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Virginia Woolfs Gedanken zu Literatur und Leben Ihre Romane gehören zur Weltliteratur, ihre Tagebücher und autobiographischen Schriften sind berühmt. Aber als glänzende, höchst anregende Essayistin ist Virginia Woolf immer noch zu entdecken. Die leidenschaftliche Leserin schrieb viele ihrer Rezensionen und Betrachtungen für das renommierte ›Times Literary Supplement‹ und andere Zeitschriften. Mit schwebender Aufmerksamkeit widmet sie sich den Themen, die Literatur, Kunst und Leben ihr stellen, und offenbart dabei den ganzen Reichtum ihres Wissens und Denkens, die Vielfalt ihrer gestalterischen Möglichkeiten und den Zauber ihrer Prosa. Die beiden Textsammlungen ›Granit und Regenbogen‹ (Bd. 092568) und ›Das Totenbett des Kapitäns‹ (Bd. 092560), ausgewählt aus dem immensen essayistischen Werk, bilden den Abschluss der Ausgabe der Gesammelten Werke von Virginia Woolf.
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Seitenzahl: 409
Virginia Woolf
Das Totenbett des Kapitäns
Essays Nach der englischen Ausgabe von Leonard Woolf herausgegeben von Klaus Reichert Deutsch von Hannelore Faden und Helmut Viebrock
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Die meisten Schriftsteller glauben, wenn man sie so reden hört, an die Existenz eines Geistes, densie, je nachdem in welchem Zeitalter sie leben, Muse, Genius oder Inspiration nennen; und wenn sie schreiben, so tun sie es auf deren Geheiß. Unglücklicherweise kann der Historiker nicht umhin wahrzunehmen, daß die Dame durchaus nicht eine einsame Einzelgängerin ist. Sie verbirgt hinter ihren Gewändern einen ganzen Schwarm von Handlangern – große Damen, Grafen, Staatsmänner, Buchhändler, Herausgeber, Verleger und gewöhnliche Männer und Frauen, die nicht weniger sicher überwachen und geleiten als die Muse. Veränderlichkeit liegt in ihrer Natur, und wie das Pech es will, werden sie immer weniger pittoresk, je weiter die Zeit voranschreitet. Sidneys Lady Pembroke[1] war, wie sie da über ihren Folioblättern in den Lauben von Wilton träumte, kein schlechtes Sinnbild für die Göttin der Dichtung; doch ihr Platz wurde nicht von einem Mann oder einer Frau eingenommen, sondern von einer großen bunten Menge, die wollten – sie wissen selbst nicht genau, was eigentlich. Sie müssen unterhalten und umschmeichelt werden; sie müssen mit Schnickschnack und Skandalen gefüttert und endlich sanft zur Ruhe gebettet werden. Und wem soll man die Schuld dafür geben, wenn sie bekommen, was sie wollen?
Der Mäzen verändert sich ständig, und meist auf unmerkliche Weise. Doch ein solcher Wandel fand in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bei vollem Tageslicht statt, und ist uns mit der üblichen Lebhaftigkeit von Oliver Goldsmith[2] aufgezeichnet, der selbst ein Opfer dieses Wandels war: –
Als der große Somers am Ruder stand (schrieb er), war das Mäzenatentum unter unserem Adel in Mode … Ich habe einen alten Poeten jenes glorreichen Zeitalters sagen hören, daß ein Dinner bei seiner Lordschaft ihm Einladungen für die ganze kommende Woche verschafft hätte; daß eine Spazierfahrt in der Kutsche seines Gönners ihm bei jeder künftigen Gelegenheit die Benutzung der Kutsche eines Bürgerlichen verschafft hätte …
Aber diese Verbindung (fährt er fort) scheint heute völlig aufgelöst. Seit den Tagen eines gewissen Premierministers unrühmlichen Angedenkens sind die Gelehrten ziemlich auf Distanz gehalten. Ein Jockey oder ein geschnürter Schauspieler nimmt den Platz des Gelehrten, Poeten, oder Mannes der Tugend ein … Man nennt ihn Autor, und alle Welt weiß, daß ein Autor jemand ist, über den man nur lachen kann. Seine Person, nicht sein Scherz, erregt die Heiterkeit der Gesellschaft. Wenn er sich nähert, hellt sich das feisteste gedankenlose Gesicht zu boshafter Bedeutung auf. Selbst Ratsherren lachen, und rächen so an ihm die Lächerlichkeit, mit der ihre Vorfahren überschüttet worden waren …[3]
Von Ratsherren verlacht zu werden, statt in Kutschen von Staatsmännern zu fahren, war ein Wandel, der durchaus nicht nach dem Geschmack eines Schriftstellers war, in dem wir einen Geist wahrzunehmen scheinen, der für das Lächerliche empfindlich und für das Verführerische blütenfarbenen Samts empfänglich war.
Aber die Übel des Wandels reichten tiefer. In den alten Tagen, sagte er, war der Gönner ein Mann von Geschmack und Bildung, der sich darauf verstand, zu erkennen, »daß alle, die Ruhm verdienten, auch in der Lage waren, ihn zu erringen«. Jetzt, in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, lieferte man junge Männer von Geist dem Verleger auf Gedeih und Verderb aus. Das Einen-Penny-für-die-Zeile kam in Mode. Männer von Originalität und Geist wurden fügsame Packesel, käufliche Vielschreiber. Sie stopften ihre Seiten mit Gemeinplätzen voll. Sie »schreiben ganze Bände voll, aber durchdenken keine einzige Seite«. Würdevoller Ernst und bombastischer Schwulst wurden zur Regel. »Bei meiner Seele, ich glaube, wir alle haben in diesen Tagen vergessen, was Lachen ist.« Das neue Publikum nährte sich begierig von gewaltigen Haufen des Wissens. Es verlangte riesige Enzyklopädien, seelenlose Kompilationen, diese wurden »fortgesetzt von verschiedenen Schriftstellern, zu einem Corpus verkittet, und wetteiferten miteinander in der gleichen Zielrichtung durch die Vermittlung der Verleger«. Dies alles erregte den Abscheu eines Mannes, der von Natur klar, kurz und offen schrieb; der die Meinung vertrat, daß, »wenn Engel Bücher schreiben sollten, sie niemals Folioblätter vollschreiben würden«; ein Mann, der sich selbst unter den Engeln fühlte, aber wußte, daß das Zeitalter der Engel vorbei war. Die Triumphwagen und die Grafen waren auf Schwingen in den Himmel zurückgekehrt; an ihrer Stelle stand ein stämmiger Geschäftsmann, der verlangte, daß auf jeden Fall bis Samstagabend soundso viele Zeilen Prosa abgeliefert zu werden hätten, oder der arme Wicht von Lohnschreiber würde am Sonntag ohne Dinner auskommen müssen.
Goldsmith leistete mannhaft seinen Anteil an dieser Art von Arbeit, wie ein Blick auf die Liste seiner Werke zeigt. Aber er sollte entdecken, daß der Wechsel vom Grafen zum Verleger nicht ohne Vorteile war. Ein neues Publikum war mit neuen Ansprüchen auf den Plan getreten. Jedermann wandelte sich zum Leser. Der Schriftsteller war, wenn er auch aufgehört hatte, mit dem Adel zu Tische zu sitzen, der Freund und Unterweiser einer großen Gemeinde gewöhnlicher Männer und Frauen geworden. Sie verlangten sowohl Essays wie Enzyklopädien. Sie erlaubten ihren Schriftstellern eine Freiheit, die der alte Adel nie gestattet hätte. Wie Goldsmith sagte, konnte der Schriftsteller jetzt »Einladungen zum Dinner« ablehnen; er »konnte genau solche Kleider tragen wie die Menschen sie gewöhnlich tragen« und »er konnte getrost die Würde der Unabhängigkeit zur Geltung bringen«. Goldsmith war nach Anlage und Erziehung besonders befähigt, den neuen Stand der Dinge zu seinem Vorteil zu nutzen. Er war ein Mann von lebhafter Geisteskraft und offen bekundetem gesundem Menschenverstand. Er besaß die Gabe des geborenen Schriftstellers, in Kontakt mit der Sache selbst zu sein und nicht mit der äußeren Hülse der Worte. Er hatte etwas pfiffig und sachlich Gescheites in seinem Charakter, das ihn vorzüglich dazu befähigte, kleine Predigten zu halten und kleine Satiren fliegen zu lassen. War er auch wenig gebildet und nicht gelehrt, so hatte er doch einen großen und vielfältigen Vorrat an Erfahrungen, aus dem er schöpfen konnte. Er war in der Welt herumgekommen. Er hatte Leiden und Paris und Padua gesehen, so wie ein zu Fuß Reisender berühmte Städte sieht. Aber seine Reisen, weit davon entfernt, ihn in Träumerei versinken zu lassen oder in ihm eine Leidenschaft für die Einsamkeiten und Erhabenheiten der Natur zu entfachen, hatten dazu gedient, ihm menschliche Gesellschaft angenehmer zu machen, und bewiesen, wie gering die Unterschiede zwischen Menschen sind. Er nannte sich lieber einen Weltbürger als einen Engländer. »Wir sind jetzt so sehr Engländer, Franzosen, Holländer, Spanier oder Deutsche geworden, daß wir nicht mehr … Glieder dieser großen Gesellschaft sind, die die gesamte Menschheit umfaßt.« Er forderte beharrlich, wir sollten unsere Entdeckungen zum gemeinsamen Besitz machen und voneinander lernen.
Diese objektive Haltung und Weite des Blicks geben Goldsmith seinen eigentümlichen Charakterzug als Essayist. Andere Schriftsteller packen mehr in ihre Seiten und bringen uns in engeren Kontakt mit ihnen selber. Goldsmith, andererseits, hält sich gerade am Rande der Menge, so daß wir hören können, was gewöhnliche Menschen sagen, und ihre Gemütsverfassung kennenlernen. Deshalb lassen sich seine Essays, sogar die frühen, in The Bee, so gut lesen. Daher ist es richtig und angebracht, daß The Bee und The Citizen of the World heute wieder neu aufgelegt werden, zu einem sehr bescheidenen Preis; und daß Mr Church unsere Aufmerksamkeit noch einmal in einer ausgezeichneten Einleitung auf die unverblaßten Meriten eines Buches lenkt, das bereits vor langer Zeit, nämlich 1762, gedruckt wurde. Der »Citizen« ist immer noch ein außerordentlich lebhafter Begleiter, wenn er seinen Gang von Charing Cross nach Ludgate Hill macht. Die Straßen sind beleuchtet für die Schlacht bei Minden,[4] und er macht sich über den engstirnigen Patriotismus der Engländer lustig. Er hört den Schuhmacher seine Frau schelten und ahnt voraus, was aus den Schuhmachern werden wird, »wenn die Mosjös in hölzernen Schuhen unter uns erscheinen … wenn Madam Pompadour vielleicht selbst Schuhe tragen müßte, die aus einem alten Birnbaum herausgeschnitzt wären«; er hört den Kellner in Ashleys Punsch-Haus sich vor den Gästen damit brüsten, wie er, wenn er Außenminister wäre, Paris nehmen und die englische Fahne auf der Bastille aufpflanzen würde. Er lugt hinein in die St. Pauls-Kathedrale und ist verwundert über den denkwürdigen Mangel an Ehrfurcht, den die Engländer bei ihrem Gottesdienst bekunden. Er sinnt darüber nach, daß Tuchfetzen, »die in China vielleicht eine halbe Schnur Kupfergeld wert wären«, dennoch einer Flotte und eines Heeres bedurften, um sie zu gewinnen. Er verwundert sich darüber, daß die Franzosen und Engländer einfach deshalb miteinander Krieg führen, weil die Leute ihre Muffs gern mit Pelz verbrämt tragen und sich deshalb gegenseitig umbringen müssen und ein Land erobern, »das Menschen gehört, die es seit unvordenklichen Zeiten besessen haben«. Scharfblickend und sarkastisch richtet er sein Auge, wie er dahinschlendert, auf die merkwürdigen Gewohnheiten und Ansichten, die den Engländern so vertraut geworden sind, daß sie sie nicht mehr sehen. Er hätte wirklich kaum eine Methode wählen können, die besser dazu angetan gewesen wäre, das neue Publikum sich seiner selbst bewußt zu machen, oder besser geeignet gewesen wäre, es auf die Art seiner eigenen Begabung aufmerksam zu machen. Wenn Goldsmith stillstand, konnte er ebenso flach, wenn auch nicht so feierlich sein wie irgendeiner der Foliantenschreiber, die sein ganzer Abscheu waren. Hier dagegen mußte er in Bewegung bleiben; er mußte rasch alle Arten von Menschen und Sitten der Prüfung unterziehen und seine Meinung über sie äußern. Und hier kam ihm seine Gabe als Romancier zugute. Wenn er denkt, so denkt er plastisch. Eine Idee kleidet sich sogleich in Fleisch und Blut und wird zu einem menschlichen Wesen. Beau Tibbs[5] wird lebendig: in Vauxhall Gardens[6] wimmelt es von Menschen: Die Dachstube des Schriftstellers steht vor unseren Augen mit ihren zerbrochenen Fensterscheiben und dem Spinnennetz in der Ecke. Er hat dauernd die instinktive Neigung, etwas konkret zu machen, ins Dasein zu bringen.
Vielleicht war es die Gabe des Romanciers, die ihn für das Schreiben von Essays ein wenig ungeduldig machte. Die Kürze des Essays ließ die Leute meinen, er sei oberflächlich. »Ich hätte sie metaphysischer machen können, hätte ich es für passend gehalten«, erwiderte er. Aber es ist zu bezweifeln, ob er durch die Umstände von jeder Tiefe der Spekulation abgehalten wurde. Das eigentliche Ärgernis war, daß Beau Tibbs und Vauxhall Gardens danach verlangten, eine längere Lebensdauer zu bekommen, aber das Ende der Kolumne war da; schon schnitt die Schere zu, und in der nächsten Woche mußte ein neues Thema abgehandelt werden. Das natürliche Ventil war, wie Goldsmith herausfand, der Roman. Auf dessen freieren Seiten hatte er Platz genug, seinen Charakteren Raum zu verschaffen, in dem sie herumgehen und sich entfalten konnten. Doch bewahrt der Vicar of Wakefield einige charakteristische Merkmale, die die statischere Kunst des Essayisten auszeichnen. Die Charaktere sind nicht völlig frei, ihre eigenen Wege zu gehen; sie müssen beim Anziehen des Fadens, an dem sie hängen, zurückkommen, um die Moral zu illustrieren. Diese Notwendigkeit ist um so befremdlicher für uns, weil gut und böse nicht mehr so eindeutig weiß und schwarz sind; die Kunst des Moralisten ist beim Roman aus der Mode gekommen. Aber Goldsmith glaubte nicht nur an das Schwarze und Weiße: Er glaubte – vielleicht hängt der eine Glaube vom andern ab –, daß die Güte belohnt und das Laster bestraft wird. Es ist eine Doktrin, sie mag uns auffallen, wenn wir den Vicar of Wakefield lesen, die dem Romanautor gewisse Beschränkungen auferlegt. Es besteht kein Bedarf nach dem Gemischten, dem Verdrehten, dem Profunden. Leicht getönt, breit schattiert, mit hier einer Schwäche, dort einer kleinen Sünde, ähneln die Charaktere der Primroses jenen tropischen Fischen, die nur ein Rückgrat zu haben scheinen, aber keine anderen Organe, die die Durchsichtigkeit ihres Fleisches verdunkeln könnten. Unsere Mitgefühle werden nicht auf die Folter gespannt. Töchter mögen verführt werden, Häuser niederbrennen und gute Menschen ins Gefängnis geworfen werden, doch da die Welt ein vollkommen ausgeglichener Ort ist, so mag sie schlingern soviel sie will, sie muß auf lange Sicht hin schließlich doch im Gleichgewicht zur Ruhe kommen. Die hartgesottensten Sünder – hier hält Goldsmith charakteristischerweise inne, um auf die Übel des Gefängniswesens hinzuweisen – widmen sich dem Schnitzen von Tabakstopfern, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen, und kehren so auf den geraden Weg der Tugend zurück. Solche Annahmen versperrten bestimmte Zugänge zum Denken und zur Einbildungskraft. Aber die Beschränkung hatte ihre Vorteile; er konnte seine ganze Geisteskraft der Handlung zuwenden. Alles ist klar, verbunden und unüberfrachtet. Er wußte genau, was wegzulassen war. Wenn wir daher einmal zu lesen angefangen haben, lesen wir weiter, nicht um ans Ende zu kommen, sondern um den gegenwärtigen Augenblick zu genießen. Wir können diese kleine komplette Welt nicht auseinandernehmen. Sie schließt uns ein, sie umgibt uns. Wir wünschen uns nichts Besseres, als in der Sonne auf dem Weißdornhang zu sitzen und ›Barbara Allen‹ oder Johnny Armstrongs letzte gute Nacht zu singen. Dunkle Schatten der Gewalt und des Unrechts können sich kaum bis hierher vorwagen. Doch vor Fadheit wird die Situation durch Goldsmiths beißenden Humor des achtzehnten Jahrhunderts gerettet. Einer der Vorteile, die der Besitz eines festen Moralkodex mit sich bringt, ist, daß man genau weiß, worüber man zu lachen hat.
Doch es gibt im Vicar Passagen, die uns nachdenklich stimmen. »Quatsch! Quatsch! Quatsch!« ruft Burchell aus,[7] und es scheint so, als müßten wir, um die volle Wirkung der Szene zu erfassen, sie leibhaftig vor uns sehen. Da ist keine Randzone bloßer Suggestion in dieser klaren Prosa; sie erzeugt kein dichtbesiedeltes und wimmelndes Schweigen, das durch die körperliche Gegenwart der Akteure durchbrochen würde. Ja, wenn wir uns von Goldsmiths Roman ab- und seinen Dramen zuwenden, so scheinen seine Gestalten an Kraft und Eigenständigkeit zu gewinnen, wenn sie plastisch vor uns stehen. Sie können alles sagen, was sie sagen müssen, ohne daß der Autor eingriffe. Dies kann man, wenn man will, als Beweis dafür verstehen, daß sie nichts von äußerster Feinsinnigkeit zu sagen haben. Doch schadete Goldsmith sich selbst, als er dem alten Brauch folgte, seine Personen mit Namen zu etikettieren – Croaker, Lofty, Richlands[8] –, die jedem von ihnen nur eine einzige Eigenschaft zuzubilligen scheinen. Seine Beobachtung, die in den feineren Unterscheidungen der Romankunst geübt war, arbeitete sehr viel listiger, als es die Namen nahelegen. Körper und Herzen sind diesen Aushängeschildern von Gesichtern angefügt; Geist von der echt spontanen Art sprudelt von ihren Lippen. Er stand, natürlich, genau an dem Punkt, wo die Komödie florieren kann, ebenso weit entfernt von der tragischen Gewalttätigkeit der Elisabethaner wie von dem minutiösen Labyrinth moderner Psychologie. Die vier »Temperamente« der elisabethanischen Bühne hatten sich zu Charakteren verfeinert. Überlieferung und Überzeugung und ein unangezweifelter Wertmaßstab scheinen die große, luftige Welt seiner Erfindungskraft zu tragen. Nichts könnte amüsanter sein als She Stoops to Conquer – man möchte sogar so weit gehen zu sagen, daß Unterhaltung von so reiner Beschaffenheit nie wieder unseren Weg kreuzen wird. Dazu bedarf es einer zu raren Verknüpfung von Bedingungen. Nichts ist zu weit hergeholt oder zu phantastisch, um den Lebenssaft in den Charakteren selbst auszutrocknen; wir genießen das doppelte Vergnügen einer komischen Situation, in der lebende Menschen die Akteure sind. Es mag sein, daß die Unterhaltung nicht von höchstem Rang ist. Wir haben kein tieferes Verständnis für menschliche Wunderlichkeit und Schwachheit gewonnen, wenn wir Tränen gelacht haben über die mißliche Lage einer guten Dame, die zwei Stunden lang in ihrem Hause im Dunkeln herumgetrieben worden ist. Ein Privathaus für ein Gasthaus zu halten, ist kein Unheil, das die verborgenen Tiefen oder die höchste Würde der menschlichen Natur enthüllt. Aber dies sind Fragen, die beim Vergnügen des Lesens verblassen – einem Vergnügen, das sehr viel komplexer ist, als das schlichte Wort »amusement« abdecken kann. Wenn etwas seiner Art nach vollkommen ist, können wir, in seinem Bann, nicht einhalten, um unsere Blume zu zerpflücken. Es ist da eine Einheit in ihr, die es uns verbietet, sie auseinanderzunehmen.
Aber trotzdem hören wir inmitten dieser Harmonie und Vollkommenheit ab und zu einen anderen Ton. »Aber sie sind tot, und ihre Leiden sind vorüber.«[9] »Das Leben ist in seiner höchsten und besten Form nur ein eigensinniges Kind, dem man ein wenig nachgeben und gut zureden muß, bis es einschläft, und dann ist alle Sorge vorüber.«[10] »Keine Laute waren zu hören außer dem schrill krähenden Hahn und dem tief-kehligen Wachhund in dumpfer Ferne.«[11] Ein Dichter scheint auf der Rückseite des Blattes versteckt und bemüht zu sein, die gutgelaunte Weltläufigkeit in eine oder zwei Wendungen von tieferer Bedeutung zu verdichten. Und Goldsmith war ein echter Dichter, obwohl er es nicht vermochte, die Muse zu längerem Verweilen zu bewegen. »Und du, süße Poesie«, rief er aus,
My shame in crowds, my solitary pride, Thou source of all my bliss, and all my woe, That found’st me poor at first, und keep’st me so;[12]
– jene »teure reizende Nymphe« schlug flatternd ihre Flügel um ihn, wenn sie auch nicht allzu lange Zeit verweilte. Es ist natürlich Dichtung, die nur einen Schritt von der Prosa entfernt ist: Dichtung, die nur die grauen und braunen Farben auf ihrer Palette benutzt: Dichtung, die am Ende der Zeile ihre Hacken zusammenschlägt, als führte sie die Schritte eines höfischen Tanzes aus; Dichtung mit einem solchen Sediment an gesundem Menschenverstand, daß sie sich natürlicherweise zum Epigramm kristallisiert: –
And to party gave up what was meant for mankind;[13]
oder: –
How small of all that human hearts endure That part which laws or kings can cause or cure.[14]
Das Thema seiner Gedichte ist schon in Prosa ausgeführt worden. Königreiche wachsen sich zu unförmiger Größe aus; Weltreiche verbreiten Zerstörung um sich herum; nichts ist höher zu schätzen als »ein glückliches menschliches Gesicht«; Macht und Unabhängigkeit sind zu fürchten. Es ist alles schon vorher gesagt worden; aber hier heißt das Dorf Auburn; das Land ist Irland; alles ist greif- und sichtbar geworden, hat Stimme und Namen bekommen. Die Welt der Goldsmithschen Dichtung ist natürlich eine flache und augenlose Welt; Schäfer schäkern mit Nymphen, und die Tiefe ist flossenreich. Aber inmitten der Zurückhaltung ist Pathos um so bewegender, und die plötzliche Gefühlsaufwallung des Dichters besagt um so mehr, wenn es sich offenbar nicht gehört, über sich selbst zu reden: Wenn eingewendet wird, Goldsmiths Einbildungskraft sei zu eng und rein häuslich-bieder, so daß er alles Reiben und Ringen des Lebens ignoriere, um zu verweilen bei
… the gentler morals, such as play Through life’s more cultur’d walks, and charm the way –[15]
so ist es ebenso unbestreitbar, daß das, was er liebt, kein künstliches und affiges Raffinement ist. »Jene ruhigen Wünsche, die nur wenig Raum beanspruchten«,[16] sind das Mark des Lebens, die Essenz, die er aus der turbulenten und unbefriedigenden Masse herausgepreßt hat.
Doch besitzt Goldsmith eine besondere Zurückhaltung, die es uns verwehrt, mit ihm in völliger Intimität zu verweilen. Es ist zum Teil zweifellos so, daß er keine solchen Tiefen zu enthüllen hat wie einige andere unserer Essayisten – die Einsamkeiten und Erhabenheiten sind nicht sein Fall, eher die Anmutigkeiten und Annehmlichkeiten. Auch hält er sich uns vom Leibe durch die Urbanität seines Stils, gerade so wie gute Manieren den Wohlerzogenen Unpersönlichkeit auferlegen. Aber es mag noch einen anderen Grund für seine Reserviertheit geben. Lamb, Hazlitt, Montaigne[17] reden offen über sich selbst, weil ihre Fehler keine geringen sind; Goldsmith war zurückhaltend, weil seine Schwächen von der Art sind, die die Menschen verbergen. Jedenfalls kann niemand Goldsmith in großem Umfange lesen, ohne zu bemerken, wie oft, jedoch wie indirekt, gewisse Themen wiederkehren – Kleidung, Häßlichkeit, Ungeschick, Armut und die Furcht vor Lächerlichkeit. Es ist, als ob der freundliche Mann von irgendeiner heimlichen Furcht verfolgt würde, als wäre er sich bewußt, daß neben dem Engel in ihm ein weniger achtbarer Geselle lebte, der vielleicht Poor Poll[18] glich. Man braucht nur Boswell[19] aufzuschlagen, um sich zu vergewissern. Dort sehen wir sofort unseren heiteren und wohltönenden Schriftsteller in leibhaftiger Gestalt. »Seine Gestalt war gedrungen, sein Gesicht grob und gewöhnlich, sein Betragen das eines Gelehrten, der auf linkische Weise den nonchalanten Gentleman vorstellen möchte.« Zug um Zug wird das wenig einnehmende Porträt erstellt. Uns wird Goldsmith vorgeführt, wie er sich auf dem Sofa in Eifersuchtsqualen windet: Goldsmith, wie er sich ins Gespräch stürzt und darin weiterstolpert, »ohne zu wissen wie herauskommen«: Goldsmith voller Eitelkeiten und Eifersüchteleien: Goldsmith, der seinen häßlichen blatternarbigen Leib in einen eleganten blütenfarbenen Rock kleidet. Das Porträt ist ohne Sympathie gezeichnet, ausgenommen jedoch in jener umgekehrten Art, die aus dem Wissen um die aus eigener Erfahrung stammenden Leiden kommt, die man beschreibt. Auch Boswell war eifersüchtig und griff begierig die Schwächen seines Modells auf mit der boshaften Einsicht eines Rivalen.
Doch wie alle Porträts Boswells hat es den Atem des Lebens an sich. Er bringt den anderen Goldsmith an die Oberfläche – er verbindet sie beide. Er beweist, daß der beredte Schriftsteller keine schlichte Seele war, die sanft durchs Leben glitt von der Geißblattblüte zur Weißdornhecke. Er war im Gegenteil ein komplexer Mensch, ein Mann voller Kümmernisse, ohne »feste Grundsätze«; der von der Hand in den Mund und von einem Tag zum anderen lebte; der seine bezauberndsten Sätze in einer Dachkammer unter dem Druck der Armut schrieb. Und doch, so seltsam sind menschliche Eigenschaften miteinander verbunden, brauchte er nur seine Feder zur Hand zu nehmen und hatte sich an Boswell gerächt, an dem feinen Herrn, der seine Nase rümpfte über ihn, seinen häßlichen Körper und seine stolpernde Zunge. Er brauchte nur zu schreiben, und alles war klar und klangvoll; er brauchte nur zu schreiben und war unter den Engeln und redete mit einer silbernen Zunge in einer Welt, wo alles geordnet, vernünftig, und heiter ist.
Deutsch von Helmut Viebrock
»Da ist etwas, in den meisten Gattungen wenigstens, das sie auf den ersten Blick unterscheidet, und es einem urteilsfähigen Beobachter ermöglicht, sich über sie mit einiger Sicherheit zu äußern.« Gilbert White spricht natürlich über Vögel; der gute Ornithologe, sagt er, müsse in der Lage sein, sie nach ihrem Verhalten, ihrem »air«, zu unterscheiden – »am Boden ebenso wie im Fluge, und im Busch ebenso wie in der Hand«.[20] Wenn aber der Vogel zufällig Gilbert White selber ist, wenn wir versuchen, die Farbe und Form dieses ganz seltenen Vogels zu bestimmen, sind wir in Verlegenheit. Ist er, wie der so leuchtend handkolorierte Vogel als Frontispiz des zweiten Bandes, ein Zwitter – etwas zwischen einem Huhn, das gluckt, und einer Nachtigall, die singt? Es ist eines jener doppelsinnigen Bücher, die eine einfache Geschichte zu erzählen scheinen, die Natural History of Selborne, und doch hat es durch einen offensichtlich unbewußten Trick des Autors eine Tür offen gelassen, durch die wir entfernte Laute hören, einen Hund, der bellt, Karrenräder, die knarren, und, wenn »die ganze verblassende Landschaft in Nacht versinkt«, falls wir nicht Venus selbst sehen, so doch wenigstens eine Geistereule.
Seine Absicht scheint deutlich genug – es sollten bestimmte Beobachtungen über die Fauna und Flora seines Heimatdorfes seinen Freunden Thomas Pennant und Daines Barrington[21] mitgeteilt werden. Aber es geschah nicht zum Nutzen dieser Herren, daß er die sachliche und stattliche Beschreibung Selbornes verfaßte, mit der das Buch anhebt. Da ist es vor uns, das Dorf Selborne, das im äußersten östlichen Zipfel der Grafschaft Hampshire liegt mit seinem Waldabhang und seinen Schafdriften und seinen tiefen Schneisen, »die den Damen Furcht einflößen und ängstliche Reiter erschauern lassen«. Der Boden ist zum Teil Ton, zum Teil weicher, kalkhaltiger Lehm, Mergel; die Cottages sind aus Stein oder Ziegel; die Männer arbeiten in den Hopfengärten, und im Frühling und Sommer jäten die Frauen das Korn. Kein Romanautor hätte besser beginnen können. Selborne ist fest in den Vordergrund gerückt. Aber etwas fehlt noch; und noch bevor die Szene sich füllt mit Vögeln, Mäusen, Wühlmäusen, Grillen und dem Elch des Herzogs von Richmond, bevor die Seite laut wird vom Zirpen, Blöken, Muhen und Grunzen in ihrem vertrauten Verein, sehen wir Queen Anne[22] vor uns am Abhang liegen und das vorbeigetriebene Wild beobachten. Es war eine Anekdote, bemerkt er beiläufig, die er von einem alten Flurhüter, Adams, hatte, dessen Urgroßvater, Vater und er selbst Hüter im Waldrevier gewesen waren. Und so ist die einzige gewundene Straße mit der Geschichte verbündet und von der Tradition schattiert. Kein Romanautor hätte uns kürzer und vollständiger alles das geben können, was wir wissen müssen, bevor die Geschichte beginnt.
Die Geschichte Selbornes ist eine Geschichte der Pflanzen-, der Tierwelt. Getratscht wird über die Gewohnheiten von Kreuzottern, und das Interesse am Liebesleben wird hauptsächlich durch die Frösche befriedigt. Verglichen mit Gilbert White ist der realistischste Romancier ein weltfremder Romantiker. Der Kropf des Kuckucks wird untersucht; die Kreuzotter seziert; der Grashüpfer wird mit einem biegsamen Grashalm in seinem Loch aufgespürt; die Maus wird gemessen und ihr Gewicht als das eines halben Kupferpenny ermittelt. Nichts kann die Genauigkeit dieser Beobachtungen übertreffen, oder die peinlich genaue Sorgfalt, mit der sie durchgeführt werden. Die umstrittene Hauptfrage – sie ist in der Tat das Thema des Buches – ist die Wanderung der Schwalben. Barrington glaubte, die Schwalbe halte Winterschlaf. White, der einen Neffen in Andalusien hat, der ihn informiert, neigt jetzt zur Wanderung; nimmt es dann aber zurück. Jedes Körnchen eines Beweises wird gesiebt; keines wird verdunkelt. Durch alle seine Fähigkeiten, die er dieser großen Frage zuwendet, dem Inbild der Wissenschaft in ihrer unschuldigsten und aufrichtigsten Form, verliert er jene Selbstgewißheit, die uns so oft von unseren Mitmenschen trennt und wird wie ein Vogel, den man durch einen Feldstecher geschäftig in einer fernen Hecke sieht. Dies ist der geeignete Moment, wenn seine Augen fest auf die Schwalbe gerichtet sind, Gilbert White selbst zu beobachten.
Wir bemerken an erster Stelle die bezaubernde Einfachheit des Geschöpfes. Die öffentliche Meinung ist ihm ganz gleichgültig. Er verpflanzt eine Kolonie von Grillen auf seinen Rasen; er sperrt eine davon in einen Papierkäfig auf seinem Tisch; er brüllt durch ein Sprachrohr seine Bienen an – sie bleiben ungerührt; er kommt in Selborne mit Tante Snookes’ alter Schildkröte an, die neben ihm in der Postkutsche sitzt. Und während er so beschäftigt ist, stößt er jene kleinen Gluckser des Vergnügens aus, jene halb-bewußten Murmeleien und Kommentare, die ihn so »amüsierlich« machen wie einen seiner eigenen Vögel. »… Aber die Ungleichheit ihrer Größe«, so sinniert er, die fruchtlose Paarung zwischen Elch und Rotwild erwägend, »muß immer schon eine Schranke für jeden Verkehr amouröser Art gewesen sein.« »Das Kopulieren von Fröschen«, bemerkt er, »ist jedermann nur zu bekannt … und doch habe ich nie gesehen, oder gelesen, daß man Kröten in der gleichen Lage beobachtet hat.« »Bemitleidenswert scheint die Lage dieses armen behinderten Reptils zu sein«, beklagt er die Schildkröte, doch »es gibt eine Zeit des Jahres (gewöhnlich Anfang Juni), da geht die Schildkröte auf Zehenspitzen« den Gartenweg entlang auf der Suche nach Liebe.
Und gerade so wie der Pfarrgarten für die Schildkröte der Tante Snookes eine ganze Welt zu sein schien, so wird England, wenn wir durch die Augen von Gilbert White blicken, ungeheuer groß. Die South Downs, über die er Jahr für Jahr reitet, werden zu »einer weiten Kette von Bergen«. Die Landschaft ist sehr leer. Er ist einsamer in Selborne als es heute ein Bauer auf den entferntesten Hebriden ist. Es stimmt, er hat – und er ist stolz darauf – einen Neffen in Andalusien; aber er hat zur Zeit keinen Bekannten unter den Herren der Marine; und obwohl London und Bath existieren, kommen natürlich – London rühmt sich zu Recht einer sehr schönen Sammlung von Geweihen – die Gerüchte aus jenen Großstädten sehr langsam über wilde Moore und Wege, die der Schnee unpassierbar gemacht hat. In dieser stillen Luft werden die Laute verstärkt. Wir hören das Wispern der Grashüpfer-Lerche; das Krächzen der Krähen ist wie eine Hundemeute »in hohlen, von Echos widerhallenden Wäldern«; und an einem stillen Sommerabend dröhnt die Kanone von Portsmouth herüber, gerade wenn der Ziegenmelker sein Lied beginnt. Sein Bewußtsein hat, wie der Vogelkropf, den die Bauersfrau mit Gemüse vollgestopft fand und zum Essen kochte, nichts anderes in sich als Insekten und zarte grüne Schößlinge. Diese unschuldige, diese unbewußte Glückseligkeit wird nicht durch Beteuerung vermittelt, sondern viel wirkungsvoller durch jene ungesuchten Erinnerungen, die sich aus eigenem Antrieb einstellen. Sie stammen alle von heißen Sommerabenden – in Oxfords viereckigem Hof von Christ Church; auf dem Ritt von Richmond nach Sunbury mit den Schwalben, die rasch über den Fluß gleiten. Selbst die schrille Stimme der Grille, die einigen so mißtönend klingt, erfüllt sein Gemüt »mit einer Reihe sommerlicher Gedanken, mit allem, was ländlich, grün und freudig ist«. Es ist Kontinuität in seiner Glückseligkeit; die gleichen Gedanken kehren bei den gleichen Gelegenheiten wieder. »Ich habe dieselbe Bemerkung in früheren Jahren gemacht, wenn ich wie jedes Jahr desselben Weges kam.« Jahrein, jahraus dachte er an die Schwalben.
Aber die Landschaft, in der dieser Vogel so frei umherschweift, hat ihre Hecken. Sie schließen ein, aber sie beschützen. Es ist das, was er so passend die Vorsehung nennt. »Kirchtürme«, bemerkt er, »sind sehr notwendige Bestandteile in der Landschaft.« Die Vorsehung wohnt dort – unerforschlich, denn warum billigt sie Tante Snookes’ Schildkröte so viele Lebensjahre zu? Aber sie ist voller Weisheit – betrachte die Schenkel des Frosches – »Wie wunderbar ist der Haushalt der Vorsehung hinsichtlich der Glieder eines so widerwärtigen Tieres!« Fünfzig Jahre später wäre die Vorsehung weder so unerforschlich noch so weise gewesen – sie würde ihr Dunkel verloren haben. Aber um 1760 war die Vorsehung in voller Jugendkraft; sie bringt alle Zweifel zum Schweigen und gibt dem Geist so die Freiheit, praktisch alles zu befragen. Neben der Vorsehung sind da die Schlösser und Sitze des Adels. Er respektiert sie fast in gleicher Weise. Die alten Familien – die Howes, die Mordaunts – kennen ihren Platz und halten die Armen an ihrem fest. Gilbert White ist den Armen gegenüber weit weniger zartfühlend – »Wir sind mit Armen überschwemmt«, schreibt er, wie wenn das Ungeziefer unterhalb seiner Kenntnisnahme wäre – als gegenüber dem Grashüpfer, den er so sorgfältig aus seinem Loch hebt und einmal versehentlich totquetscht. Schließlich ist da, die Landschaft mit ihrem erhabenen Lorbeer beschattend, die Literatur – die lateinische Literatur natürlich. Sein Geist wird von den Klassikern heimgesucht. Er läßt ab und zu einen lateinischen Satz erklingen, als wollte er sein Englisch stimmen. Das Echo, das eine so berühmte Eigenart Selbornes war, scheint aus eigenem Antriebe auszuposaunen: Tityre, tu patulae recubans …[23] Gilbert White hatte Vergil im Kopf, als er die Frauen beschrieb, die in Selborne Binsenkerzen machten.
So beobachten wir durch unseren Feldstecher dieses sehr schöne Exemplar des geistlichen Naturforschers im achtzehnten Jahrhundert. Aber gerade als wir meinen, ihn namhaft gemacht zu haben, bewegt er sich. Er schlägt einen Ton an, der nicht der charakteristische Ton des gewöhnlichen englischen Geistlichen ist. »Wenn ich gute Musik höre, werde ich von Passagen daraus Tag und Nacht verfolgt; und besonders beim ersten Erwachen, was mir durch ihre Belästigung mehr Unbehagen als Vergnügen bereitet.« Warum, fragt er, »bewegt die Musik einige Menschen so ungewöhnlich, gleichsam durch Erinnerung, tagelang nachdem das Konzert vorüber ist?«
Es ist eine Frage, die uns verblüfft an seine Biographie zurückverweist. Aber wir erfahren nur, was wir schon wußten – daß seine Zuneigung zu Kitty Mulso[24] nicht leidenschaftlich war; daß er 1720 in Selborne geboren wurde und dort 1793 starb; und daß seine »Tage vergingen mit kaum irgendwelchen anderen Veränderungen als denen der Jahreszeiten«. Aber eine Tatsache ist hinzuzufügen – eine negative, aber enthüllende Tatsache; es existiert von ihm kein Porträt. Er hat kein Gesicht. Deshalb vielleicht entgeht er der Identifikation. Seine Beobachtung des Insekts im Gras ist minuziös; aber er hebt auch seine Augen zum Horizont auf und schaut und lauscht. In jenem Augenblick der Selbstvergessenheit hört er Laute, die ihn am frühen Morgen unsicher machen; er entflieht aus Selborne, aus seinem eigenen Zeitalter, und kommt auf uns zugeflogen in der Dämmerung, die Heckenreihen entlang. Eine geistliche Eule? Ein Pfarrer mit Vogelschwingen? Ein Zwitter? Aber seine eigene Beschreibung trifft ihn am besten. »Der Turmfalke«, sagt er, »hat eine besondere Art, an einer Stelle in der Luft zu hängen, die ganze Zeit über mit lebhaft bewegten Schwingen.«
Deutsch von Helmut Viebrock
Man möchte wünschen, daß die Psychoanalytiker der Frage des Tagebuchführens auf den Grund gingen. Denn oft ist dies die einzige geheimnisvolle Tatsache in einem Leben, das sonst so klar wie der Himmel und so keusch wie die Morgenfrühe ist. Pfarrer Woodforde ist ein einschlägiger Fall – sein Tagebuch ist das einzig Geheimnisvolle an ihm. Dreiundvierzig Jahre lang setzte er sich fast täglich hin, um festzuhalten, was er am Montag tat und was es am Dienstag zum Essen gab; aber für wen er schrieb und warum er schrieb, läßt sich unmöglich sagen. Seine Seele erleichtert er nicht in seinem Tagebuch; doch ist es auch kein bloßer Bericht über Verabredungen und Ausgaben. Was literarischen Ruhm betrifft, so gibt es kein Anzeichen, daß er je an einen solchen dachte, und obgleich der Mann selbst über alle Maßen friedfertig ist, sind da schließlich kleine Indiskretionen und Kritiken, die ihn hätten in Verlegenheit bringen und die Gefühle seiner Freunde verletzen können, hätten diese sie gelesen. Welchen Zweck erfüllten dann also die achtundsechzig kleinen Bändchen? Vielleicht war es der Wunsch nach Intimität. Wenn James Woodforde eines seiner säuberlichen Manuskriptbücher öffnete, nahm er die Unterhaltung mit einem zweiten James Woodforde auf, der nicht ganz derselbe war wie der geistliche Herr, der die Armen besuchte und in der Kirche predigte. Diese beiden Freunde sagten vieles, was die ganze Welt hören konnte; aber sie hatten ein paar Geheimnisse, die nur sie miteinander teilten. Es war ein großer Trost zum Beispiel, daß an jenem Weihnachtsfest, als Nancy, Betsy und Mr Walker sich gegen ihn verschworen zu haben schienen, er im Tagebuch ausrufen konnte: »Die Behandlung, die ich diese Weihnachten für meine Gefälligkeit erfahre, ist für mich abscheulich.«[25] Der zweite James Woodforde war voller Mitgefühl und pflichtete ihm bei. Wiederum, als ein Fremder seine Gastfreundschaft mißbrauchte, war es eine Erleichterung, das andere Ich, das in dem kleinen Buche lebte, davon zu unterrichten, daß er ihn im Dachgeschoß zum Schlafen untergebracht habe, »und ich habe ihn wie jemanden behandelt, der sich zu frei benehmen würde, wenn man ihn freundlich behandelte«.[26] Es ist leicht zu verstehen, warum bei dem geruhsamen Leben in einem ländlichen Kirchspiel diese beiden Junggesellenfreunde mit der Zeit unzertrennlich wurden. Ein wesentlicher Teil von ihm wäre gestorben, hätte man ihm verboten, sein Tagebuch zu führen. Und wie wir so lesen – wenn lesen das richtige Wort ist –, scheinen wir jemandem zuzuhören, der mit sich selbst murmelnd die Ereignisse des Tages durchspricht in der ruhigen Zeitspanne, die dem Schlaf vorausgeht. Es ist kein Schreiben und, um die Wahrheit zu sagen, es ist auch kein Lesen. Es ist ein durch ein halbes Dutzend Seiten Schlüpfen und zum Fenster Schlendern und Hinausschauen. Es ist ein fortgesetztes Nachdenken über die Woodfordes, während wir gleichzeitig die Menschen unten auf der Straße beobachten. Es ist ein Spazierengehen und ein sich das Leben und den Charakter von James Woodforde Ausdenken, so wie wir uns die Charaktere unserer Freunde ausdenken – wir wenden etwas, das sie gesagt haben, hin und her, denken über die Bedeutung von etwas nach, das sie getan haben, erinnern uns, wie sie einmal aussahen, als sie sich unbeobachtet glaubten. Es ist kein Lesen: es ist Nachsinnen.
James Woodforde also war einer jener Männer mit glatten Wangen und festem Blick, zurückhaltend in seinem Auftreten, die wir uns nie anders als in der Blüte der Jahre vorstellen können. Er war ausgeglichen von Temperament, mit nur solchen Bitterkeiten und Empfindlichkeiten, wie man sie gewöhnlich bei denen antrifft, die in ihrer Jugend ein Liebeserlebnis gehabt haben und sich einbilden, nur deswegen unverheiratet geblieben zu sein. Die Liebesgeschichte des Pfarrers war übrigens nichts Welterschütterndes. Einst in Somerset, als er ein junger Mann war, ging er gern nach Shepton hinüber, um eine gewisse »sanftmütige« Betsy White zu besuchen, die dort wohnte. Er hatte große Lust, »einen kühnen Schritt zu unternehmen« und sie zu fragen, ob sie ihn heiraten wolle.[27] Er ging sogar so weit, ihr die Heirat vorzuschlagen, »als die Gelegenheit sich bot«,[28] und Betsy war einverstanden. Aber er zögerte; die Zeit verging; es vergingen wahrhaftig vier Jahre, und Betsy ging nach Devonshire, lernte einen Mr Webster kennen, der fünfhundert Pfund im Jahr hatte, und heiratete ihn. Als James Woodforde das Paar auf der Mautstraße traf, konnte er nur wenig sagen, »da er schüchtern war«, aber seinem Tagebuch vertraute er an – und dies war zweifellos seine Sicht der Sache für alle Zeit –, »sie hat sich mir gegenüber als ein Flittchen erwiesen«.[29]
Aber er war damals ein junger Mann, und wie die Zeit verging, können wir nur argwöhnen, daß er froh war, die Heiratsfrage ein für allemal zu den Akten gelegt zu haben, so daß er sich mit seiner Nichte in Weston Longueville niederlassen konnte, um sich ganz und gar, jeden lieben langen Tag, dem großen Geschäft des Lebens hinzugeben. Wir wissen nicht, wie wir es anders nennen sollen. Es scheint das Leben selbst zu sein.
Denn James Woodforde war nichts Besonderes. Das Leben trieb sein eigenes, willkürliches Spiel mit ihm. Er hatte keine besondere Begabung; er hatte nichts Kauziges oder Kränkliches. Es ist müßig, so zu tun, als wäre er ein eifernder Priester gewesen. Gott im Himmel war für ihn fast dasselbe wie König George auf dem Thron – will sagen, ein freundlicher Monarch, dessen Feste man einhielt, indem man sonntags eine Predigt hielt, ähnlich so, wie man den königlichen Geburtstag feierte, indem man eine Donnerbüchse abfeuerte und beim Dinner einen Toast ausbrachte. Sollte einmal ein Unglücksfall eintreten, wie etwa der Tod eines Jungen, der von einem Pferd zu Tode geschleift wurde, so würde er augenblicklich, aber ziemlich mechanisch ausrufen, »Ich hoffe zu Gott, der arme Junge ist glücklich«, und hinzufügen, »Wir alle kamen singend heim«,[30] genau so, wie er, wenn der Pfau des Richters Creed sein Rad schlüge – »und sehr prächtig ist es« –, ausrufen würde, »Wie wunderbar sind Deine Werke o Gott in jedem Wesen«.[31] Aber in James Woodforde fand sich kein Fanatismus, kein Enthusiasmus, kein lyrischer Impuls. Auf all diesen Seiten nämlich, von denen jede so säuberlich in Fächer eingeteilt war und jedes davon wieder ausgefüllt, so wie die Tage selbst ausgefüllt waren, ruhig und vollständig in einer Handschrift, die so gleichmäßig wie die Gangart eines gutmütigen Gauls war, kann man sich nur an einen einzigen poetischen Ausdruck über den Durchgang der Venus erinnern. »Sie erschien wie ein schwarzes Pflästerchen auf dem Gesicht einer schönen Dame«,[32] sagt er. Die Worte selbst sind milde genug, doch sie hängen über der welligen Weite der Prosa des Pfarrers mit der Leuchtkraft des Gestirns selbst. So erscheint in den Niederungen des Fennlandes eine Scheune oder ein Baum in doppelter natürlicher Größe gegenüber dem sie umgebenden Flachland. Was ihn jedoch zu diesem augenfälligen Exzeß jener Sommernacht veranlaßte, wissen wir nicht. Es ist unmöglich, daß er betrunken war. Er sprach sich zu offen gegen solche Schwächen in seinem Bruder Jack aus, um ihnen selber verfallen zu sein. Jack war der Ungebührliche in der Familie. Jack trank im ›Catherine Wheel‹. Jack kam heim und hatte die Frechheit, seinem alten Vater gegenüber den Selbstmord zu verteidigen. James trank wohl seinen Pint of Port, aber er liebte seinen Braten. Wenn wir an die Woodfordes denken, den Onkel und die Nichte, so denken wir sie uns oft als mit einiger Ungeduld auf ihr Essen wartend. Ernst betrachten sie den Braten, wie er auf den Tisch gesetzt wird; hurtig haben sie Messer und Gabel zur Hand, um das saftige Schenkel- oder Lendenstück zu bearbeiten; ohne viel Kommentar, es sei denn, ein Wort würde über die Soße oder die Füllung verloren, geben sie sich dem Essen hin. So mampfen sie tagein, tagaus, jahrein, jahraus, bis sie beide zusammen ganze Herden von Schafen und Ochsen, Scharen von Geflügel, ein kleines Dutzend Schwäne und Schwänchen, Scheffel von Äpfeln und Pflaumen verschlungen haben müssen, während die Pasteten und Puddings in Bergen, Pyramiden und Pagoden unter ihren Löffeln zerbröseln und zerquetscht werden. Noch nie war ein Buch so mit Eßbarem vollgestopft wie dieses. Das Lesen des achtungsvoll und pünktlich aufgesetzten Speisezettels gibt einem das Gefühl des völligen Gefülltseins. Es ist, als hätte man eine Woche lang täglich bei Simpsons gespeist. Forelle und Hühnchen, Hammel und Erbsen, Schweinebraten und Apfelsoße – so folgen die Braten einander beim Dinner, und dann beim Supper kommen erneut Braten auf den Tisch, alles zweifellos aus eigener Herstellung und aufs saftigste und süßeste zubereitet; alles, oft von der Hausfrau selbst, auf die schlichteste englische Weise bereitet, ausgenommen, wenn das Dinner in Weston Hall stattfand und Mrs Custance sie mit einer Londoner Spezialität überraschte, einer Aspik-Pyramide, das heißt, mit einer »hindurchscheinenden Landschaft«.[33] Nach dem Essen spielte Mrs Custance, der gegenüber James Woodforde eine ritterliche Verehrung empfand, manchmal die »Sticcardi Pastorale« und machte »wirklich sehr sanfte Musik«;[34] oder sie holte ihr Arbeitskästchen her und zeigte ihnen, wie sinnreich es eingerichtet war, sofern sie nicht gerade wieder im Obergeschoß einem neuen Kinde das Leben schenkte, das der Pfarrer dann taufte und sehr häufig auch wieder beerdigte. Der Pfarrer hatte tiefe Hochachtung vor den Custances. Sie waren alles das, was der Landadel sein sollte – ein wenig der Gewohnheit frönend, sich Mätressen zu halten, vielleicht, aber dies kleine Laster konnte ihnen vergeben werden angesichts ihrer Großherzigkeit gegenüber den Armen, der Freundlichkeit, die sie Nancy bezeigten, und ihrer Herablassung, den Pfarrer zum Dinner einzuladen, wenn sie hohe Gäste zu Besuch bei sich hatten. Aber hohe Herrschaften waren nicht besonders nach James’ Geschmack. So hoch er den Adel auch achtete, »man muß bekennen«, sagte er, »daß das Zusammensein mit unseresgleichen viel angenehmer ist«.[35]
Er hing zu sehr an seiner Bequemlichkeit und war ein zu gewitzter Kritiker der Werte der Dinge, als daß er sich snobistisch um gesellschaftliches Ansehen bemüht hätte; er zog bei weitem die Ruhe seines eigenen Platzes am Kaminfeuer der abenteuernden Sucht nach den Lüsten der Welt vor. Wenn ein alter Mann mit einem Affen aus Madagaskar vor der Tür erschien oder wenn ein polnischer Zwerg oder ein Fesselballon in Norwich gezeigt wurde, so ging der Pfarrer hin und schaute sie sich an und war freigebig mit seinen Shillingen, aber er war ein ruhiger Mann, ein Mann ohne Ehrgeiz, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß seine Nichte ihn ein bißchen langweilig fand. Die Nichte Nancy ist es, offen gesagt, die uns unsicher macht. Der Same häuslichen Desasters ist in ihrem Charakter angelegt, wenn wir uns nicht irren. Es trifft zu, daß sie am Nachmittag des 27. April 1780 den Wunsch äußerte, die Philosophie des Aristoteles zu lesen, die Miss Millard von einer verheirateten Frau bekommen hatte, aber sie ist ein stures Mädchen; sie ißt zu viel, sie nörgelt viel, und sie nimmt sich den Verlust ihres roten Kästchens zu sehr zu Herzen. Kein Zweifel, sie war im großen und ganzen vernünftig; wir wollen sie nicht dafür tadeln, daß sie keck und schnippisch war oder daß sie beim Kartenspiel aus der Fassung geriet oder gar dafür, daß sie das Paket, das mit der Post kam, versteckte, wo ihr Onkel doch danach lechzte zu erfahren, was darin war, und ihm solches von ihr noch nie angetan worden war. Aber wenn wir sie mit Betsy Davy vergleichen, so stellen wir fest, daß das eine menschliche Wesen nur ins Zimmer zu kommen braucht, um unsere Stimmung zu heben, während ein anderes uns allein schon durch die Art, wie es sich schneuzt, auf die Nerven geht. Betsy, die Tochter jener frivolen, leichtfertigen Mrs Davy (die die Treppe an dem Tag hinunterfiel, als Miss Donne die Gerstenähre samt Halm verschluckte), Betsy, das schüchterne kleine Mädchen, Betsy, die auflebte, und mit der Perücke des Pfarrers spielte, Betsy, die sich in Mr Walker verliebte, Betsy, die einen Fuchsschwanz von ihm geschenkt bekam, Betsy, die ihren Ruf mit einem Landstreicher aufs Spiel setzte, Betsy, der er entrissen wurde – denn Mr Walker starb im Alter von dreiundzwanzig Jahren und wurde in einem schlichten Sarg bestattet –, Betsy, die, wie zu befürchten ist, in einem sehr skandalösen Zustand zurückblieb – Betsy übt immer einen Reiz aus; wir vergeben Betsy alles. Das Schlimme an Nancy ist, daß sie anfängt, Weston langweilig zu finden. Noch ist kein Freier erschienen. Es ist nur allzu wahrscheinlich, daß die zehn Lebensjahre, die dem Pfarrer Woodforde verbleiben, noch oft werden vermerken müssen, wie Nancy ihn mit ihrem Genörgel reizte.
Die zehn Jahre, die noch verbleiben – man weiß natürlich, daß ein Ende kommen muß. Schon sind die Custances nach Bath gezogen; der Pfarrer hat einen Gichtanfall gehabt; in weiter Ferne, mit einem Ton wie ferner Donner, hören wir die Kanonen der Französischen Revolution. Aber es ist beruhigend zu bemerken, daß die Einkerkerung des französischen Königs und der Königin und die Anarchie und der Aufruhr in Paris erst erwähnt werden, nachdem berichtet worden ist, daß Thomas Ram seine Kuh verloren und Pfarrer Woodforde »heute ein weiteres Faß Tafelbier gebraut« hat.[36] Wir haben da eine gewisse Vorstellung – und hier muß zugegeben werden, daß wir es aufgegeben haben, Pfarrer Woodforde ganz zu Ende zu lesen, und lediglich noch einmal wieder die Geschichte erzählen bei einem Gang durch Felder, wo die Hasen hoppeln und die Krähen über den Wipfeln der Ulmen aufflattern –, wir haben die Vorstellung, daß Pfarrer Woodforde nicht stirbt. Pfarrer Woodforde lebt weiter. Wir sind es, die sich verändern und vergehen. Die Könige und Königinnen sind es, die im Gefängnis liegen. Die großen Städte sind es, die von Anarchie und Aufruhr verheert werden. Aber das Flüßchen Wensum fließt noch immer; Mrs Custance bringt wieder einmal ein Kind zur Welt; die erste Schwalbe des Jahres ist da. Der Frühling kommt und der Sommer mit seinem Heu und seinen Erdbeeren; dann der Herbst, wenn die Walnüsse ungewöhnlich gut sind, die Birnen dagegen eher dürftig; so gleiten wir hinüber in den Winter, der wirklich stürmisch ist, aber das Haus widersteht, gottlob, dem Sturm; und dann ist wieder die erste Schwalbe da, und Pfarrer Woodforde läßt seine Windhunde über die Felder jagen.
Deutsch von Helmut Viebrock
Nichts ist beim Lesen der Biographie Crabbes[37] bemerkenswerter als seine Leidenschaft für Wildkräuter. Nach dem Tode seiner Frau – sie war die letzten Jahre ihres Lebens geisteskrank, abwechselnd melancholisch und euphorisch – gab er das Sammeln von Wildkräutern auf und wandte sich Fossilien zu. Aber er unternahm seine Fossiliensuche immer allein; wenn allerdings Kinder nicht lockerließen und mitkommen wollten, ließ er es zu und ertrug sie. »Mit Fossilien spielen« nannte er es. Wenn er bei seinem Sohn George zu Besuch war, ging er aus, immer allein, um in den Steinbrüchen des blauen Lias, einem Kalkgestein, nach Fossilien zu graben; »und machte halt, um jedes nicht ganz gewöhnliche Kraut zu schneiden, das an seinem Wege wuchs«; und so kam er immer damit beladen nach Hause. »Die schmutzigen Fossilien wurden in unser bestes Schlafzimmer gebracht, zum großen Vergnügen des weiblichen Teils meiner Familie, die Kräuter wurden in die Rabatten gesteckt, zwischen meine erlesenen Blumen, damit er sie sehen könnte, wenn er wiederkäme. Ich habe niemals eines von ihnen verpflanzt.« Dieser knorrige, vom Meersalz gehärtete Mann war unter der Oberfläche kein selbstgefälliger geistlicher Herr. Er war voller Leidenschaft für das verworfene und verwundete, das verkümmerte, das abgehärtete, das selbst-ausgesät wilde, sich selbst tragende unansehnliche Wildkraut. Er war selbst ein Wildkraut. Seine Geburt und Erziehung waren die Wildkräuter gewesen – in Aldeburgh, wo er am Weihnachtsabend 1754 geboren wurde. Sein Vater war Lagerverwalter und brachte es zum Einnehmer der Salzsteuer oder »Salzmeister« in jenem elend öden Dorf am Meer, dessen Wellenrauschen nie aus Georges Ohren wich, selbst nicht in Belvoir oder Troubridge. Seine Mutter hatte eine Schankwirtschaft betrieben, und sein Vater, ein untersetzter‚ kräftiger Mann, der manchmal seinen Kindern aus Dichtungen vorlas – Milton oder Young[38] –, aber sich am liebsten mit Mathematik befaßte, wurde, aufgrund des Todes seiner einzigen Tochter, manchmal gewalttätig, ihr »frühzeitiger Tod entpresste ihm jene düsteren und wilden Anzeichen des Elends, die, fünfzig Jahre danach, das Gedächtnis seines sanfteren Sohnes heimsuchen sollten«. Seine Mutter war fromm, schicksalsergeben, und wassersüchtig.
Solchergestalt also war sein ursprüngliches wildwüchsiges Leben, wo er auf den Kaimauern Fässer rollte und auf ein Signal von hoher See her wartete. Und nichts ist bemerkenswerter, als daß dieser blasse Junge sich ein für allemal, kraft eines einzigen Briefes an Burke,[39] zu einer annehmlichen, gebildeten, wohlgepolsterten Laufbahn auf Lebenszeit emporgeschwungen hätte. Nichts derartiges wäre heute möglich. Burke ist durch die Grundschule und Stipendien ersetzt worden.