Das Trauma von Flucht und Vertreibung - Meinolf Peters - E-Book

Das Trauma von Flucht und Vertreibung E-Book

Meinolf Peters

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Beschreibung

Immer mehr ältere Menschen beginnen eine psychotherapeutische Behandlung. Viele von ihnen haben in ihrer Kindheit und Jugend Fluchterfahrungen gemacht, die nun im Alter wieder in den Vordergrund rücken. Meinolf Peters zeigt, wie TherapeutInnen und BetreuerInnen damit umgehen können und welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen. Untersuchungen haben ergeben, dass Menschen, die Flucht und Vertreibung erlebt haben, häufig besonders stark traumatisiert sind. Ein möglicher Grund dafür sind die extremen Belastungen, denen sie auf der Flucht ausgesetzt waren und die zu einer Aneinanderreihung von Traumata geführt haben. Im Alter kehren diese Erinnerungen oft mit Macht zurück. Sie machen es den Betroffenen noch schwerer, mit den besonderen Anforderungen des Alterns umzugehen. Da die Zahl älterer PatientInnen in der Psychotherapie und in stationären Einrichtungen in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat, ist es nötig, auf die spezifischen Traumata dieser Altersgruppe gezielt einzugehen. Auch für die Nachfolgegenerationen der Flüchtlinge und Vertriebenen spielen die Flucht- und Vertreibungserfahrungen ihrer Vorfahren eine wichtige Rolle; diesem Umstand muss in der Therapie Rechnung getragen werden. Dieses Buch wendet sich an: - PsychotherapeutInnen aller Richtungen - Psychologische BeraterInnen - Menschen, die Ältere betreuen und begleiten

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Seitenzahl: 379

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Meinolf Peters

Das Trauma von Flucht und Vertreibung

Psychotherapie älterer Menschen und der nachfolgenden Generationen

Impressum

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2018 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © elmue/photocase.de

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-96205-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11039-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20374-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1Einleitung

Teil IDAS HISTORISCHE GESCHEHEN

Kapitel 2Flucht und Vertreibung der Deutschen

2.1 Nazidiktatur, Zweiter Weltkrieg und deutsche Ostgebiete

2.2 Die Flucht aus den deutschen Ostgebieten

2.3 Die Vertriebenen – Hitlers letzte Opfer

2.4 Das Ankommen in der »kalten Heimat«

Exkurs: Die Ablehnung des Fremden

2.5 Das Jahrhundert der Vertreibung

2.6 Folgen für die klinische Praxis

Kapitel 3Die Flucht von Frau A. – ein Erfahrungsbericht

Kapitel 4Das Schicksal der Kinder und Jugendlichen

4.1 Verlust, Trauma, »kalte Heimat«

4.2 Der Kampf der Frauen

4.3 Leben ohne Väter

4.4 Das Erbe der nationalsozialistischen Zeit

4.5 Zwischenfazit: Die Grenzen des Traumakonzeptes

4.6 Das Schweigen der Flüchtlingskinder

4.7 Anpassungs- und Identitätskonflikte

4.8 Resilienz bei Kindern und Jugendlichen

4.9 Folgen für die klinische Praxis

Teil IIZU DEN FOLGEN VON FLUCHT UND VERTREIBUNG

Kapitel 5Das Belastungs-Entwicklungs-Modell

Kapitel 6Psychische Langzeitfolgen von Flucht und Vertreibung

6.1 Psychodynamische Aspekte von Traumafolgestörungen

6.2 Posttraumatische Belastungsstörung im Alter

6.2.1 Diagnose und Symptomatik

6.2.2 Prävalenz der PTBS

6.2.3 Wiederauftreten im Alter?

6.3 Andere krankheitsbezogene Folgen

6.3.1 Psychische Gesamtbelastung

6.3.2 Emotionales Erleben, Beziehung und Kommunikation

6.3.3 Psychiatrische Krankheitsbilder

6.3.4 Somatisierung und körperliche Erkrankungen

6.3.5 Kognitive Einschränkungen und Demenz

6.3.6 Psychosoziale Folgen

6.3.7 Lebensqualität und Kohärenzgefühl

6.4 Zur klinischen Komplexität – Überlegungen zu strukturellen Defiziten

6.5 Bewertung des Forschungsstandes

6.6 Folgen für die klinische Praxis

Kapitel 7Der Schatten auf den nachfolgenden Generationen

7.1 Zur Relevanz transgenerationaler Prozesse

7.2 Formen belasteter Entwicklung

7.2.1 Trauma und unbewusste Identifizierung

7.2.2 Trauma und desorganisierte Bindung

7.2.3 Parentifizierung und erschwerte Separation

7.2.4 Die »doppelte« Identität

7.3 Transgenerationale Reifung und Generativität

7.4 Folgen für die klinische Praxis

Kapitel 8Verlust, Trauma und der Prozess des Alterns

8.1 Zur doppelten Dynamik heutigen Alterns

8.2 Warum die Vergangenheit im Alter näherrückt

8.2.1 Der natürliche Lebensrückblick im Alter

8.2.2 Zu den Folgen neuropsychologischer Veränderungen

8.2.3 Zum Konzept der Trauma-Reaktivierung

8.2.4 Altern und frühe Traumata – ein interaktiver Prozess

Exkurs: Heimatgefühle im Alter

8.3 Ein entwicklungspsychologischer Rahmen – die Bindungstheorie

8.4 Im Spannungsfeld von Alter, Verlust und Trauma – Fallvignetten

8.4.1 »Ich wollte ein Buch über Ostpreußen schreiben.«

8.4.2 »Der Zug, der niemals kam«

8.4.3 »Die Geige als symbolisches Objekt«

8.5 Was ist gutes Altern – Integration oder Ambivalenzerfahrung?

8.6 Folgen für die klinische Praxis

Kapitel 9Ein kritischer Zwischenruf

Teil IIIPSYCHOTHERAPEUTISCHE UND ANDERE HILFEN

Kapitel 10Psychotherapie bei Älteren mit Flucht- oder Vertreibungshintergrund

10.1 Entwicklung und Stand der Alterspsychotherapie

10.2 Von der Verborgenheit des Alters in der Psychotherapie

10.3 Grundelemente der Psychotherapie mit Älteren

10.3.1 Diagnostische Aufgaben

10.3.2 Zur Frage der Indikation

10.3.3 Therapieziele und Ressourcenorientierung

10.3.4 Entwicklung der Psychotherapiemotivation

10.3.5 Facetten der therapeutischen Beziehung

10.3.6 Zur Eigenübertragung des Therapeuten

10.3.7 Therapeutische Haltung und Interventionstechnik

10.3.8 Der »Trauer-Befreiungs-Prozess«

10.4 Traumatherapie mit Älteren

10.4.1 Stabilisierung und Sicherheit

10.4.2 Imaginative Techniken

10.4.3 Ressourcenorientierung

10.4.4 Traumabearbeitung

10.4.5 Narrativer Ansatz

10.4.6 Wie sinnvoll ist Traumatherapie mit Älteren?

10.5 Alterspsychotherapie und Traumatherapie – zwei konvergente Perspektiven

10.6 Behandlungsergebnisse

10.7 Folgen für die klinische Praxis

Kapitel 11Kasuistische Darstellung – das »Petticoat-Kind«

11.1 Der aufgeschobene Therapiebeginn

11.2 Zur Lebensgeschichte

Lebensgeschichtliche Hintergründe

Die Flucht

Das Ankommen

Die eigene Familie

Das Älterwerden

11.3 Psychodynamische Überlegungen

11.4 Der therapeutische Prozess

Therapeutische Beziehung

Anbahnung der Therapie und therapeutische Themen

Traumabearbeitung

Integration und kohärentes Narrativ

Ich-Fähigkeit und Ressourcen

Zum Behandlungsergebnis

Kapitel 12Flucht- und Vertreibungsfolgen in der Versorgung älterer Menschen

12.1 Zur Versorgung beeinträchtigter älterer Menschen

12.2 Die ambulante Versorgung

12.2.1 In der ambulanten Psychotherapie

12.2.2 In der Ehe- und Lebensberatungsstelle

12.2.3 In der Seniorenberatung

12.3 Die stationäre Versorgung

12.3.1 In der psychosomatischen Klinik

12.3.2 In der gerontopsychiatrischen Klinik

12.3.3 In der geriatrischen Klinik

12.3.4 Im Pflegeheim

12.4 Folgen für die klinische Praxis

Teil IVABSCHLUSS

Kapitel 13Dürfen sich Deutsche als Opfer fühlen?

Kapitel 14Was wir aus der Geschichte lernen können

Literatur

Vorwort

Ich entstamme keiner Flüchtlings- oder Vertriebenenfamilie, das Interesse am Thema resultiert also nicht aus eigener Betroffenheit. Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Dorf in der Nähe der holländischen Grenze. Der Krieg war natürlich auch bis dorthin gekommen, und die Stadt, in deren Einzugsbereich das Dorf liegt, war völlig zerstört worden. Geboren 1952, kann ich mich an Kriegstrümmer und auch an »Nissenhütten« gut erinnern.

Kriegsgeschehnisse wirken tief in das Leben der Einzelnen und der Familien hinein, und manchmal nimmt das Zusammenwirken von Privatem und Öffentlichem bizarre Formen an: In unserem Haus waren zahlreiche ausgebombte Familienmitglieder untergekommen, was eine höchst spannungsreiche Situation gewesen sein muss. Diese besonderen Umstände führten dazu, dass sich mein Vater siebzehnjährig freiwillig zur Wehrmacht meldete, um vor Familienkonflikten und der offenbar unerträglichen häuslichen Situation zu fliehen. Auch ich versäumte es zu Lebzeiten, ihn zu fragen, was er dort als junger Mann, ja eigentlich noch als Jugendlicher, erlebt hat und wie er dazu stand. Auch in unserer Familie war alles das kein Thema. Erst sehr viel später ergriff mein Neffe, Dr. Stephan Peters, also bezeichnenderweise ein Angehöriger der Enkelgeneration, die Initiative, genauere Nachforschungen anzustellen. Wir konnten bald – wenn auch grob – rekonstruieren, welchen Weg mein Vater durch Osteuropa genommen hatte, und eine Tatsache beschäftigte uns dabei besonders: Er gehörte nämlich einer Aufklärungskompanie der 6. Division an, und das weckte in uns die Vorstellung, dass er hier höchst riskante Aufträge zu erfüllen hatte. Es ist zu spät, ihn zu fragen, was er dabei erlebt hat, aber auch, was er dabei getan hat, wir können es nur erahnen. Die Erfahrung, dass auch ich einen schweigsamen Vater erlebt habe, zu dem eine persönliche Beziehung nur schwer zu finden war, gibt zu einigen Vermutungen Anlass.

Warum schreibe ich das? Das Thema dieses Buches beschäftigt sich mit den Folgen dessen, woran auch mein Vater beteiligt war, und sich über diesen persönlichen Hintergrund Rechenschaft abzulegen halte ich für eine unverzichtbare Voraussetzung, um sich einer solchen Arbeit mit dem erforderlichen Engagement, aber auch der gebotenen Distanz widmen zu können. Nicht nur in jeder Therapie ist es sinnvoll, dass sich der Psychotherapeut über die eigene innere Beteiligung Klarheit verschafft. Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit einem Thema erfordert es, diese Hintergründe zu klären und die persönlichen Motive zu reflektieren, die dazu geführt haben, sich eines bestimmten Themas anzunehmen. Dies gilt nicht zuletzt dann, wenn man für lange Zeit nicht mehr von diesem Thema loskommt, wie es mir ergangen ist. Gerade die Behandlung Älterer erfordert eine selbstreflexive, historisch aufgeklärte Haltung, und nur wenn Psychotherapeuten diese entwickeln, können sie sich auf eine authentische Begegnung einlassen, die in der Behandlung älterer Patienten unverzichtbar ist.

Ich beschäftige mich seit fast 30 Jahren wissenschaftlich mit dem Thema Alter und behandele seitdem ältere Patienten. Dabei hat mich immer in besonderer Weise fasziniert, wenn die Älteren von ihren durch die historischen Umstände geprägten Erfahrungen berichteten. So wird es möglich, Geschichte unmittelbar zu erleben, nicht als die Geschichte der »großen Männer« und der großen Ereignisse, sondern als oral history, als Geschichte, die Menschen unmittelbar miterlebt haben und die sie auf authentische Art und Weise erzählen können. Und doch hatte auch ich lange Zeit einen blinden Fleck, blieb doch auch bei mir das Thema Flucht und Vertreibung zunächst weitgehend unbeachtet. Ich war beeinflusst von dem politischen Aufbruch der 1960er Jahre, der mich sehr geprägt hat. Vertriebene aber, die rasch mit den Vertriebenenverbänden gleichgesetzt wurden, wurden damals schnell mit Skepsis betrachtet. Die Aufmärsche bei den Treffen der Landsmannschaften, über die regelmäßig in der Tagesschau berichtet wurde, die Menschen in ihren Trachten und die rückwärtsgewandten Reden, die gehalten wurden, alles dies schien die Vorurteile nur zu bestätigen. Doch die älteren Patienten belehrten mich allmählich eines Besseren. Ihren Geschichten von der Flucht und Vertreibung konnte ich mich nicht verschließen, sie weckten zunehmend mein Mitgefühl und Interesse an dem, was wirklich geschehen war. Aber erst die Einladung, bei den Psychotherapiewochen in Lindau 2017 eine Vorlesung zu diesem Thema zu halten, war Anlass, mich intensiv damit zu befassen. Und es ist eine Beschäftigung geworden, die mich lange Zeit nicht mehr losgelassen hat.

Das folgende Buch basiert auf dieser Vorlesung, die ich im Frühjahr 2017 in Lindau gehalten habe. Die große Nachfrage (es gab fast 300 Anmeldungen) sowie die überaus positive Resonanz veranlassten mich, daraus ein Buchprojekt zu machen. Ich bin Herrn Beyer vom Verlag Klett-Cotta dankbar für die positive Unterstützung und die hilfreichen Ratschläge, mit denen er mir zur Seite stand. Ebenso möchte ich meiner Frau, der Diplom-Psychologin Gabriele Herkner-Peters, danken, die das Buch sorgfältig gelesen und korrigiert hat. Dankbar bin ich auch den Patienten und Patientinnen, deren Geschichten ich hier aufschreiben durfte, insbesondere Frau A., deren Geschichte gewissermaßen das Herzstück des Buches bildet.

Meinolf Peters, Oktober 2017

Kapitel 1

Einleitung

Betroffene, die Flucht und Vertreibung als Kinder erlebt haben, sind heute mindestens 70 Jahre alt, ein Alter, in dem nur noch wenige Menschen in Therapie kommen. Greifen wir also nur ein marginales Thema auf, kommen wir möglicherweise zu spät, hätte uns das Thema vor zehn oder zwanzig Jahren beschäftigen müssen? Warum hat uns, die Gruppe der Psychotherapeuten, der Weckruf des Politikwissenschaftlers Arnulf Baring nicht erreicht, als er in einer vielbeachteten Rede auf dem Tag der Heimat im Jahre 2000 anmahnte, sich dieser »vergessenen Opfer« – und damit meinte er die Flüchtlinge und Vertriebenen – zu erinnern. Die Geschichtsvergessenheit tue uns nicht gut, so Baring damals, es sei wichtig, dass die Deutschen insgesamt die eigene Trauer zulassen und nicht weiter wegschieben (Schulze 2001). Doch die Mahnung Barings blieb weitgehend ohne Resonanz, jedenfalls in der Gruppe der Psychotherapeuten. Warum war das so?

Häufig wird darauf hingewiesen, dass Flucht und Vertreibung ein Tabuthema waren. Doch eine solche Behauptung bedarf einer Differenzierung: Das Thema war in der Nachkriegszeit keineswegs vollständig tabuisiert, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Es wurde sogar ein Vertriebenenministerium geschaffen, das unter anderem ein Forschungsprojekt zum Thema Flucht und Vertreibung in Auftrag gab, das eines der größten historischen Forschungsprojekte der Nachkriegszeit überhaupt wurde. Und nicht zuletzt wurde das Thema durch die lange Zeit sehr einflussreichen Vertriebenenverbände wachgehalten. Doch möglicherweise wird gerade dadurch das Problem beleuchtet. Obwohl die Vertriebenenverbände zumindest in den Anfangsjahren stark sozialdemokratisch orientiert waren und sich viele »Versöhner« darunter befanden, so hatten doch meist die »Hardliner« die Oberhand. Die Politik der Vertriebenenverbände, die lange von allen Parteien umworben wurden – erst die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt löste Anfang der 1970er Jahre das Ministerium auf – war doch auch rückwärtsgewandt und hielt die illusorische Hoffnung wach, die verlorene Heimat könne wiedergewonnen werden. So stand das jährliche Verbandstreffen der Landsmannschaft Schlesien 1985 unter dem Motto »40 Jahre Vertreibung – Schlesien bleibt unser«. Nach heftigen öffentlichen Protesten musste der damalige Bundeskanzler Kohl seinen Auftritt absagen. Das Festhalten an diesem Ziel aber erschwerte möglicherweise die Auseinandersetzung mit der individuellen Erfahrung von Flucht und Vertreibung, und diese unterlag bis in die heutige Zeit hinein tatsächlich weitgehend einem Tabu. Zu vermuten ist also lange Zeit eine Diskrepanz von öffentlicher Wahrnehmung und persönlichem Verschweigen, in die Sprechstunden der Psychotherapeuten drang das Thema zumindest lange Zeit nicht vor.

Doch wären die Psychotherapeuten offen gewesen für dieses Thema, hätten die Patienten Gehör gefunden? Seit der Protestbewegung der 1968er Jahre wurde die Frage nach der Verantwortung der Deutschen für die Vorgänge während des Dritten Reiches und für die im Krieg begangenen Verbrechen gestellt, doch das Thema Flucht und Vertreibung wurde dabei vermieden. Linke und Liberale schwiegen, aus Desinteresse oder aus Angst vor dem Vorwurf, die Forderungen der Vertriebenenverbände zu teilen und als Revanchisten gescholten zu werden. Die Mehrzahl der Psychotherapeuten entstammt diesem linksliberalen Milieu und wurde von dieser Haltung der Ablehnung, des Desinteresses und des Beschweigens geprägt, vermutlich sogar dann, wenn es Vertreibungserfahrungen in der eigenen Familie gab.

Heute dürfte eine solche ideologische Voreingenommenheit weitgehend überwunden sein, und auch die Macht der Vertriebenenverbände ist geschwunden. Das schaffte u. a. die Voraussetzungen dafür, dass das Buch von Günter Grass mit dem Titel Im Krebsgang, das 2002 erschien, zu einem solch großen Erfolg werden konnte und das Thema fast über Nacht im Fokus der Öffentlichkeit stand. Etwa zur gleichen Zeit hatte ein umfassender Kriegskinderdiskurs begonnen. Es war insbesondere Hartmut Radebold, der diesem auch dadurch Impulse verlieh, dass er in seinem ersten Buch über die verlorenen Väter seine eigene Geschichte aufgriff und auf beeindruckende Weise in die wissenschaftlich-psychoanalytische Analyse einbezog (Radebold 2000). So wurde das Thema auch innerhalb der Gruppe der Psychotherapeuten verstärkt aufgenommen, auch wenn Flucht und Vertreibung zunächst ein Unterkapitel des Themas Kriegskindheit blieb.

Doch auch noch auf andere Art und Weise rückte das Thema vermehrt in den Fokus der Psychotherapeuten, nämlich durch die Patienten selbst. Ältere Patienten kommen heute erstmals in größerer Zahl in die Psychotherapie, allerdings eher die »jungen Alten«, das heißt die Gruppe der Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen (Peters et al. 2013). Diese können möglicherweise leichter über die Geschehnisse sprechen, wenn es etwa darum geht zu klären, ob sie etwa selbst in ihrem Leben transgenerationalen Aufträgen gefolgt sind, die auf die Flucht- oder Vertreibungsgeschichte der eigenen Familie zurückgingen. Diejenigen allerdings, die dieses Schicksal am eigenen Leibe erfahren haben, sind heute in einem Alter, in dem nur noch wenige in Psychotherapie kommen. Wenn wir aber nicht nur den ambulanten Sektor im Blick haben, sondern stationäre Behandlungsmöglichkeiten in den Kliniken und in der Pflege einbeziehen, also Bereiche, in denen vornehmlich Hochaltrige behandelt oder versorgt werden, dann gewinnt gerade jetzt das Thema zunehmend an Brisanz, und es ist an der Zeit, den dort Tätigen mehr Wissen und Verständnis für Zusammenhänge zu vermitteln, die ihnen den Umgang mit den alten Menschen erleichtern können.

Es ist also nicht zu spät, dem Thema einen größeren Stellenwert einzuräumen und es in all seinen Facetten zu beleuchten; dies soll in dem vorliegenden Buch geschehen. Dazu bedarf es einiger Vorbemerkungen, einer Präzisierung und Eingrenzung, aber auch Vorentscheidungen. Zunächst einmal sei auf den Titel des Buches hingewiesen, in dem das Trauma von Flucht und Vertreibung pointiert hervorgehoben wird. Tatsächlich handelt es sich um ein traumatisches Geschehen, jedenfalls für die meisten Betroffenen. Dennoch greift der Begriff auch zu kurz, da das höchst komplexe Geschehen mit dem Begriff des Traumas nur unzureichend erfasst wird. Dass ich mich trotz der Einschränkungen, die im Verlauf der Ausführungen vorzunehmen sein werden, für diesen Begriff im Titel entschieden habe, hat damit zu tun, dass er doch den Kern des Geschehens hervorhebt.

Im Buch werden zwei historische Ereignisse behandelt, die meist in einem Atemzug genannt werden, nämlich Flucht und Vertreibung. Die mit beiden Ereignissen verbundenen Folgen mögen in mancherlei Hinsicht vergleichbar sein, und beide Gruppen, Geflohene und Vertriebene, verschmolzen nach ihrem Ankommen im Westen mehr und mehr zu einer. Dies fand auch Eingang im Bundesvertriebenengesetz 1950, in dem das Wort »Flüchtling« für diejenigen reserviert wurde, die aus der sowjetischen Besatzungszone geflohen sind (Kossert 2009). Ansonsten wurde im Gesetz der Begriff Vertriebene für die Gesamtgruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen verwendet. Ich halte diese Verkürzung für problematisch (vgl. Kap. 13), handelt es sich bei Flucht und Vertreibung doch um zwei historische Ereignisse, die es zu unterscheiden gilt. Ich werde in diesem Buch daher durchgehend von Flüchtlingen und Vertriebenen sprechen, wobei noch hinzugefügt sei, dass es sich genau genommen dann, wenn es sich um die heutigen Älteren handelt, um ehemalige Flüchtlinge und Vertriebene handelt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass dieser Umstand bei den Betroffenen doch immer Teil der eigenen Identität bleibt, selbst wenn andere Identitätsanteile überwiegen.

Schließlich geht es um die Verwendung der Begriffe Kriegskinder und Kriegsenkel. Beide sind nicht spezifisch auf die Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen bezogen, schließen diese aber ein. Im Grunde sind sie aber weniger klar als sie auf den ersten Blick erscheinen. Mit Kriegskindern sind nach Radebold (2003) die Jahrgänge 1930 bis 1948 gemeint, die NS-Staat und Krieg als Säuglinge, Kinder und Jugendliche erlebt haben. Er schließt diese Gruppe aber nicht mit dem Jahrgang 1945 ab mit der Begründung, dass die unmittelbar darauffolgenden Jahrgänge in ihren ersten Lebensjahren noch sehr unter Eindruck der Kriegsgeschehnisse standen. Erst die Kinder der Kriegs- und Nachkriegskinder seien dann als Enkel zu bezeichnen. Sabine Bode (2009) verwendet den Begriff der Kriegsenkel auf die ab 1960 Geborenen, also die Kinder der Kriegskinder. Was aber ist mit den dazwischenliegenden Jahrgängen? Bode (2011) löst das Problem, indem sie sie in einem weiteren Buch als Nachkriegskinder bezeichnet, gewissermaßen als Zwischengeneration (More 2013). Hier soll es zunächst nur um die jahrgangsbezogene Zuordnung gehen, die inhaltliche Problematik der Begrifflichkeiten werde ich später ebenso aufgreifen wie die Vermeidung der Begriffe »zweite« und »dritte Generation«. Ich habe mich entschieden, zwischen denjenigen, die Flucht und Vertreibung selbst erlebt haben, also der Erlebnisgeneration, und allen anderen zu unterscheiden, unabhängig davon, ob es sich bei Letzteren um Kinder der Geflohenen oder Vertriebenen handelt, die im Westen geboren wurden, oder bereits um Kinder derjenigen, die Flucht und Vertreibung als Kinder oder Jugendliche erlebt haben. Beide Gruppen bezeichne ich als die nachfolgenden Generationen.

Diese Bemerkungen sollen fürs Erste genügen, um zu zeigen, welche Vorentscheidungen ich getroffen habe, und um eine Orientierung bei der Lektüre dieses Buches zu schaffen. Weitere Begründungen dafür, warum ich diese Festlegungen und Eingrenzungen vorgenommen habe, finden sich im Verlauf des Buches. Dabei wird auch deutlich werden, dass es nicht allein um begriffliche Festlegungen geht, sondern dass dahinter unterschiedliche Auffassungen stehen. Es ist nicht unerheblich, dass es sich um ein historisches und damit auch politisches Thema handelt, das nicht frei von Kontroversen ist.

Teil I

DAS HISTORISCHE GESCHEHEN

Kapitel 2

Flucht und Vertreibung der Deutschen

2.1 Nazidiktatur, Zweiter Weltkrieg und deutsche Ostgebiete

Die Zeit der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkrieges muss als das dunkelste Kapitel in der deutschen Geschichte betrachtet werden. Mit dem Überfall auf Polen 1939 stürzte Nazideutschland ganz Europa und weitere Teile der Welt in eine Katastrophe. Am Ende hatten Schätzungen zufolge ca. 50 Millionen Menschen ihr Leben verloren, davon die Hälfte Zivilisten. Allein ca. 27 Millionen Sowjetbürger kamen ums Leben, davon etwa 8,6 Millionen Soldaten, sowie nahezu 6 Millionen Polen. Und auch Deutschland selbst verzeichnete mit 3,5 Millionen gefallenen Soldaten und 3 Millionen getöteten Zivilisten hohe Verluste (Davies 2009). Deutschland selbst lag am Ende des Krieges in Schutt und Asche, unersetzliche Kulturgüter waren für immer zerstört.

Flucht und Vertreibung, die bereits vor seinem Ausbruch begannen, waren ein wesentlicher Bestandteil, ja eine Strategie dieses Krieges. In den deutschen Ostgebieten (Ostpreußen, Pommern, Ostbrandenburg, Schlesien, Freie Stadt Danzig) lebten fast zehn Millionen Menschen. Aber auch in den anderen osteuropäischen Ländern wie Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Jugoslawien und der Sowjetunion lebten insgesamt etwa fünf Millionen Deutsche. Sie hatten sich dort bereits seit dem Mittelalter angesiedelt, bevölkerten vormals menschenleere Gebiete und trugen zur Entwicklung des Wirtschaftslebens bei. Über Jahrhunderte lebten die Deutschen mit der einheimischen Bevölkerung friedlich miteinander. Doch Hitler propagierte nun die »Heim-ins-Reich-Politik« und beabsichtigte Millionen der sogenannten Volksdeutschen »heim ins Reich« zu holen; in zahlreichen bilateralen Verträgen wurde ihre Rückführung vereinbart. In Wirklichkeit verbarg sich dahinter Hitlers rassistisches Weltbild, das die Deutschen zu Herrenmenschen und die slawischen Völker zu Untermenschen erklärte, vor allem aber auch seine expansionistischen Bestrebungen. Ihm ging es um die Verschiebung von Grenzen, um dann die Bevölkerungsverhältnisse des »Großdeutschen Reiches« durch Umsiedlungen und Vertreibungen gewaltsam anzupassen (Knopp 2001). Diese Politik der »ethnischen Flurbereinigung«, wie ein SS-Mann sie einmal beschrieb, mündete schließlich in die Vertreibung der jüdischen Mitbürger aus ihren Häusern und Wohnungen und ihren Abtransport in Ghettos und schließlich in die Vernichtungslager. Das war gewissermaßen eine Vertreibung mit dem Ziel der vollständigen Vernichtung. Am Ende des Krieges waren ca. 5,5 Millionen Juden in den Konzentrationslagern ums Leben gekommen, zudem auch andere Minderheiten wie beispielsweise die sogenannten Zigeuner.

Die nächste Vertreibungswelle setzte nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen ein. Millionen Polen wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, und in die Ostgebiete Polens vertrieben, die nach dem Stalin-Hitler-Pakt den Sowjets überlassen worden waren. Schließlich verschleppten die Deutschen Millionen Menschen aus Polen, der Ukraine, Weißrussland und Russland als Zwangsarbeiter nach Deutschland, am Kriegsende waren es ca. 5,7 Millionen (Beer 2011). Als sogenannte displaced persons kehrten sie nach Ende des Krieges in ihre Heimatländer zurück, wobei sie in Russland oft genug erneut in Zwangslagern landeten. Bevor also die Deutschen fliehen mussten oder vertrieben wurden, waren es zunächst andere Völker, die dieses Schicksal erlitten, verursacht von der Deutschen Wehrmacht, der Gestapo und der SS.

Als sich das Blatt des Krieges nach der Schlacht um Stalingrad wendete, die Niederlage Deutschlands absehbar wurde und die Rote Armee immer weiter vorrückte, wurde auch die Flucht der Deutschen, vornehmlich aus den deutschen Ostgebieten, das heißt Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien unvermeidlich. Zwei Drittel der 12 bis 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen (Faulenbach 2012) stammten aus Gebieten des Reiches, die heute größtenteils zu Polen gehören. Diese Tatsache hat lange Zeit zu einem angespannten Verhältnis zwischen Deutschland und Polen beigetragen. Polen selbst wurde mit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 praktisch aufgelöst, und nach dem Krieg konnte Stalin durchsetzen, dass er die Ostgebiete Polens behielt, während die ehemaligen deutschen Ostgebiete Polen zugeschlagen wurden, im Grunde mit Billigung der alliierten Mächte. Polen wurde als Staat praktisch völlig neu gegründet. Die Vertreibungen nach dem Krieg dienten dazu, die ethnischen Verhältnisse dem neuen Grenzverlauf anzupassen.

Eine andere Vorgehensweise lag der Zwangsmigration des einen Drittels der Vertriebenen zugrunde, die aus den Gebieten außerhalb der Reichsgrenzen stammten (Lemberg & Franzen 2001). Diese Vertreibungen gingen wesentlich auf das Betreiben Stalins zurück, wurden aber von den Alliierten geduldet. Allerdings hatte es auch bereits zu Beginn der 1940er Jahre in Großbritannien Überlegungen gegeben, die sogenannte volksdeutsche Bevölkerung nach Kriegsende umzusiedeln – Überlegungen, die dem Gedanken des Lausanner Vertrages folgten, dass ethnisch einheitliche Nationalstaaten eher dem Frieden dienten. Auch wenn die Vertreibung somit in einen größeren historischen Kontext einzuordnen ist und heute auch von den osteuropäischen Ländern, aus denen die Deutschen damals vertrieben wurden, als Unrecht anerkannt wird, so schuf doch das nationalsozialistische Deutschland mit seiner Besatzungs-, Umsiedlung- und Vernichtungspolitik hierfür die Voraussetzungen (Beer 2011, 2012). Allein Nazideutschland trägt die Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg, und damit sind auch die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen Hitlers Opfer.

Die Zahl der Todesopfer während der Flucht und Vertreibung war enorm hoch, zum einen als Opfer reiner Gewaltakte im Zuge der militärischen Besetzung, ebenso jedoch durch Internierungen, Zwangsarbeit einschließlich Verschleppung in die Sowjetunion, die Opfer der sogenannten »Wilden Vertreibungen« u. a. mehr. Das Statistische Bundesamt hat 1950 aus allen Unterlagen eine Gesamtzahl von 1,2 Millionen Flucht- und Vertreibungsopfern allein in jenen Regionen berechnet, die nach dem Krieg in den Besitz Polens und der Sowjetunion übergingen. Die übrigen Vertreibungsregionen hinzugenommen, wurde die Zahl von 2,3 Millionen Deutschen ermittelt, die Flucht und Vertreibung und deren Folgen zum Opfer gefallen sind (Zeidler 2012). Die prozentuale Todesrate lag aufgrund erbitterter Gefechte in Ostbrandenburg mit 35 Prozent der Gesamtbevölkerung am höchsten, gefolgt von 20 Prozent in Ostpommern, 20 Prozent in Danzig, 14 Prozent in Ostpreußen, 10 Prozent in Schlesien und 7 Prozent im Sudetenland. In der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen war die Zahl der Todesopfer also deutlich höher als die ca. 1 170 000 deutschen Zivilisten, die dem Krieg zum Opfer fielen.

2.2 Die Flucht aus den deutschen Ostgebieten

Bilder, die heute vermutlich jeder vor Augen hat, der mit dem Thema Flucht und Vertreibung konfrontiert wird, verbinden sich mit der Flucht aus Ostpreußen. Die Bilder zeigen endlose Trecks, die über Land zogen, dann über das zugefrorene Frische Haff zur Nehrung, einer schmalen Landzunge, um die Schiffe zu erreichen, die den Transport in den Westen versprachen. Es sind Bilder des Grauens, von im Eis eingebrochenen Pferdewagen, von Toten, die zurückbleiben mussten, und verzweifelten, frierenden, erschöpften und hungernden Menschen. Wie konnte es dazu kommen, und warum gerade in Ostpreußen? Von Bedeutung dabei ist, dass die Bedrohung dort lange Zeit nicht wahrgenommen wurde, selbst dann nicht, als im Herbst 1944 die Rote Armee einen ersten Angriffsversuch unternahm, der zunächst zurückgeschlagen werden konnte. Ostpreußen galt lange Zeit als sicher und wurde als die Kornkammer des Deutschen Reiches betrachtet, und vielleicht war auch von Bedeutung, dass Ostpreußen mit einem gewissen Mythos umgeben war und die Bevölkerung in einem trotzigen Beharren auf einer Art Heimatrecht bestand. All dies führte sogar dazu, dass zahlreiche vollbesetzte Züge eintrafen mit Menschen, die vor den alliierten Angriffen im Westen in Ostpreußen Schutz suchten. Insbesondere gilt dies auch für die sogenannte Kinderlandverschickung, die dazu dienen sollte, Kinder aus bedrohten Gebieten in sichere Gegenden zu verbringen, und als sicher galt eben auch Ostpreußen. Von den insgesamt ca. zwei Millionen Kindern, die im Rahmen dieser Maßnahmen in die Fremde verfrachtet, das heißt von den Eltern, Geschwistern und Freunden getrennt wurden, kamen viele nach Ostpreußen. Und nicht zuletzt hatte dort Hitler die »Wolfsschanze« bauen lassen, das geheime militärische Lagezentrum. Man glaubte, dass die alliierten Bomber nicht so weit würden fliegen können; dies war eine Fehlannahme, wie sich zeigte, als Königsberg im August 1944 von britischen Bombern in Schutt und Asche gelegt wurde.

Alles das führte fatalerweise dazu, dass Koch, der Gauleiter Ostpreußens, sich weigerte, eine rechtzeitige Evakuierung anzuordnen. Er verbot der Bevölkerung sogar, sich auf eine Flucht vorzubereiten: Jeder, der dabei entdeckt wurde, war vom Tod bedroht. Doch allzu viele glaubten vermutlich auch den Durchhalteparolen und Beschwichtigungsformeln. Das dürfte auch daran gelegen haben, dass die Nationalsozialisten in Ostpreußen große Zustimmung gefunden hatten; am 5. März 1933 hatten 56,3 Prozent der Bevölkerung für die NSDAP gestimmt, zum Vergleich: In Berlin waren es nur 33 Prozent gewesen. So bestand vermutlich eine ambivalente Haltung zur Flucht, und der Angriff der Roten Armee am 12. Januar 1945 traf die deutsche Bevölkerung völlig unvorbereitet, zumal die deutschen Truppen ihm nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Schrecken und Panik lösten auch die Ereignisse in Nemmersdorf aus, wo russische Soldaten ein ganzes Dorf bestialisch töteten. Der Bevölkerung war durchaus bekannt, dass von russischer Seite Racheakte zu erwarten waren für das, was die deutsche Wehrmacht und SS in Russland angerichtet hatten; auch das trieb sie in die Flucht. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass trotzdem die Vernichtung der Juden, auch in Ostpreußen, bis zuletzt weiterging, davon zeugt etwa der Todesmarsch von Palmnicken.

Die Menschen packten das Allernötigste zusammen und verließen über Nacht ihr Zuhause, um sich auf einen Weg voller Ungewissheiten und Gefahren zu machen, zumal es im Januar 1945 bitterkalt war und der Schnee teilweise meterhoch lag. Diejenigen, die nicht flohen, waren den Rachefeldzügen sowjetischer Soldaten ausgesetzt, die plünderten, misshandelten, vergewaltigten und willkürlich töteten. Die sowjetischen Soldaten hatten die Zerstörungen in ihrem Lande gesehen, die zweifellos den Wunsch nach Rache erzeugten. Aber auch die sowjetische Propaganda trug das Ihre dazu bei. Der Journalist Ilja Ehrenburg hörte auf, zwischen der Naziführung und dem deutschen Volk zu unterscheiden, er bezeichnete die Deutschen als Volk von Barbaren und Verbrechern. Die militärische Führung versuchte diese Entdifferenzierung sogar zum Teil zu stoppen, doch mit wenig Erfolg, so dass die Bevölkerung der Willkür und Gewalt der Roten Armee hilflos und schutzlos ausgeliefert war.

Die Rote Armee schaffte es aufgrund ihrer erdrückenden Übermacht – ca. 1,6 Millionen Soldaten waren beteiligt – rasch, bei Elbing bis an die Ostsee vorzustoßen, so dass über 2,5 Millionen Menschen in Ostpreußen vom Reichsgebiet abgeschnitten waren. Ihnen blieb nur die Flucht mit dem Schiff von Pillau, Danzig oder Gotenhafen (heute Gdingen) aus. Um dorthin zu gelangen, mussten sie über das zugefrorene Haff, um die ca. 50 Kilometer lange Landzunge, die Nehrung, zu erreichen. Rasch bildeten sich kilometerlange Trecks, und es begann ein Wettlauf mit dem Tod, ausgesetzt der eisigen Kälte bis unter minus zwanzig Grad, immer in der Gefahr, im Eis einzubrechen oder von russischen Bombern angegriffen zu werden. Für diese waren die Trecks ein leichtes Ziel und sie vermuteten in ihnen fliehende deutsche Soldaten.

Die Menschen strebten in die Hafenstädte in der Hoffnung, dort ein Flüchtlingsschiff erreichen zu können, das sie in den Westen bringen würde. Eines davon war die »Wilhelm Gustloff«, ein modernes Kreuzfahrtschiff, nun eingesetzt um Flüchtlinge zu transportieren. Als es am 20. Januar 1945 mit 10 000 Flüchtlingen völlig überlastet Gotenhafen verließ, ahnte niemand die Katastrophe, die bald folgen würde: Ein russisches U-Bott versenkte die »Gustloff« und verursachte damit eines der größten Schiffsunglücke überhaupt. Nur etwa 1000 Passagiere konnten gerettet werden. Es sollte nicht das letzte versenkte Schiff bleiben. Von den bis zu 2,5 Millionen Menschen, die 1944/45 versuchten, mit Schiffen der deutschen Handels- oder Kriegsmarine über die Ostsee in den Westen gelangen, verloren über 20 000 ihr Leben, die Ostsee wurde zum Flüchtlingsgrab.

Die Flucht beschränkte sich nicht auf Ostpreußen, sondern erfasste bald auch Pommern, von wo aus ebenfalls viele Menschen versuchten, die Schiffe zu erreichen. Auch aus Schlesien setzte eine große Fluchtbewegung ein, als sich im Januar 1945 die Rote Armee näherte. Hier hatte der berüchtigte Gauleiter Hanke eine rechtzeitige Evakuierung verhindert, er hielt an dem Wahn fest, Breslau zur Festung zu machen, um den Angriff der Roten Armee zurückzuschlagen. Dies ging so weit, dass er in Breslau ganze Straßenzüge sprengen ließ, um deutsche Verteidigungslinien errichten zu lassen. Verteidigt werden sollte Schlesien überwiegend mit Kindersoldaten.

Breslau war zum Schmelztiegel geworden, die Industrie funktionierte noch; es galt ebenfalls als sicher. Deshalb hatten viele Menschen hier Zuflucht gesucht, zuletzt war Breslau von 600 000 auf ca. eine Million Einwohner angewachsen. Als die Rote Armee näherrückte, wurde über Nacht der Exodus von über 600 000 Menschen angeordnet, nicht etwa um zu kapitulieren, sondern um sich ohne Rücksichten einem völlig aussichtslosen Kampf zu stellen. In Breslau wurde bis zwei Tag vor Kriegsende gekämpft, der dafür maßgeblich Verantwortliche, Gauleiter Koch, verschwand in letzter Minute mit einem Flugzeug und wurde nie mehr gefunden.

Auch aus Breslau hatten sich die Menschen bei eisiger Kälte in Bewegung setzen müssen, auf dem »Todesmarsch der Mütter« kamen etwa 18 000 Menschen ums Leben, die Toten blieben am Straßenrand liegen. Viele flohen zunächst nach Dresden, das auch als sicher galt, bis es am 14. Februar 1945 in einem Flammeninferno unterging.

Noch ein weiteres Kapitel ist zu erwähnen, nämlich die Deportation deutscher Zivilbevölkerung in die Sowjetunion. Stalin betrachtete diese im Rahmen der Reparationsforderungen als gerechtfertigt, und Churchill und Roosevelt akzeptierten das Vorgehen auf der Konferenz von Jalta. So wurden viele Deutsche, vornehmlich Frauen, – Schätzungen gehen von etwa 500 000 Menschen aus (Kuhn 2016) – aus den Ostgebieten, aber auch aus Jugoslawien, Rumänien und anderen Staaten in die Sowjetunion verschleppt und dort in Arbeitslager verbracht. Unter ihnen waren viele Jugendliche. Die Lebensbedingungen waren äußerst hart, härter noch als die der Kriegsgefangenen, und unzählige Menschen kamen ums Leben. Man schätzt, dass etwa 45 Prozent der Verschleppten ums Leben gekommen sind (Kuhn 2016).

2.3 Die Vertriebenen – Hitlers letzte Opfer

Als am 8. Mai 1945 die Waffen schwiegen, war das Leid keineswegs beendet. Aust & Burgdorff (2002) weisen darauf hin, dass sich das Kriegsende in West und Ost fundamental unterschieden hat. Sie sprechen von »zweierlei Kriegsenden«, der historische Ort von Flucht und Vertreibung ist der Osten. Auch deshalb verdient dieses Thema eine eigene Betrachtung, auch wenn der weitere Verlauf, also das Ankommen im Westen und das Aufwachsen der Kinder hierzulande stattfand.

Die Flüchtlinge hatten überwiegend die Hoffnung, ja Überzeugung, bald nach Kriegsende in ihre Heimat zurückkehren zu können. Doch das erwies sich als falsch, der Exodus begann nach Kriegsende erst richtig. Trotz der vier Millionen Geflüchteten lebten auch nach Kriegsende noch ca. fünf Millionen Deutsche in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, jedoch nur noch wenige in Ostpreußen. Für diese Menschen wurde nach Kriegsende die Situation immer unerträglicher. Bereits im Juni 1945 begann die polnische Miliz mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung, die noch östlich der Oder oder Neiße lebte. Diese wurde später »wilde Vertreibung« genannt, weil sie noch vor den Nachkriegsbeschlüssen der Siegermächte stattfand.

Die Weichen für die Vertreibung waren bereits Jahre zuvor gestellt worden, auf Druck Stalins und mit Billigung der Alliierten. Auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 wurde die »Umsiedlung« der Deutschen aus den Ostgebieten endgültig beschlossen und für rechtens erklärt. Stalin hatte die Westverlagerung Polens durchgesetzt, das heißt, der Sowjetunion wurden die Ostgebiete Polens zugeschlagen, während sich Polen bis an die Oder-Neiße-Linie ausdehnen konnte. Etwa 1,5 Millionen Polen, die von den Deutschen vertrieben worden waren, kehrten nun aus den jetzt der Sowjetunion zugeschlagenen Gebieten in die ehemaligen deutschen, nun Polen zugeschlagenen Ostgebiete zurück und vertrieben die hier noch lebenden Deutschen. Mit Billigung der Sowjets wurde bereits vor Ende des Krieges die Verwaltung mehr und mehr den Polen übertragen. Die verbliebenen Deutschen mussten Zwangsarbeit verrichten, ihre Häuser verlassen und wurden teilweise in Lager überführt. Nach dem Beschluss zur »Umsiedlung« der Deutschen begann ihre systematische Vertreibung. Sie wurden ausgeplündert und drangsaliert, in Züge gepfercht, die Frauen nicht selten vergewaltigt.

Der Umsiedlungsbeschluss betraf nicht allein Deutsche in Polen, sondern auch in anderen Staaten, etwa die Sudetendeutschen, die in der nach dem ersten Weltkrieg gegründeten Tschechoslowakei lebten. Die Gebiete der Sudetendeutschen in Böhmen und Mähren waren im Münchener Abkommen 1938 mit Zustimmung der Westmächte dem Deutschen Reich angeschlossen worden. Dieser Anschluss war von der Bevölkerung enthusiastisch begrüßt worden, endlich konnten sie »heim ins Reich«. Als Erklärung für die weitere Entwicklung ist dies ebenso bedeutsam wie die Tatsache, dass die völkisch und antisemitisch ausgerichtete sudetendeutsche Partei zu dieser Zeit 1 350 000 Mitglieder hatte, und das bei insgesamt etwa drei Millionen Sudetendeutschen. Dieser Bevölkerungsteil akzeptierte den Nationalsozialismus in einem Ausmaß wie sonst kaum irgendwo in Deutschland, und sie blieben in einer Verweigerungshaltung gegenüber dem tschechoslowakischen Staat (Brumlik 2005). Nach dem Überfall auf die Tschechoslowakei wurde diese zum »Protektorat Böhmen und Mähren« erklärt, wo fortan wie überall Gestapo und SS Angst und Schrecken verbreiteten. Die Rassenideologie der Nazis sah die »Germanisierung rassisch geeigneter Tschechen« vor (Knopp 2001). Als 1941 der SS-Mann Reinhard Heydrich Stellvertretender Reichsprotektor für Böhmen und Mähren wurde, verschärfte sich die Situation noch einmal. Als er 1942 bei einem Attentat ums Leben kam, nahmen die Deutschen Rache an der tschechischen Bevölkerung. Besonders betroffen war das Dorf Lidice, dessen Bewohner beschuldigt wurden, die Attentäter unterstützt zu haben. Die Bewohner wurden größtenteils ermordet oder in ein KZ verbracht, das Dorf zerstört.

All das schuf eine Stimmung, die sich nach Ende des Krieges gegen die sudetendeutsche Bevölkerung kehrte. Auch hier begann zunächst eine »wilde Vertreibung«. Auf Anweisung der tschechischen Regierung hatten Deutsche ein Stück Stoff mit der Aufschrift »N« für Nemec (deutsch) zu tragen. Sie wurden verfolgt, gedemütigt, ausgeplündert, aus ihren Häusern vertrieben, um anschließend in Zwangslager verbracht zu werden. Auch kam es immer wieder zu Pogromen. Dabei hielt sich die Rote Armee zurück und überließ vornehmlich den Tschechen, insbesondere den Revolutionsgarden das Feld. So kam es etwa zum »Todesmarsch von Brünn«, als alle Deutschen der Stadt verwiesen wurden. Das Vorgehen erregte zunehmend in der internationalen Presse Aufsehen, und die britische Regierung sah sich schließlich zu einem offiziellen Protest veranlasst, der die Situation jedoch nicht veränderte.

Die Vertreibung der Deutschen war von der tschechischen Exilregierung in London unter Edvard Beneš längst vorbereitet worden, in Folge der Potsdamer Beschlüsse wurden die Umsiedlungsmaßnahmen von den Siegermächten akzeptiert; schließlich wollte man weiterhin mit Stalin zusammenarbeiten. In mehreren Dekreten wurde nun die Umsiedlung in etwas geordnetere Bahnen gelenkt. Berühmt wurden vor allem die »Beneš-Dekrete«, die Tschechen und Slowaken erlaubten, sich auf konfisziertem Boden anzusiedeln, und dadurch die entschädigungslose Enteignung aller Deutschen legitimierten.

Hans Hopf (2017): Flüchtlingskinder gestern und heute

Der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut Hans Hopf wurde 1946, damals fünfjährig, mit seinen Eltern als Sudetendeutsche vertrieben. Zwei der Großeltern nahmen sich das Leben. Den Aufbruch schildert er wie folgt: »Wie wenig später in unsere Wohnung, drangen Tschechen auch in die Bäckerei ein und schlugen alle nieder. Das Geschäft wurde beschlagnahmt. Alle mussten sofort flüchten und Hab und Gut zurücklassen. In Verzweiflung und Panik flüchtete meine Großmutter und ertränkte sich in einem nahe gelegenen Teich. Da war sie 73 Jahre alt, ebenso alt wie ich heute.« (S. 29) Etwas später schildert er, wie er und die Eltern verjagt wurden: »Eines Abends brach ein Trupp tschechischer Männer in unsere Wohnung ein. Es war der 8. August 1946. Die Männer schlugen meine Mutter brutal zusammen. Die vielen Bücher, die vom Großvater, einem Gewerkschaftsführer, stammten – Werke von Marx, Engels, Bebel – weckten ihren Zorn. Jedes einzelne Buch schlugen die Männer meiner Mutter auf dem Kopf. Ich habe keine Erinnerung daran, aber meine Mutter erzählte mir später, wie sie verzweifelt versucht habe, mich zur Ruhe zu bringen, weil sie fürchtete, ich würde womöglich ebenfalls misshandelt werden. Wir mussten alles zurücklassen und durften nur einige Koffer mit den wichtigsten Habseligkeiten packen. Am gleichen Tag noch wurden wir in das ehemalige Lager für Fremdarbeiter der Zeiss-Werke in Teplitz-Schönau gebracht. Es wurde damals als Internierungs- und Durchgangslager genutzt, von wo die Deutschen an Orte in anderen Ländern weitergeschickt wurden.« (S. 32)

Ab Anfang 1946 gab es große Transporte Richtung Bayern, im gesamten Jahr 1946 kamen dort etwa 1100 Züge aus Tschechien an. Insgesamt mussten etwa 2,8 Millionen Sudetendeutsche ihre Heimat verlassen. Nachweislich ums Leben kamen dabei ca. 20 000 Menschen, etwa 100 000 weitere starben in der Folgezeit aufgrund von Misshandlungen oder Mangelernährung. Wie verzweifelt die Situation war, zeigt die Zahl von über 5000 Suiziden im Jahre 1946 unter den Sudetendeutschen.

Aus Ungarn, Jugoslawien, den baltischen Staaten und weiteren Ländern, in denen Deutsche lebten, wurden insgesamt noch einmal ca. zwei Millionen Menschen vertrieben. Allein Rumänien verzichtete auf eine Ausweisung der Deutschen, so dass auch heute dort noch deutsche Siedlungsgebiete vorhanden sind (Beer 2012b).

2.4 Das Ankommen in der »kalten Heimat«

Die Vertreibungsmaßnahmen in größerem Umfang zogen sich bis 1948 hin. Bis dahin waren etwa zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in West- und Mitteldeutschland angekommen, meist nach harten, entbehrungsreichen Wochen, ja manchmal Monaten. Damit war das Leid jedoch nicht zu Ende. Zunächst wurden die Menschen in privaten Quartieren untergebracht, was nur über Zwangseinweisungen und die Beschlagnahme von Wohnraum geschehen konnte. Im Krieg war jedoch viel Wohnraum zerstört worden, so dass diese Maßnahmen bald nicht mehr ausreichten. Nun wurden Durchgangs- oder Übergangslager errichtet, vor allem die sogenannten Nissenhütten erlangten einen Symbolcharakter für die Situation der Flüchtlinge und Vertriebenen. Allein in Bayern gab es 1946 mehr als 1300 Flüchtlingslager, in denen die dort Untergebrachten oftmals jahrelang auf beengtem Raum und in großer Not ausharren mussten.

Rudolf Ohlbaum (2017): Bericht über das Flüchtlingslager Allach II in München

Der Publizist Rudolf Ohlbaum besuchte 1949 ein Flüchtlingslager in München und schrieb darüber einen Bericht. Diesen fand die Tochter in seinem Nachlass, er wurde am 11./12. März 2017 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckt. Darin heißt es: »Die Baracke, die ich zuerst betrete, ist in zwei etwa 20 Meter lange Räume geteilt. Im ersten stehen auf beiden Fensterseiten hölzerne, übereinander gebaute Doppelbetten, in der Mitte auch noch vereinzelt Betten, dann Tische, Sitzgelegenheiten, Öfchen und kleine Herde. Manche Betten sind mit Decken verhängt, die meisten stehen frei. In dem Raum hausen 120 Menschen. Überall hängen Kleidungsstücke zwischen den Fenstern und am Deckengebälk, auf gespannten Schnüren hängt Wäsche zum Trocknen, Kisten und Koffer stehen umher; ein Anblick, der sich kaum durch einen Vergleich wiedergeben lässt, denn Ausdrücke wie Schuppen oder Stall treffen nicht zu, da man sich darunter nicht notwendigerweise etwas maßlos Hässliches, Unordentliches vorstellen muss.«

Doch nicht allein die kärglichen Lebensverhältnisse machten den Flüchtlingen und Vertriebenen zu schaffen, sondern auch ein Klima von Ablehnung und Verachtung, teilweise sogar Feindschaft (»Die Polacken kommen.«). Schon vor Ende des Krieges hatten die Nationalsozialisten selbst diese Stimmung angeheizt, Goebbels tat fast angewidert kund: »Was da unter der Marke ›deutsch‹ ins Reich hineinströmt, ist nicht gerade erheiternd.« (Habbe 2002)

Kalte Heimat hat Andreas Kossert (2009) sein Buch überschrieben, in dem er den Prozess des Ankommens untersucht hat. Er trägt zahlreiche Beispiele zusammen, die das Ausmaß des Fremdenhasses deutlich machten. Im Emsland hieß es etwa noch lange nach dem Krieg: »Die drei großen Übel, das waren Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge.« (zit. nach Kossert 2009, S. 48) Man nahm die Vertriebenen weithin als Unterschicht wahr, die in Baracken (Nissenhütten) wohnte, »faul und arbeitsscheu«, »dreckig«, »verlaust«, und »voller Flöhe« (Kossert 2009, S. 49). Es gab Flugblätter und Petitionen gegen die Vertriebenen, in denen die Behörden aufgefordert wurden, sie zu entfernen, etwa in einem bayerischen Dorf im März 1947, als es hieß: »Hinaus mit den Flüchtlingen aus unserem Dorf! Gebt ihnen die Peitsche statt Unterkunft – dem Sudetengesindel. Es lebe unser Bayernland.« (Kossert 2009, S. 62) Zwar gab es Ausnahmen, aber die Stimmung war eindeutig gegen die Flüchtlinge und Vertriebenen gerichtet. Diese Ablehnung beruhte zum Teil darauf, dass ohnehin Vorurteile gegenüber den Menschen »aus dem Osten« bestanden. In einer Situation, in der alle ums Überleben kämpften, bekamen sie neue Nahrung, in der Zeit der Not wurden die »Fremden« auch als potentielle Bedrohung und soziale Last empfunden.

Die Vertriebenen konnten ihren Wohnort nicht selbst wählen, sondern wurden zumeist dem ländlichen Raum zugewiesen, weil viele Städte zerstört waren. Von den Zügen wurden Waggons abgehängt und in ganz unterschiedliche Gegenden verbracht. Dadurch wurden Gemeinschaften, die im Zug oder im Treck noch zusammen gewesen waren, ja manchmal auch Familien auseinandergerissen. Man wollte Minderheitenkonflikte vermeiden und eine schnellstmögliche Integration erreichen. Die Menschen wurden auf die Bundesländer verteilt, wobei Frankreich sich zunächst weigerte, in den von ihm besetzten Gebieten Vertriebene aufzunehmen. Im Oktober 1946 waren in Schleswig-Holstein ca. 32 Prozent der Bevölkerung Flüchtlinge oder Vertriebene, in Niedersachsen waren es 23,4 Prozent und in Mecklenburg-Vorpommern betrug der Anteil sogar 43,3 Prozent der Bevölkerung. In absoluten Zahlen stand Bayern an der Spitze, dort lebten Ende 1948 1,9 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, was etwa 20 Prozent der Bevölkerung ausmachte. Allein hier kamen 764 Bahntransporte aus der Tschechoslowakei an. Betrug der Gesamtanteil an Flüchtlingen und Vertriebenen in Westdeutschland 1950 16,5 Prozent, waren es 1961 21,5 Prozent (Beer 2012). In der damaligen Sowjetischen Besatzungszone wurden mehr als vier Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aufgenommen, damit lag ihr Anteil an der Bevölkerung noch höher als in den westlichen Zonen. Diese Zahl reduzierte sich aber allmählich, weil viele in den folgenden Jahren in die Bundesrepublik übersiedelten. In Westdeutschland stieg der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung dadurch weiter an.

In der DDR, wo die Vertriebenen Umsiedler genannt wurden, gab es zwar zu Beginn staatliche Unterstützungsleistungen zur Förderung der Integration, doch in offizieller Lesart war das Problem bald gelöst, die Leistungen wurden eingestellt und das Thema für nicht mehr existent erklärt. Es war bei Strafe verboten, sich darüber zu äußern, auch Zusammenschlüsse von Volksgruppen waren nicht erlaubt. In Westdeutschland bildeten sich bald die Vertriebenenverbände, die zwar in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen dem Rache- und Vergeltungsgedanken abschworen (Brumlik 2005), aber doch an der Forderung nach Rückkehr in die Heimat festhielten. Indem diese illusionäre Hoffnung immer wieder neue Nahrung erhielt, dürfte es den Betroffenen eher erschwert gewesen sein, sich mit dem erlittenen Verlust abzufinden.

Im Westen verbesserte sich die Situation nur allmählich. Im Rahmen des Lastenausgleichsverfahrens wurden Mittel bereitgestellt, die es z. B. ermöglichten, in eine normale Wohnung zu ziehen oder gar ein »Häuschen« zu bauen, was zum Symbol einer gelungenen Integration und sozialen Aufstiegs wurde. Die Leistungsbereitschaft der Flüchtlinge und Vertriebenen trug wesentlich dazu bei, das Wirtschaftswunder der 1950 Jahre in Gang zu bringen, das Wirtschaftswachstum betrug in diesen Jahren durchschnittlich über acht Prozent. Kossert (2009) zieht den Schluss, dass die Vertriebenen zu einer wesentlichen Kraft in der Modernisierung der Bundesrepublik wurden, nicht nur wegen ihrer Leistungsbereitschaft, sondern auch weil sie verkrustete dörfliche Strukturen aufweichten und damit wirtschaftliche Entwicklung ermöglichten.

Exkurs: Die Ablehnung des Fremden

Man kann die Frage aufwerfen, wie es dazu kam, dass die Flüchtlinge und Vertriebenen auf so viel Ablehnung stießen, selbst wenn positiv anzumerken ist, dass es nicht zu gewalttätigen Übergriffen kam. Gewiss, allein die große Zahl dürfte dazu beigetragen haben, dass Integrationsängste entstanden, die, wie die Geschichte zeigt, alle Fluchtbewegungen hervorrufen (Ther 2017). Aber handelte es sich hier nicht auch um Deutsche und gehörten damit zu einem Volk, das große Schuld auf sich geladen hatte und nun einen Neuanfang suchte? Doch gemeinsame Trauer, kollektive Aufarbeitung der Schuldfrage und die Entwicklung einer Haltung von Demut, die den Neuanfang vermutlich anders hätten aussehen lassen, all das gelang nicht. Warum war dies nicht möglich, welche Rolle spielten dabei die Flüchtlinge und Vertriebenen?

Oskar Negt (2016) stellt in seinen Lebenserinnerungen, in denen er seine eigene Flucht aus Ostpreußen beschreibt (vgl. Kap. 4.7), die Frage nach der Ablehnung des Fremden und erinnert an die abendländische Kultur des Gastrechts, das bereits in der griechisch-römischen Antike einen hohen Stellenwert hatte. In der Menschheitsgeschichte könne man, so Negt, das Zivilisationsniveau einer Gesellschaft daran messen, wie sie mit dem Fremden und den Fremden umgeht. Er zitiert Adorno, der sich mit dem Phänomen der sozialen Kälte befasst und darin einen entscheidenden Grund dafür gesehen hat, dass es Auschwitz geben konnte. Wo es Fremdenfeindlichkeit gibt, ist bereits vorher etwas mit der Gesellschaft passiert, was sich als Kältestrom bemerkbar macht, so Adorno.

Der Fremde, als der der Flüchtling von den Einheimischen wahrgenommen wird, erscheint ihnen immer auch bedrohlich, er erzeugt Vorstellungen, die mit Enteignungsängsten verknüpft sind. Der Hass gegen das Fremde beginne mit dem Selbsthass gegen alles, womit wir in uns selbst nicht übereinstimmen. Kant hat geschrieben (zit. nach Negt 2016, S. 293): »… der Mensch kann nicht glücklich sein, ohne wenn er sich selbst wegen seines Charakters Beyfall geben kann, und er kann andere nicht achten, wenn er keine Selbstachtung hat.« Dies gilt für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft.

Mit der Selbstachtung stand es nicht zum Besten in der Nachkriegsgesellschaft, weder für die Gesellschaft als Ganzes noch für unzählige Einzelne, die verstrickt waren in die Verbrechen der Nazis. Die Gesellschaft lag am Boden, das, woran Massen geglaubt hatten und weswegen sie jubelnd auf die Straße gegangen und in den Krieg gezogen waren, war vernichtet worden. Doch verarbeitet wurde all das kaum, wie Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) in ihrem Buch über die Unfähigkeit zu trauern herausgestellt haben. Dieses »Nicht-im-Reinen-mit-sich-Sein« musste aber auf irgendeine Art und Weise Folgen haben, und eine der Folgen war die Ablehnung des Fremden in Gestalt der Vertriebenen. Negt (2016) beschreibt, wie das rassistische Vorurteil, das die Nazi-Zeit beherrscht hatte, unter der Hand durch das Vorurteil gegenüber dem Fremden ersetzt wurde.