Das tödliche Vertrauen der Lorelei - Emily Schuster - E-Book

Das tödliche Vertrauen der Lorelei E-Book

Emily Schuster

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Beschreibung

Ein Albtraum, der Wirklichkeit wird. Ein Psychopath, der den Tod bringt. Ein Vertrauter, der nicht ist, wer er zu sein scheint. Loreley Voltaire führt ein scheinbar perfektes Leben in der wohlhabenden, amerikanischen Kleinstadt Scarsdale. Eine erfüllte Ehe und ein vielversprechender Job bestimmen ihren Alltag. Doch innerhalb kürzester Zeit ändert sich alles. Ihr Leben wird auf den Kopf gestellt. Morde geschehen, ein Mann verschwindet, ominöse Nachrichten versetzen die junge Journalistin in Angst und schon bald ist auch ihr eigenes Leben in Gefahr. Doch wer steckt hinter all dem? Ein Psychopath? Ein skrupelloser Fremder? Oder ist der Schuldige doch näher, als er zu sein scheint.

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Titel:

Das tödliche Vertrauen der Lorelei

Auflage-Nr.:

1

Autorin:

Emily Schuster

Copyright:

© 2023 Emily Schuster

ISBN:

978-3-96518-120-5 Paperback 978-3-96518-122-9 eBook

Druck und Distribution:

 

Independent-Verlag Latza Im Koppelfeld 2 48612 Horstmar

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Verlag verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Verlags, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Ein Buch ist die Seele seines Autors und seine Figuren die Kinder seiner Fantasie.

Für Icke und Heinz, auf ewig vereint.

Es kann einhundert Gründe geben, weiterzumachen, doch wenn ein einziger Grund genügt, alles zu beenden, weiß man, dass es Liebe ist.

Inhalt

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Danksagung

Das tödliche Vertrauen der Lorelei

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Widmung

Kapitel 1

Danksagung

Das tödliche Vertrauen der Lorelei

Cover

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Prolog

»Verdammt wer sind Sie?«, schrie ich außer Atem und tastete haltsuchend nach der Wand hinter mir, um das Zittern meiner Knie zu ignorieren.

»Miss Voltaire, bitte beruhigen Sie sich.«, redete der schmächtige, bebrillte Mann mit angenehm monotoner Stimme auf mich ein und streckte seine langen, schmalen Finger nach mir aus.

Sicherlich wollte er mir seinen Arm anbieten, um mich zu stabilisieren, wollte mich besänftigen und zur Vernunft bringen. Er wollte mir nichts Böses. Doch in diesem Augenblick sah ich seine Hand nicht. Ich sah seine freundliche Geste, sein strahlendes Lächeln nicht. Stattdessen grinste mich eine hässliche Fratze mit scharfkantigen Zähnen an, die mir ihre krallenbewährte Pranke reichte, bereit, mich in tausend Stücke zu zerfetzen wie ein wütender Wolf.

»Bleiben Sie bloß weg von mir! Unterstehen Sie sich, mich anzurühren!«, kreischte ich und wich noch weiter vor meinem Gegenüber zurück, bis mein Rücken gegen die massive Wand des Korridors stieß.

»Miss Voltaire, ich sorge mich um Sie!«, versicherte der Anzugträger mit geduldiger Miene, »Seinerzeit war ich jahrelang der Anwalt Ihres Ehemannes. Sie brauchen sich nicht vor mir zu fürchten! Ich könnte Ihnen doch niemals ein Leid antun.«

»Kommen Sie nicht näher!«, forderte ich aufmüpfig und hob drohend meinen Zeigefinger gegen seine breite Brust.

Ich zitterte am ganzen Leib und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Was war los mit mir? Warum konnte ich keinen klaren Gedanken fassen? Weshalb verschwamm meine Sicht immer wieder und löste sich in flimmernde Farbpunkte auf? Waren das die Stresshormone, die mein Gehirn als Schutzfunktion ausschüttete? Was ging hier vor? »Ich möchte.«, setzte ich abermals an und schloss einen Herzschlag lang meine Augen, um gegen den Schwindel bestehen zu können, der mich plötzlich übermannte, »Ich möchte, dass Sie jetzt gehen! Verlassen Sie mein Haus und ich werde niemandem von Ihrem Besuch erzählen. Das verspreche ich Ihnen.«

»Ich habe nicht die Absicht, zu gehen, Miss Voltaire.«, erklärte der Jurist gelassen, während er das, mir nur allzu gut vertraute, Wohnzimmer durchquerte und auf dem schweren, schwarzen Ledersessel Platz nahm.

Warum um alles in der Welt wiederholte er meinen Namen immer und immer wieder, bis er in meinen eigenen Ohren nachklang wie ein ewiges Mantra? Kannte ich diesen Herren überhaupt? Alles drehte sich und mein Kopf schien angesichts der Flut an ungelösten Rätseln entzwei bersten zu wollen. Ich schwankte unsicher und klammerte mich an den Türpfosten, um meine Schwäche vor dem beängstigenden Anwalt verstecken zu können.

»Ich kann Sie in einem solchen Zustand doch nicht allein lassen.«, fügte mein Gesprächspartner hinzu und bediente sich ungefragt an den Scotchvorräten, die auf einem kleinen Beistelltisch in edlen Porzellanflaschen aufbewahrt wurden.

»Ich will, dass Sie gehen!«, zischte ich und konnte mich nur mit großer Mühe davon abhalten, abermals zu schreien, »Ich rufe die Polizei, wenn Sie nicht augenblicklich von meinem Grundstück verschwinden!«

»Denken Sie wirklich, die Polizei würde Ihren Worten Glauben schenken?«, entgegnete der Anwalt unberührt, als er seinen Kopf neigte und mich aus tiefen, verspottenden, nussbraunen Augen anblickte, »Nach all den Unannehmlichkeiten, die Sie den Beamten schon bereitet haben?«

»Sie. Werden. Jetzt. Gehen!«, knurrte ich zum dritten Mal und legte in jede einzelne Silbe sämtliche Emotionen, die ich in diesem Augenblick verspürte, »Ich werde Sie nicht noch einmal dazu auffordern!«

Der Braunhaarige stieß ein ungläubiges Schnauben aus und erhob sich langsam von der Sitzfläche des kostbaren Möbelstücks.

Dann sagte er, wobei blanke Verachtung und Hass aus seiner Stimme sprachen: »Und was werden Sie tun, wenn ich mich weigere?«

Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. War das sein Ernst? Drohte er mir? Ich keuchte und suchte krampfhaft nach einer Antwort, die seiner dreisten Erwiderung angemessen wäre. Was sollte ich ihm sagen? Ich hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Denn auch, wenn er von schlankem Körperbau und eher zierlicher Erscheinung war, so überragte er mich doch um gut einen Kopf und könnte mich mit Leichtigkeit niederringen. Vermutlich strebte er genau dieses Szenario an. Wollte er mich provozieren und zu einer unüberlegten Tat verleiten? Was wollte er eigentlich von mir? Hatte Rémi ihn geschickt? Wer war er? Er hatte behauptet, sein Anwalt zu sein. Aber weshalb kannte ich ihn dann nicht? Was konnte er also von mir wollen? Diese Frage verhakte sich in meinem Verstand und ließ nicht mehr von mir ab. Abermals überkam mich der Schwindel, sodass ich versucht war, mich einfach auf den dunklen Parkettboden des Flurs sinken zu lassen. Trotzdem widerstand ich dem Drang und kniff angestrengt meine Augen zusammen.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte ich schließlich frei heraus, derweil mein Körper vor Anspannung vibrierte.

»Was ich von Ihnen will?«, griff der Akademiker meine Erkundigung auf und zog das darauffolgende Schweigen in unerträgliche Länge, »Das ist simpel. Ich habe mich schon gewundert, wann Sie mir diese Frage stellen würden.«

»Und wie lautet…«, ich stockte und taumelte, wobei meine rechte Hand hastig zu meiner Schläfe fuhr, in der ein dumpfes Pochen erwachte, »wie lautet Ihre Antwort?«

»Geht es Ihnen nicht gut?«, forschte der Mann mit geheuchelter Besorgnis.

Er beugte seine Knie, um einen flüchtigen Blick auf mein Gesicht erhaschen zu können, während er weiterhin auf mich zukam. Allmählich breitete sich Wut in meiner Magengegend aus. Wie konnte er es wagen, in mein Haus einzudringen und mich nun derart zu behandeln? Woher nahm er diese Dreistigkeit?

Trotzig und mit vor Zorn geröteten Wangen begegnete ich seinem durchdringenden Augenmerk und spie ihm entgegen: »Es geht mir blendend!« »Schön, das freut mich zu hören.«, schmunzelte er und tätschelte meinen Scheitel, als sei ich ein kleines Kind, »Einen Moment lang war ich in Sorge, Sie könnten sich unwohl fühlen.«

»Sie weichen mir aus!«, bemerkte ich ärgerlich. »Ach ja, richtig. Ich schulde Ihnen noch immer eine Antwort.«, erinnerte er sich.

Mein Atem entwich meinen Lungen in einem einzigen, erleichterten Stoß, als sich der hochgewachsene Mann einige Schritte von mir zurückzog und mir sogar den Rücken zuwandte.

»Was ich will…«, sprach der Jurist und gab vor, nachzudenken, als er einen Finger gegen sein spitzzulaufendes Kinn legte, »Das sind Sie. Nicht in dem Sinne, den Sie jetzt vielleicht vermuten. Gott bewahre, nein! Ich will Sie. Ich will Ihre Gedanken, ich will Ihre Angst, Ihren Schmerz, Ihre Tränen. Ich will Ihr Lachen und Ihren Mut. Ich will alles, was Sie mir zu bieten haben! Ihren Geist und jede noch so kleine Facette Ihrer Persönlichkeit. Und ich nehme mir stets, was ich begehre.«

»Sie sind vollkommen verrückt!«, stotterte ich einfallslos, da ich von seiner quälenden Ehrlichkeit zu überfordert war, um eine passende Erwiderung zu finden.

»So nannten mich schon einige Menschen.«, vertraute mir der ungebetene Gast an, »Allerdings leben die meisten dieser Personen zum jetzigen Zeitpunkt bereits nicht mehr.«

Eisige Kälte ergriff von mir Besitz. Ein Schauder jagte über meine Wirbelsäule und breitete sich in unglaublicher Geschwindigkeit in meinen Venen und schließlich in meinem gesamten Organismus aus. Ich zitterte und wünschte mir nichts sehnlicher, als diesem verfluchten Wohnzimmer endlich entfliehen zu können. Was hatte ich getan, dass ich nun derart bestraft wurde? Was ging hier überhaupt vor? Und was hatte ich damit zu tun? Zuerst die Ereignisse mit meinem Ehemann und nun das! Wer war dieser Mann?

»Sie wollen mich also töten.«, schlussfolgerte ich abrupt aus seinen Worten, erhob meine vor Angst raue Stimme jedoch nur, um Zeit zu schinden.

»Das habe ich nie behauptet.«, wehrte jener wenig aussagekräftig ab.

»Sie… oh, verdammt!«, stöhnte ich perplex, als sich die Welt, die mich umgab, mit einem Mal in einem Meer aus Schwärze verlor.

Mein Sichtfeld schrumpfte auf wenige Quadratmillimeter, während ich mich unbewusst auf dem Boden zusammenkauerte und erschrocken verfolgte, wie mein Kopf mit jeder verstreichenden Sekunde an Gewicht zu gewinnen schien. Schwer senkten sich meine Lider über meine Augäpfel und verstellten mir den Blick auf den Anwalt, der sich mit überlegenem Lächeln über mich beugte.

»Ist schon gut.«, ertönte sein aufdringliches Summen in meinen Gehörgängen, wobei schwielige Fingerkuppen sanft über meinen Wangenknochen strichen, »Ich werde Sie an den Ort zurückbringen, den Sie nie hätten verlassen sollen. Vertrauen Sie mir.«

Vertrauen Sie mir. Dieser Satz hallte in meinem Verstand nach und wiegte mich, einem Schlaflied gleich, in die Abgründe der Besinnungslosigkeit.

Kapitel 1

»Liebling? Ich bin zuhause!«, kündigte sich mein Ehemann freudig an und warf seinen Schlüsselbund schwungvoll in die handgefertigte Schüssel aus Ton, die ich auf der Kommode im Hausflur platziert hatte.

»Lorelei, wo bist du?«, rief er wenig später erneut und näherte sich dem geräumigen Wohnzimmer mit hörbaren Schritten.

»Ich bin hier.«, antwortete ich meinem Lebensgefährten schmunzelnd und legte das Manuskript meines jüngsten Artikels gerade zur Seite, als Rémi den Raum betrat.

»Versteckst du dich vor mir?«, erkundigte er sich rhetorisch, wobei sein breiter, europäischer Akzent, den ich so sehr liebte, noch deutlicher hervortrat.

Der graue Stoffbezug des Sofas gab unter seinem zusätzlichen Gewicht nach, indes Rémi sich neben mir niederließ und mich in einen sanften Kuss zog, ehe er von mir abließ und mir die Gelegenheit einer Entgegnung gab.

Widerwillig löste ich mich von meinem Ehegatten und erwiderte ihm: »Welchen Grund hätte ich, mich vor dir zu verstecken?«

»Ich weiß nicht.«, meinte Rémi und zuckte ahnungslos die Schultern, bevor er das Thema wechselte, »Woran arbeitest du?«

»Ein Artikel über die Inflationsrate und ihre Auswirkungen auf den Anstieg der Kriminalität im Bundesstaat Ohio.«, erklärte ich, war mir jedoch bewusst, dass er sich nicht tatsächlich für dieses Fachgebiet interessierte, sondern vielmehr höflich sein wollte.

»Wir leben in Scarsdale, New York. Weshalb verfasst du eine Reportage über die Probleme eines anderen Staates, die aber in einer lokalen Zeitschrift erscheinen soll?«, grübelte der Fünfunddreißigjährige, wobei sich die makellose Haut seiner Stirn in ernste Falten legte.

»Vermutlich will die Regierung so von den Problemen ablenken, mit denen wir uns tagtäglich in unserem eigenen Land konfrontiert sehen.«, schlug ich ratlos vor, »Warum die Unzufriedenheit der Bevölkerung wecken, wenn sich die Bürger doch über die kritische Situation in Ohio auslassen können?« Schon vor vielen Jahren hatte ich mich an Rémis schweigsames Gemüt gewöhnt, weshalb ich auch in diesem Moment keine Reaktion von ihm erwartete. Still nickend verharrte er an meiner Seite und schlang zögerlich einen Arm um meine Taille, als befürchte er noch immer, ich könnte mit der Berührung nicht einverstanden sein. Manchmal verwunderte mich die plötzliche Unsicherheit, die von Zeit zu Zeit in Rémi wuchs, da wir nun seit beinahe vier Jahren verheiratet waren und bereits durchaus intimere Augenblicke geteilt hatten.

Ehe ich mir zu viele Gedanken über seine unbegründete Vorsicht machen konnte, setzte ich unser Gespräch fort, während ich aus dem Augenwinkel den blutroten Sonnenuntergang beobachtete:

»Wie war dein Tag? Du bist früher von der Arbeit zurück als sonst.«

»Ja, scheint so.«, bestätigte Rémi und zog mich mit sich in eine fast liegende Position.

Er überschlug seine langen Beine und streckte diese dann über die gesamte Länge der Couch aus. Seine dominante Rechte nestelte kurz an den Knöpfen seines Jacketts, bevor er das jackenähnliche Stoffstück teilweise geöffnet und die nachtblaue Krawatte um seinen Hals etwas gelockert hatte.

»Heute war nur eine Operation anberaumt, doch als Doctor Grant von dem Autounfall seiner Frau erfuhr, übernahm ich einen seiner Termine.«, erläuterte Rémi, als spräche er über eine vernachlässigbare Kleinigkeit und nicht über die Lebensrettung eines Menschen.

Aufmerksam lauschte ich seiner Schilderung und lehnte meinen Kopf schwer gegen seine Brust. Jeder seiner Atemzüge klang laut in meinen Ohren nach und ich genoss das Gefühl der Unbeschwertheit, das ich in diesem Augenblick verspürte. Warum konnte nicht jeder Tag wie dieser sein?

»Du hast also zusätzlich noch eine OP übernommen und bist trotzdem früher zuhause als gedacht?«, hakte ich neugierig nach.

»Es war kein schwerwiegender Eingriff.«, rechtfertigte sich der Gefäßchirurg und wirkte, als habe er sämtliches Interesse an dieser Richtung des Gesprächs verloren, »Und überraschenderweise konnte ich mich nicht einmal über den Verkehr beklagen.«

Nach einer kurzen, eher gekünstelten Pause, fuhr Rémi schließlich fort: »Hast du schon Pläne für heute Abend?«

»Charlie hat vorhin angerufen und sich zusammen mit Amanda förmlich aufgedrängt, uns heute Abend beim Diner Gesellschaft zu leisten.«, gestand ich ihm kleinlaut, verdrehte meinen Hals, um den Blick seiner zimtbraunen Augen zu kreuzen. »Um wieviel Uhr sind sie zu erwarten?«, informierte sich Rémi, wobei ein mildes Lächeln seine schmalgeschnittenen Lippen kräuselte, das jedoch alleinig seine Perplexität kaschieren sollte.

»Um sieben werden sie hier sein.«, berichtete ich ihm und nagte unbehaglich an der Innenseite meiner Wange, »Rémi, hör zu. Ich weiß, dass meine Geschwister, und vor allem Charlie, keine besonders gute Tischgesellschaft abgeben und oftmals nicht wissen, wann es besser wäre, den Mund zu halten. Aber die beiden lieben dich und zumindest über Amandas Besuch würde ich mich sehr freuen. Es wäre zu schade, wenn wir uns wegen Charlie streiten müssten.«, warf ich eilig ein, als ich das nachdenkliche Heben seiner Augenbraue bemerkte. »Ich habe nichts Gegensätzliches gesagt.«, überlegte der gebürtige Franzose leichthin.

Allerdings fiel es mir nicht schwer, den Ärger, der sich hinter seiner säuberlich zurechtgelegten Fassade aus Gelassenheit verborgen hielt, zu erahnen. Ich kannte meinen Ehemann zu lange, als dass er mich mit einer so simplen Farce hätte täuschen können. Ich hatte nie verstehen können, weshalb Rémi eine solche Abneigung gegen meinen älteren Bruder Charlie hegte, doch hatte ich lernen müssen, mit ihr umzugehen. Charlie freute sich über jede Gelegenheit, meinen Gatten zu treffen und Zeit mit ihm verbringen zu können, jedoch beruhte diese Freundschaft nicht auf Gegenseitigkeit. Denn Rémi ging seinem Schwager strikt aus dem Weg und mied ihn, wann immer es ihm möglich war.

»Es ist nur ein Diner.«, rief ich ihm ins Gedächtnis, war ich mir doch gewiss, dass er seine Frustration niemals offen zugeben würde.

Dafür war er viel zu stolz.

»Warum reitest du dann immer noch darauf herum?«, zischte Rémi in plötzlicher Andeutung von Zorn und entwand sich unsanft meiner liebevollen Umarmung.

Stattdessen richtete er sich abermals auf und rückte an die Kante des Sofas, um eine möglichst große Distanz zwischen uns zu schaffen. »Liebling!«, rief ich ihn niedergeschlagen und griff in dem Versuch, ihn vom Gehen abzuhalten, nach seinem Arm.

»Ich ziehe mich um.«, kündigte Rémi vollkommen unterkühlt an, stemmte sich innerhalb von einem Sekundenbruchteil in den Stand und durchschritt das von Bücherwänden begrenzte Wohnzimmer. Ich wollte ihm nacheilen, doch hatte er den Raum bereits verlassen, bevor ich mich überhaupt von dem Sitzmöbel erhoben hatte.

»Mist!«, fluchte ich unhörbar.

Ich ließ mich erneut auf der grauen Couch nieder, stützte meine Ellenbogen auf meine Knie auf und bettete meinen Kopf auf meine aneinandergelegten Handflächen, während ich das Manuskript teilnahmslos betrachtete, das ich zuvor auf dem Wohnzimmertisch abgelegt hatte. Ein schwermütiges Seufzen entwich meiner Kehle. Meine Finger furchten mein schulterlanges, wirres, blondes Haar, das ich zu einem hohen, losen Dutt gebunden hatte, derweil ich vergebens auf Rémis Rückkehr wartete. Was hatte ihn nur derart aufgebracht? Die Tatsache, dass ich mich weigerte, zwischen ihm und meinen Geschwistern zu wählen? Er gehörte zu meiner Familie, ebenso wie Charlie und Amanda. Warum also war er nun so wütend? Es handelte sich doch nur um ein Diner! Die beiden würden maximal drei Stunden hier sein!

»Rémi?«, sprach ich seinen Namen zaghaft und musste meine Stimme erheben, sodass er mich auch im ersten Stockwerk des Hauses hören konnte.

Ich war mir sicher, dass er meinen Ruf vernommen hatte, jedoch blieb seine Antwort aus. Er ignorierte mich. Ich seufzte nochmals und entschied mich, meinem Ehemann die Zeit zu lassen, die er brauchen würde, um seinen Unmut beizulegen. Es hätte keinen Sinn, einen Streit zu provozieren, den ich nur verlieren konnte. Was auch immer Rémi in seinen momentanen Zustand der Wut versetzt haben mochte, würde er sicherlich bald vergessen und wieder zur Vernunft kommen. Auf diese Annahme vertrauend, kehrte ich dem Wohnzimmer den Rücken und ging vorbei an den übermannshohen Bücherregalen, deren Inhalt sich zu gleichen Teilen aus Rémis Besitztümern und den meinigen zusammensetzte. Ich passierte den langen, von kostbaren Gemälden gesäumten Korridor, welcher an die weißlackierte Haustür anschloss, und erreichte dann die freistehende Küche, sowie das zweite Wohnzimmer des Gebäudes. Ich umrundete die Kücheninsel mit ihrer weißgetünchten Holzverkleidung und dem schwarzen Marmorspiegel, und wandte mich der gegenüberliegenden Seite der Küche zu. Aus einem der Schränke nahm ich einen großen Topf, befüllte ihn mit Wasser und setzte anschließend Kartoffeln zum Kochen auf. Gedankenverloren starrte ich auf die kleinen Blasen siedenden Wassers, die sich schon nach wenigen Minuten an der Oberfläche der Brühe bildeten. Warmer Wasserdampf stieg in einer kleinen Wolke über dem Herd auf und setzte winzige, durchsichtige Tröpfchen auf den klaren Fliesenspiegel der Arbeitsfläche. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich allein in dem großen Raum ausharrte, bis Rémi sich auf einmal durch ein gekünsteltes Räuspern bemerkbar machte. Erschrocken fuhr ich zusammen und hätte mich beinahe mit dem brodelnden Wasser überschüttet, da ich den Topf gerade zum nahen Waschbecken trug. Klatschend schwappte ein Teil der Flüssigkeit über den Rand des Topfes und traf mit schmatzendem Geräusch auf den sandfarbenen Fliesenboden. Nur mit großer Mühe gelang es mir, rechtzeitig einen Schritt zurückzuweichen, sodass mich der brühende Sud knapp verfehlte.

»Entschuldige.«, raunte Rémi reumütig und führte seine rechte Hand über sein von Bartstoppeln übersätes Kinn, als ich ihn vorwurfsvoll ansah. »Schon in Ordnung.«, meinte ich in genervtem Tonfall und stellte den noch immer heißen Topf in der Vertiefung des Waschbeckens ab, ehe ich mich meinem Lebensgefährten zuwandte.

Ich hatte mich noch nicht vollends zu ihm umgedreht, als sich Rémi bereits vor mir postiert hatte und mich mit spielender Leichtigkeit an sich zog. »Hast du es dir heute zur Aufgabe gemacht, mich zu Tode zu erschrecken?«, verlangte ich anklagend zu erfahren und schob ihn von mir, um mich aus seiner Umklammerung zu lösen.

Ungeachtet seiner verwirrten Miene drängte ich mich an ihm vorbei und griff nach einem der Handtücher, welche über die Griffe der Schubladen und Schränke geschlungen waren.

»Lorelei.«, sprach mich Rémi ruhig an, doch schenkte ich der Pfütze zu meinen Füßen größere Beachtung als ihm, »Du hast vorhin selbst darum gebeten, nicht über diese Kleinigkeit zu streiten!« »Das will ich auch nicht.«, tat ich emotionslos kund und kniete mich auf den harten Boden, um mithilfe des Handtuchs die entstandene, nasse Stelle zu beseitigen, »Ich kann nur nicht nachvollziehen, weshalb du so versessen darauf bist, meinem Bruder aus dem Weg zu gehen. Was hat er dir denn getan?«

»Nichts. Und darum geht es auch nicht.«, argumentierte er und machte mir rücksichtsvoll Platz, als ich aufstand und das jetzt durchtränkte Tuch über dem Waschbecken auswrang.

»Und worum geht es dann?«, forschte ich mit hochgezogener Augenbraue, während ich meine Arme vor meiner Brust verschränkte und mich gegen die erhöhte Küchenzeile lehnte.

»Unwichtig.«, lenkte Rémi ab.

Er hatte seine Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, der vor wenigen Minuten seine vornehme Anzugshose gewichen war, und beobachtete mich unberührt.

»Ich freue mich auf den Besuch von Amanda und Charlie.«, log er offensichtlich und näherte sich mir erneut.

Ich ließ ihn gewähren und sah kritisch zu ihm auf, derweil Rémi seine Lüge vervollständigte: »Ich kann es kaum erwarten, zu erfahren, wie die Geschichte von Charlie und Mister Winston ausgegangen ist.«

Seine Bemerkung entlockte mir ein Schmunzeln. Ich konnte nicht an mich halten und lächelte angesichts seines Sarkasmus. Jedes Mal, wenn Charlie uns seine Aufwartung machte, erzählte er ein und dieselbe Geschichte, fast, als sei dies sein heimliches Ritual. Mittlerweile suchte sogar ich nach Vorwänden, um den Tisch verlassen zu können, sobald er begann, von seiner Begegnung mit dem ominösen Mister Winston zu erzählen. An Langeweile war das kaum zu übertreffen, in diesem Punkt waren wir uns alle einig.

»Du wirst es wohl heute Abend erfahren.«, neckte ich und küsste Rémi flüchtig, wobei auch auf seinen Lippen ein schelmisches Grinsen lag.

Kapitel 2

»Hey, kleine Schwester!«, begrüßte mich Charlie, wobei ein breites Grinsen sein ovales Gesicht zu einer glückseligen Grimasse verzog.

»Hey, Charlie.«, entgegnete ich den Gruß, wurde allerdings unterbrochen, bevor ich dem noch etwas hätte hinzufügen können.

Denn bereits im nächsten Herzschlag hatte Charlie seine langen Arme um meine Taille geschlungen und riss mich abrupt in eine beinahe schmerzhafte Umarmung. Meine Füße berührten nur noch mit den Zehenspitzen den Boden und nur mühsam gelang es mir, meine Arme zu befreien und die knochenbrecherische Umklammerung zu erwidern. Mein Bruder war gut einen Kopf größer als ich, sodass es mir schwerfiel, zu ihm aufzusehen, als ich mit den Handflächen gegen seine Brust drückte und ihn etwas von mir schob.

»Der Bart steht dir.«, komplimentierte ich ihm, während ich ihn musterte und mir einen besseren Eindruck von ihm verschaffte.

Er hatte abgenommen und wirkte irgendwie verändert. Hatte sein Gesicht schon immer so viele Sorgenfalten auf der Stirn und den Mundwinkeln aufgewiesen? Auch sein Teint war blasser, fast kränklich, und seine einst hellbraunen Haare waren mit grauen Strähnen meliert. Sein Erscheinungsbild strafte sein tatsächliches Alter Lügen und mit Erschrecken stellte ich fest, dass sogar der begeisterte Schein seiner kristallklaren Augen einem dunklen Schatten des Kummers gewichen war. Was war nur los mit ihm?

»Mach Platz!«, drängte sich unvermutet eine helle, feminine Stimme in meine düsteren Gedankengänge.

Noch im selben Atemzug legte sich eine schmale Hand auf Charlies Oberarm und schubste den Mann unsanft zur Seite.

»Amanda!«, stieß ich aufgeregt hervor, löste mich aus Charlies festem Griff und schmiegte mich stattdessen an Amandas schmalen Körper.

Meine Zwillingsschwester umfasste meine Schultern und wippte uns in kindischem Eifer hin und her, bis wir schwankend zum Stehen kamen.

»Du hast dich nicht verändert.«, merkte sie dann freudestrahlend an und ließ ihr stechend grünes Augenmerk neugierig über meine gesamte Person schweifen.

»Du auch nicht.«, zwinkerte ich ihr kichernd zu und entfernte mich ein wenig von meinen beiden Geschwistern, um Rémi den Vortritt zu lassen.

Seine Hand streifte mich seicht im Vorbeigehen, als er sich mit einem freundlichen, doch falschen Lächeln an Charlie und Amanda richtete.

Nachdem auch er die gebührenden Höflichkeiten ausgetauscht hatte, meinte er: »Wir sollten besser hineingehen. Es ist kalt hier draußen und wohl oder übel haben wir Schnee zu erwarten.«

»Klar, gerne.«, erklärten sich die beiden Gäste einverstanden und ließen sich bereitwillig ihre dicken Wintermäntel von Rémi abnehmen, der diese ordentlich an den Haken der Garderobe hängte. »Was macht ihr eigentlich in der Stadt?«, erkundigte ich mich interessiert, derweil ich meine Blutsverwandten in das Esszimmer führte und sie auf den dunklen Holzstühlen Platz nahmen.

»Ich hatte geschäftlich in New York zu tun.«, antwortete Charlie sofort.

Doch seine Antwort kam zu schnell, zu einstudiert und vorbereitet. Ich hatte kaum zu Ende gesprochen, da hatte er bereits zu reden begonnen. War er etwa nervös? Aber was könnte ihm Grund dazu geben? Belog er mich? Nein, das würde er nicht tun! Er war mein Bruder und er wusste, dass er mir ausnahmslos alles anvertrauen konnte. Wieso sollte er mich mit einer Lüge und noch dazu einer so unüberlegten abspeisen wollen? Jedoch fuhr auch Amandas Kopf irritiert zu Charlie herum, als sie seine Worte vernahm. Verständnislos blickte sie ihn an, ihre Lippen formten stumme Laute, doch Charlie überging sie schlichthin. Was war hier los? »Jedenfalls kam mir der Gedanke, dass ich doch Amanda mitnehmen könnte und wenn wir sowieso in der Nähe wären, könnten wir dich genauso gut besuchen.«, spann der Mann das Netz seiner Unwahrheiten ungebremst weiter, »Also habe ich dich angerufen und jetzt sind wir hier.«

»Eine wirklich nette Überraschung.«, kommentierte Rémi mit noch immer gezwungenem Schmunzeln.

Er war durch den Türrahmen getreten und hielt in seinen Händen eine Flasche des teuren BordeauxWeins, den er zufällig auf einem seiner Geschäftstreffen erstanden hatte. Er durchquerte das Zimmer und stellte die Glasflasche neben mir auf den gedeckten Tisch. Wie selbstverständlich griff er nach dem Weinglas, das ich vor Charlie platziert hatte, doch dieser winkte schnell ab.

»Nein, nicht für mich.«, erklärte er sich, »Ich trinke nicht mehr.«

»Tatsächlich?«, fragte ich erstaunt und konnte meine Entgeisterung nur teilweise zurückhalten.

Ich konnte mich nicht erinnern, Charlie jemals nüchtern erlebt zu haben, seitdem er die Volljährigkeit erlangt hatte. Amanda und ich hatten seinen zunehmenden Konsum einige Male zu Gespräch bringen wollen, doch stets, wenn wir uns dazu durchringen konnten, unser Vorhaben in die Tat umzusetzen, hatte uns irgendetwas davon abgehalten. Warum verzichtete er so plötzlich auf den Alkohol, ohne den ihm sein Leben zuvor unmöglich erschienen war? Sah er aus diesem Grund so ungesund und blass aus? Weil er einen kalten Entzug durchmachte?

Meine Augen verengten sich misstrauisch, indes ich seiner weiteren Erklärung zuhörte: »Ja, ich… habe eingesehen, dass Konsum keine Lösung für reale Probleme ist. Irgendwann hätte mich dieses Zeug umgebracht.«

»Das ist bewundernswert.«, lobte Rémi Charlies Geständnis unverblümt, während Amanda und ich einen sprachlosen Blick wechselten.

»Liebling?«, sprach mich Rémi unerwartet an und beanspruchte damit meine vollständige Aufmerksamkeit, »Holst du schon mal das Essen?«

»Ja… ja, sicher.«, nickte ich hastig und machte auf dem Absatz kehrt, um mich der Küche zuzuwenden, die sich gegenüber des langen Korridors befand.

Mein Kopf dröhnte von den seltsamen Begebenheiten, die sich bereits so früh am Abend ereignet hatten. Bittere Besorgnis legte sich über mich und belastete mein Gemüt schwer. Welcher Wandel hatte sich in Charlie vollzogen, dass er sich so plötzlich so grundlegend verändert hatte? Und warum erfand er Notlügen, um mir nicht den wahren Grund für seinen Aufenthalt in New York verraten zu müssen? Ich war zu sehr in meine Überlegungen vertieft, als dass ich Amandas abrupte Ankündigung hätte hören können.

»Lorelei, warte! Ich helfe dir!«, bot sie sich spontan an.

Schon im nächsten Wimpernschlag hörte ich das Quietschen des Stuhlbeins, dessen Stumpf grob über den polierten Holzboden geschoben wurde, und das charakteristische Rascheln von Kleidung. Ich hatte den Eingang der Küche gerade erreicht, als Amanda mich einholte und sich meinen Schritten blitzschnell anpasste.

»Hey.«, lächelte sie und hakte sich unbeschwert bei mir unter.

Ich schenkte ihr ebenfalls ein Schmunzeln, konnte allerdings keine Sekunde länger an mich halten, weshalb ich flüsternd zu erfahren verlangte: »Was ist mit Charlie los? Warum belügt er mich?«

»Was meinst du?«, fragte Amanda und gab sich gekonnt unwissend, wobei sie sich von mir entfernte und stattdessen an die geräumige Kücheninsel trat. Mit beiden Handflächen stützte sie sich auf der Oberfläche auf und musterte mich eingehend, während ich verschiedene Schüsseln mit heißen Speisen in meiner Armbeuge stapelte.

»Spiel nicht die Dumme, Amanda!«, forderte ich und durchschaute ihren Spielzug sofort, »Du weißt, wovon ich spreche! Ich habe euren Blickkontakt vorhin bemerkt, als Charlie mir erzählte, er wäre aus geschäftlichen Gründen hier. Außerdem hat er sich verändert. Er wirkt alt, gebrechlich und verletzlich. Was ist mit ihm geschehen?«

Die blonde Frau seufzte angespannt, kaute nervös auf ihrer Unterlippe und entschloss sich schließlich zu einer Erwiderung: »Charlie hat mich gebeten, dir nichts zu sagen, aber mir war von Anfang an klar, dass du dich von seiner Farce nicht täuschen lassen würdest. Jedenfalls macht er im Moment eine sehr, sehr schwere Zeit durch.«

»Inwiefern?«, brachte ich meine Wissbegierde zum Ausdruck und zögerte den Augenblick hinaus, da zu den anderen zurückkehren würden.

Meine Fingerspitzen ruhten auf einem halbrunden Porzellangefäß, das für eine große Menge Salat vorgesehen war, und fuhren unruhig über den glatten Rand der Schale. Mit jedem Augenblick, der verstrich, ohne, dass Amanda ihre Erzählung fortsetzte, wuchs meine Neugierde und Nervosität. Aufgeregt fixierte ich sie und unterdrückte den stetig ansteigenden Drang, abermals nachzuhaken. »Früher oder später würdest du es sowieso erfahren.«, raunte Amanda endlich, zwischen ihrem Schweigen und ihrer Ehrlichkeit hin und hergerissen, sprach jedoch vielmehr zu sich selbst, als zu mir, »Gwen hat ihn verlassen. Sie will die Scheidung und das alleinige Sorgerecht für Kenny und Elaine.« »Was?«, entfuhr es mir fassungslos.

Ungläubig wirbelte ich zu meinem Zwilling herum. Schock breitete sich in meinem Körper aus und ließ meine Finger erschlaffen. Das aus Kunststoff gefertigte Salatbesteck, welches ich erst vor wenigen Herzschlägen aufgehoben hatte, fiel klirrend zu Boden, doch schenkte ich dem keinerlei Beachtung. »Wie konnte es soweit kommen?«, hauchte ich atemlos und sah sie aus vor Schreck geweiteten Augen an.

Bevor Amanda das Thema hätte aufgreifen können, durchschnitt Rémis Bariton die anhaltende, unausgefüllte Stille: »Lorelei? Ist alles in Ordnung?«

»Ja, ja natürlich!«, entgegnete ich und musste an meine Selbstkontrolle appellieren, ehe ich meinen Ehemann beruhigen konnte, »Mir ist nur das Salatbesteck runtergefallen!«

Ich glaubte, Rémi mit Charlie murmeln zu hören, drehte mich jedoch hastig wieder zu Amanda um und starrte sie erwartungsvoll an. Wie hatte sie mir eine solche Neuigkeit nur verheimlichen können? »Charlie hatte wieder einmal getrunken und ist mit Gwen in Streit geraten, als sie von einem Ausflug mit den Kindern nach Hause kam.«, erzählte Amanda knapp, »Irgendwann um Mitternacht rief mich Charlie an und bat mich, vorbeizukommen. Selbstverständlich fragte ich, was denn vorgefallen sei, aber da hatte er schon aufgelegt. Also bin ich zu ihm gefahren, doch Gwen war bereits weg. Sie hat einige Habseligkeiten gepackt, Kenny und Elaine mitgenommen und ist verschwunden. Charlie weiß bis heute nicht, wo sie sich aufhält und hat die Kinder seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. Letzte Woche erreichten ihn dann das Anwaltsschreiben und die Scheidungspapiere. Wie du dir wahrscheinlich vorstellen kannst, war er vollkommen fertig mit den Nerven. Ich habe ihm vorgeschlagen, dich zu besuchen, damit er auf andere Gedanken kommt und sich über sein weiteres Vorgehen klar werden kann. Unten in Delaware wäre er bald verrückt geworden.«

»Oh verdammt.«, fluchte ich leise und schloss meine Lider für die Dauer einer Minute, ehe ich mich überwinden konnte, weiterzusprechen, »Deswegen auch der kalte Entzug, nicht wahr? Er will versuchen, Gwen zurückzugewinnen und dafür muss er zunächst ihr Vertrauen zurückerlangen.«

»Ja.«, bestätigte Amanda und strich sich Strähnen ihres hüftlangen Haares zurück, während sie sich von der Küchentheke abstieß und auf mich zukam, »Nun komm! Wir sollten besser das Essen auftischen, bevor die Männer Verdacht schöpfen.« »Mhm.«, stimmte ich ihr wortlos zu und griff nach dem Brotkorb, den Amanda mir allerdings zuvorkommend abnahm.

Ihre Miene war weich und zeugte von Verständnis und Mitgefühl. Ich konnte nicht verstehen, wie sie angesichts einer derart prekären Angelegenheit dermaßen gefasst und gelassen bleiben konnte. Noch immer verspürte ich ein dumpfes Gefühl der Ungläubigkeit und des Entsetzens über die Umstände meines Bruders, von denen ich erst vor wenigen Augenblicken erfahren hatte. Einem massiven, schweren Granitstein gleich füllte diese Empfindung meinen Magen aus und ließ Brechreiz in meiner Kehle aufsteigen. Der unerträgliche Geschmack von Galle hatte sich auf meine Zunge gelegt, belebte meinen Körper mit heftigen Schaudern.

»Kommst du?«, rückversicherte sich Amanda, welche den Türrahmen bereits passiert hatte und, mit dem hölzernen Brotkorb in ihren Händen, inmitten des Flurs verharrte.

»Sicher.«, zwinkerte ich und machte mich auf, meiner Schwester zu folgen, während meine Gedanken weiterhin um das Leid meines einzigen Bruders kreisten.

Der Abend nahm einen friedlichen Verlauf und selbst Rémi schien sich in der zunehmend ausgelassenen Atmosphäre wohlzufühlen. Amanda war es gelungen, ihre Betroffenheit perfekt zu überschatten, indem sie zusammen mit meinem Ehemann ausschlaggebend für sämtliche Gespräche war, die an dem länglichen Tisch geführt wurden. Wäre ich zuvor nicht eines Besseren belehrt worden, hätte ich tatsächlich annehmen können, sie sei glücklich. Charlie und ich hielten uns hingegen eher im Hintergrund der Konversationen und beteiligten uns nur dann, wenn uns keine andere Option eröffnet wurde.

Als habe Rémi meine Gedankengänge verfolgt, erkundigte er sich in ebenjenem Moment bei Charlie: »Welche Geschäfte haben dich nach New York geführt? Konnte deine Firma nun endlich Fuß fassen?«

»Ähm…«, zögerte Charlie, der einige Zeit benötigte, um zu begreifen, an wen sich die Frage richtete, und sich eine zufriedenstellende Antwort zurechtzulegen, »Nun ja, in Europa waren wir bereits sehr erfolgreich und konnten unsere Gewinnspanne um nochmals fünfzig Prozent steigern. In den USA sind Tochterfirmen und ähnliche Projekte in Atlanta, Chicago und Miami geplant. Ich sollte in New York Verhandlungen mit einem potentiellen Interessenten in Manhattan führen. Wenn diese Gespräche gut verlaufen, könnte es sein, dass ihr euch bald an mich als ständigen Gast gewöhnen müsst.«

»Beeindruckend.«, stellte Rémi anerkennend fest und hob sein bis zur Hälfte gefülltes Weinglas, als wolle er einen Toast auf Charlie ausbringen, »Innerhalb von nicht mal fünf Jahren ist dieses Versuchsprojekt zu einer seriösen Firma geworden und das ohne jegliche Erfahrung oder Unterstützung.«

»Ja, mehr als einmal war uns das Glück wohlgesonnen.«, gab Charlie bescheiden zu und konzentrierte seinen Blick schnell wieder auf den leeren Teller, dessen makelloses Porzellan jedes Detail seines kränklichen Spiegelbilds reflektierte.

»Du hast mehr als jeder andere in dieser Firma dazu beigetragen!«, erinnerte Amanda den jungen Mann, fassungslos, dass er seine eigene Beteiligung an diesem Erfolg zurückhielt.

»Vielleicht ein wenig.«, gestand sich Charlie letztendlich ein, doch wirkte sein Verhalten vielmehr, als wolle er das Thema endlich fallen lassen, anstatt noch länger darauf einzugehen.

»Sicher ist es nicht leicht für Gwen und die Kinder, dich, in Anbetracht deines Engagements, so wenig zu sehen.«, warf Rémi bedenkenlos ein und sprach damit den wunden Punkt an, den Charlie so vehement zu umgehen versucht hatte.

Sofort straffte mein Bruder seine Schultern, spannte seine Muskeln wie ein verletztes Tier, das keinen anderen Ausweg sieht, als den des Angriffs. Er machte sich augenscheinlich auf ein hitziges Wortgefecht gefasst. In Charlies sonst so charmantes Gesicht trat ein Ausdruck des Schmerzes und unstillbaren Kummers. Erschrocken blickte ich zwischen meinem Lebensgefährten und meinem Bruder hin und her, derweil ich verzweifelt nach einer Lösung für das sich anbahnende Problem suchte. Auch Amanda entging die Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Situation nicht.

Obwohl die Nacht noch jung war, leerte sie mit einem einzigen Zug ihr Weinglas und erhob sich langsam von ihrem Stuhl, wobei sie sagte: »Wir sollten jetzt besser gehen. Charlie hat mir versprochen, morgen mit mir das Empire State Building zu erklimmen und das ist mit Übermüdung und einem Kater keine allzu gute Idee.«

»Seid ihr sicher, dass ihr schon gehen möchtet?«, fragte Rémi überrascht und sah mich fragend an.

In seinen braunen Augen brannte Verwunderung und sicherlich überlegte er, ob seine Bemerkung womöglich der Grund für Amandas plötzlichen Fluchtinstinkt gewesen sein könnte. Liebevoll griff ich nach seiner Hand und drückte diese leicht, während ich hilflos mit den Schultern zuckte und ebenfalls aufstand, um mich von meinen Geschwistern zu verabschieden. Nur zu gut konnte ich nachvollziehen, wie unbehaglich Charlie zumute sein musste und hatte vollstes Verständnis für seinen Wunsch, in das Hotel, in welchem die beiden übernachteten, zurückzukehren.

»Es war schön, euch wiederzusehen.«, stellte ich aufrichtig fest und empfing zunächst Amanda und dann Charlie in einer innigen Umarmung.

»Wenn ich dir helfen kann, ganz gleich, auf welche Weise, lass es mich wissen!«, wisperte ich dem hochgewachsenen Informatiker anteilnehmend ins Ohr, ehe ich mich von ihm zurückzog und einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung tätigte. Irritiert sah Charlie mich an, verengte seine Augen und dachte sichtlich angestrengt darüber nach, wie ich von seiner momentanen Notlage erfahren haben könnte. Allerdings gelang es ihm nicht, mich darauf anzusprechen, da das gegenwärtige Schweigen nur von kurzer Dauer war.

»Es war wirklich ein wunderschöner Abend!«, bestätigte auch Amanda, »Ich würde mich sehr freuen, wenn wir das zeitnah wiederholen könnten.«

»Sehr gern.«, räumte Rémi, welcher seinen Arm sanft um meine Taille schlang, bereitwillig ein. »Kommt gut nach Hause!«, rief ich meinen beiden Geschwistern nach, als sich auch Charlie schließlich mit noch immer verwirrter Miene von uns abwandte und die lange Auffahrt hinabschritt.

Er folgte Amandas raschem Tempo und schloss alsbald zu ihr auf, indes Rémi und ich den Fortgang der beiden von unserer Position auf der Veranda aus verfolgten. Erst, als die Dunkelheit die schemenhaften Silhouetten vollständig verschlungen hatte und der weitläufige, mit hohen Zypressen bepflanzte Vorgarten verlassen in der rabenschwarzen Nacht verblieb, betrat ich gemeinsam mit meinem Gefährten das luxuriöse Haus und schloss die Haustür hinter mir.

Kapitel 3

»Erschien dir Charlie heute eigenartig?«, fragte Rémi misstrauisch.

Da ich mich zur Zeit seiner Frage in dem kleinen Badezimmer, welches direkt an unser gemeinsames Schlafzimmer anschloss, aufhielt, vernahm ich seine Erkundigung nur gedämpft und war froh, ihm nicht sofort antworten zu müssen. Was sollte ich ihm erwidern? Sollte ich ihm die Wahrheit anvertrauen und damit nochmals gegen Charlies Willen verstoßen, seine missliche Lage geheim zu halten? Oder sollte ich Rémi belügen, wie Charlie mich hatte belügen wollen? Aber konnte ich wirklich Rémi belügen? Nie zuvor war ich meinem Mann gegenüber auch nur ansatzweise unehrlich gewesen. Stets hatte ich ihm nach bestem Wissen und Gewissen geantwortet und nie eine Veranlassung zur Heuchelei gesehen. Sollte ich jetzt damit anfangen?

»Ja.«, entgegnete ich wahrheitsgemäß und griff nach einem schwarzen Zopfgummi, den ich auf der Ablage neben dem Waschbecken zurückgelassen hatte, um mein wirres Haar zu einem lockeren Zopf zu binden, »Schon als er mich begrüßt hat, hatte ich ein ungutes Gefühl. Er sah so verändert aus.«

»Hast du mit Amanda darüber gesprochen?«, forschte Rémi, der nur zu gut um das enge Band zwischen meiner Zwillingsschwester und mir wusste, »Kennt sie den Grund für sein Verhalten?«

Während ich das Badezimmer verließ und im Vorbeigehen den Lichtschalter betätigte, seufzte ich schwermütig: »Ja, das tut sie. Ich habe sie in der Küche darauf angesprochen und sie hat mir alles erzählt. Gwen hat Charlie verlassen, fordert jetzt sogar die Scheidung und hat die Kinder mitgenommen. Er hat seine Familie seit gut drei Monaten nicht mehr gesehen und Amanda macht sich wahrlich Sorgen um ihn.«

»Das zu hören tut mir leid.«, meinte Rémi mit mitfühlend verzogenen Mundwinkeln und hob die Enden der weißgeblümten Daunendecke etwas an, sodass ich neben ihm in dem großen Doppelbett Platz fand, »Das erklärt auch, warum Amanda so plötzlich darauf drängte, zu gehen. Mein Kommentar war wohl eher unangemessen.«

»Es ist nicht deine Schuld, Rémi. Wie hättest du es ahnen können?«, wehrte ich seine Selbstvorwürfe augenblicklich ab und bettete meinen Kopf in seiner Halsbeuge, derweil Rémi beide Arme um mich legte und mich noch enger an sich zog.

»Was wirst du nun tun?«, interessierte sich der Fünfunddreißigjährige, dessen unrasierte Wange auf meinem Scheitel ruhte.

»Ich weiß es nicht.«, gab ich bekümmert und kopfschüttelnd zu, »Vermutlich werde ich mich zuerst mit Amanda besprechen und überlegen, wie wir Charlie am besten helfen können. Ich möchte ihn nicht übergehen, indem ich mich an Gwen wende, aber irgendetwas muss ich tun. Er ist immerhin mein Bruder und ein solches Los hat er nicht verdient. Als Vater sollte er zumindest wissen, ob es seinen Kindern gut geht und, wo sie sich befinden.«

»Das ist sehr umsichtig von dir.«, lobte Rémi und ergänzte anschließend, »Doch nun lass uns nicht länger davon sprechen. Ich will nicht, dass du die Nacht über wach liegst und dich um Charlie sorgst.«

»Das werde ich sowieso tun.«, prophezeite ich mit müdem Kichern und ließ mich von dem Mann zu meiner Linken in eine liegende Haltung ziehen. Seine Lippen strichen kokett über die meinen. Ich genoss den zarten Kuss und verlor mich vollends in ihm, während Rémis Hand meine Taille verließ und stattdessen auf meiner Hüfte verweilte.

»Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?«, raunte er gegen meine Lippen und lehnte seine Stirn schwer gegen meine, »Ich könnte den Gedanken, du könntest mich verlassen, nicht ertragen.« »Das könnte ich nie.«, versprach ich ihm ernst.

Ich vergrub meine Hände in seinem dichten, braunen Haar und streckte mich fordernd, um ihm einen weiteren Kuss abzuringen.

»Ich liebe dich.«, murmelte ich atemlos.

»Ich liebe dich noch viel mehr.«, schmunzelte Rémi schelmisch.

Eng umschlungen legten wir auf die Matratze und obwohl ich befürchtet hatte, mich mit unendlich langen, schlaflosen, von Albträumen heimgesuchten Stunden konfrontiert zu sehen, fiel ich fast augenblicklich in einen tiefen, ungestörten Schlummer. Ewig hätte ich unbewegt daliegen und den Atem meines Geliebten auf meiner Haut spüren können, doch schon bald sollte ich lernen, dass Glück nur von kurzer Dauer war.

Kapitel 4

Sonnenstrahlen kitzelten meine Haut und verleiteten mich dazu, widerwillig meine Augen zu öffnen und den verbleibenden Schlaf hinfort zu blinzeln. Das Schlafzimmer stand in hellem Licht, das durch die dünnen Vorhänge drang und mich unangenehm blendete. Die Sonne musste unlängst aufgegangen sein, überlegte ich. Ob es über Nacht wohl geschneit hatte? Verschlafen streckte ich mich, rekelte mich in den zerwühlten Bettlaken. Mein Gesicht war dem Fenster am anderen Ende des Zimmers zugewandt, sodass ich fasziniert auf die friedliche Szene hinabsehen konnte, die sich mir bot. Auf der wenig benutzten Nebenstraße, in die unsere Auffahrt mündete, tummelten sich ein paar Kinder im Grundschulalter, die ausgelassen lachten und einander durch die niedrigen Schneewehen jagten. Ich sah Schneebälle, die durch die Luft schnellten und nicht selten auf einen Hinterkopf oder Oberkörper trafen. Das glückliche Geschrei der Kinder und ihre glockenhellen Stimmchen drangen selbst durch das Fenster, allerdings nahm ich daran keinen Anstoß, nein, ich freute mich sogar darüber, Anteil am Spaß der Kinder zu haben. »Rémi?«, fragte ich leise und drehte mich langsam auf die andere Seite.

»Rémi, Liebling?«, wiederholte ich meine Anrede, während ich meinen Blick noch immer auf die spielenden Nachbarskinder geheftet hielt.

Verblüfft zuckte ich zusammen, als mein Augenmerk schließlich auf die verwaiste Kuhle an seinem Ende des Bettes fiel. Die bunten Kissen lagen über die gesamte Länge der Ruhestatt verstreut, die mit einem Blumenmuster versehene Decke war verdreht zu Boden geworfen. War Rémi etwa schon wach? So früh? Und noch dazu an einem Samstag? Verwundert raufte ich mein verknotetes Haar, das wider Erwarten noch immer von einem halbwegs ordentlichen Zopf in meinem Nacken zusammengehalten wurde.

»Rémi?«, rief ich nun lauter und befreite mich aus der Decke, die sich im Schlaf um meine langen Beine gewickelt hatte.

Ich vergrub meine nackten Zehenspitzen in den weichen Stoppeln des weißen Teppichs, welcher das Parkett des Schlafzimmers bedeckte, und setzte mich träge in Bewegung. Ich bemühte mich nicht, das Licht im Flur anzuschalten, sondern durchquerte den Korridor im hellen Sonnenlicht des anbrechenden Tages. Meine Hand suchte Halt an dem dunklen Holzgeländer der Treppe, die in das jeweils höher- und tiefergelegene Stockwerk führte. Kälte kroch aus dem Metall der eisernen Stufen in meinen Körper und ließ mich frösteln. »Rémi? Bist du schon wach?«, erkundigte ich mich abermals und erwartete seine alleserklärende Antwort.

Jedoch blieb diese erneut aus. Allmählich machte sich Sorge in mir breit und vernebelte meinen Verstand mit Schleiern der dunklen Vorahnung. Wo konnte Rémi nur sein? Vielleicht hatte er spontan eine Schicht für einen seiner Kollegen übernehmen müssen? Womöglich hatte er schon wieder Doctor Grant vertreten, da dieser nach wie vor mit der Fürsorge seiner verunglückten Frau beschäftigt war? In diesem Fall hätte er mir sicherlich eine Nachricht hinterlassen! Übereilt und stolpernd überwand ich den letzten Treppenabsatz, indem ich immer zwei Stufen auf einmal nahm, und bog schlitternd in die Küche ein, die sich, wie ich bereits vorhergesehen hatte, verlassen vor mir erstreckte. Wie üblich hatte ich mein Handy am vergangenen Abend auf der marmornen Arbeitsfläche liegengelassen, welches ich nun mit zittrigen Fingern aufnahm. Adrenalin pulste durch meine Venen, während ich hoffnungsvoll durch sämtliche Chats, die ich mit meinem Ehemann geführt hatte, scrollte, in der ständigen Suche nach einer Nachricht, die sein plötzliches Verschwinden erklären könnte. Jedoch konnte ich keine derartige Textnachricht finden. Meine Gelenke schmerzten angesichts meines unvorbereiteten Spurts, doch war ich zu aufgebracht, um davon überhaupt Notiz zu nehmen. Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht in meinen Handflächen und strich schwer atmend den letzten Schlaf aus meinen Augen. Wo war Rémi, verdammt? Mein Herz sprang panisch und in schmerzhaften Takt gegen meine Rippen und vergrößerte meine Furcht noch mehr. Wo war mein Ehemann? Er würde doch nie einfach so verschwinden!

»Ganz ruhig!«, befahl ich mir selbst und rief mich strikt zur Besinnung, »Vielleicht hat er sich nur entschlossen, einige Besorgungen zu erledigen. Kein Grund zur Panik!«

Obwohl ich mich fühlte, als würde ich jeden Augenblick vor Sorge kollabieren, zwang ich mich, mehrere tiefe Atemzüge zu nehmen und die Kontrolle über meinen Leib zurückzuerlangen. Betont langsam setzte ich mein Handy auf der Arbeitsplatte der Kücheneinrichtung ab und umfasste deren Rand mit beiden Händen. Mit vollem Gewicht lehnte ich mich auf den edlen Marmor, während ich versuchte, meinen Verstand nicht endgültig zu verlieren. War ich paranoid? Ich war in einem Bett aufgewacht, ohne meinen Ehemann an meiner Seite zu wissen und nun ging ich sofort vom Schlimmstmöglichen aus? War das verrückt, melodramatisch? Reagierte ich über?

»Lorelei Voltaire! Reiß dich zusammen, verdammt noch mal!«, beschwor ich mich und hoffte inständig, dass das Haus tatsächlich verlassen war und niemand mein sonderbares Selbstgespräch würde belauschen können.

Zwar war ich mir bewusst, dass dieses Unterfangen nur von geringem Erfolg gekrönt sein würde, doch konnte ich nicht umhin, die gesamte Küche und das Speisezimmer nach etwaigen Zetteln abzusuchen. Ich war es nicht gewöhnt, dass Rémi ausging, ohne mich davon in Kenntnis zu setzen. Stets informierte er mich über seinen Verbleib, schrieb mir Nachrichten oder hinterließ kleine, handschriftlich verfasste Zettel, die er an den Kühlschrank oder den Spiegel im Hausflur klebte. Wieso hatte er sich dann heute in aller Heimlichkeit davongestohlen? Konnte er vergessen haben, mich über seinen Weggang zu informieren? War er vielleicht in zu großer Eile gewesen und hatte mich nicht wecken wollen? All das waren plausible Erklärungen für seine plötzliche Abwesenheit. Aber irgendetwas, ein Gefühl oder sensibler Instinkt, hielt mich davon ab, zu glauben, Rémi würde mich unwissend und besorgt zurücklassen. Das passte schlichtweg nicht zu ihm! Noch dazu konnte ich mir keine realistischen Umstände vorstellen, die einen solchen Hergang rechtfertigen würden! Letztendlich siegte meine Besorgnis über meine Vernunft und ich begab mich eilig zurück in die Küche, wo ich mein Handy packte und die mir nur allzu vertraute Nummer meines Mannes wählte.

Als sich nach dreißig, unendlich langanhaltenden Sekunden die Mailbox meldete, fehlten mir zunächst die Worte, weshalb ich unsicher stammelte: »Rémi? Rémi, Liebling, ich mache mir Sorgen. Wo bist du? Du bist so plötzlich verschwunden, ohne mir Bescheid zu geben. Bitte ruf mich zurück, ja?« Niedergeschlagen und nicht wissend, was ich tun sollte, ließ ich mich auf einen der mit schwarzem Leder überzogenen Barhocker, die um die Kücheninsel postiert waren, sinken und wartete. Ich wartete fünf Minuten, eine halbe Stunde und letztendlich über eine Stunde. Doch Rémi rief mich nicht zurück. Auch nicht, nachdem ich seinen Anrufbeantworter mit zehn weiteren Mailboxaufzeichnungen gefüllt hatte. Selbst das gute Dutzend Nachrichten, das ich ihm sandte, blieb unbeantwortet.

»Verdammt, Rémi!«, knirschte ich erschöpft. Mittlerweile rangen Zorn und Verzweiflung zu gleichen Teilen in mir. Das konnte doch nicht sein Ernst sein! Rémi hatte mich nie zuvor in solche Angst versetzt und dennoch glühte in mir ein unbeschreiblicher Zorn. Mir war vollkommen egal, welche Gründe sein Verschwinden haben mochte! Fest stand allein, dass er nicht hier war und sich ohne jegliche Spur zu hinterlassen davongemacht hatte! Meine Panik stachelte meine Rage noch weiter an, bis ich es nicht länger ertragen konnte, hilflos und tatenlos herumzusitzen. Der metallene Barhocker fiel krachend um, als ich mich abrupt von ihm abstieß und auf die Beine stemmte. Achtlos setzte ich über den liegenden Stuhl hinweg, fluchte unhörbar, derweil ich mein Mobiltelefon noch fester umklammerte. Nervös nagte ich an meiner Unterlippe, schmeckte bereits einen Tropfen Blut auf meiner Zunge zergehen, während ich abermals den Bildschirm des Handys mit meinem Passwort entsperrte. Ich überflog die Liste meiner eingespeicherten Kontakte flüchtig, wussten meine Finger doch schon, welche Nummer sie suchten. Ich bestätigte den Anruf und hob das kleine, rechteckige Gerät an mein Ohr, um dem nervigen Piepen der Warteschleife zu lauschen.

Ich konnte nicht genau sagen, wie lange ich auf eine Antwort wartete, bis die Stille schließlich von einer melodischen Frauenstimme durchbrochen wurde: »Hier Doctor Prime. Wie kann ich helfen?« »Hallo Evangeline.«, grüßte ich die angesehene und vorsitzende Chefärztin freundlich, »Hier ist Lorelei Voltaire.«

»Ah, ich erinnere mich.«, gab die Akademikerin erfreut zurück, »Ihr Mann hat uns bei der Gala letzten Monat miteinander bekanntgemacht, nicht wahr?« Mit gekünsteltem Frohsinn stimmte ich ihr zu: »Ja, ganz recht.«

»Nun, gibt es etwas, das ich für Sie tun kann, Lorelei?«, erkundigte sich Evangeline charmant.

»Ich suche meinen Ehemann Rémi und habe mich gefragt, ob er heute womöglich eine Schicht übernimmt, die er wohl vergessen hat, mit mir abzusprechen.«, erklärte ich knapp, da ich auf eine baldige Antwort pochte.

»Rémi Voltaire?«, wiederholte Evangeline vergewissernd, »Nein, das muss ein Irrtum sein. Doctor Voltaire hat doch diese und nächste Woche Urlaub beantragt.«

»Was?«, stieß ich perplex hervor und fühlte mich, als habe man mir einen harten Schlag in den Magen verpasst, »Sie wollen mir also sagen, dass Rémi die gesamte Woche nicht zur Arbeit erschienen ist?« »Ja. Ich bat ihn schon vor einem halben Jahr, seine unzähligen, noch verbleibenden Urlaubstage abzubauen und das hat er jetzt getan.«, führte Doctor Prime ihre Erörterung weiter aus und versetzte mir mit jeder Silbe einen weiteren Stich.

»Okay, ähm… vielen Dank für Ihre Auskunftsbereitschaft. Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«, stotterte ich wortkarg, einzig darauf bedacht, endlich auflegen zu können und das eben Gesagte zu verarbeiten.

»Lorelei, geht es Ihnen gut? Sie klingen so bedrückt? Gibt es einen Grund, weshalb Sie sich nach Rémi erkundigt haben?«, drang Evangeline unerwartet in mich.