Schrei für mich mein Engel - Emily Schuster - E-Book

Schrei für mich mein Engel E-Book

Emily Schuster

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Beschreibung

In der amerikanischen Großstadt Cincinnati treibt ein Serienmörder von beispielloser Grausamkeit und Unmenschlichkeit sein Unwesen. Das FBI ermittelt in dem Fall, dem bereits die Morde an acht jungen Frauen zuzuschreiben sind und obwohl das Team um die wahre Identität des Täters weiß, vermag es nicht, John Calson, den psychopathischen und zugleich unantastbar scheinenden Verantwortlichen dieser Verbrechen, dingfest zu machen. Das FBI-Team erhält unerwartet ein Video. Dieses zeigt deutlich die abartige Tortur, der Calson sein neues Opfer unterzieht, und versetzt die FBI-Ermittler in unfassbares Entsetzen. Während sich das Team mit der Suche des Täters und der Verständigung der Medien auseinandersetzt, erfährt das Opfer die grauenhaften, teils liebevollen und teils gewaltsamen Anmaßungen der Folter. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt…

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Schrei für mich, mein Engel!

Die Toten vom Mill Creek

Ein Krimi von Emily Schuster

Titel:

Schrei für mich, mein Engel!

Untertitel:

Die Toten vom Mill Creek

Autorin:

Emily Schuster

Copyright:

© 2021 Emily Schuster

Coverbild:

Sebastian Schuster

ISBN:

978-3-96518-075-8 Hardcover978-3-96518-069-7 Paperback978-3-96518-070-3 eBook

Druck und Distribution:

Independent-Verlag LatzaIm Koppelfeld 248612 Horstmar

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Verlag verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Verlags, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Vorwort

Ein Buch ist die Seele seines Autors

und seine Figuren die Kinder seiner Fantasie.

(Im Gedanken an alle, deren Liebe ich nicht verdiene und mir ihrer dennoch stets gewiss sein darf.)

Prolog

„Hast du Angst vor mir?“, fragte der verhüllte Mann, dessen Gesicht dem meinem so nahe war, dass ich seinen heißen Atem brennend auf meinen Wangen spüren konnte.

Seine barsche Stimme hallte laut in der Dunkelheit wider, warf ein geisterhaft gellendes Echo, das sich in einen Chor aus vielen Stimmen spaltete. Angewidert und von furchterfüllt zuckte ich vor seiner fast zärtlichen Geste zurück, als er eine seiner blutverschmierten Hände an meine Wange legte und behutsam über den scharfen Knochen strich.

„Hast du mich je gefürchtet?“, flüsterte er sadistisch.

Ich wand mich in seinem Griff, mied verzweifelt seinen Blick in dem hoffnungsfrohen Versuch, so auch seiner Aufmerksamkeit zu entsagen. Ich wusste, meine Ignoranz würde grausige, unmenschliche Schmerzen als Konsequenz nach sich ziehen, doch wagte ich nicht, ihm zu antworten. Zu groß war meine Angst, eine falsche Antwort zu geben, ihn in seinem Stolz zu verletzen oder gar seinen Zorn zu schüren. Meine Gedanken gingen in einer erneuten Woge des Schmerzes unter, indes sich sein monströses Lachen mit dem Klang meines gepeinigten Schmerzensschreis mischte.

Kapitel 1

„FBI!“, schrie Andrew voller Inbrunst.

Adrenalin pulste als Vorbote meiner Nervosität durch meine Adern. Schweißnass umklammerte ich den Abzug meiner Pistole, wartete angespannt auf Andrews Zeichen zum Vorrücken. Eine kalte Hand legte sich schwer auf meine rechte Schulter und ließ mich erschrocken zusammenzucken.

„Ich gebe Ihnen Deckung!“, erklärte Matthew wohlwollend, als ich in der Erwartung, einem potenziellen Angreifer gegenüberzustehen, herumwirbelte und ihn perplex ins Auge fasste.

Ich erwiderte sein schmales Lächeln und flüsterte halblaut: „Danke.“

Das laute Krachen des berstenden Holzes, welches unter der Wucht des kleinen Rammbocks in Andrews Händen zersplitterte, riss mich ruckartig in den gegenwärtigen Augenblick zurück. Ich fuhr abermals herum, erspähte Andrew wenige Meter vor mir. Er hatte den zylinderförmigen, schwarzen Eisenrammbock zu Boden fallen lassen, stieg nun, vollkommen von der Konzentration auf sein Ziel vereinnahmt, über ihn hinweg und stürmte im Laufschritt durch die kläglichen Überreste des massiven Holztürblattes. Der junge Mann hielt in seiner stärkeren Linken seine Waffe, während er mit seiner freien Hand vage in meine Richtung winkte. Ich folgte seiner stummen Anweisung und sprintete die letzten Stufen der Veranda hinauf. Flach presste ich mich gegen die Außenwand seitlich des Eingangs und warf vorsichtig, den Lauf meiner Waffe der Bewegung meines Kopfes vorangehend, einen Blick um die Biegung. Ich zwang den Schlag meines aufgeregten Herzens zur Ruhe, ehe ich Andrew ins Innere des alleinstehenden Einfamilienhauses folgte. Ich hörte deutlich Matthews Schritte hinter mir, der schon bald zu mir aufschloss. Auch er wirkte angespannt und drehte sich prüfend zu allen Seiten des schmalen Korridors, der an das kleine Foyer angrenzte. Ich hatte Andrew aus den Augen verloren, doch besann ich mich meiner Aufgabe und durchquerte zielstrebig den kurzen Flur, um das erste Zimmer zu betreten, das ich erreichte. Die Tür des Badezimmers stand weit offen, weshalb mein Eindringen nicht unangenehm behindert wurde. Lediglich eine weißgeflieste Dusche und ein hüfthoher Waschschrank aus poliertem Mahagoniholz säumten die Wände des Raumes. Ein Spiegel hing oberhalb der Waschvorrichtung. Mein Spiegelbild erschien mir zerzaust und schweißgebadet, die Pistole in meinen Händen zitterte ob meiner Anspannung.

„Gesichert!“, verkündete ich meinen Kollegen, nachdem ich mich in der minder geräumigen Kammer umgesehen hatte.

Noch immer hielt ich meine Dienstwaffe vor meinem Körper ausgestreckt, doch glaubte ich bereits nicht mehr, sie am heutigen Tage gebrauchen zu müssen.

„Gesichert!“, scholl auch Logans Ruf aus unmittelbarer Nähe.

Ich verließ das Zimmer, ohne mich weiter mit seiner Durchsuchung zu befassen, und stieß auf meinen Kollegen, welcher auf dem Gang verharrte. Er nickte mir zu und bedeutete mir, die Führung zu übernehmen. Langsam drang ich weiter in die Räumlichkeiten des Hauses vor. Nach wenigen Schritten bog ich erneut in eines der unzähligen Zimmer ab, wurde aber auch hier nicht fündig.

„Wo ist er?“, fragte ich missmutig, als Matthew und Emmett von ihrer Suche aus den oberen Stockwerken des Gebäudes zurückkehrten.

„Er muss hier sein!“, versicherte Claires Stimme stur durch den fingernagelgroßen Knopf, der unbemerkt in meinem Ohr verborgen war, „Welchen Grund hätte mein Informant, uns zu belügen? Durchsuchen Sie jeden Raum! Und verdammt noch mal, finden Sie ihn!“

„Ja, Boss.“, quittierte Emmett den unumstößlichen Befehl des Supervisory Special Agents.

Andrew klatschte laut in die Hände, um sich die allgemeine Aufmerksamkeit der Anwesenden zu sichern und wies mich an: „Lilianna, durchsuchen Sie Keller und Untergeschosse! Logan, Sie gesellen sich zu ihr! Emmett, Matthew, übernehmen Sie die Sicherung von angrenzenden Straßen und Grundstücken! Calson darf uns nicht entwischen! Ich durchsuche nochmals alle Zimmer und sichere Beweismaterial.“

Als keiner von uns auf seine Anweisungen reagierte und keinerlei Anstalten machte, ihre sofortige Ausführung zu gewährleisten, bellte er laut: „Na los! Worauf warten Sie noch?“

Seine unüberhörbare Zurechtweisung jagte mir einen eisigen Schauder über den Rücken. Logan fasste mich, in dem Versuch, sich schnellstmöglich von unserem übergeordneten Agent zu entfernen, am Ellenbogen und drängte mich mit sanfter Gewalt, den Korridor zu durchmessen. Schon bald verklang das streitlustige Stimmengewirr hinter uns, noch bevor wir die steilabfallende, schmale Marmorwendeltreppe erreichten, die sich in engen Windungen an die weinrotgestrichene Wand schmiegte.

„Denken Sie wirklich, Calson könnte noch hier sein?“, wandte ich mich an Logan, während wir hintereinander die wenigen Stufen hinabstiegen.

Er bestätigte mich in meiner Annahme, als auch er niedergeschlagen den Kopf schüttelte: „Nein. Wir wissen genug über ihn, um annehmen zu können, dass er sich nicht von einer Hausrazzia überraschen lässt. Vermutlich hat er bereits vor der Unterzeichnung unseres Gerichtsbeschlusses von ihr erfahren und das Land verlassen. Ich denke nicht, dass wir ihn je wiedersehen werden.“

„Solange das Morden ein Ende hat, soll es mir recht sein.“, erklärte ich leise, da wir just in diesem Moment die unterste Etage des Treppenhauses erreichten.

Ein schmuckloser, dunkler Keller erstreckte sich vor uns in die Dunkelheit. Einem inneren Instinkt vertrauend hob ich meine Pistole an und zog ebenso die winzige, an meinem Gürtel befestigte, Taschenlampe hervor, um mir meinen bevorstehenden Weg zu erleuchten. Ich konnte keinen Lichtschalter oder dergleichen ausfindig machen, weshalb ich zunächst darauf wartete, dass auch Logan von seiner Lampe Gebrauch machte, ehe ich tiefer in die Finsternis trat. Das ausgedehnte Kellergewölbe setzte sich aus einer Vielzahl an unterschiedlich großen Räumen zusammen, die jeweils mit dem benachbarten Zimmer durch eine einzelne Tür verbunden waren. Verwirrt stellte ich fest, dass die Türen dieser Räume nicht aus gewöhnlichem Holz, sondern aus robustem Metall gefertigt worden waren. In Ermangelung jeglichen Tageslichts, konnte ich die Einzelheiten und Farben jedoch nur schwach erahnen. Beinahe blind tastete ich mich an einer der tragenden Wände entlang, bis ich zur Mitte des Hauptraumes gelangte.

„Gehen Sie nach rechts!“, hauchte Logan und deutete die beschriebene Richtung mit einer knappen Geste seines Kopfes an, „Ich übernehme die linke Seite.“

Ich schluckte schwer, spähte angestrengt in die allumfassende Dunkelheit und suchte nach etwas, das meine Aufmerksamkeit hätte erwecken können. Doch fand ich nichts, außer der Schwärze des modrigen Kellers. Ich sammelte all meinen Mut und formulierte den stummen Befehl, mich weiter auf die Zimmer zuzubewegen, die sich an die rechte Wand des Untergeschosses reihten. Zu schnell, wie es mir erschien, näherte ich mich der vordersten Tür. Ohne mich in falscher Sicherheit zu wiegen, senkte ich meine Dienstwaffe, um lautlos die Klinke des Türblattes mit meinem Unterarm hinabzudrücken und dieses mit meinem Knie aufzustoßen. Kaum hatte sich das zolldicke Metall der Pforte einen spaltbreit geöffnet, drang gleißend helles Licht aus dem Inneren der Kammer. Es stach mir mit einer Intensität in die Augen, die mich überrascht beide Hände vor mein Gesicht heben ließ, um meine Augen vor der grellen Helligkeit zu schützen. Schmerzen wogten von meinen Augäpfeln durch meinen Kopf und gruben sich wie scharfgewetzte, animalische Krallen in meinen Verstand. Ich keuchte vor Qual und Perplexität, taumelte unkontrolliert zurück. Ich glaubte, blind zu sein, da flimmernde Lichtpunkte verschwommen über die Leinwände meiner geschlossenen Lider tanzten und sich in einem Spottgewirbel mit dem Schmerz vereinten.

„Lil!“, hörte ich Logan besorgt nach mir rufen.

Die Sohlen seiner Schuhe kratzten hörbar über den rauen, naturbelassenen Betonboden, als er, jegliche Gebote der Vorsicht missachtend, auf mich zu rannte und mich grob an den Schultern packte.

„Lil!“, wiederholte er sich, „Können Sie mich hören?“

Ich biss die Zähne gegen die Pein zusammen und zwang mich mit geballten Fäusten, meine Augen abermals zu öffnen. Noch immer stach das Licht schmerzhaft, doch bereitete es mir keine unaushaltbare Qual mehr wie zuvor.

Bemüht, mich gelassen zu geben, antwortete ich meinem Kollegen mit gespielter Ruhe: „Ja. Es ist alles gut. Das Licht. Es war nur das Licht. Nichts weiter.“

„Sind Sie sicher?“, insistierte er mit gehobener Augenbraue.

Ich nickte lebhaft, um die Wahrheit meiner Worte zu untermauern: „Ja.“

„Logan, Lilianna?“, mischte sich nun auch Claire per Funkt ein, „Ist alles in Ordnung? Haben Sie Calson gefunden?“

„Nein.“, erwiderte ich wahrheitsgemäß, „Wir durchsuchen noch den Keller des Gebäudes.“

„Schön, aber beeilen Sie sich!“, kommentierte Claire impulsiv und mit offenkundiger Gereiztheit, „Wir müssen Calson finden! Dem gilt oberste Priorität!“

„Ja.“, stimmten Logan und ich ihrer Anmerkung synchron zu.

Da sie das Gespräch anscheinend für beendet betrachtete, widmete auch ich mich wieder der Erfüllung meines Auftrags. Ich entwand mich Logans Griff, dessen Hände noch immer auf meinen Schultern ruhten, und blinzelte konzentriert gegen die gleißende Helligkeit, welche nun einen Großteil des Hauptraums flutete. Erst nach einer Weile gelang es mir, Konturen hinter dem strahlenden Weiß auszumachen. Von Neugier getrieben, trat ich einen weiteren Schritt auf die schwere Metalltür zu, achtete dabei nicht auf meinen Kollegen, der mir unaufgefordert folgte. Nun, da ich meine Fassung allmählich zurückerlangte, entsann ich mich meiner Verletzlichkeit und erhob erneut die Pistole auf Brusthöhe. Bedacht schlich ich auf die Räumlichkeit zu, berührte mit meiner freien Hand, in welcher ich zuvor meine Taschenlampe gehalten hatte, das kühle Eisen der Pforte. Ich zog sie weiter auf, um das Zimmer betreten zu können, doch stockte mir augenblicklich der Atem, als ich das Innere der Kammer erblickte. Eingehüllt in künstliches Licht, wie eine Decke aus schlohweißem Schnee, beherrschte ein riesiger, rechteckiger Metalltisch den kargen Raum. Es war vollkommen mit grünlichen, historisch wirkenden Fliesen verkleidet und besaß nur eine spärliche Einrichtung. Von beiden Längsseiten des Tisches hingen zwei lange Lederschlaufen zu Boden, deren Funktion als grausame Folterfessel unübersehbar war.

„Was ist das hier?“, stieß ich geschockt hervor, derweil ich meinen Blick über die zahlreichen, nebeneinanderliegenden Zangen, Hammer, Skalpelle, Knüppel, Eisenstangen und Messer schweifen ließ, die sich auf einem kleinen Krankenhausbeistelltisch neben der eigentlichen Platte befanden.

Angewidert verzog ich das Gesicht, kämpfte vehement gegen den Brechreiz an, der in mir aufzusteigen drohte. Abgesehen von den beiden Tischen und den Werkzeugen von unsäglichen Qualen war das Zimmer zur Gänze leer. Erst jetzt bemerkte ich die Neonröhren, die sich wie glühende Schlangen an der Decke wölbten und welche den Keller mit ihren blendenden Strahlen erfüllten. Die gesamte Aufmachung dieser Folterkammer erinnerte mich unangenehm an den Kühlraum eines Schlachthauses, denn wie in einem solchen war auch hier der Boden von einer dunkelroten Blutkruste überzogen, die einem stinkenden Teich aus geronnenem Blut glich. Logan schien gleichsam wahrlich erschüttert. Seine bleiche Haut hätte der einer jeder Leiche an Blässe Konkurrenz gemacht und ich sah das Zittern, das von ihm Besitz ergriffen hatte. Der Atem des Dreißigjährigen ging stoßweise, seine sturmgrauen Augen traten in einem Ausdruck des Entsetzens geweitet hervor.

„Hill?“, sagte ich, anstatt eine Antwort meines Partners abzuwarten.

„Was?“, verlangte Claire wenige Sekunden später resigniert zu erfahren.

„Ich glaube.“, begann ich stotternd, „Sie sollten herkommen und sich das hier ansehen.“

Innerhalb eines einzigen Herzschlages wandelte sich ihre Frustration in helle Aufregung: „Was ist passiert? Haben Sie Calson gefunden?“

„Nein.“, übernahm Logan die Beantwortung der Frage für mich, wobei seine Stimme unwillkürlich schwankte und beinahe zu brechen drohte, „Aber ich denke, Sie sollten einige Leichenspürhunde beordern. Aus unserer Razzia ist soeben ein Tatort geworden.“

„Das Blut ist noch warm.“, stellte Matthew stirnrunzelnd fest, als er sich bückte und die Flüssigkeit mit der Kuppe seines Zeigefingers berührte, „Calson muss in großer Eile gewesen sein, um so viele eindeutige Beweise zurückzulassen. Er dürfte noch nicht lange fort sein. Vermutlich hätten wir sogar noch eine Chance, ihn einzuholen, wüssten wir, wohin er geflohen ist.“

„Ich habe Eva bereits auf den Einzug sämtlicher Kontodaten und Kreditkartenzahlungen angesetzt. Fahndungsplakate wurden an ausnahmslos alle Raststätten und Restaurants im Umkreis von fünfzig Meilen gemailt. Wenn er eine Spur hinterlässt, finden wir ihn!“, erläuterte Claire, die sich vom Anblick der Folterkammer nur wenig beeindrucken ließ.

„Wenn er eine Spur hinterlässt.“, folgerte Emmett frustriert, „Er ist uns schon ein gutes Dutzend Mal entkommen, ohne dass wir überhaupt von seiner Flucht erfahren hätten! Warum sollte ihm das heute misslingen?“

„Wir kennen die Abläufe seines perversen Spiels.“, wandte ich hartnäckig ein und sah dem Agent fest in die Augen, „Wir wissen, welches Ziel er verfolgt und auf welche Opfer er es abgesehen hat. Wir…“

„Müssen lediglich alle jungen Frauen mit heller Haut und grünen Augen in ganz Amerika unter Polizeischutz stellen und verhindern so einen weiteren Mord.“, schnitt Emmett mir sarkastisch das Wort ab, „Ich denke, nicht einmal Sie glauben wirklich daran, dass wir auch nur den Hauch einer Chance haben, Calson tatsächlich zu finden!“

Deprimiert und darauf bedacht, die Diskussion beizulegen, schwieg ich und sah hilfesuchend zu Andrew und Logan. Die beiden Männer unterhielten sich murmelnd, maßen mir keine Beachtung bei. Das Team hatte sich in kreisförmiger Anordnung in dem Kellerzimmer versammelt, starrte gedankenverloren auf die schutzanzugtragenden CSI-Beamten, welche mit fiebriger Eifrigkeit dem Verrichten ihrer Arbeit nachgingen. Wie weiße Mäuse huschten sie zwischen uns sechs FBI-Agents umher, nahmen Proben von Blut und etwaigen anderen hinterlassenen Körperflüssigkeiten und suchten nach Fingerabdrücken. Ungeduldig wartete ich auf einen triumphierenden Aufschrei der eingesetzten Beamten, der mir das Auffinden eines Hinweises oder Indizes verkünden würde, doch herrschte schon seit geraumer Zeit eisiges Schweigen zwischen den Anwesenden. Unbehaglich verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere, wippte unruhig auf meinen Fußballen. Matthew schien meine innere Aufgebrachtheit als einer der einzigen zu bemerken und trat, die Daumen gelassen in die Ränder seiner Schutzweste gehakt, zu mir.

Sein kurzes, hellbraunes Haar fiel ihm lose in die Stirn, als er den Kopf leicht zu meinem Ohr neigte und raunte: „Vielleicht sollten wir uns auch an der Suche nach einer Leiche beteiligen, meinen Sie nicht? Diese ganzen theoretischen Hypothesen treiben mich noch in den Wahnsinn!“

Ich blickte ihn zweifelnd an, konnte seinem Vorschlag aber nicht widerstehen. Tatsächlich machte es mich verrückt, zur Untätigkeit verdammt zu sein, während ein gesuchter Mörder und Sadist frei in den Vereinigten Staaten von Amerika herumlief und das nächste Opfer seiner krankhaften Fantasien auserkor. Erleichtert, meinen eigenen Gedanken und den missmutigen Gemütern meiner Kollegen entfliehen zu können, nickte ich zustimmend.

„Hill?“, sprach ich die Einsatzleiterin an, „Matthew und ich schauen uns noch einmal im Haus um. Vielleicht können wir dem CSI oben von größerem Nutzen sein als hier unten.“

„Tun Sie, was immer Sie wollen!“, fauchte Claire unfreundlich und widmete sich augenblicklich wieder der hitzigen Auseinandersetzung mit Andrew, der seine Hände verzweifelt in seinen grauen Strähnen vergrub und wahrhaft in Erklärungsnot geriet.

„Das kann ja noch lustig werden.“, kommentierte Matthew die schlechte Laune unserer Chefin, obwohl sie sich fortwährend in unmittelbarer Hörweite zu uns befand.

Dennoch konnte ich mir ein verstohlenes Grinsen nicht verkneifen und beschleunigte meine Schritte, um Claires eventuell aufwallenden Zorn zu entgehen, bevor sie ihn an uns auslassen konnte. Übereilt passierte ich die stählerne Metalltür und den daran anschließenden Hauptraum des Kellers. Zwei Stufen auf einmal nehmend überwand ich die filigrane Wendeltreppe, deren kunstvollverziertes Geländer mit handgefertigten Metallrosen versehen worden war. Alles in allem oblag dem Haus eine unglaubliche Eleganz und hätte als schön bezeichnet werden können, hätte ich nicht von den Gräueltaten gewusst, die dessen Besitzer den unfreiwilligen Besuchern seiner Wohnstatt zufügte. Das Gebäude verfügte über drei freizügige Stockwerke, die von gläsernen Außenwänden eingegrenzt wurden und so einen wunderbaren Rundumblick über die gesamte Stadt Cincinnati gewährten. Jede dieser drei Etagen war in einer anderen Farbschattierung von Rot gestrichen worden. Auch der Fußboden variierte und wechselte von Marmor zu Fliesen und hellem Holz. Die Einrichtung bestand größtenteils aus wertvollen, hölzernen Möbelstücken und weißen Stoffbezügen oder Dekorationselementen. Es verwunderte mich, dass ein Mensch von solcher Grausamkeit wie Calson eine derartige Faszination an der Gepflegtheit und Moderne seines Hauses hegen konnte. An das riesige Grundstück grenzte zudem ein Garten, der den Neid jeglicher Landschaftsgärtner geschürt hätte. Vorhänge aus fliederfarbenen Glyzinien kräuselten sich im leichten Wind des Frühjahrs, Rosenstauden wucherten mit zahllosen Austrieben in ihren Beeten und verdeckten einen Teil der Außenmauer. Selbst ein, in der Blüte stehender, Strauch von Frangipanis streckte sich dem Licht der Sonne entgegen.

„Wie kann ein Mensch nur so brutal und doch so friedlich und geduldig sein, seinem Haus solchen Glanz zu verleihen?“, äußerte ich meine Gedanken laut, während ich die letzte Stufe der Treppe zum Erdgeschoss hinaufstieg.

„Calson ist kein Mensch.“, meinte Matthew entschlossen, „Er ist ein Monstrum. Kein menschliches Wesen könnte einem Mitglied seiner eigenen Rasse solche Qualen zufügen. Es wäre eine Untertreibung zu sagen, er verdiene weder Recht noch Freiheit oder gar die bezeichnende Klassifizierung eines Menschen!“

„Denken Sie, er wird zurückkommen?“, forschte ich weiter und verharrte einen Augenblick lang auf der Stelle, sodass Matthew neben mir gehen konnte.

„Calson ist ein irrer Psychopath. Er hat keine Angst vor der Polizei, dem Tod oder sonst irgendetwas. Wir wissen nicht, wie er denkt, wir haben keine Ahnung, was er vorhat oder was ihn zu seinen Verbrechen treibt.“, setzte der junge Agent seine Ausführungen fort, „Wenn er einen Grund hat, zurückzukommen, dann wird er es zweifelsohne tun.“

„Und wir können nichts tun, um ihn daran zu hindern.“, fügte ich niedergeschlagen hinzu, „Wir gehören einer der hochrangigsten Staatsgewalten an und dennoch haben wir weder Mittel noch Wege, seinem Treiben ein Ende zu bereiten!“

„Wir werden ihn finden!“, entgegnete mein Gegenüber voller Elan, „Wir müssen!“

Ich verspürte das Gefühl, ihm zuzustimmen, wurde allerdings von einem der Officers des örtlichen Polizeidienstes unterbrochen, der uns den Eintritt in das riesenhafte Wohnzimmer verstellte. Seine muskulöse Statur ließ auf seine unverhohlene Stärke schließen und seine zusammengekniffenen Augen untermalten ebenfalls seine Unlust an einer Zuwiderhandlung seiner Anweisungen.

„Tut mir leid, Sie haben hier keinen Zutritt!“, offenbarte der Officer gelangweilt.

Ich hob den Saum meiner Lederjacke an, um ihm die, an dem Gürtel um meine Hüfte befestigte, Polizeimarke zu zeigen, die mich als einen Agent des FBIs auswies und schaute erwartungsvoll zu ihm auf. Seine Miene hatte sich keiner Gefühlsregung erbarmt und blieb unverändert kalt.

„Sie haben hier keinen Zutritt.“, wiederholte er sich erbost.

Matthew verlor die Nerven und fuhr gereizt auf: „Auf wessen Geheiß hin?“

„Auf meinen.“, ertönte plötzlich eine altbekannte, süffisante Stimme, deren Besitzer jedoch vom Körper des Officers vor uns verborgen wurde.

Dieser verflüchtigte sich in den kurzen Flur zum Foyer, als ihn eine Hand von hinten auffordernd zur Seite schob und ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, dass er bei der folgenden Unterredung nicht erwünscht war. Der stämmige Polizist hatte sich kaum meinem Sichtfeld entzogen, als meine Wut flackernd in mir aufzulodern begann, einem Leuchtfeuer gleich, das mit einem Kanister Benzin übergossen wird.

„Hernandez!“, spie ich ihm seinen Namen entgegen, als würde er einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge hinterlassen.

Der hochgewachsene Schwarzhaarige musterte mich abwertend und lächelte dann hämisch: „Agent Norris. Was für eine Freude, Sie begrüßen zu dürfen! Ich bin ein wenig empört über die Plötzlichkeit Ihres Eindringens und das Ihrer Kollegen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass es dafür einen hiebfesten Grund und einen belegenden Gerichtsbeschluss gibt? Es wäre zu bedauerlich, wenn ich mich bei Ihrem Vorgesetzten über Ihr Handeln beschweren müsste, zumal Sie eine derart bemerkenswerte Persönlichkeit sind.“

Unüberlegt und von meiner Wut getrieben trat ich einen schnellen Schritt auf den Siebenunddreißigjährigen zu, hob drohend den Zeigefinger gegen seine Brust. Matthew packte mich, bevor ich mich der Versuchung hingab, weitere Dummheiten zu begehen, hart an beiden Armen und zog mich unsanft von dem Anwalt zurück. Ich wehrte mich vehement gegen seinen Griff und drehte mich heftig in seiner Umklammerung, um mich dieser zu entwinden. Doch hatte ich der physischen Überlegenheit meines Kollegen nichts entgegenzusetzen. Wütend versuchte ich erneut, mich von ihm loszureißen.

„Hey! Hey!“, redete er auf mich ein, „Beruhigen Sie sich!“, etwas leiser ergänzte er, „Sie wissen genauso gut wie ich, dass Ihr Verhalten uns in keinster Weise dienlich ist!“

Ich starrte ihn verärgert an, doch rang ich meinen Zorn mühevoll nieder und ließ meine Gegenwehr schließlich vollends ersterben. Er hatte Recht. Trotz meiner unübersehbaren Kapitulation ließ Matthew seine Hände nach wie vor um meine Oberarme geschlossen, um einer weiteren Explosion meines Temperaments zuvorzukommen.

Etwas ruhiger presste ich gezwungen hervor: „Was wollen Sie hier, Hernandez?“

Mein Blick wanderte über die gegelten Wellen seines strähnigen Haares, die markante Form seines Gesichts, den hasserfüllten, grausamen Blick in seinen eisigen, braunen Augen und schließlich über die sorgfältig gestutzten Stoppeln seines Bartes. Obgleich ich in meinem Leben hunderten von verachtenswerten Personen begegnet war, hasste ich Calson und Hernandez doch gleichermaßen, auch, wenn Ersterer seine abstoßenden Vorstellungen tatsächlich verwirklichte, derweil sein Anwalt sie lediglich in seiner Fantasie ausführte. Jedoch wagte ich nicht an der Skrupellosigkeit und Kaltherzigkeit beider Männer zu zweifeln. Angewidert senkte ich meinen Blick.

„Nun.“, bekundete Nathan Hernandez den Umstand seiner Anwesenheit, „Sie sind unerlaubt in das Haus meines Mandanten eingedrungen und haben diesen zur Flucht aus seiner eigenen Unterkunft genötigt. Sie wollen ihm Verbrechen zur Last legen, die er nicht begangen hat. Es ist somit mein Job als Anwalt, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen und zu verteidigen. Ich glaube, das dürfte sogar Ihnen klar sein.“

„Unser Team hat eine rechtmäßig angeordnete Hausdurchsuchung durchgeführt!“, protestierte Matthew mit unterdrückter Wut, „Wir haben einen Gerichtsbeschluss und einen Haftbefehl gegen Ihren Mandanten vorliegen. Keine Ihrer Anklagepunkte wird vor Gericht Bestand haben! Außerdem haben wir diese kleine, illegale Hässlichkeit von einer Folterkammer in Calsons Kellern gefunden! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die Leiche finden, deren Blut auf dem Boden dieses Schreckenszimmers vergossen wurde! Ihr Mandant steht bereits mit einem Bein im Knast! Sehen Sie sich vor, dass Ihnen nicht das gleiche Schicksal blüht, Mister Hernandez!“

„Drohen Sie mir etwa?“, hakte der Anwalt gefasst nach.

„Legen Sie meine Worte aus, wie es Ihnen beliebt! Aber vergessen Sie sie nicht!“, zischte Matthew voller Abneigung.

Nathan sah ihn vielsagend und verheißungsvoll an, ehe er sein Augenmerk wieder auf mich fixierte und weiter in mich drang: „Ihr Team wird aller Wahrscheinlichkeit nach zu urteilen eine Fahndung nach Calson angestellt haben, ist dem nicht so?“

„Er ist ein gesuchter Mörder, Frauenschänder und Sadist!“, empörte ich mich über die Banalität seiner Frage, „Was erwarten Sie?“

„Nicht so zynisch, Agent.“, besänftigte Hernandez spottvoll, „Ich wollte Ihnen lediglich die Mühe ersparen, eine großräumige Suchaktion durchzuführen. Alles, was Sie sich von einer solchen erhoffen könnten, wäre die vollkommen sinnlose Verschwendung von Ressourcen. Ich an Ihrer Stelle würde mir das zu Herzen nehmen.“

„Es ist zu freundlich von Ihnen, dass Sie sich so um unser Wohlergehen sorgen, doch wenden Sie sich mit Ihrem Anliegen leider an die falsche Person.“, sinnierte ich, „Wenn Sie Beschwerde gegen den Vorgang unserer Ermittlungen einlegen oder meinem Team mit einer Anzeige drohen möchten, sollten Sie das besser Supervisiory Special Agent Hill vortragen und nicht mich und meinen Partner belästigen.“

Matthew feixte zustimmend und holte zu einem weiteren Seitenhieb aus: „Wenn Sie uns nun entschuldigen. Wir müssen eine Leiche finden.“

Ich schenkte meinem Partner ein dankbares Lächeln und schob mich dominant an Nathan vorbei, der mir gezwungenermaßen ausweichen musste. Seine süffisante Mimik hatte sich innerhalb der Dauer unseres Gespräches in eine eisige Maske des Ärgers verwandelt. Seine Mundwinkel waren boshaft verzogen und seine Augen verweilten hasserfüllt auf mir und Matthew. Seine Hände zitterten stark, weshalb er sie zu festen Fäusten ballte, um seine Aufgebrachtheit zu verbergen. Mein Kollege und ich hatten den Flur beinahe hinter uns zurückgelassen und das Wohnzimmer des Hauses, das mit einem gelbdurchwirkten Polizeiabsperrband eingekreist wurde, erreicht, als Hernandez uns an unserem weiteren Vordringen hinderte.

„Sollten Sie sich nicht lieber mit der Findung meines Mandanten befassen?“, rief er uns vorwurfsvoll hinterher, wobei ich hinter seiner vorgegeben besorgten Erkundigung eine stille Andeutung vermutete.

Matthew hielt abrupt inne, verharrte mitten im Gang. Ich selbst hätte die Anmerkung des Anwalts mit unterkühlter Ignoranz bedacht, doch verwunderte mich das Verhalten des jungen Mannes zu sehr, als dass ich ihn mit Nathan hätte allein lassen wollen. Blitzschnell kehrte ich an seine Seite zurück und erkundigte mich flüsternd: „Was ist? Was haben Sie, Matthew?“

Anstatt mich einer Antwort zu entlohnen, fuhr er zu Hernandez herum: „Sie wissen, wo sich Calson befindet! Habe ich Recht? Sie wussten die ganze Zeit über, wo er sich aufhält!“

„Was?“, äußerte ich verwirrt und konzentrierte meine Aufmerksamkeit nun ebenfalls auf Nathan, welcher ungerührt und mit kalkulierendem Gesichtsausdruck vor uns stand.

Matthew intensivierte seine Vermutung: „Sie vergiften unseren Verstand mit falschen Hinweisen, auf dass sich die Suche nach ihm immer weiter hinauszögert, bis er sich der Leiche entledigt hat und flüchten kann, richtig?“

Mittlerweile hatte die Heftigkeit und Lautstärke der Auseinandersetzung zwischen den beiden Rechtsorganen Anstoß bei den CSI-Beamten gefunden. Diese drehten sich irritiert und zumeist erzürnt über die unangenehme Störung nach uns um, warfen uns aufgebrachte Blicke zu und verfolgten aufmerksam den weiteren Verlauf des Gesprächs. Schweißperlen traten auf die glatte Haut meiner Stirn, rannen tränengleich an meinen Wangen hinab. Angestrengt, die Peinlichkeit, die dieser Moment für mich barg, zu kaschieren, vollführte ich einen weiten Ausfallschritt, um mich zwischen Matthew und Nathan zu drängen, die sich gefährlich nah gekommen waren.

„Hey!“, sprach ich weiter auf den Agent ein, „Es reicht!“

Seine Nasenflügel blähten sich, seine Augen quollen förmlich über vor funkensprühender Wut und Mordlust. Ich konnte einzig an dem Ausdruck seines Gesichts den unbeschreiblichen Hass ablesen, den er seinem Gegenüber entgegenbrachte. Hernandez schien hingegen völlig gefasst und von unerschütterlicher Ruhe erfüllt.

Trotzdem blieb er seiner Bosheit treu, als er stichelte: „Ich habe mir schon immer die Frage gestellt, wie gewalttätige und korrupte FBI-Agents Bürger verhaften sollen, deren Straftaten den ihren nicht einmal annähernd ebenbürtig sind.“

Bevor ich dies hätte verhindern können, holte Matthew zum Schlag aus und hieb unbarmherzig auf Nathans Gesicht ein.

„Nein!“, schrie ich und versuchte verzweifelt, die beiden zu trennen.

Immer wieder prügelte Matthew auf den unterlegenen Anwalt ein, rammte Knochen gegen Knochen und wurde von seiner ungebändigten Rage angefacht. Seine Faust fuhr in unablässigen Hieben auf Hernandez` Gesicht nieder, zertrümmerte dessen Nase mit einem einzigen Streich. Blut und Knochensplitter spritzten auf und besudelten den teuren Marmorboden zu unseren Füßen. Wo zuvor eine nahtlose Zusammenfügung von Haut, Knochen und Nerven gewesen war, befand sich nun ein breiiger Sud aus heißem Blut, aufgeplatzter Haut und dem Weiß des geborstenen Nasenbeins. Doch noch immer verspürte Matthew keine Genugtuung und drosch fortlaufend auf seinen Widersacher ein, dessen Gegenwehr aus einer verzweifelten Geste, seinen Kopf mit den Händen zu schützen, bestand. Ich zerrte entsetzt am kräftigen Arm des Angreifers, stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen seinen Körper, um ihn zu Fall zu bringen und so dazu zu verleiten, von seinem Opfer abzulassen. Doch all meine Bemühungen erwiesen sich als uneffektiv.

„Matthew! Hören Sie auf!“, wiederholte ich mein geschrienes Flehen erneut, indes ich meine beherzten Versuche, dem Geschehen ein jähes Ende zu bereiten, noch nicht vollends aufgab.

Erst, als Logan, Emmett und Claire, von dem herrschenden Geschrei angelockt, in den Korridor eilten, gelang es den beiden Männern, ihren Kollegen bei den Schultern zu packen und ihn, seine Flüche und Verwünschungen missachtend, aus dem Raum zu zerren.

„Was um alles in der Welt ist hier los?“, zeterte Claire sofort.

Ich sank neben Nathan auf die Knie, welcher machtlos, der Bewusstlosigkeit nahe, auf dem kalten Untergrund lag und noch immer die Arme über seinem Gesicht verschränkt hielt, als hätte er noch nicht begriffen, dass seine Eskapade beendet worden war. Blut rann ihm in Strömen über Mund und Kinn, färbte seine Kehle dunkelrot und fand sich schon bald auf meinen Fingern wieder, indes ich einen der Umstehenden mit dem Holen eines Handtuches beauftragte und dieses wenig später dankend entgegennahm.

Den Anblick nur schwerlich ertragend, presste ich das Tuch auf die abscheuliche Fraktur und erläuterte meiner Chefin abwesend: „Es kam zu einem Streit zwischen Matthew und…“

„Erzählen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß!“, unterbrach mich Claire ungeduldig aufbrausend, „Dass sich die beiden einer hitzigen Diskussion hingaben, habe ich mit eigenen Augen gesehen! Ich möchte wissen, wie es dazu kam, dass einer meiner Agents, auf den Anwalt unseres Flüchtigen losgeht und ihn beinahe zu Tode prügelt!“

„Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich weiß, Hill.“, rechtfertigte ich mich flüchtig.

„Sie sind mir eine Erklärung schuldig!“, stellte die Ältere unverblümt klar, „Ich erwarte Ihren Bericht heute Abend zu Dienstende auf meinem Schreibtisch!“

Damit beendete sie ihre Schimpftriade und entfernte sich mit energisch stampfenden Schritten. Frustriert hielt ich in meiner Bewegung inne, derweil ich das Handtuch drehte, es mit der noch unbefleckten Seite nach unten faltete und abermals auf Hernandez rohes Fleisch drückte, um die Blutung ein wenig abzumildern. Ich musste einräumen, dass dieser Abend einer der schlimmsten meines bisherigen Lebens zu werden drohte. Resigniert seufzend, mich meinem Schicksal ergebend, fuhr ich mit meinem Tun fort.

Kapitel 2

„Ja, okay. Vielen Dank für Ihre Kooperation.“, vernahm ich Claires Stimme, die schrill aus der hinteren Ecke des großräumigen Büros scholl.

Eine Vielzahl an modernen, hüfthohen Büroholztischen, deren helle Arbeitsplatten mit Aktenmappen und losen Blättern bedeckt und jeweils mit einem Computer ausgestattet waren, sammelten sich in dem weitläufigen Raum. Eine einzelne Glasfront trennte das isolierte Büro des leitenden Supervisory Special Agents von den zusammengelegten Arbeitsplätzen der anderen. Ohne festgelegte Ordnung stauten sich die Tische aneinander wie Pulte in einem unlängst verlassenen Klassenzimmer. Obwohl Claire der Möglichkeit befähigt gewesen wäre, sich für ihr Telefonat in ihr eigenes Büro zurückzuziehen und somit den Inhalt des Gespräches vor unseren Ohren abzuschotten, war sie geblieben und hatte eine der abgelegeneren Stellen des Zimmers für sich in Anspruch genommen. Jetzt tat ich es dem Vorbild meiner Kollegen gleich, die wenig überzeugend den Anschein von ihrer vereinnahmenden Beschäftigung erweckten, indem sie gedankenverloren auf den Tastaturen ihrer Computer tippten, nur, um die geschriebenen Wörter wenige Sekunden später zu löschen und anschließend abermals in ihr geöffnetes Dokument einzufügen. Gelangweilt kauerte ich, die Füße verkrampft auf meinem engen Bürostuhl angezogen, an meinem Pult und versuchte erfolgslos, die Konversation meiner Chefin zu überhören. Bereits seit eineinhalb Stunden hatte sie sich nicht von ihrem Handylautsprecher lossagen können und führte einen einseitigen Monolog mit ihrem Zuhörer. Aus dem Zusammenhang gerissen und ohne die Erwiderungen ihres Gesprächspartners verfolgen zu können, ergaben die wenigen Satzfetzen, die aufzuschnappen mir geglückt war, keinen Sinn. Ich hatte mir nicht erschließen können, worüber Claire so angespannt sprach.

„Ich danke Ihnen vielmals.“, versicherte diese soeben zum wiederholten Mal, „Bitte richten Sie ihm mein außerordentliches Beileid aus und wünschen Sie ihm von mir eine baldige Genesung.“

Verwirrt über die plötzliche Wendung der Unterredung sah ich auf und bekam gerade noch mit, wie Claire sich wortkarg verabschiedete und ihr Handy in der hinteren Hosentasche ihrer Jeans verstaute. Sie bemerkte mein Interesse und erwiderte meinen Blick kalt, was mich erschrocken zusammenzucken ließ und dazu verleitete, stur auf die Fläche meines Tisches zu starren.

„Sie werden sich sicher fragen, mit wem ich telefoniert habe.“, eröffnete Claire misslaunig, „Ich bat eine gute Bekannte von mir, die übrigens eine hochangesehene Chefärztin im städtischen Krankenhaus ist, mich über Hernandez` Gesundheitszustand zu informieren, sobald sie zu neuen Erkenntnissen gelangt ist. Es wird Sie sicher freuen, zu erfahren, dass die Fraktur von Mister Hernandez Nase nicht lebensbedrohlich ist, da keine Knochensplitter in die Hirnrinde eingedrungen sind und somit keinen ernstzunehmenden Schaden verursacht haben. Er wird sich erholen und keine langzeitigen Deformationen oder Behinderungen davontragen. Dennoch ist er, wer könnte es ihm verdenken, sehr erzürnt über diesen Vorfall und spielt wahrhaft mit dem Gedanken einer Anzeige.“, ihr beherrschter Tonfall wich heillosem Wutgeschrei, „Ich hoffe für Sie, Sie haben eine verdammt gute Erklärung, um Ihr Verhalten zu rechtfertigen! Ist Ihnen eigentlich klar, was für ein Licht das auf uns wirft? Auf mich, auf dieses Revier, auf die Ehre und Rechtschaffenheit des gesamten FBIs von Amerika! Wie konnten Sie es wagen, Hand an einen so ranghohen, einflussreichen Anwalt zu legen, der uns aufgrund Ihres Handelns womöglich die Zuteilung zum Fall Calson entziehen wird? Alles, wofür wir seit drei beschissenen Jahren arbeiten, haben Sie durch Ihre dreimalverfluchte Unbedachtheit ruiniert! Beten Sie, dass Ihre Rechtfertigungen mich überzeugen, sonst können Sie die nächsten Wochen oder gar Monate in der Suspendierung verbringen, Matthew!“

Matthew war auf seinem Stuhl zusammengesunken. Obgleich er noch immer vor niedergerungenem Zorn bebte, war ihm die Falschheit seiner Tat durchaus bewusst. Sein trüber Blick kreuzte auswegsuchend den meinen, doch konnte ich ihm nicht helfen.

Zögerlich begann er: „Hernandez hat angedeutet, er wüsste, wo sich Calson aufhält! Mein Temperament ist mit mir durchgegangen! Sie wissen, dass ich mich beherrschen kann, aber Sie wissen auch, dass Calsonacht unschuldige Frauen bis in den Tod gefoltert hat, die zumeist noch nicht einmal ihre Volljährigkeit erlangt hatten! Wie hätten Sie reagiert? Hätten sie tatenlos mitangehört, wie dieser aufgeblasene Widerling unsere Arbeit und den Tod dieser Mädchen verhöhnt, während er sich im gleichen Atemzug über den Aufenthaltsort seines Mandanten im Klaren ist? Das konnte ich nicht zulassen!“

„Und was glaubten Sie, mit Ihrem Tun zu erreichen?“, konterte Claire nicht minder erbost, „Haben Sie erwartet, Hernandez würde, selbst, wenn er etwas über Calsons Verbleib wüsste, gesprächiger werden, nur weil sie ihm die Nase einschlagen? So naiv können Sie doch gar nicht sein!“

Matthew verdrehte entnervt die Augen und verschränkte angriffslustig die Arme vor der Brust: „Nein natürlich nicht! Aber ich wollte ihm begreiflich machen, dass er nicht tun und lassen kann, was er möchte, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen! Er trägt, wenn sich meine Befürchtungen bewahrheiten, sogar eine gewisse Mitschuld an den Toden all dieser Opfer!“

„Seien Sie still!“, brüllte Claire gebieterisch, „Sie haben gerade eben genau das gesagt, was ich von Ihnen hören wollte! Sie können nicht tun und lassen, was immer Sie möchten, Avens! Dieser Angriff, denn als nichts anderes kann Ihr Verhalten gewertet werden, wird Konsequenzen nach sich ziehen, die Sie zu tragen haben!“

„Aber, Hill.“, schaltete ich mich ein und zog damit die entgeisterten Blicke meiner Kollegen, die die Entrüstung unserer Chefin, in Schweigen gekleidet, über sich ergehen ließen, auf mich, „Sie kennen Hernandez und Sie haben selbst erfahren, wie grausam und streitsüchtig er sein kann. Ich weiß, dass es Ihrer Verantwortung obliegt, das geeignete Maß an Strafe zu bestimmen, das Matthews Tat gebührt. Aber auch ich war bei dieser Streitigkeit anwesend und kann bestätigen, dass Nathan mehrmals betonte, wie sinnlos eine großräumige Fahndung nach Calson wäre und erwähnte, dass wir keinerlei Chancen hätten, ihn zu finden. Ich dachte erst, er würde uns lediglich provozieren wollen, aber nun ist mir klar geworden, dass Matthew Recht hat. Was ist, wenn Hernandez tatsächlich Kenntnis von Calsons Machenschaften besitzt und auch davon, wo er sich versteckt hält? Wir könnten das Morden endlich beenden! Sollte das nicht an erster Stelle unserer Prioritätenliste stehen?“

Claires verärgerte Züge verfinsterten sich weiter, als sie meiner Äußerung lauschte.

„Politik umfasst eine sehr viel komplexere Thematik, als Sie sich je vorstellen könnten!“, zischte sie engstirnig, „Für Sie mag die Beurteilung von Richtig und Falsch der Unterscheidung von Schwarz und Weiß ähneln. Aber dem ist nicht so! Als Leiterin einer so wichtigen Institution wie dem FBI lernen Sie tausende Grautöne kennen, die dazwischen liegen! Manchmal kommt man im Leben an einen Punkt, an dem Sie sich zwischen der Begünstigung Ihrer Vertrauten und dem einzig Richtigen entscheiden müssen! Wenn ich Avens, so nachvollziehbar seine Tat auch gewesen sein mag, nicht umgehend suspendiere, verliere ich diesen Fall! Ich habe mein Leben lang auf einen solchen Fall hingearbeitet und ich werde ihn mir nicht für die Begnadigung eines gewalttätigen Agents entreißen lassen!“

„Dann stellen Sie Ihren Stolz und Ihr persönliches Streben also über das Wohl Ihres Teams!“, warf ich anklagend ein.

Bis aufs Blut gereizt wirbelte Claire zu mir herum. Ihr Brustkorb hob sich unstetig in einem einzigen Zeichen des haltlosen Zorns, ihre Kiefermuskeln spannten sich und traten sehnig unter ihrer bleichen Haut hervor. Ich hörte deutlich, wie Logan hinter mir entsetzt die Luft einsog. Meine Vorgesetzte schien etwas erwidern zu wollen, doch war es nun an mir, ihr den Mund zu verbieten.

Provokativ schlussfolgerte ich: „Für Sie mag das alles nur ein Spiel der Politik sein, in dem Sie die Macht nicht verlieren wollen, die Sie so krampfhaft an sich gerissen haben! Sie wollen Calson schnappen, damit Ihnen dieser Triumph niemals vergessen wird! Es geht Ihnen einzig um Ihre eigene Population, um Ihren Stolz und Egozentrismus! Und nun wollen Sie Matthew dafür bestrafen, dass er sich für die wirklich wichtigen Fakten dieses Falls einsetzt? Weil er nicht nach Ruhm giert, wie Sie? Ihm, uns allen, liegt Calsons Ergreifen aus einem einzigen Grund am Herzen! Gerechtigkeit! Gerechtigkeit für die Opfer, deren Leiden wir nicht verhindern konnten, obwohl wir beim Antreten unseres Amtes geschworen haben, sie zu beschützen! Gerechtigkeit für ihre Familien, deren Kinder ihnen grausam entrissen wurden und die noch nicht einmal die Gelegenheit hatten, sich von ihnen zu verabschieden! Es ist mir egal, ob ich danach für mein Vorgehen von der Öffentlichkeit und der Presse angeprangert und verurteilt werde, denn mein Gewissen wird reiner sein, als es das Ihre jemals sein könnte! Denn Sie würden Calson laufen lassen, würden Sie dadurch die Zuneigung Ihrer Unterstützer in der Staatsanwaltschaft und Stadtregierung gewinnen!“

„Sagen Sie…“, keuchte Claire tiefgetroffen und vor Empörung zitternd, „Sagen Sie kein Wort mehr! Gehen Sie jetzt, bevor ich mich vergesse!“

Irritiert runzelte ich die Stirn, wandte mich nach meinen Kollegen um. Bleich musterten sie mich. Logans Kiefer mahlten unablässig, während sich seine Hand nervös um einen seiner Kugelschreiber öffnete und wieder schloss. Andrew rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl umher, ließ auch sein Augenmerk nur für die Dauer eines Wimpernschlages auf mir verweilen, ehe er sich abwandte. Selbst der souveräne und aufrichtige Emmet wirkte eingeschüchtert, was sich durch seine zusammengesunkene Haltung verdeutlichte. Ich war eindeutig zu weit gegangen, offenbarte sich mir schlagartig die unleugbare Wahrheit. Zwar fühlte ich mich befreit ob der Erleichterung, die mein Ausbruch mir verschafft hatte, doch plagten mich beinahe augenblicklich Gewissensbisse. Ich war zu sehr in meine Gedanken vertieft gewesen, sodass ich die Aufforderung des Supervisory Special Agents verdrängt hatte. Erst Claires emotionsüberbordender Blick riss mich brutal in die Realität zurück. Geschlagen nickte ich, biss mir auf die Unterlippe, um keine weitere Diskussion heraufzubeschwören. Ich griff nach den Unterlagen, welche ich am morgigen Tag benötigen würde, und verstaute sie unbewusst, gefangen in einer Art irrealen Trance, in meiner kleinen Handtasche. Ich griff über die Stuhllehne und legte meine Jacke über meinen Arm, ehe ich mich abermals nach Claire umsah, deren Körperhaltung mir jedoch sofort ihre Unbeirrtheit offenbarte. Sie würde ihre Meinung nicht ändern, dafür war sie zu verletzt und stolz. Ich wagte nicht, das Wort an meine Partner zu richten, weshalb ich ihnen kurz winkte, bevor ich das Büro mit leisen Schritten, die auf dem teppichbewehrten Boden verklangen, verließ.

Stöhnend erstarben die Motorengeräusche meines Jeeps, als ich den Schlüssel grob aus dem Zündschloss zog. Deprimiert lehnte ich mich in das harte Polster des Fahrersitzes und schmiegte meinen Hinterkopf gegen die Nackenstütze. Ich hielt meine Augen geschlossen, um der Verwirrung, die innerhalb meines Denkens herrschte, Herr zu werden. Meine Gedanken kreisten, gefangen in einem unbeeinflussbaren, wiederkehrenden Strom um den Fehler, den ich vor wenigen Stunden begangen hatte. Wie hatte ich nur so dumm sein können? Zum einen trat Reue an die Stelle meiner vorherigen Überzeugung, Matthew in seinem Recht gegen Claire zu verteidigen. Doch noch immer glaubte ich fest daran, dass Hernandez` Rolle als makellos objektiver Rechtsanwalt eine aufgesetzte Farce war, die er uns allen vorhielt, um von seinen wahren Interessen abzulenken. Ich hatte begriffen, dass ich meine Chefin nicht in diesem Maße hätte beleidigen dürfen. Obschon mein aufbrausendes Gemüt mich zu meinem Wutanfall verleitet hatte, war dies noch lange keine Entschuldigung für die unverzeihlichen Dinge, die ich Claire zum Vorwurf gemacht hatte. Ich öffnete die Augen und presste stumm die Lippen aufeinander, um meine Fassung zu wahren. Ein wortloser Schrei der Selbstverärgerung brach sich durch meine Kehle Bahn, während ich mir zornig mit der ebenen Fläche meiner Handinnenseite gegen die Stirn schlug. Es bedurfte einer weiteren Stunde, bis ich mich der Selbstbeherrschung fähig sah, meinen Wagen mit knallenden Türen zu verlassen und das stadtzentrale Wohnhaus zu betreten, dessen viele Stockwerke sich unter einer Fassade aus Glas und engstehenden Balkonen in die Höhe schraubten. Doch schon bald wich mein Zorn über meinen eigenen Ausraster grenzenloser Erschöpfung, nachdem ich die dreizehn Dutzend Stufen, die hinauf zum Stockwerk meiner Wohnung führten, nach Atem ringend überwunden hatte. Ich ließ meine rechte Hand über die baufällige, dunkellackierte Wand des Treppenhauses streichen, wie ich es immer zu tun pflegte, indes ich in meiner Tasche nach dem Haustürschlüssel meiner Wohnung suchte. Trotz der Einsamkeit, die mich stets bei meinem Eintreffen erwartete, freute ich mich jeden Tag, wenn ich in meine eigenen vier Wände zurückkehren und meinen Gefühlen, die die verstrichenen Stunden in mir hatten aufleben lassen, freien Lauf lassen zu können. Nach dem gewohnten Knacken des Schlosses, versetzte ich der Tür einen leichten Stoß, sodass diese nach Innen aufschwang und ich ihr nachfolgen konnte. Ich betätigte den Lichtschalter zu meiner Linken und platzierte Schlüssel, Schuhe und Jacke an der notdürftig zusammengebauten Garderobe, die der Ungeübtheit meiner handwerklichen Fähigkeiten entsprungen war. Ich schmunzelte wahrlich erfreut, als Bailey, die Berner Sennehündin, welche ich vor nicht weniger als fünfeinhalb Jahren adoptiert hatte, schwanzwedelnd auf mich zu trabte und fröhlich jaulend an meinen Beinen hinaufzuspringen versuchte.

„Langsam.“, lachte ich und ging in die Hocke, um den geliebten Hund mit Liebkosungen zu begrüßen, die dieser hechelnd bewilligte.

Oftmals verbrachte ich ganze Abende mit dem ausgiebigen Toben mit Bailey und genoss diese Ausflüchte, die im starken Kontrast zu meinem strukturierten Alltag standen, sehr, doch wurde mir eine solche Abwechslung am heutigen Tage nicht vergönnt. Erschrocken zuckte ich zusammen, als der vertraute, grelle Ton erklang, der einen wartenden Besucher ankündigte. Widerwillig schob ich Bailey von mir und stemmte mich mit steifen Gliedern auf, um nach der Türklinke zu greifen und sie, noch während ich mich vollständig in den Stand erhob, nach unten zu drücken. Bailey hatte derweil, in einem deutlichen Zeichen der Unerwünschtheit des Fremden, lautstark zu bellen begonnen und drängte sich widerspenstig gegen meine Füße.

„Bailey! Sitz!“, befahl ich ihr, unterdessen ich die Tür öffnete und auf das widerstandslose Gehorchen meines Hundes vertraute.

Ich wandte mich wieder dem noch unbenannten Besucher zu und stockte perplex, als ich Logan erkannte, der mit ernster Miene, auf den Türrahmen aufgestützt, in der Öffnung lehnte.

„Logan?“, erwiderte ich mangels ausreichender Geistesgegenwärtigkeit, um freundlichere Worte der Begrüßung hervorzubringen, „Ich habe noch nicht einmal meine Tasche abgestellt. Was machen Sie hier?“

„Hill ist ziemlich verärgert, das haben Sie sich sicher schon denken können.“, begann Logan zu sprechen, indem er einer Erklärung auswich, „Darf ich reinkommen?“

„Ja.“, räumte ich noch immer verwirrt ein, „Ja. Sicher. Kommen Sie herein.“

Er wartete keine erneute Aufforderung ab, sondern betrat mit der Selbstsicherheit, die einen großen Bestandteil seiner Persönlichkeit beschrieb, unter dem niedrigen Türsturz hindurch, wobei er den Kopf ob seiner Größe einziehen musste, um einen Stoß zu verhindern. Während Logan sich in dem kleinen Vorraum meines Apartments umsah, schloss ich die Tür hinter ihm und wandte mich schließlich zu ihm um.

„Ich wusste nicht, dass Sie einen Hund haben.“, nahm Logan das Gespräch wieder auf, währenddessen er sich die aufgestellten Fotos meines Vaters, meines Bruders und mir besah, mit denen ich Spiegel und Wände oberhalb der Garderobe tapeziert hatte, „Wir arbeiten nun schon seit beinahe drei Jahren zusammen und dennoch weiß ich so gut wie nichts über Sie.“

„Bisher bestand dafür keine Notwendigkeit.“, winkte ich andeutend ab, „Ich kann mich auch nicht erinnern, Ihnen meine Adresse genannt zu haben.“

Logan grinste geheimniswahrend und kniete sich auf den haselnussbraunen Parkettboden, sodass es ihm möglich war, Bailey mit weiteren Streicheleinheiten zu verwöhnen. Er durchfurchte ihr langes braun, schwarz und weißes Deckhaar mit seinen Fingern, tätschelte ihren Scheitel und streichelte ihre herabhängenden Ohren. Unterdessen lenkte er seine Konzentration weiterhin auf die farbenkargen Wände des Flurs und dessen wenig Aufmerksamkeit heischende Möblierung, die sich aus der besagten Garderobe, einem Sideboard und einigen Regalen zusammensetzte, in denen sich Bücher, Schuhe und Hundeleinen pferchten wie Tiere in einem Stall.

„Dürfte ich nun erfahren, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?“, forschte ich misstrauisch weiter.

Logans Lächeln erlosch nicht, als er den genervten Unterton vernahm, der in meiner Stimme mitschwang: „Sie bekommen wohl nicht allzu oft Besuch.“

„Ich bin gern allein.“, konterte ich anmaßend und warf ihm einen auffordernden Blick zu.

Kapitulierend gab er nach: „Ich wollte Ihnen eigentlich erzählen, was nach dem vorzeitigen Beenden Ihres Dienstes passiert ist. Ihre Adresse habe ich von Eva erfahren. Sie war so nett, sie mir zu geben. Ich hoffe, das stört Sie nicht?“

„Jetzt ist es ja sowieso zu spät, das Geschehene rückgängig zu machen.“, erwiderte ich, Bezug auf sowohl seine Anmerkung als auch auf mein Verhalten auf dem Revier nehmend, „Kommen Sie! Ich denke, ein Gespräch gestaltet sich bequemer, wenn es in der Behaglichkeit eines Wohnzimmers und nicht in der Enge eines Flurs geführt wird.“

„Wie Recht Sie doch haben.“, stimmte Logan zu und heftete sich an meine Fersen, indes ich ihn überholte und den Gang hinauf ins Wohnzimmer der Wohnung führte, in welcher sich zugleich auch Schlafzimmer und Küche befanden.

Ich deutete in einer einladenden Geste auf das weiße Stoffkissensofa, das die gesamte Rückwand meines Apartments beherrschte. Ein cremefarbener Stoffteppich bedeckte den Boden und vermied so, von den Sofabeinen verursachte, Kratzer auf dem Parkett. Über der Sitzecke hatte ich, mit Hilfe einiger guter, in der Kunst des Bauens besser unterwanderten, Bekannten eine zweite Höhenebene angebracht, auf welcher sich mein Bett befand, sodass dessen Platzierung nicht weiteren Platz in der sowieso kleinen Wohnstatt vereinnahmte. Eine kurze, seitlich eingerichtete Treppe führte zu meinem provisorischen Schlafzimmer hinauf, die ich umgehen musste, um das Sofa erreichen zu können. Logan ließ sich unaufgefordert auf die Polster fallen und ich folgte seinem Beispiel, indem ich es ihm gleichtat und mich neben ihn setzte, derweil Bailey zu dem komfortablen Hundekissen in einer Ecke der Küche zurückkehrte, wo sie sich zusammenrollte und mit größer werdendem Müßiggang unsere Unterhaltung beobachtete.

„Hat sich Hill wieder beruhigt, nachdem ich gegangen bin?“, fragte ich zweifelnd.

Logan schüttelte zu meinem Bedauern verneinend den Kopf: „Nein, das hat sie nicht. Stattdessen hat sie vollkommen die Beherrschung verloren, als Matthew abermals auf die Richtigkeit seines Handelns beharrt hat.“

„Scheiße.“, fluchte ich haltlos und vergrub den Kopf zwischen meinen aufgefächerten Fingern, um Logan nicht im Inbegriff meiner Ergriffenheit, ansehen zu müssen, „Was hat sie dann getan?“

„Nun ja.“, entgegnete Logan zögerlicher als zuvor, „Sie hat ihn auf der Stellte vom Dienst freigestellt. Die Suspendierung entspricht, wenn sie ihre Meinung aller Unwahrscheinlichkeit nach nicht doch ändert, dem gesamten Monat.“

„Sie will ihn den kompletten Mai über suspendieren?“, wiederholte ich ungläubig, „Das kann sie doch nicht machen! Was denkt sie sich nur dabei! Matthew ist ein ausgezeichneter Polizist. Wir können bei diesem Fall nicht auf ihn verzichten!“

„Dennoch hat er einen Bürger des Staates Ohio angegriffen und einen Strafverteidiger krankenhausreif geprügelt. Natürlich kann Hill diesen Vorfall nicht konsequenzlos zu den Akten legen und behaupten, es hätte ihn nie gegeben!“, verteidigte Logan den Gesichtspunkt unserer Vorgesetzten, „Haben Sie denn die Nachrichten nicht gesehen?“

„Ich hatte mir kaum die Schuhe ausgezogen, als Sie mich überfallen haben! Denken Sie etwa, ich hatte Zeit, mir davor die Nachrichten anzusehen? Warum hätte ich das tun sollen?“, verneinte ich entschuldigend.

„Ganz Ohio spricht über unsere Ermittlungen und über die Polizeigewalt, die angeblich das neue Wahrzeichen des FBIs ist.“, erläuterte Logan seine Andeutung, „Selbst Calsons Flucht wird nicht halb so dramatisch ausgelegt wie diese Schlägerei. Die Innenrevision hat bereits ihr Eingreifen angekündigt. Matthew kann sich glücklich schätzen, alleinig eine Suspendierung zu erfahren. Anderenfalls wird er nicht nur degradiert, sondern womöglich sogar entlassen und wegen vorsätzlicher Körperverletzung angeklagt.“

„Das darf doch alles nicht wahr sein!“, rief ich entsetzt und in einer solchen Lautstärke, dass Bailey irritiert den Kopf von ihren Pfoten hob, um der Ursache des Lärms gewahr zu werden.

„Es tut mir wirklich leid.“, meinte Logan empathisch und legte mir besänftigend eine Hand auf den Rücken, „Aber ich glaube, Sie sollten sich nicht zu sehr um Matthew sorgen, sondern vielmehr darauf achten, dass nicht auch Sie sich in seine Lage versetzt sehen.“

„Wie meinen Sie das?“, hakte ich unverständig nach.

Logan schloss einen Herzschlag lang die Augen, bevor er fortfuhr: „Hill ist unglaublich sauer auf Sie. Vermutlich weiß sie, dass Sie mit allem, was Sie vorhin zu ihr sagten, Recht behalten und hat nun keinen Vorwand mehr, ihre eigenen Schuldgefühle zu leugnen. Sie kennen Sie, Lilianna, und Sie wissen, wie philiströs sie manchmal sein kann.“

„Worauf wollen Sie hinaus, Logan?“, bohrte ich drängender nach.

Logan antwortete leise: „Sie zieht Ihre Zurückversetzung nach Atlanta in Erwägung.“

„Was?“, stieß ich keuchend hervor, „Das kann unmöglich Ihr Ernst sein! Ich kann nicht zurück nach Atlanta! Das…das…“

Meine Stimme brach ob der wutvollen Tränen, die sich in meinen Augen ansammelten. Was hatte ich nur getan? Hatte ein einziger Augenblick der Unbedachtheit genügt, um mich um Jahre meines Lebens zurückzuwerfen? Um mich erneut in die Tiefen meiner persönlichen Hölle zu schicken? Das durfte doch nicht wahr sein! Ich konnte es einfach nicht glauben, wollte es nicht wahrhaben. Ich kämpfte entmutigt gegen das Zittern meiner Mundwinkel an, um dem Fluss meiner drohenden Tränen Einhalt zu gebieten und grub bemüht unauffällig die Nägel meiner Finger in die weiche Haut meiner Handfläche.

„Hill wird sich wieder beruhigen.“, versicherte Logan mir linkend, in der schwachen Hoffnung, mir dadurch Beruhigung und Trost spenden zu können, „Sie wird ein paar Tage brauchen, bis sie sich von Ihren Beleidigungen erholt hat, aber sie kann Ihnen das nicht ewig nachtragen! Sie ist auf Sie und Ihre hervorragende Arbeit als Agent angewiesen! Sie wäre eine unglaubliche Närrin, würde sie Sie tatsächlich versetzen! Sie ist nicht so dumm, als dass sie einen solchen Fehler begehen würde, denn ansonsten hätte sie wohl kaum die Qualifikation zum Supervisory Special Agent erhalten.“

Aufmunternd schlang er einen Arm um meine Schultern, rückte näher an mich heran und zog mich haltbietend an sich. Obwohl mir diese plötzliche, ungewohnte Nähe nicht behagte, ließ ich meinen Kopf erschöpft an seine Brust sinken und lauschte auf die rhythmischen Züge seines Atems, der sich heiß in meinem Nacken in kleinen Wolken sammelte. Seine zärtliche Umarmung vermittelte mir das Gefühl von Geborgenheit, das ich seit so vielen Jahren nicht mehr verspürt hatte und drängte die Tränen zurück, welche sich bereits in meinen Augenwinkeln angestaut hatten. Stets hatte ich in Logan nie mehr als einen Kollegen gesehen, doch nun begann ich, auch hinter die aufgezogene Maskerade seiner gerechten, selbstbewussten Person zu spähen und den Menschen zu erblicken, der sich tatsächlich in seinem Inneren verbarg. Ich erkannte, dass seine oftmals herrschende Gleichgültigkeit und sein unerschütterliches Selbstvertrauen lediglich Facetten einer Schutzmauer waren, die seine mentale Verletzlichkeit und die bereits angerichteten Schäden wie ein abschirmender Wall umgaben.

„Danke.“, flüsterte ich aufrichtig lächelnd.

„Gern geschehen.“, wich Logan abschweifend aus, „Reden Sie mit Hill. Aber bitte versuchen Sie, das Gespräch so aufzubauen, dass es nicht abermals in einem völligen Fiasko für alle Beteiligten endet, ja?“

„Okay.“, räumte ich ein, als sich plötzlich ein unerwarteter Gedanke in den Vordergrund meines Verstandes schlich, „Was hat eigentlich die Suche des CSIs ergeben? Wurde eine Leiche gefunden?“, veräußerlichte ich und rückte ein Stück von meinem Zeitgenossen ab, um ihm in die Augen sehen zu können.

Logans Mund war zu einer missbilligenden Linie verzogen, als er zu einer Antwort ansetzte: „Nein, ich fürchte nicht. Das CSI sucht weiterhin nach menschlichen Überresten und analysiert die DNA, die mit dem Blut in Calsons Keller hinterlassen wurde. Bisher führten die Nachforschungen allerdings zu keinem Ergebnis. David hat mir aber versichert, anzurufen, sobald…“

Das ohrenbetäubende Läuten seines Handys, das ich als die Titelmusik irgendeines Filmes erkannte, entriss ihm jegliches Konzept und schnitt ihm unwirsch das Wort ab. Obwohl mich diese Störung verärgerte, versuchte ich Logan mit Gesten begreiflich zu machen, dass er den Anruf entgegennehmen sollte, auch, wenn er hiermit unser Gespräch vorübergehend beendete. Ebenfalls genervt verdrehte er die Augen, leistete meiner stummen Bitte jedoch Folge und hielt sich den flachen Bildschirm des Handys ans Ohr, ohne dabei den Absender des Telefonats zu registrieren. Ein brodelnder Redeschwall hysterischer Worte empfing ihn, sodass Logan der Möglichkeit ermangelt wurde, sich vorzustellen. Ich konnte das Gesprochene zu meinem Bedauern weder verstehen, noch konnte ich erraten, mit wem Logan telefonierte. Die helle Stimme, die auch ich wispernd vernahm, ordnete ich einer Frau zu und glaubte, mit meiner Annahme richtig zu liegen.

Nach einer Weile, in der sich die Stirn meines Kollegen mit unzähligen Sorgenfalten bedeckte und seine Augen mehr katzengleichen Schlitzen glichen, als menschlichen Pupillen, begann Logan zu sprechen: „Hill, es ist elf Uhr abends! Meine Schicht habe ich vor zwei Stunden beendet! Was erwarten Sie von mir?“

Ich stockte, als ich den Namen meiner Chefin hörte. Warum sollte Claire Logan mitten in der Nacht anrufen? Was könnte sie dazu getrieben haben, einen ihrer Untergebenen zu so später Stunde mit solcher Aufgebrachtheit zu kontaktieren? Was war passiert? Sofort wurde ich hellhörig und maß diesem Telefonat größere Beachtung bei, als ich es zuvor getan hatte. Irgendetwas war geschehen, das Claire von solch enormer Wichtigkeit erschien, dass sie nicht bis zum nächsten Morgen warten konnte, um uns dies mitzuteilen. Ich dachte angestrengt über Szenerien nach, die in ein solches Muster passen würden, und beobachtete zeitgleich, wie Logan, erschrocken angesichts einer eben von Claire veräußerten Information, erstarrte. Die fingerdicke Arterie an seinem Hals trat angespannt hervor, als er seine Kiefermuskeln spannte und sich zu beherrschen versuchte.

„Ich kann in dreißig Minuten bei Ihnen sein.“, beantwortete Logan gepresst eine der Fragen, die sich meinem Gehör entzogen, „Wo sind Sie?“

Er schwieg einen Augenblick, um Claires Antwort verstehen zu können, bevor er abrupt und ohne ein Wort der Verabschiedung auflegte und sein Handy wieder in eine seiner Hosentaschen gleiten ließ.

„Was ist los?“, konfrontierte ich ihn prompt.

„Das war Hill.“, offenbarte Logan mir das bereits Offensichtliche, „Es wurde eine Leiche gefunden und sie will, dass ich mich sofort an den Tatort begebe, um den Ermittlungen beizuwohnen.“

„Eine Leiche?“, wiederholte ich wenig eloquent, „In Calsons Haus?“

„Nein.“, meinte Logan bedauernd, „Sie wurde am Ufer des Mill Creek gefunden.“

Verwirrt runzelte ich die Stirn und versuchte unverständig die Dringlichkeit hinter diesem Mord, der anscheinend nicht im Zusammenhang mit unseren derzeitigen Ermittlungen im Fall Calson stand, nachzuvollziehen.

Ich scheiterte bei jenem Unterfangen kläglich und wandte mich deshalb an Logan: „Ein gewöhnlicher Mord wird normalerweise der Mordkommission oder den örtlichen Polizeidiensten zugewiesen. Warum soll sich das FBI mit dieser Angelegenheit befassen?“

Logans Adamsapfel hüpfte auffällig in seiner Kehle, als er den geballten Kloß seiner Zweifel hinunterzuschlucken versuchte und dabei den Anschein erweckte, meiner Erkundigung nur mit Unbehagen begegnen zu können.

Dennoch besaß er die Gnade, mich nicht in der Dunkelheit meiner Unwissenheit tappen zu lassen und enthob mich dieser: „Die Verfassung der Toten entspricht exakt einem der, uns bekannten, Muster. Für Claire steht der Mörder ohne Zweifel fest.“

Alle Luft wich in einem einzigen Zug aus meinen Lungen, sodass sich Schwindel meines Körpers bemächtigte und das Bild, das ich erblickte, vor meinen Augen verschwimmen ließ.

„Calson!“, hauchte ich ungläubig.

Kapitel 3

„Sie hätten nicht mitfahren sollen!“, griff Logan abermals das vorangegangene Thema auf, „Claire ist noch immer unglaublich sauer auf Sie und ich glaube nicht, dass eine weitere Leiche etwas an dem Groll, den sie für Sie hegt, geändert hat.“

„Ich wirke an diesem Fall genauso mit wie jeder andere unseres Teams! Warum also sollte mir die weitere Mitarbeit verboten werden?“, giftete ich ihn meinerseits an.

Seine Finger krallten sich fest um den gebogenen Ring des Lenkrads, bis sich seine Fingerknöchel weiß unter der dünnen Haut abbildeten. Er warf mir einen erbosten Blick zu, doch wusste ich, dass ich dieses Gefecht bereits gewonnen hatte. In der Dunkelheit, die hinter den Scheiben von Logans Auto herrschte, wirkten die eingrenzenden Rosskastanien wie eine verwischte, farblose Schliere, die nur für die Dauer eines sekundenschnellen Moments in meinem Sichtfeld erschienen und dann hinter der rasanten Geschwindigkeit des Wagens zurückblieben. Das berüchtigte Mill Creek Ufer, dessen Erreichen wir uns zum Ziel gesetzt hatten, befand sich gut zwanzig Minuten vom Stadtzentrum entfernt. Wir hatten die Hälfte der ausgelegten Strecke bereits bewältigt, was der strafbar hohen Geschwindigkeit zuzurechnen war, die Logan als Tempo vorgab. Trotzdem krochen die Sekunden langsamer als allerortsbekannte Schnecken dahin und gingen nur in einem monotonen Gleichschritt in Minuten über, während sich meine Nervosität als einzige ihrem Höhepunkt zu nähern schien.

„Verdammt!“, fluchte Logan lauthals, als er der Heckstoßstange eines anderen Autos gefährlich nahekam und sich gezwungen sah, das Bremspedal durchzudrücken.

Schmerzhaft schnitt mein Sicherheitsgurt in das Fleisch meiner Schulter ein, doch konnte ich mich des Schmerzes nicht beklagen, da ich von Logan abgelenkt wurde, der soeben die Sirene seines Dienstwagens einschaltete. Meine Ohren dröhnten von dem aufbrandenden Lärm. Beinahe augenblicklich lichtete sich der dichte Verkehr vor uns und wich einer provisorischen Rettungsgasse, die Logan entschlossen ausnutzte, um sich einen Weg durch das Gedränge von Autokarosserien zu bahnen. Ich schloss die Augen, um das Adrenalin, das ob seines lebensbedrohlichen Fahrstils durch meine Blutbahnen pulste, beherrschen zu können und schloss sicherheitssuchend eine Hand um den Griff an der Beifahrertür. Ich vermochte meiner Erleichterung über unser baldiges Eintreffen keinen Ausdruck zu verleihen, als wir, noch immer mit besorgniserregender Tachoanzeige, am Mill Creek Ufer hielten.

Das Geschrei von Sirenen vermischte sich mit dem grellen Flackern der weiß-blauen Lichter, die ihren Ursprung ebenfalls in einem der zahllosen FBI-Autos fanden, die sich in Reihen auf dem Kiesstrand pferchten. Die winzigen Steine raschelten laut unter meinen impulsiven Schritten, als ich die Tür auf meiner Seite des schwarzen Hondas aufriss und schwungvoll vom Beifahrersitz glitt, um auf dem steinigen Untergrund der flussdurchzogenen Landschaft aufzusetzen. Ich hatte die Motorhaube des Wagens noch nicht erreicht, als Logan bereits in einen steten Laufschritt verfiel und auf Claire zuhielt, die unweit des gelb-schwarzgestreiften Polizeiabsperrbandes stand. Sie vertiefte sich in eine weitere Diskussion mit Andrew, der unlängst vor uns eingetroffen sein musste.

„Hill!“, rief Logan nach der Vorgesetzten und stoppte wenige Meter von ihr entfernt.

Claire musterte den Neuankömmling mit ihren kalten, toten und dennoch flammenden Augen und ließ ihren Blick dann weiter zu mir wandern. Ein eisiger Schauder der Panik rann wie ein Wassertropfen über meinen Rücken und erfüllte mein Herz mit Furcht, doch ergab ich mich ihr nicht. Es galt nun, unsere Auseinandersetzung beizulegen, um sich vollends der Aufklärung dieses Falls zu widmen. Ich durfte nicht zulassen, dass ich meine persönlichen Streitigkeiten über die Prioritäten eines Mordes stellte.

„Hill.“, grüßte auch ich die Dunkelhaarige minder euphorisch, als ich mich zu der kleinen Gruppe, die sich lediglich aus Logan, Andrew, Claire, Emmett und mir zusammensetzte, gesellte.

Sie nickte mir widerwillig zu, indes der Zorn in ihren Augen funkelte wie ein Saphir in der Sonne, doch verdeutlichte sie ihr Missfallen, dass sie ob meiner Anwesenheit empfand nicht. Stattdessen ignorierte sie die Tatsache meiner Gegenwart gekonnt.

„Kommen Sie!“, forderte sie uns auf, wirbelte herum und bückte sich unter dem dünnen Plastikband hindurch, das einen zwanzig Meter langen Abschnitt des Flussufers umfasste.