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Astrophysiker wissen verdammt viel: dass das All zu 26 Prozent aus dunkler Materie besteht und das Schwarze Loch im Zentrum der Galaxie M87 so viel wiegt wie 6,6 Milliarden Sonnen. Doch wie kommen sie eigentlich zu diesem Wissen? Könnte das Universum in Wahrheit nicht ganz anders aussehen? Die Philosophin und Astrophysikerin Sibylle Anderl erzählt mitreißend von der Arbeit der Astronomen, die aus kleinsten Indizien wie dem Lichtspektrum oder der Bewegung der Sterne darauf schließen, woraus Planeten bestehen und über welche Masse Schwarze Löcher verfügen. Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an die Erforschung des Weltalls. Und eine faszinierende philosophische Reise zu den Grenzen unseres Wissens.
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Seitenzahl: 309
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Astrophysiker wissen verdammt viel: dass das All zu 26 Prozent aus dunkler Materie besteht und das Schwarze Loch im Zentrum der Galaxie M87 so viel wiegt wie 3,5 Milliarden Sonnen. Doch wie kommen sie eigentlich zu diesem Wissen? Schließlich hat erst eine einzige Sonde, Voyager 1, überhaupt die Randgebiete unseres Sonnensystems erreicht. Von Experimenten in fernen Spiralnebeln ganz zu schweigen. Sind ihre Behauptungen also nur Spekulation und könnte das Universum in Wahrheit ganz anders aussehen? Die Philosophin und Astrophysikerin Sibylle Anderl zeigt uns, wie es möglich ist, den Kosmos allein mithilfe von Beobachtungen und Modellen zu vermessen. Mitreißend erzählt sie von der Arbeit der Astronomen, die wie Meisterdetektive aus kleinsten Indizien wie dem Lichtspektrum oder der Bewegung der Sterne darauf schließen, woraus Planeten bestehen und über welche Masse Schwarze Löcher verfügen.
Hanser E-Book
Sibylle Anderl
Das Universum und ich
Die Philosophie der Astrophysik
Carl Hanser Verlag
Prolog I: Und das soll man glauben?
Prolog II: Die Astrophysik ist was Besonderes
1. Wie real ist das Universum?
Alles nur ausgedacht?
Gibt es Tische?
Die Existenz des Unsichtbaren
Keine Experimente!
Kosmische Verschwörung
Erkenntniswerkzeuge im Weltall
2. Was können wir wissen?
Lob auf die einfachste Erklärung
Wenn einfach nur das Kabel nicht steckt
Sich einen Reim aufs Universum machen
3. Die Sherlock-Holmes-Methode
Experimentieren und beobachten
Berufsbedingt spät dran
Das Rätsel der Schneelinien
Herzensangelegenheit Pluto
4. Das Universum beobachten
Der erste Kontakt
Die Realität des Universums im Teleskop
Antrag auf Entenbeobachtung
Entdecken, wonach man gar nicht gesucht hat
Wenn dich Halbleiterdetektoren hassen
5. Der Datenschatz der Astronomen
Licht und andere Informationsträger – eine kleine Typologie
Jenseits der Sinne
Teleskope – wenn es auf Größe ankommt
6. Daten und Phänomene
Eine Karte des Universums
Kennen wir bald sämtliche kosmischen Phänomene?
Ein virtuelles Observatorium
Nackten Daten ein Kontextkleid anziehen
Die Meteoriten und wir
Annahmen über den Kosmos
Die Angst vor den Daten
7. Die Ordnung des Universums
Sortierte Galaxien
Pluto – der gefallene Planet
Kosmische Klassen
Daten und Modelle
8. Die Welt als Modell und Wirklichkeit
Modelle im Allgemeinen
Modelle und Theorien
Wie man ein gutes Modell baut
9. Der Kosmos im Computer
Die Tricks der Computerprogramme
Wenn Digitalisierung Probleme verursacht
Computermodelle, die immer größer werden
Mit Modellen spielen
Modelle testen
Die Kunst der Modellierung
Zwischen Modell und Experiment
10. Das kosmische Labor
Experimentieren im Weltall
Natürliche Experimente
Natürliche Experimente im Universum
Ein Sternhaufen als Labor
Die beschwerliche Suche nach belastbaren Ergebnissen
Zurück zu den Sternenbabys
Das Universum macht Experimente für uns
11. Das große Ganze
Mit Unendlichkeit umgehen
Unser Universum – Dunkle Energie, Inflation etc.
Auf dem Prüfstand – Kosmologisches Prinzip und Standardmodell
Der Anfang – Auf der Suche nach der Weltformel
Das anthropische Prinzip
Epilog
Literaturverzeichnis
Register
Und das soll man glauben?
Mein Vater ist am Telefon. Das kommt eher selten vor, denn sonst ist meine Mutter selbstverpflichtete Hauptverantwortliche für telefonische Außenkommunikation.
»Du, Sibylle, jetzt muss ich dich auch noch mal direkt sprechen.«
»Hallo, Papa.«
»Ich habe gestern mal wieder meine Wissenschaftszeitung gelesen. Und da stand drin, dass die ein Schwarzes Loch gefunden haben mit 17 Milliarden Sonnenmassen. 17 Milliarden! Unvorstellbar!«
Dabei sagt er »un-vor-stell-bar« mit besonderer Dehnung aller Silben, um seiner Ehrfurcht vor dieser unfassbar großen Masse noch zusätzlich Nachdruck zu verleihen. Nachdruck, der allerdings in Sekundenschnelle wieder zerstört wird, denn meine Mutter ruft aus dem Hintergrund:
»So ein Quatsch, ich kann mir schon eine Sonnenmasse nicht vorstellen. Das sind doch einfach nur irgendwelche Zahlen.«
Mein Vater wird leicht unwirsch: »Du kannst dir das vielleicht nicht vorstellen. Aber, Sibylle, meine Frage ist jetzt: Kann man das glauben? Ich meine, wie sicher ist denn so was, wenn die sagen, die haben das entdeckt mit so viel Masse? Weil, hinfliegen und wiegen kann man ja nicht.«
Die Astrophysik ist was Besonderes
Wenn man etwas Wichtiges zu besprechen hat, dann kann es eine gute Idee sein, in die Uckermark zu fahren. Die Uckermark ist ein relativ verlassener Landstrich nördlich von Berlin, es gibt viel Wasser, viel Grün und wenige Menschen, viel Ruhe und wenig Ablenkung. Gleichzeitig gibt es fast keine Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen, wenn man ein paar Tage in einem Ferienhaus verbringt. All das waren Gründe gewesen, warum ich vor einigen Jahren mit Kollegen für zwei Tage im Herbst in die Nähe von Lychen reiste. Die Gruppe von etwa zehn Wissenschaftlern umfasste Historiker, Soziologen, Philosophen und Astrophysiker. Professoren, Postdocs, Doktoranden und Studenten. Unsere Gemeinsamkeit war, dass wir verstehen wollten, wie die Astrophysik funktioniert und wie Wissenschaftler vorgehen, wenn sie das Universum erforschen.
Das wirkt natürlich auf den ersten Blick wie ein etwas seltsames Ziel, und man könnte annehmen, dass man sich als Astrophysiker schon sehr langweilen muss, um wegen so einer Frage in die Uckermark zu fahren. Mal ganz abgesehen davon, dass man eigentlich wissen sollte, was man tut, auch ohne Historiker, Soziologen und Philosophen zu konsultieren. Im Prinzip stimmt das auch. Aber man geht ja unter Umständen auch zu einem Therapeuten oder man macht ein Coaching, um sich besser zu verstehen oder sein Verhalten zu ändern, obwohl man sich selbst bereits ziemlich gut kennt. Und so wie man beim Therapeuten lernt, auf der Grundlage der eigenen Biografie und der Geschichte der Familie einiges von dem besser zu begreifen, was man macht, denkt und fühlt, so hofften wir Astrophysiker, dadurch mehr über unsere Tätigkeit und unser Selbstverständnis zu lernen, dass ein paar Wissenschaftshistoriker einen Blick auf die Geschichte unseres Feldes warfen.
Von den Soziologen erhofften wir Astrophysiker uns Einsichten darüber, wie die Wissenschaftspolitik, wie bestehende Hierarchien und wie soziale Dynamiken allgemein das beeinflussen, was wir als Astrophysiker über das Universum herausfinden – obwohl wir von solchen Faktoren natürlich völlig unbeeinflusst sein wollen. Von den Philosophen erhofften wir uns schließlich Antworten auf Fragen danach, wie wir astrophysikalisches Wissen erlangen: ob es Erkenntnisgrenzen gibt etwa oder ob wir mit der Zeit einfach immer mehr wissen werden. Diese philosophischen Fragen interessierten mich besonders, da ich sowohl als Astrophysikerin als auch als Philosophin an dem Treffen teilnahm und mir diese Fragen damit gewissermaßen selber stellte.
Das alles wollten wir natürlich nicht binnen zwei Tagen abschließend klären, sondern in einer längerfristigen Forschungskooperation. In der Uckermark wollten wir nur den gemeinsamen Rahmen definieren. So etwas ist dann doch immer etwas komplizierter, als man es sich zunächst vorstellt.
Die Historiker sagen dann zum Beispiel, dass Wissen immer nur relativ zu einem bestimmten historischen Kontext wahr ist. Was die Menschen im Mittelalter geglaubt haben, muss nicht unbedingt weniger wahr gewesen sein als das, wovon wir heute ausgehen. Eine Feststellung, die bei Astrophysikern nicht gut ankommt und in ihren Ohren wie ein »Was ihr da macht, stimmt gar nicht« klingt. So eine Breitseite lässt man sich ungern gefallen, schon gar nicht von einem Historiker. Und wenn dann noch die Soziologen darauf achten, wer welche Kleidung trägt und ob Frauen genauso lange reden wie Männer, dann ist die naturwissenschaftliche Geduld schnell aufgebraucht. Die Geisteswissenschaftler finden die Naturwissenschaftler wiederum furchtbar unreflektiert und überheblich, und alle sind froh, dass sie selbst nicht so sind wie die anderen. Es ist eben nicht immer einfach, wenn Fachidioten verschiedener Disziplinen aufeinandertreffen.
Die Harmonie der Uckermark sollte dadurch zunächst jedoch nicht gestört werden. Die Sonne schien auf die sich im kalten Herbstwind kräuselnden Wasserwellen des Großen Küstrinsees vor unserem gemütlichen Ferienhaus, und wir saßen in der warmen Stube und dachten zunächst einmal darüber nach, welche Fragen wir in Bezug auf die Astrophysik eigentlich klären wollten. Um die Beantwortung dieser Fragen aber auch wirklich in Angriff zu nehmen, würden wir Geld brauchen, weshalb der wichtigere Teil unseres Treffens darin bestand, Pläne zu schmieden, wie wir die geplanten Projekte an potenzielle Geldgeber wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft verkaufen konnten. Eine Finanzierung kriegt man natürlich nur, wenn man gute Argumente vorlegt. Hier vertrat ich nun die Auffassung, dass es beim Verkaufen immer enorm hilft, die Einzigartigkeit des Produktes herauszustellen: Warum ist es spannend und wichtig, zu beschreiben, wie astrophysikalische Forschung funktioniert? Weil die Astrophysik so viele Besonderheiten aufweist! Schließlich ist sie eine der ganz wenigen Wissenschaften, die unter keinen Umständen mit ihren Forschungsobjekten interagieren können. Das Universum ist viel zu groß, und fast alles, was uns Astrophysiker interessiert, ist einfach zu weit weg. Die Bedingungen im Universum sind wiederum viel zu extrem, als dass wir sie in irdischen Laboren nachbauen könnten, und die Zeitskalen, auf denen Prozesse im Universum ablaufen, sind praktisch immer zu lang im Vergleich zu unseren kurzen Menschenleben. Faszinierend. Allerdings war ich in unserer interdisziplinären Runde die Einzige, die sich derartig für die Besonderheit der Astrophysik begeistern konnte:
Historiker: »Nein, das ist gefährlich, sich so weit aus dem Fenster zu lehnen und zu sagen, die Astrophysik sei ganz anders als andere Disziplinen. Astrophysik ist Physik, angewendet auf das Universum.«
Ich: »Aber die Astrophysik ist zum Beispiel eine Beobachtungswissenschaft, das ist doch spannend.«
Historiker: »Es gibt viele andere Beobachtungswissenschaften. In der Biologie beobachtet man zum Beispiel auch sehr oft.«
Ich: »Aber in der Biologie kann man experimentieren. In der Astrophysik nicht.«
Soziologe: »In der Archäologie kann man auch nicht experimentieren.«
Ich: »Aber die Bedingungen im Universum sind viel extremer als alles, was wir kennen.«
Philosoph: »Aber das ist ja nur ein quantitativer Unterschied, kein qualitativer.«
Sosehr ich mich auch abmühte, niemand war davon zu überzeugen, dass die Astrophysik grundsätzlich anders funktioniert als alle anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Und das, obwohl es für mich doch so klar auf der Hand lag. Ich fühlte mich unverstanden und gab schließlich auf. Wir einigten uns zunächst darauf, dass die Astrophysik zwar ein interessantes Fallbeispiel darstellt, aber dass wir uns im Prinzip genauso gut mit irgendetwas anderem beschäftigen könnten. Geowissenschaften. Oder Fruchtfliegenforschung. In einer Gruppe, die auch Astrophysiker umfasst, ergibt es jedoch natürlich mehr Sinn, über Astrophysik nachzudenken. Und weil Wissenschaft manchmal demokratisch organisiert ist und die Mehrheit gewinnt – umso mehr, wenn der Minderheit die Argumente ausgehen –, einigten wir uns letztendlich darauf, dass wir unser Projekt anders begründen müssten als mit der Besonderheit der Astrophysik. Die Tage in der Uckermark blieben mir damit als diejenigen in Erinnerung, in denen mich ein paar Soziologen, Historiker und Philosophen meiner astrophysikalischen Einzigartigkeit beraubten.
Wie real ist das Universum?
Die narzisstische Kränkung, die ich in der Uckermark erfahren hatte, hing mir noch einige Zeit nach. Dann entdeckte ich Ian Hacking. Ian Hacking ist ein kanadischer Philosoph, geboren 1936, der ein ziemlich bekanntes Einführungsbuch in die Wissenschaftsphilosophie geschrieben hat. Der Clou an diesem Buch ist, dass es eines der ersten ist, das sich sehr ausführlich mit wissenschaftlichem Experimentieren beschäftigt. Lange Zeit hatte die Philosophie so getan, als würde es in der Wissenschaft vor allem darum gehen, Theorien zu prüfen: Man denkt sich eine wissenschaftliche Hypothese aus und schaut dann, ob sie wirklich stimmt. Wie man das genau macht und machen sollte, das wurde philosophisch im Detail untersucht. Am bekanntesten ist dabei wohl Karl Popper mit seinem berühmten Falsifikationskriterium und der Forderung, Theorien immer wieder auf die Probe zu stellen, da es erheblich einfacher ist, zu zeigen, dass eine Hypothese nicht stimmt, als dass sie wahr ist. Wenn ich beweisen will, dass alle Fische Kiemen haben, kann ich mein ganzes Leben lang Fische mit Kiemen fangen und habe trotzdem keinen abschließenden Beweis. Aber wenn ich nur einen einzigen Fisch ohne Kiemen fangen würde, könnte ich mich etwas anderem widmen, denn ich hätte gezeigt, dass meine Hypothese falsch ist. Poppers Forderung entspricht der hypothetisch-deduktiven Methode: Man schließt von einem der Hypothese widersprechenden Einzelfall (dem Fisch ohne Kiemen) auf die Falschheit der Hypothese. Das Experiment war in dieser traditionellen philosophischen Sicht nur eine Art Hilfsmittel für die Entwicklung, Überprüfung und Verbesserung wissenschaftlicher Theorien.
Ian Hacking war Mitte der 1980er-Jahre einer der ersten Philosophen, die die Eigenständigkeit von Experimenten betonten. Experimente führen laut Hacking ein Eigenleben: Die wissenschaftliche Praxis läuft keinesfalls so geordnet ab, dass zuerst die Theorie kommt und dann experimentell geprüft wird, ob sie stimmt. Oft werden Experimente auch »einfach so« gemacht, aus reiner Neugierde, weil man sehen will, was passiert. Nicht selten folgt die Theorie auch erst aus den Experimenten, nämlich dann, wenn man etwas Unerwartetes beobachtet, für das es noch keine Erklärung gibt. Manchmal kommt es vor, dass Theoretiker schon eine Erklärung entwickelt haben, von der die Experimentatoren gar nichts wussten. Das war zum Beispiel der Fall, als die berühmte kosmische Hintergrundstrahlung, das »Babyfoto des Universums«, entdeckt wurde. Die beiden Radioastronomen Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson testeten eigentlich ein neues, besonders empfindliches Radioteleskop für die Kommunikation mit Satelliten. Als sie auf eine schwache Strahlung stießen, die gleichmäßig aus allen Richtungen kam, glaubten sie zuerst an einen Fehler ihrer Messung und vertrieben sogar Tauben, um die Tiere als potenzielle Signalquelle ausschließen zu können. Letztendlich stellte sich aber heraus, dass sie zufällig diejenige vom Urknall stammende Strahlung entdeckt hatten, die von Theoretikern fast zeitgleich vorhergesagt worden war. Für diese Entdeckung bekamen Penzias und Wilson sogar den Nobelpreis, obwohl sie bei ihrer Messung von der Theorie, die sie mit ihrem Experiment bestätigten, überhaupt keine Ahnung gehabt hatten.
Ian Hacking ist also ein großer Fan wissenschaftlichen Experimentierens und Verfechter des von Theorien unabhängigen, hohen Stellenwertes wissenschaftlicher Experimente. Das geht bei ihm sogar so weit, dass er in seinem Buch behauptet, wir wüssten nur aufgrund von Experimenten, dass die Dinge, die von der Wissenschaft vorhergesagt werden, wirklich existieren. Nur wenn wir Dinge manipulieren, wenn wir mit Dingen interagieren könnten, seien wir sicher, dass es sie auch gibt. Wir kennen das aus dem Alltag: Mein Kollege zum Beispiel kann mir viel von seinem neuen Volvo erzählen und mir gerne auch Fotos zeigen, aber wenn ich gerade in einer skeptischen Phase bin (weil ich weiß, dass mein Kollege auch gern mal Quatsch erzählt), dann glaube ich erst, dass es die Familienkutsche auch wirklich gibt, wenn ich sie anfassen kann und am besten selbst einmal Probe gefahren bin. So in etwa denkt sich Ian Hacking das auch für die Wissenschaft.
Das heißt natürlich auch, dass Ian Hacking kein besonders großer Fan der Astrophysik ist, denn mit Probefahrten sieht es hier schwierig aus: Spätestens jenseits des Sonnensystems ist für uns Schluss. Kein Mensch wird sich aller Voraussicht nach jemals ein supermassereiches Schwarzes Loch aus der Nähe ansehen können. Wir werden nie einen Roten Riesen mit einer Rakete beschießen können und gucken, was passiert. Wir werden nie auf einem Braunen Zwerg stehen und ausprobieren, wie hoch wir springen können.
Langer Rede kurzer Sinn: An jenem Tag, einige Monate nach meiner Uckermark-Erfahrung, stieß ich auf einen philosophischen Aufsatz, den Ian Hacking sechs Jahre nach Veröffentlichung seines Einführungsbuches geschrieben hatte. In ihm vertritt er die Auffassung, dass die Astrophysik etwas ganz Besonderes ist (Yeah!!). So weit, so erfreulich. Der Teufel steckt aber im Detail. Denn der Grund, warum die Astrophysik etwas ganz Besonderes ist, ist laut Hacking, dass wir nicht ohne Weiteres behaupten können, dass es all das, wovon Astrophysiker reden, auch wirklich gibt. Vielleicht existieren Schwarze Löcher, elliptische Galaxien, Molekülwolken, Galaxienhaufen und Supernovae gar nicht. Vielleicht haben sich Astrophysiker all das nur ausgedacht. Vielleicht lachen wir bald alle darüber.
Bitter. Da will man gerne besonders sein und findet endlich jemanden, der einem das auch bestätigt. Und dann stellt sich heraus, dass diese Besonderheit darin besteht, dass man keine ordentliche Wissenschaft betreibt. Um meine Ehre als Astrophysikerin zu retten, blieb daher nichts anderes übrig, als Hackings These des »Antirealismus« in der Astrophysik genauer nachzugehen.
Realismus, ausgerechnet. Meine schulische Philosophiekarriere war genau am Realismus gescheitert. In der ersten Stunde der Philosophie-AG hatte sich der Lehrer vor uns hingesetzt, auf den Tisch vor sich gedeutet und gefragt: »Existiert dieser Tisch wirklich?« Dann hatte er bedeutungsschwer in die Runde geblickt. Mit diesem Satz hatte sich damals für mich entschieden, dass Philosophie nichts für mich ist. Schließlich gibt es wirklich Wichtigeres, über das man nachdenken kann, als Fragen, die offensichtlich sinnlos sind. Ich hatte mein ganzes bisheriges Leben lang Tische recht erfolgreich benutzt (normalerweise sogar mehrmals am Tag) und dabei nie irgendwelche Probleme mit ihren Existenzeigenschaften gehabt. Schön, dass es Leute gab, die offenbar ein komplexeres Verhältnis zu Tischen pflegten, aber zu denen wollte ich definitiv nicht gehören. Meine Teilnahme an der Philosophie-AG hatte sich damit schnell erledigt.
Nachdem es mich über Umwege später im Studium dann doch wieder zu den Menschen verschlug, die gerne über Möbel und die Frage ihrer Existenz reden, kam ich allerdings doch nicht umhin, mich etwas genauer mit deren Argumenten auseinanderzusetzen. Das Grundproblem ist offenbar Folgendes: Das meiste, wenn nicht sogar alles, was wir von der Welt wissen, wissen wir durch unsere Sinneserfahrungen. Wir sehen, fühlen, riechen und schmecken die Welt. Aber gleichzeitig wissen wir, dass wir dabei keine hundertprozentige Erfolgsquote aufweisen. Wir können uns jederzeit irren und tun das auch oft. Damit nicht genug, manchmal ist noch nicht einmal klar, ob das, was wir sehen, fühlen, riechen und schmecken, Eigenschaften der Dinge sind, oder ob wir nicht vielmehr der Welt unsere Wahrnehmungseigenschaften aufprägen. Die Wahrnehmung von Farben unterscheidet sich zum Beispiel stark zwischen Menschen und verschiedenen Tierarten. Wenn wir einen roten Ball sehen, ist dieser Ball dann wirklich rot? Wir haben hier offenbar ein grundsätzliches Handicap: Zwischen uns und der Welt stehen immer unsere Sinne, und die sind sehr spezifisch menschlich. Wie die Welt ist, ohne dass irgendjemand sie beobachtet, ohne dass ich sie beobachte, kann ich so ohne Weiteres nicht sagen. Ich nehme an, dass meine Wahrnehmung ziemlich nah dran ist an der Wirklichkeit. Aber wie kann ich sicher sein? Vielleicht würde ich die Welt völlig anders wahrnehmen, wenn ich 200 Jahre früher geboren worden wäre. Mit Sicherheit nähme ich sie anders wahr, wenn ich eine Fledermaus wäre. Aber wie ist die Welt denn nun wirklich?
Mit diesem Gedankengang sind wir dann ziemlich schnell bei Filmen wie Matrix, wo unsere Welt eine computergenerierte Scheinwelt ist, die von bösen Intelligenzen künstlich in unseren Gehirnen generiert wird. Vielleicht sind wir alle nur eingelegte Gehirne, die durch neurologische Impulse davon überzeugt werden, sie würden in einer realen Welt existieren und handeln. Wer weiß das schon? Wenn wir ehrlich sind, niemand. Aber wenn das so wäre, dann hätte mein alter Philosophielehrer die Frage nach der Existenz des Tisches zu Recht gestellt, so viel ist klar. Gleichzeitig muss man aber sagen: Davon auszugehen, dass es so ist, bringt einen auch nicht so richtig weiter.
Neulich habe ich eine Freundin zum Teetrinken besucht. Wir saßen in ihrer wunderschönen Altbauwohnung in Berlin-Mitte auf einem alten Plüschsofa. Auf dem massiven, alten Holztisch vor uns dampfte der Kräutertee, während auf meinem Schoß die Langhaarkatze schnurrte und mich und das Sofa langsam mit den Haaren bedeckte, die ich aus ihrem Fellwust streichelte. In diese gemütliche Atmosphäre hinein behauptete meine Freundin plötzlich, sie sei davon überzeugt, dass das Bücherregal in meinem Rücken nicht mehr existiere, sobald sie wegschauen würde. Die Freundin ist Künstlerin. Man muss sich bei solchen Aussagen also keine Sorgen machen, die will nur spielen, gedanklich. Aber angenommen, es wäre so, wie sie sagt, müsste sie nicht in permanenter Angst um ihre Bücher leben? Wahrscheinlich nicht, denn sobald sie in Kontakt mit ihrem Regal tritt, ist ja alles wieder so wie vorher. Aber wie ist es dann mit ihrer Katze? Wäre das arme Tier nicht völlig traumatisiert von einem ständig verschwindenden und wieder erscheinenden Bücherregal? Oder erscheint das Regal auch immer dann, wenn die Katze im Raum ist? Was wäre, wenn man vom Nebenraum aus mithilfe einer Fernbedienung ein Foto auslöst? Wäre auf dem Foto eine leere Wand oder das Regal? Es kristallisierte sich heraus, dass es für uns keine Möglichkeit geben würde, nachzuweisen, dass das Regal meiner Freundin nicht da ist, wenn niemand hinschaut. Da würde ich dann als Nicht-Künstlerin sagen: »So what?« Für mich persönlich ergibt eine Welt sehr viel mehr Sinn, die sich nicht permanent wieder aufbauen muss. Es ist die beste Erklärung, die mir dafür einfällt, warum, wenn ich wegschaue und wieder hinschaue, alles so ist wie vorher. So weit zu Tischen und Regalen. Die haben wir im Griff, würde ich einfach mal sagen. Aber wie ist es mit Elektronen und Quarks?
Wenn Ian Hacking, mein zweifelhafter Unterstützer der These, dass Astrophysik etwas Besonderes ist, sich als Wissenschaftsphilosoph mit dem Realismusproblem beschäftigt, dann ging es ihm natürlich nicht um Alltagsmöbel. Sein Problem war vielmehr die Frage, wie wir mit dem umgehen, was in den Wissenschaften zur Erklärung der Welt zwar postuliert wird, wir aber nicht direkt wahrnehmen können. Gibt es wirklich Lichtquanten, Neutrinos, das Higgs-Teilchen, die vierdimensionale Raumzeit oder Dunkle Materie? Oder sind diese wissenschaftlich motivierten Objekte nichts weiter als Hilfsmittel, die wir nur erfunden haben, um direkt wahrnehmbare, makroskopische Phänomene zu erklären und vorherzusagen?
Die potenzielle Skepsis mag auch dadurch genährt werden, dass sich einige der in der Vergangenheit wissenschaftlich beschriebenen Phänomene im Laufe der Zeit tatsächlich als nicht existierend herausgestellt haben. Chemiker gingen im späten 17. und im 18. Jahrhundert zum Beispiel davon aus, dass es eine Substanz geben muss, die brennbaren Materialien bei der Verbrennung entweicht. Diese Substanz nannten sie »Phlogiston«. Heute weiß man: Phlogiston gibt es nicht. Was man zur Erklärung von alltäglichen Verbrennungsprozessen braucht, ist ein Verständnis der Rolle von Sauerstoff. Ein anderes berühmtes Beispiel ist der Äther, von dem man noch Anfang des letzten Jahrhunderts annahm, er würde das gesamte Universum ausfüllen, bevor Albert Einstein ihn in seiner speziellen Relativitätstheorie durch eine vierdimensionale Raumzeit ersetzte. Einige Wissenschaftler sind der Meinung, dass auch die Dunkle Energie und die Dunkle Materie, die heute Bestandteil kosmologischer Theorien sind, in Wirklichkeit gar nicht existieren. Man muss zugeben, ein Urteil über diese Fragen zu fällen ist schwieriger, als sich über die Existenz eines Tisches zu einigen.
Allerdings ist man nicht gleich Antirealist, wenn man an der Existenz von einzelnen, in den Wissenschaften zu findenden Phänomenen zweifelt. Man kann zum Beispiel durchaus der Ansicht sein, dass wir heute mit der Annahme von Dunkler Energie und Dunkler Materie auf dem falschen Weg sind und sich beide Konzepte früher oder später als falsch herausstellen werden. Wenn man dabei Anhänger eines wissenschaftlichen Realismus ist, ist man trotzdem der Meinung, dass unsere Wissenschaften im Großen und Ganzen der wahren Natur unserer Welt auf der Spur sind, auch wenn der eine oder andere Umweg über gelegentliche Irrtümer nicht immer vermieden werden kann. Ein Antirealist würde dieses Statement nicht unterschreiben, denn für einen typischen Antirealisten ist das, was wissenschaftliche Theorien über nicht wahrnehmbare Dinge und Prozesse behaupten, reine Fiktion. Allerdings würde auch ein Antirealist zugeben, dass diese »Fiktionen« überaus nützlich sein können, um das zu erklären, was wir wahrnehmen können. Man sollte sich nur davor hüten, von diesem praktischen Erfolg auf die Wahrheit wissenschaftlicher Theorien schließen zu wollen.
Interessant ist aber natürlich, dass sich die Grenze des Nicht-Wahrnehmbaren mit der Zeit verschiebt. Vor etwas mehr als 100 Jahren mag man noch gute Gründe gehabt haben, an der Existenz der unbeobachtbaren Atome zu zweifeln (und nicht wenige Wissenschaftsphilosophen ließen es sich nicht nehmen, dies auch ausgiebig zu tun). Heute kann man Atome im Elektronenmikroskop sichtbar machen. Man nimmt damit zwar Atome immer noch nicht »direkt« wahr, denn zwischen dem sichtbaren Bild und der mikroskopischen Struktur steckt ein komplizierter, theorieabhängiger Abbildungsprozess, aber wer einmal ein Kristallgitter im Elektronenmikroskop gesehen hat, dem wird es vermutlich eher schwerfallen, seine Existenz vollkommen abzustreiten. Genauso scheint es heute kaum mehr möglich, wie vor 100 Jahren die Existenz anderer Galaxien anzuzweifeln, denn nicht zuletzt mit leistungsstarken Beobachtungsinstrumenten wie dem Hubble Space Telescope kann man heute eine enorme Anzahl von Galaxien unterschiedlichster Gestalt und verschiedenster Entwicklungsstufen beobachten. Die wissenschaftlichen Realisten scheinen also einige Punktsiege eingefahren zu haben. Aber trotzdem gibt es auch heute noch eine Grenze zum nicht mehr Wahrnehmbaren: Das Higgs-Teilchen hat sich nur durch eine Signatur in den Zerfallsdaten der im Large Hadron Collider ablaufenden Protonenkollisionen gezeigt. Reicht uns das, um an seine Existenz zu glauben, oder machen die Teilchenphysiker sich und uns hier nur etwas vor? Die Dunkle Materie heißt so, weil wir sie nicht sehen können. Sie wechselwirkt nicht mit elektromagnetischer Strahlung. Reichen uns die indirekten Nachweise, die zeigen, dass da etwas sein muss, das nur durch seine Gravitation mit dem Rest des Universums in Verbindung steht? Hier trennt sich die Skeptiker-Spreu vom momentan die Mehrheit stellenden Optimisten-Weizen. Entweder man sagt, dass diese wissenschaftlichen Theorien mit der Wahrheit nichts zu tun haben und die Wissenschaftler Hirngespinsten nachjagen. Oder man glaubt, dass wir auf dem richtigen Weg sind und es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die wahre Natur dieser theoretischen Konstrukte für uns aufklärt.
Der Philosoph Ian Hacking ist wissenschaftlicher Realist. Zumindest solange es nicht um die Astrophysik geht. Der Grund dafür ist nach eigenen Angaben autobiografischer Natur. Ein Freund berichtete Hacking von einem Experiment, das Quarks nachweisen sollte. Dafür wurde eine Kugel aus Niob, einem Schwermetall, mit Elektronen besprüht. Die Tatsache, dass man Elektronen standardisiert versprühen kann, ließ es für Hacking unsinnig erscheinen, an der Existenz von Elektronen zu zweifeln. »Wenn man sie versprühen kann, dann sind sie real.« Wenn man etwas als Werkzeug nutzt, das heißt, wenn man sich so gut mit den Ursachen und Wirkungen von etwas auskennt, dass man es gezielt für eigene Zwecke einsetzen kann, dann muss es auch existieren. Denn dass ich etwas als Werkzeug benutze, setzt voraus, dass ich mich blind auf mein Verständnis des fraglichen Objektes verlassen kann. Ich weiß genau, wie es reagiert, es gibt keine unerwarteten Überraschungen. Das scheint durchaus dafür zu sprechen, dass es auch in der Form existiert, die ich mir vorstelle. Wenn ich Radio hören kann, muss es elektromagnetische Wellen geben. Wenn ich meinen Plasmabildschirmfernseher anschalten kann, dann muss es wohl Ionen geben.
Wir werden nie Zwergplaneten und Schwarze Löcher »versprühen« können, wenn man diesen Ausdruck als Synonym für experimentelle Manipulation versteht. Schlimmer noch, der allergrößte Teil des Universums (und das Universum ist bekanntlich groß) wird sich für immer jeder denkbaren Interaktion mit uns entziehen. Wir können Sonden auf den Weg schicken und darauf warten, dass sie irgendwann unser Sonnensystem verlassen. Wir können Nachrichten ins Weltall schicken und hoffen, dass irgendwer sie irgendwann entschlüsselt. Aber die Relativitätstheorie lässt weiter reichende Hoffnungen auf die interaktive Eroberung des Universums wenig aussichtsreich erscheinen. Schließlich gibt es mit der Lichtgeschwindigkeit ein Maximum möglicher Reisegeschwindigkeiten. Und selbst dieses Maximum können wir nicht wirklich erreichen. Denn je schneller etwas fliegt, desto massereicher wird es gemäß der Relativitätstheorie. Energie, die man in weitere Beschleunigung steckt, wird zu einem immer größer werdenden Anteil in Masse umgewandelt statt in eine höhere Geschwindigkeit, je weiter sich die Geschwindigkeit der Lichtgeschwindigkeit annähert. Beschleunigung wird demnach immer schwieriger und immer energieintensiver.
Aber selbst wenn wir annehmen, dass wir mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein könnten, wäre nicht sehr viel gewonnen. Wir wären in etwa einer Sekunde auf dem Mond, in acht Minuten bei der Sonne. Schon allein zum nächsten Stern wären wir etwas mehr als vier Jahre unterwegs. Zum Zentrum unserer Milchstraße knapp 30.000 Jahre. Das heißt, wenn die Cromagnonmenschen, anstatt ihre Zeit mit Höhlenmalereien zu verschwenden, ein Raumschiff entwickelt hätten, das sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegt, dann würden ihre Nachfahren heute erst in das supermassereiche Schwarze Loch im Zentrum unserer Galaxie stürzen. Zu den nächsten Zwerggalaxien, der kleinen und großen Magellanschen Wolke, die man auf der Südhalbkugel mit bloßem Auge als nebelhafte Flecken am Nachthimmel sieht, wäre man knapp 200.000 Jahre unterwegs, also einmal die gesamte Menschheitsgeschichte lang. Und zu Andromeda, der nächsten Spiralgalaxie, unglaubliche 2,5 Millionen Jahre. Und dann wäre man immer noch nicht weiter gekommen als bis zu unserem allernächsten kosmischen Nachbarn.
Wir müssen uns also wohl oder übel damit abfinden, dass wir in Erdnähe festsitzen und nicht sehr viel tun können, um das Universum aktiv zu erkunden und zu manipulieren. Dass wir nur mit den Informationen arbeiten können, die das Universum von sich aus zu uns sendet. Gott sei Dank ist das aber immer noch eine ganze Menge. Die Hauptinformationsquelle, die wir Astrophysiker nutzen, ist elektromagnetische Strahlung. Während historisch erst einmal das sichtbare Licht wissenschaftlich ausgewertet wurde, können wir heute praktisch das gesamte Spektrum nutzen, von langwelliger Mikrowellen- bis zu kurzwelliger Gammastrahlung, auch wenn dafür in Wellenlängenbereichen, die durch die Erdatmosphäre geblockt werden, Satelliten genutzt werden müssen. Darüber hinaus erreichen uns aus dem All schnelle Elementarteilchen und Atomkerne, die sogenannte kosmische Strahlung, die permanent auf die Erde einprasselt. Daneben empfangen wir Neutrinos, die allerdings sehr schwer zu detektieren sind, da sie nur sehr schwach mit anderer Materie wechselwirken. Und als ganz neuen Informationskanal haben wir jetzt endlich die Gravitationswellen erschlossen, die in den nächsten Jahrzehnten einen neuen empirischen Zweig der Astrophysik begründen werden.
Allerdings ändert diese Vielzahl von Informationsträgern nichts daran, dass wir mit den allermeisten kosmischen Phänomenen keine Experimente machen, sie also nicht manipulieren und Bedingungen verändern können, um zu sehen, was passiert. Für Ian Hacking ist das Grund genug, den Astrophysikern nicht zu glauben.
Dass Astrophysiker keine Experimente im engeren Sinn machen können, weil die Objekte, die sie verstehen wollen, einfach viel zu weit weg sind, ist nicht das Einzige, was Ian Hacking an der Astrophysik stört. Ihn überzeugen astrophysikalische Forschungsergebnisse auch deshalb nicht, weil die Astrophysiker für seinen Geschmack viel zu viele Modelle und Simulationen benutzen, aber dazu später mehr. Die meiste Energie investiert er in seinem Aufsatz in ein Argument, das man in einem Satz zusammenfassen kann: »Das Universum könnte auch ganz anders sein, und niemand würde es merken.«
Ein bisschen erinnert es an Verschwörungstheorien, die ja als gemeinsames Motiv haben, dass alles eigentlich ganz anders ist, als alle behaupten. Alle denken, wir seien auf dem Mond gelandet, dabei wurde die Mondlandung angesichts der damals für eine wirkliche Landung unzureichenden Technik in einem geheimen Fernsehstudio gedreht. Alle denken, Elvis Presley sei tot, dabei lebt er seit Jahrzehnten friedlich auf einer Südseeinsel. Verschwörungstheorien können nur funktionieren, weil es zu bestimmten, offensichtlichen Beobachtungen mindestens zwei verschiedene Geschichten gibt, die die Beobachtungen erklären könnten und die beide erst einmal grundsätzlich plausibel klingen, zumindest wenn man sich auf das beschränkt, was man selbst sicher wissen kann oder zu wissen glaubt. Ian Hacking entwirft so eine Art Verschwörungstheorie für das Universum: Was wäre, wenn es Objekte gäbe, die wir nicht sehen können, die aber all das Licht, das uns aus dem Universum erreicht, systematisch verzerren? Wir gingen davon aus, dass das Licht uns ungestört erreicht und dass wir daraus etwas über die Phänomene im Universum lernen können. Aber durch die Veränderung des Lichts auf dem Weg, von der wir nichts wissen und nichts wissen können, würde unser gesamtes, vermeintliches Verständnis fehlerhaft. Ein großer Teil der Astrophysik wäre dann falsch und wir hätten keine Ahnung davon.
Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie im Kinofilm Good Bye, Lenin!, wo in einer ostdeutschen Familie ein Sohn seiner kranken Mutter den Zusammenbruch der DDR verschweigt, damit sie sich nicht aufregt und ihre Gesundheit gefährdet. Um zu verhindern, dass die Mutter die Wahrheit erfährt, muss er entsprechend alle Informationen, die die Mutter erreichen, so manipulieren, als würde es die DDR noch geben. Da die Mutter aufgrund ihrer Krankheit nicht sonderlich mobil ist, gelingt es dem Sohn, diese Illusion eine Zeit lang aufrechtzuerhalten. In Hackings Vorstellung wären wir also gewissermaßen in der Position der bettlägerigen Mutter (die Wohnung wäre unser Sonnensystem), und wir wären Täuschungsmanövern hilflos ausgeliefert, die die Welt für uns ganz anders erscheinen lassen, als sie ist.
Ian Hacking kreiert dieses bedrohliche Szenario nicht völlig ohne Grundlage. Als er seinen Aufsatz Ende der 1980er-Jahre schrieb, entstand gerade das Gebiet der Gravitationslinsenforschung. Gravitationslinsen sind Massen, die den Raum gemäß der allgemeinen Relativitätstheorie so krümmen, dass das Licht durch sie abgelenkt und verstärkt wird. Der Effekt von Gravitationslinsen ist damit ganz ähnlich wie der von optischen Linsen. Wenn wir eine Lichtquelle beobachten und sich zwischen uns und der Quelle ein massereiches Objekt befindet, dann wird das Licht durch dieses Objekt beeinflusst. Normalerweise sehen wir aber, wann das der Fall ist, insbesondere bei sehr massereichen Gravitationslinsen wie zum Beispiel Galaxien. Dann wird die Richtung des Lichtstrahls durch die Linse verändert, und man sieht das Objekt, von dem das Licht ausgesendet wird, mehrfach oder manchmal auch als Ring, wenn sich das Objekt ganz genau hinter der Linse befindet. Diese Fälle sind also nicht geeignet, um eine Verschwörungstheorie zu konstruieren: Man sieht, wann es eine Gravitationslinse gibt, und kann deren Effekt berücksichtigen.
Die mysteriösen Objekte, die unsere astronomische Erkenntnis potenziell boykottieren, sind laut Hacking sogenannte Mikrolinsen, das heißt weniger massereiche Gravitationslinsen wie Planeten oder hypothetische Dunkle Sterne. Der Effekt dieser Mikrolinsen ist so schwach, dass man die Ablenkung des Lichtes nicht sieht, trotzdem wird die Stärke des Lichts durch die Linse beeinflusst. Hier haben wir nun also tatsächlich zwei verschiedene Situationen, die für uns gleiche Beobachtungen hervorrufen würden: Ein lichtschwaches Objekt erschiene uns mit verstärkender Mikrolinse genauso wie ein lichtstärkeres Objekt ohne Linse. Analog zur Filmsituation: Für die Mutter im Bett erscheint das Leben in der zusammengebrochenen DDR zusammen mit den kontrollierenden Aktivitäten ihres Sohnes genauso wie das Leben in einer noch existierenden DDR, sie kann zwischen beiden Situationen nicht unterscheiden. Wenn wir keine Möglichkeit hätten, festzustellen, ob sich zwischen uns und dem Objekt eine Mikrolinse befindet, könnten wir ebenfalls nicht unterscheiden, ob wir ein lichtstarkes oder ein lichtschwaches Objekt mit unsichtbarer Linse sehen. Wir könnten uns also nicht mehr auf Messungen der Lichtstärke kosmischer Objekte verlassen. Das wäre natürlich eine absolute Katastrophe, denn aus der Lichtstärke folgern wir ziemlich viel, zum Beispiel die in der Quelle ablaufenden physikalischen und chemischen Prozesse. Es würde bedeuten, dass ein großer Teil der Informationen, die uns aus dem Universum erreichen, unter Umständen manipuliert ist, ohne dass wir wissen, wann und wie. Wir wären sozusagen Opfer einer Verschwörung kosmischen Ausmaßes. Einer Verschwörung, die wir nicht aufdecken könnten, weil wir hier im Sonnensystem festsitzen und nicht vor Ort nachprüfen können, was genau passiert auf dem Weg zwischen den Objekten, die wir beobachten, und uns. Ian Hacking würde triumphierend feststellen: Wenn ihr experimentieren könntet, wenn ihr einfach nachschauen könntet, was zwischen euch und der Quelle mit dem Licht passiert, dann wäre euch Astrophysikern das alles nicht passiert. Bettlägerigen Patienten kann man besser etwas vormachen als mobilen.
Gott sei Dank können wir aber Entwarnung geben. Alles ist gut. Heute, mehr als 25 Jahre später, wissen wir, dass wir uns keine Sorgen machen müssen, dass Mikrolinsen unseren Erkenntnisprozess sabotieren. Der entscheidende Punkt ist, dass es sehr wohl möglich ist, sie eindeutig zu identifizieren. Dabei nutzt man die Tatsache, dass sich Linse und Hintergrundobjekt relativ zueinander bewegen. Das bedeutet, dass der Störeinfluss der Linse ein zeitabhängiges Phänomen ist: Wenn sich die Mikrolinse vor die Hintergrundquelle schiebt, wird das Licht heller – und dann wieder dunkler, sobald die Quelle hinter der Linse wieder auftaucht. Mittlerweile wurden Technologien entwickelt, mit denen solche Lichtkurven problemlos aufgezeichnet werden können. Gleichzeitig hat sich das Feld der Gravitationslinsenforschung weiterentwickelt, sodass die entsprechenden Lichtkurven theoretisch sehr gut verstanden sind und dafür genutzt werden können, zusätzliche Informationen über die Quelle und die Linse zu erhalten. Man sieht, dass auch in der Wissenschaft gilt, was man aus dem Alltag kennt: Manche Probleme lösen sich mit der Zeit von allein. Die Wissenschaft entwickelt sich weiter, die Technologie schreitet voran, und Fragen, von denen man vor 25 Jahren noch dachte, sie wären nicht zu beantworten, beantworten sich plötzlich fast von selbst, einfach weil wir Dinge besser verstehen und besser beobachten können.
Der Mikrolinseneffekt wird heute zum Beispiel dafür genutzt, nach sonst nicht sichtbarer Materie zu suchen, die sich nur durch ihre Wirkung auf das Licht der Hintergrundquelle bemerkbar macht. Sogar bei der Suche nach extrasolaren Planeten, also Planeten, die um fremde Sterne kreisen, kann man Mikrolinsen einsetzen – da sich solche Planeten in der beobachteten Lichtkurve bemerkbar machen können, wenn der Stern samt Planet als Mikrolinse vor einem Hintergrundobjekt vorbeiwandert. Kürzlich gelang es außerdem, mithilfe des Mikrolinseneffekts die Masse eines Weißen Zwergs exakt zu vermessen. Man kann es durchaus als Ironie des Schicksals verstehen, dass gerade Hackings Mikrolinsen heute als Hilfsmittel genutzt werden, um das Universum zu erforschen.
Gut, wir können Mikrolinsen nach wie vor nicht »versprühen« wie die Elektronen, die dadurch ja für Hacking real wurden, so weit geht die Werkzeuganalogie dann doch nicht, aber macht das wirklich einen Unterschied? Eine Eigenschaft, die Hacking an den Elektronen besonders hervorgehoben hatte, war, dass wir die Ursachen und Wirkungen des Verhaltens der Elektronen so gut verstehen, dass wir sie systematisch zur Beeinflussung anderer Bereiche der Natur einsetzen können. Auch wenn wir die Mikrolinsen nicht wirklich aktiv einsetzen, können wir aus unserem Verständnis der Mikrolinsen zusammen mit deren Beeinflussung des Lichts von Hintergrundobjekten neues Wissen erlangen. Und Mikrolinsen sind ja nicht die einzigen astrophysikalischen Objekte, die wir als »Werkzeuge« nutzen, um andere Phänomene zu erforschen. Wir nutzen zum Beispiel die Bewegungen von Sternen im galaktischen Zentrum, um die Masse des supermassereichen Schwarzen Lochs im Zentrum unserer Galaxie zu messen, wir nutzen die Strahlung bestimmter Moleküle als kosmisches »Thermometer« (da die relative Stärke der Spektrallinien eines Moleküls von der Temperatur abhängt), wir nutzen Spektrallinien als Geschwindigkeitsmesser. Wir können alle diese Phänomene zwar nicht aktiv beeinflussen, aber unser theoretisches Verständnis ist groß genug, dass wir berechtigtes Vertrauen in die Existenz und die Nutzbarkeit dieser Phänomene haben.
Fazit 1 scheint also zu sein: Wenn wir mit Hacking sagen, dass Elektronen real sind, dann können wir auch sagen, dass Planeten und Sterne und interstellare Molekülwolken real sind. Aber lautet dann Fazit 2, dass es eigentlich gar keinen großen Unterschied gibt zwischen der Astrophysik und den experimentellen Disziplinen? Hm. Sollte es gerade Ian Hacking