befehlen zu widersetzen. Dargh kannte diese Sorte. Viele Menschen waren so. Feige, schwache Mitläufer. Nicht allein deshalb hatte er dieses Volk so verachten gelernt.
Er strafte Lachlan mit einem vernichtenden Blick. „Irgendwann bekommst du deine Abrechnung. Wenn nicht durch mich, dann auf andere Weise.“
„Ja, durch dich bekomme ich die garantiert nicht, Dargh. Für dich ist hier Sense.“ Er senkte vertraulich die Stimme. „Und damit kenne ich mich aus, weißt du.“
Dargh wandte sich ab. „Töte mich halt, aber befreie mich endlich von deiner Gegenwart.“
„Oh, du willst den Heldentod sterben. Für dein Volk, was?
Da sollte ich dir doch noch was erzählen. Du hast kein Volk mehr. Alle Schattenalben sind tot. Du bist der letzte.“
Dargh hob den Kopf und sah ihm ins Gesicht. Lachlans Augen waren so eisig grau, dass sie in der Dunkelheit zu leuchten schienen.
„Nein. Das ist nicht wahr.“
„Doch, doch. Du kannst mir ruhig glauben, mein Freund. Alle weg. Wie soll ich sagen – da hättest du wohl ein paar Hexenjäger mehr reißen sollen, eh?“
Dargh erschlaffte, als hätte man die Luft aus ihm gelassen. Die Hexenjäger, die ihn am Boden hielten, sackten ein Stück nach unten ab.
„Dann mach ein Ende“, bat er mit gebrochener Stimme.
Lachlan lächelte grausam. „Das wäre sicher sehr edel von mir. Der Gnadenstoß. Aber ich habe mir etwas Besseres für dich ausgedacht. Weil wir uns doch schon so lange kennen.“ Er beugte sich vor und sagte leise: „Ich werde mich hüten, dich zu töten, Dargh. Du wirst schön weiterleben, im ständigen Wissen, der letzte deines Volkes zu sein, ohne sein Aussterben verhindert zu haben. Der letzte Schattenalb auf der Welt. Ganz allein. Für die langen Jahrhunderte bis zu deinem Tod.“
Dargh schloss die Augen.
Lachlan erhob sich. Wortlos ging er zu seinem Pferd und stieg auf. „Ach, da ist noch was.“ Er drehte sich halb um.
„Du bist uns mitunter doch ziemlich auf die Nerven gegangen, wenn du verstehst. Das kann ich dir so nicht durchgehen lassen; die Gefahr durch dich muss minimiert werden.“ Er wandte sich kurz an die Hexenjäger. „Schneidet ihm die Flügel ab.“
Entsetzt hob Dargh den Kopf.
Lachlan schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln. „Nicht, dass du hier weiter durch die Gegend flatterst und Ärger machst, hm? Bis die Tage, Dargh.“
Sein Pferd machte kehrt.
Dargh fuhr hoch. Die sechs Männer konnten ihn gerade noch halten. „Du wirst nicht davonkommen, Lachlan! Fluch über dich! Du wirst deine gerechte Strafe noch bekommen!
Ich…“
Ihm versagte die Stimme, als sich die Hexenjäger mit neuem Enthusiasmus wieder auf ihn warfen. Lachlan schüttelte tadelnd den Kopf. Immer, wenn Leuten wie Dargh nichts mehr einfiel, kamen sie mit diesen albernen Flüchen. Er ritt davon und schien sich um die grausigen Geräusche, die hinter ihm durch die Nacht drangen, gar nicht zu kümmern.
Seth lümmelte auf seinem Pferd und sah den Schiffen im Hafen zu. Es waren schon zwei aus Goidelia eingelaufen, aber von dem neuen Hexenjäger, der heute von dort ankommen sollte, um Floyds Stelle einzunehmen, war noch nichts zu sehen. Und Seth hätte ihn entdeckt, davon war er überzeugt. Niemand kam ungesehen an ihm vorbei, auch wenn er erst kurz zu den Hexenjägern gehörte und noch nicht an einem größeren Einsatz hatte teilnehmen dürfen. Seth hielt weiter angestrengt Ausschau. Der Neue sollte was ganz Besonderes sein, war ihm gesagt worden. Sein Vater war nicht nur ein Nordmann, sondern hatte sogar einen Kontinent namens Westweinland entdeckt. Seth wusste nicht, wo das lag, oder was ein Kontinent war, aber er fand es doch beachtlich. Wenn der Vater schon solche Dinge leistete, war der Sohn bestimmt noch viel verwegener. Alle Nordmänner waren hünenhaft gewachsen, steckten dauernd Sachen in Brand und man durfte sie nicht in die Nähe von Damen lassen. Seth verstand nicht ganz, warum, aber es beeindruckte ihn sehr.
„Sollst du mich abholen?“ fragte eine tiefe Stimme. „Entschuldige, aber seit einer Viertelstunde sehe ich dir nun zu, wie du auf mich wartest. Wird langsam langweilig.“
Seth drehte sich um und sah einen blonden jungen Mann, der auf einem riesigen, hellen Pferd saß, auf dessen Hals er sich träge stützte. Das Pferd schien zu dösen.
War Seth das peinlich. „Wo kommst du denn her?“
Der Mann machte eine vage Geste Richtung Hafen.
„Ich… ich hab dich gar nicht gesehen… Ähem. Du bist also… äh… ich hab deinen Namen vergessen.“
„Mazacan.“
„Oh, ja, genau. Ich erinnere mich.“ Seth wurde bewusst, dass er hier mit einem Vorgesetzten sprach. „Äh – Sir. Ich – äh - bin Seth, Sir. Ich soll… würdest du mir bitte folgen, Sir, dann bring ich dich zum Hauptquartier, Sir.“
Mazacan gab seinem Pferd einen sanften Klaps, woraufhin es aus seiner Trance erwachte und kurz schnaubte. „Nicht so viele Sirs, in Ordnung? Ich bin noch nicht mal offiziell im Dienst.“
„Sir, ja, Sir.“
Mazacan seufzte und folgte dem nervösen Burschen.
Der Hauptsitz der Hexenjäger lag zwischen Burgh und den umliegenden Dörfern. Er schien die Hauptstadt Burgh als Machtzentrum von Caldon abgelöst zu haben.
Seth musterte Mazacan verstohlen aus den Augenwinkeln. Er war jünger, als er gedacht hatte, vielleicht Anfang zwanzig, sehr jung für einen Elitejäger, aber immer noch deutlich älter als Seth, der sich selbst erst seit knapp einem Jahr bei den gewöhnlichen Hexenjägern in Ausbildung befand und nach dem derzeitigen Stand der Dinge nur davon träumen konnte, in Mazacans Alter bei der Elite aufgenommen zu werden. Sein neuer Kollege schien wirklich wie das, was er sich naiv unter einem Nordmann vorstellte. Groß, breit, strenges Gesicht und lange blonde Haare mit einem – wie er dachte – für einen Nordmann viel zu sauberen, kurz geschnittenen dunklen Bart. Seth wandte den Blick kurz ab, weil sich etwas am Wegesrand bewegt hatte – man konnte ja nie wissen. Aber es waren nur ein paar Kinder, die die beiden mit großen Augen anstarrten. Seth verwechselte Furcht mit Ehrfurcht und straffte sich stolz, bevor er sich wieder Mazacan zuwandte. Irgendetwas stimmte nicht an ihm. Seine Haut war zu glatt, sein Haar glänzte zu sehr, seine Augen unter den dunklen Brauen waren viel zu grün.
Und seine Ohren hatten dezente Spitzen.
„Dann stimmt es also, Sir?“
Mazacan war in Gedanken sehr weit weg bei schöneren Abschnitten seines Lebens gewesen. Verständnislos drehte er sich zu dem Jungen. „Hä?“
„Dass du“, Seth senkte die Stimme, „vom Elbenvolk bist.“
„Ach so.“ Mazacan machte eine wegwerfende Geste. Aber der magere Jüngling sah ihn weiterhin so erwartungsvoll an, dass er sich erbarmte. „Mein Vater war ein Nordmann, meine Mutter eine Elbendame. Doch, ich bin in gegenseitigem Einverständnis entstanden. Früher habe ich hier in Caldon gelebt, dann bin ich mit meinem Vater zu den Nordmännern und danach ein paar Jahre nach Goidelia. Ja, ich habe Vorteile durch meinen Elbenanteil.“
„Welche denn?“ fragte Seth hingerissen.
Du liebe Güte, dachte Mazacan. Er beugte sich verschwörerisch vor und kniff ein Auge zu. „Das darf ich keinem erzählen, weißt du. Strategischer Vorteil.“
„Oh, ja, natürlich, ich verstehe, Sir.“ Seth nickte eifrig, fuhr dann übergangslos fort: „Du nimmst Floyds Platz ein. Der war ein tapferer Mann.“ Ein kurzer Blick ins Leere. „Ein Schattenalb hat ihn erwischt.“ Plötzlich kam Leben in ihn. „Er soll von dem Biest glatt in zwei Hälften gerissen worden sein, mit bloßen Klauen, ratsch, einfach so! Über die ganze Wiese soll er verteilt gewesen sein! Das war eine Riesensauerei, sagen sie.“
Mazacan verzog den Mund. Er mochte es nicht, wenn man sich an den grausamen Schicksalen anderer weidete.
„Ja, ein wirklich tapferer Mann“, wiederholte Seth hohl, ohne etwas davon zu bemerken. Dann wand er sich verlegen.
„Wenn du jetzt zu den 13 gehörst, Sir, hast du da schon… das Zeichen?“
„Hm? Ach so. Du meinst die Tätowierung. Ja, habe ich.“
Mazacan hoffte, dass der Junge sie nicht auch noch würde sehen wollen.
„Darf ich sie sehen?“
Mazacan bedauerte innerlich, dass sich das Zeichen an einer unpikanten Stelle befand, so dass man seine Ansicht niemandem begründet verwehren konnte. Er löste die Manschette vom linken Handgelenk und hielt es Seth hin. Eine Zwölf in den Ziffern der Alten Sprache, bestehend aus einem X aus zwei gekreuzten Schwertern und einer II in blutrot, dazu ein kleiner Totenkopf, der den Anführer der 13 symbolisierte.
Seth starrte es an, als hätte er nie etwas Schöneres gesehen.
„Oh“, machte er.
Mazacan zog das Handgelenk zurück, befürchtend, der Junge könnte noch darauf sabbern vor lauter Ehrfurcht.
„Na, erzähl doch mal“, forderte er ihn auf, um nett zu sein – oder damit ihm weitere Fragen erspart blieben. „Wen habt ihr denn so bei euren famosen 13 Elite-Hexenjägern?“
„Naja – im Moment sind es ja zwölf, deshalb bist ja du…“
„Schon klar, bei euren zwölf Elite-Hexenjägern halt.“
„Da ist der Chef, den lernst du bald kennen, dann haben wir die zwei Mädels…“ Der Junge lief hier tatsächlich rot an.
„…und die neun Ju… Männer.“
„Alles Menschen?“ fragte Mazacan ohne großes Interesse.
„Alle, bis auf Lachlan.“
Den Namen hatte er doch schon mal irgendwo gehört.
„Und was ist der?“ Welches Volk würde sich schon den Hexenjägern anschließen. „Ein Zwerg?“
Seth sah ihn an, als hätte er seinen Gott gelästert. „Nein, wie kommst du… Lachlan ist eine Todesfee aus höchster Familie!“
So einer, dachte sich Mazacan. Wie skrupellos musste man sein, um als Dunkelvolk bei den Elitehexenjägern mitzumachen? „Na, ich weiß nicht“, sagte er gedehnt, „Die Todesfeen, die ich bisher so getroffen habe, waren alle sehr sanfte und stille Personen… außerdem haben männliche Todesfeen doch ohnehin keine allzu spannenden Kräfte.“
Mazacan erwartete fast, der Junge würde gleich mit dem Finger auf ihn zeigen und laut ‚Blasphemie!‘ kreischen. „Lachlan ist der beste Hexenjäger, den es gibt! Er hat ungeheure Fähigkeiten! Er ist ein entziehender Untötbarer!“
Mazacan verstand den Fachjargon. Entziehend meinte, dass die Person im Stande war, anderen das Leben quasi abzuzapfen. Untötbar bedeutete natürlich, dass diese Leute eigentlich keines gewaltsamen Todes sterben konnten. Er hatte mal in einem Fachartikel gelesen, was passiert war, als man einen Untötbaren enthauptete – das musste wirklich ein bleibender Eindruck sein.
„Donnerwetter. Ich habe gehört, dass bei Todesfeen vereinzelt eine der Fähigkeiten auftritt, aber beide auf einmal? Das muss sehr selten sein.“
„Er ist derzeit der Einzige“, sagte Seth so stolz, als sei es sein Verdienst. „Er ist der Allerbeste.“
„Hm“, machte Mazacan. Er beschloss, sich von diesem Allerbesten tunlichst fernzuhalten.
„Wir sind da, Sir.“
Vor ihnen ragten die grauen Mauern des Hexenjäger-Hauptsitzes auf.
„Ich hoffe, diese stolzen Hallen werden für dich bald genauso ein Zuhause sein wie für mich, Sir.“
Mazacan ließ den Blick über das trostlos klosterartige, riesenhafte Gemäuer schweifen und bedauerte, mit den Nordmännern nicht abgesoffen zu sein.
Seth lotste Mazacan durch eine große Halle, von der eine wuchtige Treppe in einen hohen Flur führte. Alles war darauf angelegt, dass sich Besucher winzig und unwürdig fühlen mussten. Bei Mazacan, der solche Dimensionen nicht gewohnt war, funktionierte das ganz gut. Seth blieb vor einer schweren Doppeltür stehen und klopfte zaghaft. Von drinnen drang ein dumpfes Brummen, das man mit viel Phantasie als Ja hätte deuten können. Seth öffnete die Tür und sie traten ein.
Entgegen von Mazacans Erwartungen passte das Zimmer nicht zu den enormen Ausmaßen des restlichen Gebäudes und wurde von einem massigen Schreibtisch fast ausgefüllt.2 Hinter dem Schreibtisch befand sich ein großes Fenster, vor dem ein Mann mit verschränkten Armen stand, der ihnen den breiten Rücken zudrehte.
„Ich bringe hier Mazacan, Mein Lord“, sagte Seth eifrig.
„Ist in Ordnung“, brummte der Mann am Fenster, ohne sich umzudrehen. „Du kannst gehen, Seth.“
Der Junge warf Mazacan noch einen andächtigen letzten Blick zu, der diesen leicht beunruhigte, und zog die Tür hinter sich ins Schloss.
„Setz dich doch.“
Mazacan ließ sich auf einen der beiden Stühle vor dem Schreibtisch sinken. Der Mann drehte sich um und warf ihm einen müden Blick zu. Er war so groß wie Mazacan und sehr robust gebaut, als wäre er ein Holzfäller oder ähnliches gewesen. Das im Nacken zusammengefasste Haar war ebenso schwarz wie sein kurz geschnittener Kinnbart. Die Augen waren von so dunklem Blau, dass auch sie fast schwarz wirkten. Sie schauten Mazacan derart unergründlich und resigniert an, dass er sich fühlte wie auf seiner eigenen Beerdigung.
„Du bist jetzt ein Lord, weißt du“, sagte der Mann mit seiner brummigen Stimme.
„Bitte?“
Sein Gegenüber strich sich kurz durch die Haare und seufzte, dann wurden seine Züge wacher und härter. „Wenn du zu den 13 gehörst, bekommst du automatisch den Titel eines Lords. Du kannst von den Leuten verlangen, dich mit ‚Mein Lord‘ anzusprechen.“
„Oh – lieber nicht.“
„Verstehe. Meine Sache ist das auch nicht.“
„Aber Seth…“ „Seth begeistert sich zu sehr. Im ersten Ausbildungsjahr sind die Gewöhnlichen immer so enthusiastisch. Ich hoffe, das wird sich legen, wenn er zum ersten Mal verwundet wurde, sonst könnte es böse enden.“
Ja, weil ihn irgendwann ein entnervter Hexenjäger erschlagen wird, dachte Mazacan bei sich.
„Also, Mazacan, du bist jetzt einer der 13. Es ist ein gefährlicher Beruf, der Widerstand wird immer stärker.“ Irgendwie hatte Mazacan den Eindruck, dass das den obersten Hexenjäger beinahe freute. „Du nimmst Floyds Platz ein. Man wird dir erzählen, er sei tapfer gewesen, aber das stimmt nicht. Er war skrupellos und viel zu eifrig, und hat sich maßlos überschätzt. Mach nicht denselben Fehler.“
„Das werde ich nicht, Sir.“
Sein neuer Chef warf ihm einen vieldeutigen Blick zu. „Du unterstehst mir. Sonst niemandem. Du bist hier in eine hohe Position gestolpert. Das mögen nicht alle. Zumal du der jüngste der Elite bist - in deinem Alter würdest du dort normalerweise nicht aufgenommen. Ich habe diese Ausnahme bei dir nur gemacht, weil du der… zivilisierteste der Kandidaten warst. Die meisten werden nicht gerne Befehle von jemandem entgegennehmen, der jünger ist als sie selbst. Pass also auf.“ Er bemerkte Mazacans Gesichtsausdruck. „Wenn du zwanzig Jahre dabei bist wie ich, verstehst du, was ich meine.“
„Verzeihung, Sir, aber du scheinst mir nicht besonders alt zu sein.“
„Ich musste sehr früh erwachsen werden“, sagte der oberste Hexenjäger dumpf. Dann sah er Mazacan an, als wäre ihm etwas eingefallen. „Ich bin Wolcod. Welche Götter auch immer, mögen sie deiner Seele gnädig sein.“
Seth führte Mazacan unter einer Fülle von ebenso eifrigen wie überflüssigen Erklärungen und Kommentaren zu dessen Unterkunft. „Sir, das ist das Zimmer für die Elite-Neulinge, Sir. Sobald du die Probezeit bestanden hast, bekommst du natürlich ein besseres, Sir…“, nuschelte Seth, als er die Tür öffnete.
Mazacan sah sich um. Im Zimmer befanden sich ein kleines Bett,3 ein kleiner Schrank und eine kleine Kommode vor einem kleinen Fenster. Er seufzte leise. Er selbst war eindeutig das Größte hier.
Seth schämte sich, als sei es seine Schuld, dass das Zimmer zu kurz und Mazacan zu lang war. „Tut… tut mir leid, Sir… a-aber…“ Mazacan drehte sich um und war erstaunt, dass seine Schultern nicht die Wände streiften. „Ach, Quatsch. Ich habe monatelang in einer Koje auf einem Nordmannschiff geschlafen – während ich noch gewachsen bin. Als ich mich nach der Fahrt wieder aufrichten konnte, war ich plötzlich einen halben Kopf größer.“
„Wirklich, Sir?“ fragte Seth ehrfürchtig. „Du bist auf einem Nordmannschiff gefahren?“
„Äh… ja.“
„Bist du da auch den Seeungeheuern begegnet, die so groß sind, dass sie ein ganzes Schiff verschlingen können?“
Mazacan wollte gerade unwillig Auskunft geben, da fragte Seth schon weiter.
„Und, und, stimmt es wirklich, dass die Westweinländer überall tätowiert sind? Sogar die Mädchen? Die den ganzen Tag nur lachen und tanzen? Und sie tragen nichts als Blumenketten und…“ Mazacan unterbrach den Jungen, bevor der noch überkochte. „Nein. Das ist auf den Südmeerinseln. In der Gegend, die ich meine, war es zu kalt für Blütenkränze, und die Mädchen da hätten dir das Herz herausgeschnitten, wenn du ihnen zu nahegetreten wärest.“
Seth war völlig hingerissen. „Toll!“
Mazacan rieb sich kurz den Nacken und erinnerte sich daran, dass Seth zum einen eben noch sehr jung und zum anderen wahrscheinlich nie weiter als bis zur Grenze der Lordschaft gekommen war. „Ähm. Ja. Nun – ich hatte eine lange Überfahrt und so, also wenn du so nett wärst…?“
„Sir?“ fragte Seth verständnislos.
„Naja, ich würde gerne auspacken und… also – na… husch!“ Er machte eine Bewegung, als würde er etwas zur Tür hinauswerfen.
Jetzt verstand Seth, dass er hier nicht mehr gefragt war. „Oh!
Natürlich, Sir! Entschuldige, Sir! Wie konnte ich nur…“ Seth wich unter reichlich Entschuldigungen und noch mehr Sirs aus dem Zimmer. Mazacan grinste gequält, dann schob er die Tür hinter dem Jungen zu und seufzte. Die Nordmänner waren zwar nicht eben für ihre leise und sittsame Sprachkultur bekannt, aber keiner von denen hatte an einem Stück so viel geredet, ohne Luft zu holen. Nicht mal der Irre Høger, der immer leidenschaftlich gewarnt hatte, der große weiße Wal werde sie alle töten.
Generell unterteilte man die Dunkelvölker in die Unterirdisch Hässlichen und die Überirdisch Schönen. Die Hässlichen, wie einige Meergeister und Kobolde, hatten im Laufe der Jahrhunderte ein möglichst abstoßendes Äußeres entwickelt, um Angreifer abzuschrecken und Opfer vor Angst zu lähmen. Die Schönen, wie Alben und Todesfeen, waren von ansehnlicher Erscheinung, hatten angenehme Stimmen und dufteten gut. Angreifern verging dadurch die Lust aufs Angreifen, Opfer wurden eingelullt. Einige der Hässlichen sahen Lichtvolk schlicht als Nahrung an, einige der Schönen brauchten die Lichtvölker zur Erhaltung ihrer eigenen Art.
Alben zum Beispiel hatten schon immer eine eher niedrige Geburtenrate, weshalb sie in besonders schwierigen Zeiten zur Blutauffrischung auf Menschen zurückgriffen. Die menschlichen Erbanlagen waren denen der Alben gänzlich unterlegen, weshalb die Kinder dieser eher flüchtigen Begegnungen alle albischen und keins der menschlichen Merkmale trugen, zumindest in der ersten Mischgeneration.
Die meiste Zeit über hatten die Bewohner von Zweiinsel das so hingenommen. Es gab ja Schlimmeres, als nachts einen schönen Alben im Zimmer zu haben, und wer in der letzten Oktobernacht unterwegs war, hatte selbst schuld, wenn ihn ein Nuckelavee verschlang. Diese liberale Haltung hatte so lange gut funktioniert, bis es zu viele Menschen wurden. Sie nahmen dem Dunkelvolk den Lebensraum, es kam immer häufiger zu Zusammenstößen.
Einige Völker, wie die Todesfeen, konnten sich mehr oder weniger mit den Menschen arrangierten. Denn weibliche Todesfeen hatten die Voraussicht über den nahenden Tod der Personen in ihrem Umfeld. Es galt bei den großen Clans Zweiinsels als nützlich und chic, eine solche Dame regelmäßig zu konsultieren. Wenn sie einen nahenden Todesfall prophezeite, konnte man versuchen, seinem Ende zu entgehen – oder zumindest schon mal die Formalitäten klären.
Von daher kamen Todesfeen bei den Menschen gut an und wurden weitgehend zufriedengelassen.
Andere nicht. Einige Dunkelvölker jagten und fraßen, wie erwähnt, tatsächlich gerne Lichtvolk. Um die Menschen vor diesen Kreaturen zu schützen, waren die Hexenjäger ursprünglich ins Leben gerufen worden. Sie halfen der Zivilbevölkerung gegen Übergriffe von Ghulen oder bei Koboldbefall in der Scheune.
Aber mit der Zeit wendete sich die Stimmung immer mehr gegen das Dunkelvolk an sich, ohne zu unterscheiden, ob sie dem Lichtvolk wirklich schadeten oder nicht. Selbst die Dunkelelben, die eigentlich den Elben und damit dem Lichtvolk angehörten, wurden nun als Bedrohung empfunden, einfach, weil sie gruselige graue Haut hatten und sich verteufelt gut mit Flüchen auskannten. Alles, was auch nur entfernt einen dunklen Eindruck machte, war jetzt suspekt und sollte möglichst komplett von Zweiinsel verschwinden – unabhängig davon, dass die meisten Dunkelvölker schon lange vor den Menschen dort gelebt hatten. Als der Bestand von Dunkelvolk und Dunkelelben rapide gesunken war, weiteten die Hexenjäger ihren Wirkungskreis aus. Sie gingen jetzt auch gegen Menschen vor, die verdächtige4 Magie praktizierten. Das waren alles böse Hexen und Hexer, die man aufhalten musste. Und wer etwas dagegen sagte, der musste erst recht aufgehalten werden. Irgendwann waren die Hexenjäger von einer Schutztruppe zu einem Instrument der Unterdrückung geworden.
Die 13 Hexenjäger, denen Mazacan nun angehörte, waren die ranghöchsten aller Hexenjäger und kamen überall von Zweiinsel. Sie kümmerten sich um die wichtigen Verdächtigen und die großen Einsätze. Während die normalen Hexenjäger zum Großteil einen zusammengestoppelten Haufen menschlichen Abschaums darboten, waren die Elite-Hexenjäger hochdiszipliniert. Sie mussten dafür sorgen, dass die Masse der Hexenjäger nicht außer Kontrolle geriet und sie, wenn nötig, zur Verantwortung ziehen. Unter Wolcods Vorgänger, der ein mysteriöses Ende fand,5 wüteten die Hexenjäger schlimm unter der Bevölkerung. Als Wolcod der Oberste Hexenjäger wurde, griff er gnadenlos durch und sorgte dafür, dass die 13 die Normalen besser unter Kontrolle hatten – besser, aber nie völlig.
Der durchschnittliche Bürger von der Straße bekam von so etwas ohnehin wenig mit. Dort herrschte eine große Furcht vor den 13, weil sie so viel Autorität innehatten. Bei den normalen Hexenjägern genossen sie enormen Respekt. Es war eine Ehre, einen Platz in ihrer Mitte angeboten zu bekommen. Da sagte man nicht nein. Schon allein deshalb, weil die, die es taten, meist spurlos verschwanden.
Mazacans Dienst würde zwar erst später anfangen und bis dahin war noch einiges zu erledigen, trotzdem ging eine bestimmte Sache erstmal vor. Er hatte sie schon so lange nicht mehr gesehen. Seit Jahren war er nicht mehr in Caldon, geschweige denn Rigby, gewesen. Sie würde sich sehr verändert haben, so wie er selbst ja auch. Mackenzie, seine beste Freundin, wusste nichts von seinem neuen Beruf. Mazacan hatte eine dunkle Ahnung, dass sie nicht sehr begeistert sein würde.
Er erreichte den Hügel, von dem aus er ihr Haus sehen konnte. Wenigstens hier war fast alles so wie in seiner Erinnerung. Das konnte man vom Rest von Rigby nicht sagen. Früher war es ein eigenständiges kleines Dorf gewesen, jetzt gehörte es zu den äußersten Vororten von Burgh. Als kleiner Junge war ihm alles hier viel größer und schöner vorgekommen.6
Mackenzie kam aus dem Haus. Mazacan stutzte kurz. Kenzie war drei Jahre jünger als er. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie fast noch ein Kind gewesen, und jetzt war sie eine junge Frau. Dennoch erkannte Mazacan sofort ihren Gang wieder und die Art, wie sie sich die roten Haare aus dem Gesicht strich. Das beruhigte ihn ungemein. Sie ging gerade zur Wäscheleine, um eine neue Ladung Wäsche aufzuhängen.
Während Mazacan auf das Haus zulief, überlegte er, wie er auftreten sollte. Vielleicht war sie ja sauer, weil er so lange fort gewesen war? Vielleicht erkannte sie ihn gar nicht wieder? Er war bis auf wenige Schritte herangekommen, ohne dass sie ihn bemerkt hatte. Mazacan beschloss, sie so zu begrüßen, wie er es immer getan hatte.
„Miep!“ machte er und kniff sie in die Seiten.
Sie quiekte auf und fuhr herum. Erst schaute sie ihn nur ungläubig an. „Mazacan?“ fragte sie dann.
„Na, Kenzie. Ich, äh, bin wieder da, wie du siehst.“
Einen Moment lang fürchtete er irgendwie, sie würde ihm eine runterhauen. Stattdessen jauchzte sie und fiel ihm um den Hals. Mazacan drückte sie und war überrascht, als er merkte, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Sie löste sich von ihm und er stellte sie wieder auf den Boden zurück. Ihm war früher nie aufgefallen, dass sie ihm kaum bis zum Kinn reichte.
Vermutlich war das früher auch nicht der Fall gewesen.
Sie fasste ihn an den Armen und nahm ihn genauer in Augenschein. „Meine Güte, Mazacan“, meinte sie neckisch.
„Was ist aus dir geworden. Als du hier weggegangen bist, hast du wie ein Elbenbengel ausgesehen, und jetzt könnte man dich beinahe für einen erwachsenen Mann halten. Du hast sogar ein bisschen Bart bekommen. Das ist bei Halbelben aber selten. Da ist wohl der Nordmann mit dir durchgegangen.“ Sie klapste ihm mit dem Handrücken auf die Leibesmitte.
Mazacan verkniff sich gerade noch ein mädchenhaftes Kichern und räusperte sich. „Das ist aber auch die einzige Stelle.“ Er hob einen elbisch haarlosen Unterarm.
„So bist du mir auch lieber als wie einer dieser Halbaffen, die hier so rumlaufen. Nicht, dass ich dich nicht mehr liebhätte, wenn…“ Sie brach ab, schob ihn ein Stück weit von sich und verschränkte die Arme. „Und welchem Umstand verdanke ich nun die unfassbare Tatsache deines Besuches?“ Kenzie zeigte nur selten tiefe Gefühle. Mazacan wusste das. Die Umarmung eben war eine große Ausnahme gewesen. Sie hatte sich meistens im Griff. Vielleicht lag das auch daran, dass ihr Vater ein Erdelementar war. Die galten als unerschütterlich. Allein Kenzies große gelbgrüne Augen ließen erahnen, dass sie ebenso ein Halbblut war wie Mazacan. Er mit seinem aufbrausenden Wesen bewunderte Kenzie für ihre Selbstbeherrschung. Genau genommen bewunderte er alles an ihr.
„Es ist kein Besuch, Kenzie. Ich habe hier eine neue Arbeit angetreten. Ich bleibe hier.“
Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht, aber sie fing sich wieder. „Was denn, hier? In meinem Garten? Hast du eine Stelle als Vogelscheuche bekommen?“
Er sah auf den Boden. „Nicht ganz. Sowas ähnliches.“
„Und erzählst du es mir auch, oder muss ich es erraten?“
„Nein, nein“, versicherte er hastig. „Nicht raten. Ich werde es dir erzählen. Nur – in Ruhe, ja? Ich muss eigentlich gleich wieder weg… ich wollte nur… ich wollte dich nur wissen lassen, dass ich wieder da bin.“
„Na, das weiß ich ja jetzt.“ Sie lächelte ihn an. „Ich harre gespannt. Geh ruhig, sonst schmeißen sie dich an deinem ersten Tag schon wieder raus. Na hopp.“ Sie schob ihn in Richtung Gartentor.
„Ich bin wirklich froh, wieder hier zu sein.“
„Du hast dich auch lang genug gedrückt, Elbenohr.“
Elbenohr. Das war ihr alter Spitzname für ihn. Einer der Nordmänner seines Vaters hatte mal mitbekommen, wie sie ihn so nannte. Von da an war er bei ihnen nur noch das Elfenöhrchen gewesen. Zumindest so lange, bis er stark genug gewesen war, um die Kerle zu verdreschen.
„Bis bald, Kenzie.“
Als er sich zum Gehen wandte, hielt ihn Kenzie am Arm fest. „Mazacan – nicht, dass du denkst, ich wäre paranoid geworden in den Jahren…“ Sie wurde ernst. „Sei vorsichtig, ja? Die Dinge haben sich hier geändert. Leg dich nicht mit den Hexenjägern an.“
Mazacan schluckte. „Keine Sorge, Kenzie. Mit denen werde ich keinen Ärger haben.“ Er drückte ihre Hand und ging.
Er stand im Schatten der Eiche, die auf dem kleinen Hügel wuchs und beobachtete, wie der Mann sich vom Haus entfernte und auf sein Pferd stieg. Der Blonde winkte nochmal und ritt weg. Sie stand am Tor und sah ihm nach. Verdächtig lange, wie er fand. Dann ging sie zurück zum Haus.
Mal sehen, was das eben war , dachte er und setzte sich in Bewegung.
Kenzie war etwas durcheinander. Ausgerechnet jetzt kam Mazacan zurück. Sie hängte ein Laken auf die Wäscheleine. Natürlich freute sie sich. Und wie. Mazacan war ihr bester Freund, seit sie sechs Jahre alt gewesen war. Damals war sie fast ertrunken, aber er war ohne zu zögern ins Wasser gesprungen und hatte sie an Land gezogen. Bis heute hatte sie furchtbare Angst vor großen Mengen Wasser. Er war der Einzige, der das wusste. Mit siebzehn war Mazacan zu seinem Vater nach Nord gezogen. Sie hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen. Aber sie war froh, dass er endlich wieder da war. Vielleicht konnte er ihr sogar helfen. Jetzt, wo Dargh verschwunden war. Sie machte sich ernsthaft Sorgen um ihren Freund. Es passte nicht zu ihm, sich wochenlang nicht zu melden. Sie war sich sicher, dass ihm etwas zugestoßen sein musste. Abgesehen von ihrer persönlichen Bestürzung war der Widerstand auf Dargh angewiesen. Wie sollte sie die Bewegung in Rigby aufrechterhalten mit so wenigen Leuten? Eine vage Hoffnung kam in ihr auf. Vielleicht, wenn sie es ihm schonend erklärte, würde ja Mazacan… „Na, mein Sonnenschein?“
Kenzies Herz machte einen Sprung. Lachlan stand hinter der Wäscheleine und hatte dekorativ eine Hand daraufgelegt.
„Was machst du denn Schönes?“
Kenzie strich ihr Haar glatt und sammelte sich. Jedes Mal, wenn sie Lachlan so aus der Nähe sah wie jetzt, schien ein Teil ihres Selbst selig grinsend umzufallen. Dabei verachtete sie Lachlans Charakter zutiefst und mühte sich, jede Sympathie im Keim zu ersticken. Sie tat ihr Bestes, Lachlan diesen inneren Zwiespalt nicht bemerken zu lassen.
„Nichts, was dich anginge, Hexenjäger“, sagte sie nüchtern und hängte ein weiteres Laken über die Leine – genau vor Lachlan. Dann drehte sie sich um und nahm einen der leeren Wäschekörbe, darauf achtend, der verhängten Todesfee nicht völlig den Rücken zuzudrehen.
„Nah, komm schon, Kenzie.“ Lachlan tauchte unter der Leine durch. „Du erzählst mir nicht alles. Wer zum Beispiel war der jungsche blonde Klopper, der dir so wehmütig nachgewinkt hat?“
Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte sie beobachtet.
„Niemand. Nur ein Bekannter von früher.“
„Wenn du alle Bekannten so warmherzig begrüßt, hast du bei mir aber einiges nachzuholen.“
Sie stellte den Korb beiseite und hoffte, dass er nicht sah, wie sich ihre Finger um die Griffe krampften. „Du bist kein Bekannter. Du bist ein Staatsbeamter.“
„Heute nicht, Sonnenschein. Ich bin gerade außer Dienst.
Als Privatperson.“
Sie warf einen Blick auf seinen metallbeschlagenen Gürtel, an dem zwei unbehagliche Messer hingen. Mit denen hätte er mühelos eine größere Operation durchführen können.
Vermutlich hatte er das sogar schon.
„Privat? Mit den Dingern?“
Er hob unschuldig die Hände. „Du magst es nicht glauben, aber es gibt ein oder zwei Leute auf der Welt, die Interesse daran hätten, mir Schaden zuzufügen.“
„Was du nicht sagst. Das ist wohl Berufsrisiko.“
Sie nahm die Gartenschere und begann, die Rosenbüsche zu stutzen. Das war eigentlich nicht nötig, aber mit der Schere fühlte sie sich irgendwie besser. Vielleicht fand sie an dem Kerl ja eine Stelle, die nicht nachwuchs, wenn man sie abschnitt.
Lachlan lehnte sich an die Hauswand und beobachtete, wie sie sinnlos an den Büschen herumhantierte. „Und, wo kommt dein… Bekannter her?“
„Von hier. Er ist… nach langer Reise heimgekehrt.“
„So. Warum?“
Kenzie ließ die Schere kurz sinken. „Na, deiner Theorie nach natürlich, um Hexenjäger, König und Regime zu stürzen. Bei mir treffen sich doch immer alle Widerständler.
Ach nein, wie dumm von mir, ich bin ja sogar der Kopf des Widerstandes hier!“
Lachlan zog nur eine Augenbraue hoch.
„Lachlan. Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich habe mit dem ganzen Widerstand nichts zu tun. Ich weiß wirklich nicht, wie du darauf kommst.“
Er machte eine ausschweifende Geste.
„Du bist völlig paranoid“, meinte Kenzie.
„Nein. Nur aufmerksam.“ Er stand plötzlich neben ihr. „Ich weiß, dass du mit dem Widerstand unter einer Decke steckst. Ich werde es beweisen, du wirst mir alles erzählen, was du darüber weißt, und dann war es das mit eurem Aufstand, mein Sonnenschein.“
Kenzie verschnitt sich und trennte eine Rose vom Busch. Sie drängte sich, ihn nichts von ihrer Nervosität merken zu lassen, fischte die Rose aus den Zweigen und lächelte liebenswürdig. Ihr fiel nichts Besseres ein, als eine Ansprache, die mal einer ihrer früheren Mitstreiter gehalten hatte.
„Lachlan, meine Güte. Sei doch nicht immer so feindselig.“
Sie steckte ihm die Rose an den Griff seines Messers. „So viel Hass und Gewalt die ganze Zeit. Entspann dich. Zurück zur Natur der Dinge. Lass den Frieden in dein Herz.“
Er sah auf die Rose und wieder auf sie. Dann fasste er in den Rosenbusch. Man hörte ein leises, zischendes Geräusch, als würde man mit nassen Fingern eine Kerze ausdrücken.
Der ganze Busch schien zu verdorren und schrumpelte in sich zusammen, bis nur noch ein toter Stumpf zurückblieb.
Das waren die Rosen meiner Mutter, du Mistkerl, dachte Kenzie. Scheinbar ungerührt sagte sie zu ihm: „Schau an. Ich wusste nicht, dass du das auch bei Pflanzen kannst.“
„Ich kann das bei allem, das lebt, Sonnenschein.“ Er ließ den toten Busch los und legte seine rechte Hand über ihre Halsschlagader. „Bei den meisten Völkern ist das die effektivste Stelle zum Entziehen. Geht schneller als man denkt.
Bei Langlebigen ist der Aufwand etwas größer. Zu viel Leben drin, weißt du.“
Kenzie sah ihm direkt ins Gesicht. „Na, da möchte ich dir nicht deine kostbare Zeit stehlen, Lachlan.“ Sie schob seine Hand weg, wandte sich ab und fuhr fort, die Wäsche aufzuhängen. „Aber wenn du das nächste Mal angeben möchtest, nimm doch nicht wieder meine Rosen, ja? Ich hätte da genug Unkraut für dich.“
Lachlan sah sie einen Moment lang irritiert an, musste grinsen und trat zu ihr. „Irgendwann krieg ich dich.“
Er verließ den Garten. Kenzie wartete, bis er weg war, dann ließ sie die angehaltene Luft entweichen.
Als er bei seinem Pferd ankam, merkte Lachlan, dass er immer noch Kenzies Rose am Gürtel trug. Er zog sie heraus, um sie zu zerknüllen und fortzuwerfen. Doch er hielt inne, starrte die Blume an und steckte sie nach kurzem Zögern behutsam in die Innentasche seines Mantels, bevor er sich auf sein Pferd schwang.
„Na komm. Zeit, sich Floyds Ersatzmann anzuschauen.“ Er ritt in Richtung Hauptsitz davon.
Mazacan hatte sich bald mit den meisten anderen Hexenjägern der Eliteeinheit bekannt gemacht, stets verfolgt von Seth, der gespannt darauf lauerte, seinem neuen Idol zu Diensten sein zu dürfen. Die 13 Hexenjäger selbst waren keine Leute, denen man nachts auf einsamer Straße hätte begegnen wollen. Alle trugen – wie er mittlerweile auch – die typische Hexenjäger-Montur ganz in Schwarz. Die beiden Damen der Elite, die Seth so in Verlegenheit gebracht hatten, waren zwar auf den ersten Blick nett anzuschauen, aber in keiner Hinsicht vertrauenerweckender als ihre männlichen Kollegen. Am ehesten sympathisch war Mazacan, abgesehen von Wolcod, wohl Morgan, ein Berg von Mann, der noch länger im Geschäft war als sein Chef und schon langsam grau wurde. Vermutlich hatte er in seinem Leben mehr Leute umgebracht als Mazacan je begegnet war, doch zumindest gab er im Gegensatz zu manchem seiner Kollegen nicht damit an. Keiner der 13 hatte Kinder oder war verheiratet. Dafür fiel Mazacan eine ganze Liste von Gründen ein. Er hätte sich auch nicht geheiratet, als schwarzgewandeter Staatsbeamter, der jede Nacht verschwand, um ganze Familien zu verhaften und wer weiß was noch mit seinen verrückten neuen Schlächterfreunden hinter den Mauern seines von allen gemiedenen Arbeitsplatzes trieb. Obwohl, er persönlich hätte sich auch schon vorher nicht geheiratet. Irgendwie kam ihm Kenzie in den Sinn und versetzte ihm einen Stich. Um sich abzulenken, zählte er im Kopf die bereits bekannten Hexenjäger ab. Er kam auf zwölf, sich selbst eingeschlossen. Natürlich, die Todesfee fehlte noch.
„Und Lachlan, wo ist der?“ wandte er sich an Morgan, was dem im Hintergrund lauernden Seth sicher das Herz brach. Der ältere Mann sah finster auf ihn herab. „Hast du es so eilig, dem zu begegnen? Da mach dir mal keine Sorgen. Du wirst bald mehr von ihm haben als dir lieb ist. Lachlan führt alle neuen Elitehexenjäger ein. Die erste Zeit gehörst du praktisch ihm.“
Mazacans Magen sank ob dieser Neuigkeit. „Aber Wolcod meinte, ich unterstünde nur ihm selbst…“ „Ja, das stimmt auch. Sobald du weißt, wie hier alles läuft.“
„Und wie lange wird das dauern?“
„Das kommt darauf an, wie schnell du lernst.“ Morgan zuckte mit den Schultern. „Wenn du schnell lernst, in ein paar Monaten vielleicht. Wenn du langsam lernst, bist du sowieso schon vorher tot.“
Mazacan seufzte verhalten. Was hätte er für ein tolles Leben unter den Nordmännern haben können. Er war zwar von dort weg, weil er im Grunde seiner Seele doch eine Landratte war und sich hoffnungslos mit seinem Vater zerstritten hatte, aber im Vergleich zu den Zuständen hier erschien es ihm wie der Himmel auf Erden. Wenn auch ein ziemlich kalter, schwankender Himmel unter einem Haufen grölender Leute.
„Dann sollte ich besser schnell lernen.“
„Das solltest du“, murmelte Morgan. „Pass auf mit Lachlan.
Er ist schon erschreckend lange bei den Hexenjägern. Er und Wolcod verstehen sich überhaupt nicht.“ Er sah sich kurz um. „Lachlan hat den Chef damals angeworben. Er ist nicht besonders glücklich darüber, dass sein einstiger Schüler ihm jetzt Befehle erteilt. Und er wird auch nicht glücklich sein, dass irgendein junger Hüpfer wie du einfach so eine hohe Position eingenommen hat und ihm vielleicht noch dazwischen pfuscht.“
„Ich dachte, der Kerl ist so toll. Wieso hat der König dann nicht ihn zum Chef der Hexenjäger gemacht?“
„Selbst der König ist nicht so dumm, Lachlan noch mehr Macht zu geben. Da könnte er ihm genauso gut gleich seine Krone in die Hand drücken. Deshalb hält er sich ja Wolcod dazwischen, auch wenn ihm seine Methoden zu weich sind.
Aber Wolcod hat als Einziger keine Angst vor Lachlan.“
„Und du hast Angst vor ihm?“
Der riesige Mann nickte auf eine Art und Weise, die in Mazacan etwas verknotete.
„Also pass auf. Es hat lange genug gedauert, einen Ersatz für Floyd zu finden. Stirb nicht auch so bald.“ Morgan gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ging.
Mazacan schüttelte befremdet den Kopf. Was konnte jetzt noch schlimmer kommen?
„Du bist also der Neue“, sagte jemand.
Er brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, dass es Lachlan war, der hinter ihm stand. Mazacan kannte Dunkelvolk-Stimmen. „In der Tat, der bin ich“, antwortete er leicht gereizt und drehte sich um.
Für eine Todesfee war Lachlans Gesicht fast etwas zu hart, fand er. Normalerweise sahen auch männliche Todesfeen sehr sanft und ätherisch aus. Der hier aber wirkte, als hätte er schon mal im Blut von Jungfrauen gebadet.
Lachlan zog die Augenbrauen zusammen. „Du bist das also…“ „Ach, kennen wir uns?“ Das hätte Mazacan bestimmt nicht vergessen. Obwohl Lachlan etwas kleiner war als er, hatte er das Gefühl, zu ihm aufsehen zu müssen.
„Wir? Nein… nicht wirklich.“ Lachlan verschränkte die Arme vor der Brust. „Also – Mazacan, oder? – solange du hier noch… neu bist, werde ich dafür sorgen, dass du auch… zurechtkommst.“
Lachlan hatte eine nervtötende Art, die Sätze zu betonen.
Obwohl harmlosen Inhaltes, klangen sie anzüglich, spöttisch, drohend oder alles zusammen.
„Ich werde mich bestimmt schnell einfinden.“
„In manchen Bereichen hast du dich gewiss schon ganz wunderbar eingefunden.“
Was soll das denn nun schon wieder heißen? fragte sich Mazacan verwirrt.
„Ich weiß, du kommst von hier, aber wie wäre es mit einer kleinen Tour zu Anfang?“
„Warum nicht.“ Woher weiß der das überhaupt?
Er folgte Lachlan in den Hof und ein komatös anmutender Stallknecht brachte ihre Pferde. Lachlans schwarzer Hengst war sehniger und schlanker gebaut als Mazacans Nordrossstute Skadi. Irgendetwas hielt Mazacan davon ab, sich dem Tier zu nähern. Lachlan hatte da bei Skadi keine Scheu.
„Na, du Große?“ Er streckte die Hand aus, um die Stute zu streicheln.
Mazacan grinste innerlich und freute sich darauf, wie sein Pferd nach der Todesfee schnappen würde. Skadi war ein sehr sprödes Tier und ließ sich nur von wenigen Personen anfassen. Mazacan hatte oft gedacht, er hätte einen schlechten Einfluss auf sie. Aber anstatt dem Feenschnösel die Finger abzubeißen, ließ sich Skadi von Lachlan kraulen und genoss es offensichtlich auch noch.
Flittchen, dachte Mazacan.
„Es scheint, als hätten wir ein paar gemeinsame Freunde“, meinte Lachlan und stieg auf sein unheimliches schwarzes Pferd.
Keiner von meinen Freunden – abgesehen von diesem dummen Gaul – würde sich je freiwillig mit dir abgeben, dachte Mazacan, brummte aber: „Möglich.“
„Wir werden uns bestimmt bestens verstehen“, sagte Lachlan, was eher klang wie: Es wäre besser für dich, wenn wir uns gut verstünden, weil ich dir dann nicht gleich die Eingeweide rausreißen müsste.
„Bestimmt“, knurrte Mazacan und stieg auf. Er hasste Lachlan schon jetzt von ganzem Herzen.
Mazacan ritt neben Lachlan her und musterte die Landschaft. Er beobachtete die Reaktionen der Leute, an denen sie vorbeikamen. Die meisten schauten hin und schnell wieder weg, als sei der kurze Blick schon zu viel gewesen. Viele hatten Angst, aber in manchen Gesichtern sah Mazacan auch schlecht verborgene Feindschaft. Er fühlte sich sehr unwohl. Die Hexenjäger in Goidelia, zu denen er gehört hatte, waren anders gewesen als die in den Reichen der großen Ostinsel. Auf Goidelia gab es schon immer mehr Elben und mehr Dunkelvolk als Menschen. Deshalb war es den Hexenjägern dort nie gelungen, wirklich viel Macht zu erlangen. Sie glichen eher noch der Schutztruppe, die sie ursprünglich mal gewesen waren. Wenngleich er auch dort unerfreuliche Dinge erlebt hatte, er hatte sie noch gut verdrängen können. Aber hier – natürlich hatte es schon Hexenjäger gegeben, bevor er fortgegangen war, aber sie hatten in seinem Leben nie ein Ärgernis dargestellt.
Als hätte Lachlan seine Gedanken gelesen, meinte er leichthin: „Dein Vater ist ein Nordmann. Du müsstest doch gewohnt sein, dass dir die Leute besorgte Blicke zuwerfen.“
„Mein Vater war vor allem ein Handelskapitän.“
„Ah, deshalb bist du so weich.“
Mazacan sah auf Skadis Ohren. Sein Vater, Magnus, hatte ihn tatsächlich ähnlich eingeschätzt. Und dann war er mit großen Entdeckern und diesem blöden neuen Kontinent gekommen. Sie hatten sich furchtbar zerstritten. Mazacan hätte ihn nicht fragen sollen, wie er darauf kam, sich Entdecker eines Kontinents zu nennen, auf dem es schon Jahrhunderte alte Hochkulturen gab. Das hatte seinem Vater das Herz gebrochen. Heute verstand Mazacan, wieso. Es war das einzig wirklich große, das Magnus in seinem Leben je vollbracht hatte. Und sein Sohn machte sich darüber lustig.
„Ich bin lieber weich als abgestorben“, murmelte er.
„Süß“, kommentierte Lachlan. „Hast du überhaupt schon mal wen umgebracht?“ Er fragte das, als würde er sich nach dem Wetter erkundigen.
Wieder klebte Mazacans Blick an Skadis Ohren fest. Er dachte nicht gerne daran. „Hat sich nicht vermeiden lassen.“
Das ließ es sich tatsächlich manchmal nicht, wenn jemand brüllend und mit wirbelndem Schwert plötzlich angestürzt kam.
Die Todesfee lächelte spöttisch. „Und vermutlich hast du immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen, was?“
„Ich bin der Meinung, dass es um jedes Leben schade ist“, knurrte Mazacan gereizt. Aber ob das auch bei seinem neuen Kollegen hier so schade gewesen wäre; da kamen ihm langsam doch Zweifel.
„Oh, da passt du ja wunderbar zu Wolcod.“ Lachlan schnaufte verächtlich. „Der ist wirklich nicht mehr ganz beieinander. Frauen, Kinder und alte Leute dürfen wir nicht anrühren. Wenn der sieht, wie einer von uns einer Frau eine Ohrfeige gibt, er würde ihn ungespitzt in den Boden rammen. Aber es scheint ihm nicht so wichtig, was wir mit männlichen Menschen zwischen zwanzig und sechzig machen. Als ob er die fast schon hasste. Und der ganze Zirkus nur, weil sein Papa seine Mama totgeschlagen hat. Meine Güte.“
Mazacan warf Lachlan einen finsteren Seitenblick zu. Du hättest bestimmt kein Problem damit. Du Scheißkerl hättest auch kein Problem damit, kleinen Kindern den Kopf abzuschneiden. Du wüsstest nicht mal, was Moral und Anstand sind, wenn man sie dir in den… „Und wie ist das mit dem Widerstand hier?“ fragte er stattdessen.
„Oh, der ruhmreiche Widerstand.“ Lachlan lächelte böse.
„Der macht uns keine wirklichen Probleme. Außerdem bin ich mir sicher, den Organisator des Ganzen entdeckt zu haben.“
Mazacan hütete sich davor, diese Leistung anzuerkennen.
„Ach. Und? Wer ist es?“
„Och“, meinte Lachlan gedehnt. „Eine junge Dame aus Rigby. Sie heißt Mackenzie.“
„Röchel!“ „Hast du dich verschluckt?“ fragte Lachlan unschuldig.
„Alles bestens“, keuchte Mazacan.
„Du kennst sie, oder?“
„Äh – äh… na ja, von früher… wir waren als Kinder befreundet…“ „Na, damit dürfte es jetzt wohl vorbei sein. Die spricht kein Wort mehr mit dir, wenn sie dich so sieht. Aber wenn ihr euch bloß so flüchtig kennt, hättest du ja sowieso nichts aus ihr herausbekommen.“
Mazacan brachte nur einen gequälten kleinen Laut zustande.
„Mach dir mal keine Sorgen, Nordmann. Ich steh kurz vor dem Durchbruch in der Sache. Und dann bring ich sie zum Reden, auf die eine oder andere Weise.“
Mazacan war ganz schwindelig. Kenzie im Widerstand… wie konnte sie nur solchen Unfug treiben? Dann kam der Schock: Ich bin ein Hexenjäger… sie wird mich hassen.
„Komm“, schreckte ihn Lachlan auf. „Wir müssen was erledigen. Eine kleine Routine-Kontrolle. Da kannst du gleich was lernen.“
Er stieg ab und band sein Pferd an einen Pfosten. Mazacan riss sich zusammen und tat es Lachlan gleich.
Kenzie ging die Dorfstraße entlang und versuchte, ihre umherschwirrenden Gedanken in Ordnung zu bringen. Da registrierte sie aus dem Augenwinkel etwas Vertrautes. Lachlan stand vor der Schmiede, die ganze Familie vor sich versammelt. Der große, kräftige Schmied zog die Schultern hoch wie ein kleiner Junge, der etwas ausgefressen hatte und nun die Strafe fürchtete. Anscheinend streute Lachlan mal wieder ein bisschen Schrecken, indem er sich wahllos Leute herauspickte und sie wegen angeblich begründeter Verdächtigungen zu irgendwelchen Straftaten ausfragte. Kenzie bemerkte, dass die halbwüchsige Tochter des Schmieds Lachlan anschmachtete, als sei er ein junger Gott. Das konnte ihm nicht entgangen sein. Wenn er jetzt die richtigen charmanten Worte benutzte, hätte er im Handumdrehen einen perfekten Spitzel. Es hatte Mädchen7 gegeben, die für ein Lächeln von ihm ihre ganze Familie verraten hatten. Ohne groß nachzudenken, ging Kenzie auf die Szene zu.
„…auch wenn du mir erzählst, keinerlei Kontakt zum Widerstand zu haben, wie kannst du mir das beweisen?“, hörte sie Lachlan fragen. „Du verstehst doch, dass ich meine Arbeit anständig machen muss.“
„Natürlich“, stammelte der Schmied. „A-aber ich…“ „Allerdings… könnte natürlich jemand bewusst eine falsche Fährte gelegt haben, um von sich abzulenken.“ Lachlan simulierte einen inneren Konflikt, zuckte dann einlenkend die Schultern. „Ich lasse die Sache auf sich beruhen, aber du gibst mir sofort Bescheid, wenn dir etwas Verdächtiges auffällt. Klar?“
„Oh. Ja, natürlich. Danke, Mein Lord, danke.“
„Schon gut.“ Lachlan grinste engelsgleich und zwinkerte der Schmiedstochter kurz zu, die deswegen fast in Ohnmacht fiel. „Also“, wandte er sich wieder an den Schmied. „Ich zähl auf dich.“
Der Schmied nickte eifrig und schob seine Familie zurück ins Haus. Die Tochter war nicht sehr kooperativ dabei.
Lachlan wandte sich ab und wäre fast in Kenzie gelaufen, die stumm mit verschränkten Armen dastand und ihm einen geringschätzigen Blick zuwarf.
Lachlan schien erfreut, aber nicht überrascht. „Sonnenschein. Ich wusste, du würdest hier auftauchen.“
„Was soll das heißen?“
„Na, ist es nicht so? Überall, wo ich bin, bist du nach einer Weile auch. Will uns das was sagen?“ Er zog übertrieben die Schultern hoch.
Kenzie ging nicht darauf ein. „Terrorisierst du wieder unschuldige Leute?“
„Woher weißt du denn, dass die unschuldig sind? Stehen sie nicht auf deinen widerständlerischen Mitgliedslisten?“
„Du fängst wirklich an, mich damit zu langweilen, Lachlan.“
„Oh. Na, das wollen wir doch nicht, dass sich unsere Kenzie langweilt! Komm mal mit, dann stelle ich dir meinen neuen Kollegen vor.“ Er legte ihr den Arm um die Schultern und schob sie in Richtung Menschengewühl.
Sie versuchte, sich daraus zu befreien, aber er hielt sie wie in einem Schraubstock. Todesfeen waren sowohl stärker als Menschen als auch als Erdelementare. Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, ihr Vater hätte einem mächtigeren Volk angehört.
„Er ersetzt Floyd, weißt du“, plauderte Lachlan. „Genaugenommen ist er sogar fast mein Vorgesetzter, sobald er sich eingefunden hat. Ein wirklich hohes Tier also. Nicht nur so ein Mitläufer, dem man es später nachsehen könnte.“
Kenzie waren Lachlans Kollegen völlig gleich, sie verstand nicht, was er damit bezwecken wollte. Dann teilte sich die Menschenmenge vor ihnen und sie sah den breiten Rücken eines Hexenjägers, der ihr bekannt vorkam. Der Mann war groß und hatte lange blonde Haare, die unmenschlich schimmerten.
Eine neue Arbeit angetreten… Kenzie wurde flau. Sie stellte die Hacken vor. Lachlan fasste sie mit beiden Händen an den Schultern und schob sie vor sich her. Nein, dachte sie.
Ich will nicht, dass sich der Kerl da umdreht! Ich will es nicht wissen! Ich… „He!“ rief Lachlan.
Mazacan drehte sich um. Er entdeckte Kenzie. Die Farbe wich aus seinem Gesicht – wie sah sie ihn jetzt? In schwarzer Montur. Als Lachlans Kollege. Als Hexenjäger. Er wandte sich ab und starrte auf den Boden. Kenzie wollte weg, aber hinter ihr war Lachlan und ließ sie nicht los.
„Na, na, ihr zwei“, tadelte er. „Etwas mehr Begeisterung, ja?
Das ist hier schließlich ein freudiges Wiedersehen nach langer Zeit! Das ist doch eine Mordsüberraschung für euch beide.“ Er beugte sich zu Kenzie und fragte an ihrem Ohr: „Gefällt er dir jetzt immer noch so gut?“
Kenzie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und drehte sich zu Lachlan um. „Natürlich gefällt er mir. Ihm steht die Kluft auch besser als dir.“
Mazacan hob den Kopf. Lachlan zog ungläubig die Augenbrauen zusammen und lockerte kurz seinen Griff. Kenzie entwand sich ihm und ging zu Mazacan.
„Lass dir nichts anmerken“, sagte sie so leise, dass nur er sie hören konnte. Dann fuhr sie lauter und ziemlich kühl fort: „Deshalb bist du also wieder da. Darauf wäre nie gekommen. Aber heute ist dein erster Tag, ich sollte dich nicht weiter aufhalten. Du hast doch sicher viel zu tun, oder?
Schönen Tag euch noch.“