Das verlorene Land - John Birmingham - E-Book

Das verlorene Land E-Book

John Birmingham

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Beschreibung

Wie sähe die Welt ohne die USA aus?

Der 14. März 2003 hatte die Welt in ihren Grundfesten erschüttert: Die USA sowie Teile Kanadas und Mexikos wurden durch einen gigantischen Energieblitz restlos vom Erdboden getilgt. Die Welt ist in Aufruhr, denn egal ob Freund oder Feind, das Verschwinden der letzten großen westlichen Supermacht hat das Gleichgewicht der Kräfte unwiderruflich verschoben…

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Inhaltsverzeichnis
DAS BUCH
DER AUTOR
Prolog
Kapitel 01 – New York
Kapitel 02 – Texas, Bundesverwaltung
Kapitel 03 – Wiltshire, England
Kapitel 04 – New York
Kapitel 05 – New York
Kapitel 06 – New York
Kapitel 07 – Texas, Bundesverwaltung
Kapitel 08 – Wiltshire, England
Kapitel 09 – New York
Kapitel 10 – New York
Kapitel 11 – Seattle
Kapitel 12 – Swindon, England
Kapitel 13 – Texas, Bundesverwaltung
Kapitel 14 – New York
Kapitel 15 – New York
Kapitel 16 – Salisbury Plain, England
Kapitel 17 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 18 – New York
Kapitel 19 – Salisbury Plain, England
Kapitel 20 – Air Force One, Flug von New York nach Kansas City
Kapitel 21 – New York
Kapitel 22 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 23 – New York
Kapitel 24 – New York
Kapitel 25 – London
Kapitel 26 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 27 – Kansas City, Missouri
Kapitel 28 – New York
Kapitel 29 – London
Kapitel 30 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 31 – Berlin
Kapitel 32 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 33 – New York
Kapitel 34 – New York
Kapitel 35 – Kansas City, Missouri
Kapitel 36 – Berlin
Kapitel 37 – Kansas City, Missouri
Kapitel 38 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 39 – Kansas City, Missouri
Kapitel 40 – Berlin
Kapitel 41 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 42 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 43 – New York
Kapitel 44 – Kansas City, Missouri
Kapitel 45 – New York
Kapitel 46 – New York
Kapitel 47 – New York
Kapitel 48 – New York
Kapitel 49 – New York
Kapitel 50 – New York
Kapitel 51 – Kansas City, Missouri
Kapitel 52 – New York
Kapitel 53 – Texas, Regierungsbezirk
Kapitel 54 – New York
Kapitel 55 – Texas, Regierungsbezirk
Danksagung
Copyright
DAS BUCH
14. März 2003 – ein Tag, der die Welt für immer verändert hat. Ein gewaltiger Energieblitz hat große Teile der USA entvölkert und damit die letzte globale Großmacht dem Erdboden gleichgemacht. Die letzten versprengten Überlebenden stehen nun vor einer schier unmöglichen Aufgabe: Wie kann man das Land der Freiheit und des amerikanischen Traums wiederauferstehen lassen? Der neu gewählte Präsident Kipper steht vor schwierigen Entscheidungen, denn im Süden und in New York toben erbitterte Kämpfe mit skrupellosen Piratenbanden und fanatischen Gotteskriegern. Besonders ein Mann, ein gewisser Emir, will die Insel Manhattan und von dort aus ganz Amerika mit einem Heiligen Krieg überziehen. Ein unerfahrener Präsident und eine verzweifelte Geheimagentin sind nun die einzigen, die ihr gerade wieder aufblühendes Land noch retten können …
Mit »Das verlorene Land« – und dem Vorgängerband »Der Effekt« – hat John Birmingham in der internationalen Thrillerlandschaft ein unübersehbares Signal gesetzt – ein atemberaubendes Leseereignis!
DER AUTOR
John Birmingham wurde 1964 in Liverpool geboren und wuchs in Australien auf. Er arbeitete lange Jahre als Journalist, bevor er sich dem Schreiben von Romanen widmete. Heute ist er einer der populärsten australischen Autoren der Gegenwart. Mit »Der Effekt« hat John Birmingham auch international für Furore gesorgt.
Prolog
Seattle, Washington
»Mann, Präsident sein nervt total.«
»Und was glaubst du wohl, wie sehr es nervt, mit einem Typen verheiratet zu sein, der sich ständig darüber auslässt, wie nervig es ist, Präsident zu sein.«
Kipper zuckte zusammen, als Barbara bei dem Versuch, den obersten Knopf seines Hemds zu schließen, ein Stück Haut unter seinem Adamsapfel einklemmte.
»Mein Gott, Kip. Du benimmst dich wie ein Kleinkind. Ein Glück, dass deine Marines dich so nicht sehen können.«
»Es sind nicht meine Marines«, protestierte er, während er über die Schulter seiner Frau hinweg in den Ganzkörper-Spiegel schaute, der in ihrem Schlafzimmer stand.
O Mann.
Er sah aus wie ein Pinguin.
Er trug einen dämlichen Frack. Mit Schwänzen und all dem Zeug. Wahrscheinlich würde er gleich anfangen, wie ein bescheuerter Pinguin zu quieken.
Und nachdem Barbara nun endlich mit dem letzten Knopf fertig war, kam bestimmt gleich die schauderhafte Prozedur des Krawattenbindens.
»Muss ich das wirklich …«
»Ja, Kip, du musst das wirklich tun. Es gehört nun mal zu deinem Job.«
»Aber ausgerechnet Poesie …«
Kip streckte sich und zog seinen blöden Anzug fertig an, während Barbara sich vor dem altmodischen Schminktisch die Ohrringe anlegte.
»Ach komm, Kip«, sagte sie lächelnd. »In den letzten Jahren hast du dich mit schlimmeren Sachen beschäftigt als mit Paarreimen. Vielleicht macht es sogar Spaß.«
Vielleicht. Wenn er vorher ein paar Biere trinken durfte, dann würden sich diese blöden Gedichte vielleicht wirklich reimen. Er hörte schon die Klänge des kleinen Kammerorchesters, das im Erdgeschoss spielte. Die Musik der Streichinstrumente und das Murmeln der Gäste drang durch die dunklen, holzvertäfelten Wände des Schlafzimmers. Unwillkürlich schaute Kipper auf die Uhr. Es würde bestimmt noch sehr lange dauern, bis er sein erstes, wohlverdientes Bier zu sich nehmen durfte.
»Mr. President, sind Sie bereit?«
Barbara lächelte den Protokollchef an. »Oh, Allan, Sie wissen doch, dass er nie fertig wird. Aber ich habe das Beste draus gemacht. Gehen wir also nach unten.«
Kipper hatte nicht bemerkt, dass jemand in der Tür aufgetaucht war, aber es überraschte ihn nicht. Er selbst hatte Allan Horbach, dem Protokollchef des Weißen Hauses, den Spitznamen Caspar gegeben, weil er ständig irgendwo herumspukte. Allerdings musste man zugeben, dass Kipper mehr Hilfestellung beim Einhalten des Protokolls benötigte als ein normaler Präsident.
Barbara und Allan begannen eine verhaltene, aber lebhafte Konversation, als sie den Flur entlang zum Treppenhaus gingen. Die Hintergrundgeräusche schwollen immer mehr an, und Kipper schätzte, dass sich mindestens zweihundert Menschen dort unten im Vestibül des Dearborn House eingefunden hatten. In der Vergangenheit hatte er eine ganze Menge Formalitäten abgeschafft, die er als quälend empfand. Jetzt musste er wenigstens nicht mehr diesen beinahe unerträglichen Augenblick durchstehen, wenn Allan sein Kommen ankündigte, als würde er die Gangway von einem Flugzeug hinuntersteigen. Trotzdem schauten alle auf, lächelten und winkten, als sie herunterkamen, und warfen ihnen erwartungsvolle Blicke zu.
Und dann wurden sie in die Menge hineingestoßen. Es war, als würde man vom Ufer in einen schnell fließenden Fluss steigen und von den Wogen mitgerissen.
Halb Seattle zwängte sich in den Musiksaal, der gleichzeitig auch der Salon des Dearborn House war. Kipper zuckte zusammen, als er Sandra Harvey, die Vorsitzende der Grünen, bemerkte, die gerade mit Miss Hughes, seiner Sekretärin, sprach. Er nahm sich vor, Annie zu ermahnen, sie solle in Zukunft dafür sorgen, dass er immer außer Haus war, wenn Sandra ihm ihre Aufwartung machen wollte. Auch seinen Stabschef Jed Culver entdeckte er in der Menge. Er unterhielt sich gerade mit Henry Cesky, einem erfolgreichen Bauunternehmer, und Kip fragte sich, was für ominöse Pläne die beiden mal wieder ausheckten. Dann war Allan auch schon wieder neben ihm und schob ihn freundlich mit dem Ellbogen auf die Botschafter von Großbritannien und Frankreich zu, die über irgendwelche Vorkommnisse in Guadeloupe stritten.
Er war sich ziemlich sicher, dass es sich dabei um ein Land handelte und nicht um ein Tapas-Gericht, bezweifelte aber, ob er unbedingt an ihrer Unterhaltung teilnehmen sollte.
»Mister President«, sagte Horbach, »wir müssen die Botschafter begrüßen, dann den Sprecher des Repräsentantenhauses, den Gouverneur, den …«
Kippers Gedanken schweiften ab. Sie waren noch nicht mal eine Minute auf diesem Empfang, und er war fix und fertig. Er verstand nicht, wie Barbara es schaffte, alle anzulächeln und mit ihnen zu reden. Es sah aus, als würde sie Spaß dabei haben. Vielleicht hatte sie den ja tatsächlich. Die nächsten dreißig Minuten verstrichen mit einer Reihe quälender »Hallo, wie geht’s denn so«-Situationen. Er grüßte Honoratioren, ausländische Gäste, Senatoren und Kongressabgeordnete sowie Beamte der Stadtverwaltung von Seattle, die allesamt in ihre Ämter gekommen waren, nachdem er sein Amt als Leiter der Stadtwerke von Seattle gegen das des Präsidenten der Vereinigten Staaten eingetauscht hatte. Erleichtert stellte er fest, dass auch Barney Tench, sein alter Schulkamerad und jetzige »König des Wiederaufbaus«, gekommen war. Er stand drüben beim Fenster und beugte sich über das Büffet.
»He, Barn, wie läuft’s bei dir?«, rief er über die Köpfe der Menge hinweg und lenkte damit die Aufmerksamkeit von fünfzig oder sechzig Leuten auf seinen Freund, der sich soeben ein riesiges Stück Krabbenfleisch in den Mund schob. Allan Horbach hätte sich beinahe selbst geohrfeigt, und Barbara trat ihm von hinten gegen das Bein.
»Aber ich muss mit Barney reden«, protestierte Kipper. »Es geht um seine Arbeit.«
»Nicht jetzt, Mr. President«, beharrte der Protokoll-Tyrann. »Mr. Ford wird jeden Augenblick mit seinem Vortrag beginnen.«
»Der Dichter?«, entgegnete Kipper. »Oh, das ist ja toll.«
Sie drängten sich durch die Menge zurück, und ständig trat ihnen jemand in den Weg. Alle wollten ihm ein paar Minuten seiner kostbaren Zeit stehlen. Als sie ganz vorn angekommen waren, stellte man Kipper einen nervös dreinblickenden Mann in einem schlecht sitzenden Anzug vor. Er tat ihm sofort leid. Ford sah kein bisschen glücklicher aus als er selbst.
»Mr. President«, sagte Allan Horbach. »Darf ich Ihnen den ersten Dichterfürsten des Neuen Zeitalters vorstellen?«
So nennen sie das jetzt, dachte er. Wann haben wir bloß angefangen, das Ende der Welt als Neues Zeitalter zu bezeichnen?
Er schüttelte Ford die Hand und beugte sich zu ihm, um den Lärm der vielen Menschen zu übertönen. »Keine Sorge, Kumpel, morgen ist das alles nur noch ein schrecklicher Alptraum.«
»Was?« Ford sah ihn erschrocken an. »Ach so, ein Witz. Okay, alles klar. Soll ich dann jetzt mit dem Vortrag anfangen?«
»Ich denke, der Präsident möchte vorher noch ein paar Worte sagen«, meinte Horbach.
»Na ja, ehrlich gesagt, reiße ich mich nicht gerade darum«, sagte Kip und erntete einen warnenden Blick von seiner Frau. »Aber egal, wir werden auch nicht jünger. Bringen wir es hinter uns.«
Irgendwo ertönte eine Klingel, als er die kleine Bühne hinaufstieg, die extra für dieses Ereignis aufgebaut worden war. Er klopfte gegen das Mikrofon.
»He, hallo, wie geht’s euch denn so?«, fragte er, und schon ebbte das Stimmengewirr ab. Er zwinkerte Ford zu. »Wie Sie alle wissen, bin ich kein großer Freund von Formalitäten. Aber ich schätze, es ist halt nötig, ab und zu mal so einen dämlichen Anzug anzuziehen. Wie meine Großmutter zu sagen pflegte: Wenn man etwas Wichtiges zu tun hat, sollte man sich vorher saubere Hosen anziehen.«
Höfliches Gelächter ertönte hier und da, mehr aber nicht. Nur sein alter Kumpel Barney, der immer noch damit beschäftigt war, sich Unmengen Krabbenfleisch einzuverleiben, bekam einen derartigen Lachanfall, dass Kip schon befürchtete, er könnte ersticken. O Gott, dachte er, aber mit den anderen hier habe ich doch überhaupt nichts am Hut.
»Wie auch immer«, fuhr er fort. »Heute Abend lohnt es sich, Hosen zu tragen.«
Er hob den Daumen und warf Adam Ford einen wissenden Blick zu. Im Gegenzug schenkte ihm der Dichter ein aufmunterndes Lächeln und zwinkerte ganz begeistert, je mehr Kipper an Terrain gewann.
»Meine Frau Barbara und ich haben Sie heute Abend hierher eingeladen, um … He, zum Teufel, ihr wisst doch alle, worum es geht. Wir haben einen neuen Dichterfürsten!«
Den letzten Satz rief er laut aus, als wollte er eine College-Football-Mannschaft ankündigen, die ein großes Turnier gewonnen hat. Er erntete viel Beifall und zustimmende Rufe und merkte, dass die Leute ihm jetzt wirklich zuhörten.
»Ich freue mich, dass ihr genauso gespannt seid wie ich«, sagte der Präsident und leitete das Ende seiner Rede ein. »Weil das hier nämlich absolut umwerfend sein wird. Ihr wisst ja, dass es in den letzten Jahren hauptsächlich ums nackte Überleben ging. Wir mussten zusehen, dass wir satt werden, unsere Häuser verteidigen und die Kinder durchbringen. Das war …«
Er hielt inne und suchte nach den richtigen Worten. Zum großen Kummer seiner Mitarbeiter trat Kipper selten mit einer vorbereiteten Rede vor sein Publikum.
»… das war, na ja, man könnte es eine Herausforderung nennen, aber das wäre nicht ganz richtig. Es war die Hölle.«
Im Saal war es jetzt ganz still.
»Der 14. März 2003 war der Tag, an dem wir in die Hölle gefahren sind. Das ist die einzige Art, wie ich es beschreiben kann, denn noch immer wissen wir ja nicht, was passiert ist, und ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass wir es jemals herausfinden werden. Ich habe Hunderte von Wissenschaftlern auf die Erforschung dieses Ereignisses angesetzt. Sie haben jede Menge Theorien aufgestellt und Experimente gemacht, um zu ergründen, wo dieser Effekt herkam und was er mit unseren Freunden und Angehörigen gemacht hat. Sie haben jahrelang herumgeforscht und wissen immer noch nichts. Vielleicht ist es also Zeit, die ganze Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Deshalb ist Adam Ford heute Abend hierhergekommen. Er ist kein Wissenschaftler, er ist Dichter, und wenn ich auf das zurückblicke, was uns passiert ist, auf das Große Verschwinden, dann frage ich mich, ob seine Methode, nach der Bedeutung dieser Ereignisse zu fragen, nicht genauso wertvoll ist wie alle Berichte, die diese Wissenschaftler für mich abgefasst haben. Womöglich sogar wertvoller.« Er bedeutete dem Dichter, dass er sich durch die Mikrofone nach vorn durcharbeiten sollte. »Adam?«
Unter donnerndem Applaus stieg der Dichterfürst aufs Podium, während der Präsident es verließ. Ford zog ein einziges Blatt aus der Brusttasche seines Jacketts und hustete, bevor er sich bei Kipper bedankte. Dann wartete er, bis sich das Raunen gelegt hatte. Als es ganz ruhig war, begann er zu lesen.
»Das Gedicht trägt den Titel ›Nachspiel‹«, sagte er und begann:
»Sie versanken nicht im Meer. Sie fielen nicht im Krieg.
Wir waren nicht bei ihnen, als sie ein letztes Mal um Atem rangen.
Keine Leichen zu identifizieren.
Doch sie waren da. Und sie verschwanden.
Wir blieben zurück, orientierungslos,
Ohne Beweise oder gar Gewissheit, was geschah,
Keine Brandspuren an den Hauswänden,
Keine Berge von Glas, Koffern und Schuhen,
Keine aufgestapelten Totenschädel, keine Filmaufnahmen
Von herabrieselnden Papierfetzen oder zerberstendem Glas.
Nur dieses unendlich tiefe Gefühl von Trauer,
Das unsere Welt verzerrt wie ein Schwarzes Loch -
Einer Trauer, die wir Nicht-Verschwundenen,
Bei uns tragen, auf der Suche nach einem Ort
In dieser fremden, neuen, veränderten Welt.«
01
New York
»Nein, Mr. President, die kriegt man nicht vom Kätzchenkraulen.«
James Kipper nickte und lächelte zweifelnd, als der breitschultrige Arbeiter seine Oberarmmuskeln anspannte und jedem davon einen Kuss aufdrückte. Seine Sicherheitsleute schienen nicht weiter beunruhigt zu sein. Kipper achtete inzwischen ganz automatisch auf ihre unausgesprochenen Signale und ihre Körpersprache. Sie schienen von den Arbeitern dieser Bergungsmannschaft weniger beunruhigt als von den zerstörten Fassaden der Bürohäuser von Manhattan, zwischen denen sich die verrosteten Überreste einer Massenkarambolage türmten. Es war heiß und feucht, wie immer im Juni, und der Arbeiter war völlig durchgeschwitzt. Auch Kipper spürte, dass sein Hemd am Rücken klebte.
Nachdem er seine Ballonmuskeln liebkost hatte, streckte der Arbeiter eine seiner gigantischen, schwieligen Pranken aus, um dem 44. Präsidenten der USA die Hand zu schütteln. Kippers Lächeln war nicht mehr so breit wie einst, und es war bestimmt nie so breit gewesen wie das von diesem Gorilla, aber seine Jahre bei den Stadtwerken hatten seine Finger nicht kraftlos und seinen Händedruck nicht schlapp werden lassen. Er erwiderte die eisenharte Umklammerung mit einem immerhin bemerkbaren kräftigen Zudrücken.
»Donnerwetter, Mr. President«, sagte der Arbeiter scherzhaft. »Vorsicht, ich brauche meine Wurstfinger noch für meinen Nebenjob als Konzertpianist.«
Die Männer und Frauen, die Kipper umringten, grinsten und kicherten. Der Typ war ganz offensichtlich der Witzbold dieser Truppe.
»Ein Konzertpenis?«, gab Kipper zurück. »Ist das was Neues? Geht das denn, ohne dass man diese hübschen kleinen Klaviere ruiniert?«
Karen Milliner, seine Medienreferentin, stöhnte laut auf, wurde aber von dem vielstimmigen heißeren Gelächter der Räumungsarbeiter übertönt, die sich kaum noch einkriegen konnten. Das machte seine Sicherheitsleute ein bisschen nervös, aber der Riese, der so gern seine Muskeln abknutschte, übertönte alle anderen, als er auf den Staatschef deutete und laut brüllte. »Dieser verdammte Kerl hat mich echt überrumpelt. Das ist der beste verdammte Scheißpräsident, den wir je hatten!«
Kipper befürchtete schon, der Riese könnte ihn aus lauter Übermut in den Schwitzkasten nehmen. Dann wären die Sicherheitsleute aus gutem Grund nervös geworden.
Aber nach ein paar Minuten legte sich der Begeisterungsausbruch wieder.
Nur eine Frau war die ganze Zeit über ziemlich reserviert geblieben. Seine Sicherheitsbeamten hatten sie sicherlich schon bemerkt und behielten sie im Blick, auch wenn man ihre Augen wegen ihrer dunklen Sonnenbrille nicht sehen konnte. Kipper bemerkte den Blick der Frau und lächelte ihr milde amüsiert zu. Ganz offensichtlich gehörte sie nicht zu diesen Raubeinen. Sie hatte feine Gesichtszüge und sah nicht aus wie jemand, der Tag für Tag schwere körperliche Arbeit leistete. Immer wieder stellte er auf seinen obligatorischen Rundreisen fest, dass die »Schaulustigen«, wie seine Tochter sie nannte, ihn in ihren Bann zogen. Die ganze Nation bestand aus Entwurzelten und Verlorenen, und jeder Einzelne hatte seine eigene Geschichte. Es wäre sicherlich spannend zu erfahren, wie der Muskelmann und diese stille Frau dort in die verwilderten Straßenschluchten von New York gekommen waren, drei Jahre, nachdem die zerstörerische Energiewelle genauso rätselhaft, wie sie gekommen war, auch wieder verschwand.
»Mr. President«, sagte Karen Milliner, »wir müssen weiter. Der Terminplan, Sie wissen schon.«
Die Bemerkung der Leiterin der Kommunikationsabteilung, von ihm klammheimlich auch »nervige PR-Tante« genannt, riss ihn aus seinen Gedanken. Er nickte und lächelte den Arbeitern entschuldigend zu.
»Tut mir leid, Jungs. Ich bin genau wie ihr nur ein Diener der Gesellschaft, und meine Chefin hier …« Er deutete mit dem Daumen auf Karen Milliner. »… meint, dass ich wieder zurück an die Arbeit soll.«
Die kleine Gruppe buhte ein bisschen, klatschte aber Beifall, als er ihnen zum Abschied zuwinkte und davonging. Seine Sicherheitsleute folgten ihm wie Schatten. Rufe wie »Danke, Mr. President« und »Weiter so, Kip« folgten ihm, während er weiter über den Friedhof schritt, der einstmals das große Amerika gewesen war.
Bald schon umfing sie wieder das leere Grauen der Ruinen. Schutt und Asche knirschte unter ihren Sohlen, als die Gruppe sich einen Weg durch die verwüstete Wall Street bahnte. Nur das Gurren der Tauben war zu hören. Die Vögel waren als eine der typischen Plagen der Stadt wieder zurückgekehrt. Die Erholung des Ökosystems innerhalb des Einzugsgebiets des Effekts schien alle wissenschaftlichen Prognosen Lügen zu strafen. Büsche und Bäume säumten die Straßen. Das Dröhnen der Kettensägen vermischte sich mit dem metallischen Krachen des schweren Räumgeräts. Eine Menge Arbeit in Manhattan und anderswo bestand darin, Schneisen ins Dickicht zu schlagen, um zu den ausgebrannten Gebäuden oder ineinander verkeilten Schrottautos vorzudringen. Hier sah es nicht so aus wie in den verkohlten Wüsten, die der Feuersturm in weiten Flächen von Nordamerika hinterlassen hatte. Hier gab es Leben, zumindest von einer bestimmten Art. Er roch den Duft des frisch gefällten Holzes. Anscheinend wollte New York sich wieder in seinen einst stark bewaldeten Urzustand zurückverwandeln.
Nachdem er die deftigen Sprüche der Abbruchtruppe hinter sich gelassen hatte, versank Kipper in seinen eigenen Gedanken. Er entdeckte einen Lieferwagen mit der Werbung für »Mister Softee«-Eiskrem, der in den Eingang der Citibank an der Ecke Front und Wall Street gerast war. Unter ihm lagen zwei verbeulte Fahrräder. Die vergammelten Kleidungsstücke der verschwundenen Radfahrer waren von spitzen Glasscherben aufgeschlitzt worden. Aber sie waren eben nicht bei einem Autounfall zu Tode gekommen, erinnerte er sich, sondern einfach verschwunden, von einem Moment zum nächsten, genau wie alle anderen Bewohner der Stadt. Genau wie alle anderen Menschen in Amerika, damals vor vier Jahren.
»Hier war der Verkehr wohl nicht so stark«, sagte er zu Jed Culver, nur um irgendwas zu sagen. »Nicht wie in der … wie hieß die letzte Straße, die wir überquert haben, wo die Räumungsarbeiten stattfinden?«
»Water Street, Sir«, sagte einer seiner Sicherheitsleute. Er war neu hinzugekommen. Kipper kannte seinen Namen nicht, aber er hatte einen New Yorker Akzent. Wer weiß, was im Augenblick in seinem Kopf vorging.
»Die meisten Autos waren geparkt, als der Effekt kam«, fügte Culver hinzu. »Hier waren vor allem Fußgänger unterwegs und Fahrradfahrer, Gesundheitsfanatiker und solche Leute. Auf der Water Street war mehr los.«
Culvers Südstaatentonfall hatte einen leichten Louisiana-Touch, der sich nach einigen Auslandsaufenthalten abgeschwächt hatte. Nun schwieg er angesichts dieser gigantischen Nekropolis, in der Millionen von Menschen verschwunden waren, es war einfach zu bedrückend. Kipper wandte sich ab und ließ seinen Blick durch die schattige Häuserschlucht schweifen, die einstmals das Finanzzentrum der Welt gewesen war. Zwischen Water und Wall Street erstreckte sich ein Schrottplatz aus gelben Taxis, Privatautos und einem gepanzerten Lieferwagen, der von einem Lastwagen erfasst und umgestoßen worden war. Der Aufprall hatte die Hecktüren aufgerissen, und man konnte die sandfarbenen Säcke sehen, die herausgefallen waren und in denen sich die alten, jetzt wertlosen Geldscheine befanden. Niemand interessierte sich mehr für dieses Geld, das längst von einer neuen Währung namens New American Dollar ersetzt worden war. Sie drehten um und gingen wieder in Richtung des schweren Räumgeräts, der Presslufthämmer und des dröhnenden Lärms.
Das waren die lautesten Geräusche in der Stadt.
Kipper schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie«, sagte er. »Gehen wir weiter.«
An der Ecke, wo das Gebäude der JP Morgan Bank stand, konnte man einen Blick auf die verwitterte Fassade der New Yorker Börse werfen. Eine große, schmutzige und zerfetzte amerikanische Fahne hing schlaff zwischen den römischen Säulen des neoklassischen Portals, das von Weinranken und Nylonseilen überzogen war. Kipper war nie in der Wall Street gewesen, nicht mal in New York. Auf Fotos hatte diese Straße immer viel größer gewirkt. Aber nun stand er hier vor dem Gebäude, das einst den mächtigen Motor des globalen Kapitalismus beherbergt hatte, und es kam ihm klein, beinahe sogar mickrig vor.
Am Ende der Straße entdeckte er eine Art Kirche, die zwischen den Wolkenkratzern sehr unscheinbar aussah. Kipper war nicht religiös, aber der Anblick des Kirchturms stimmte ihn noch melancholischer, machte ihn beinahe depressiv. Mehr als nur ein paar Wirrköpfe hatten den Effekt als das Ende der Welt interpretiert. Er selbst allerdings glaubte, dass es eine rationale Erklärung für die schreckliche Katastrophe geben musste.
Aber welche Erklärung das sein könnte, wusste niemand.
Er seufzte tief.
Die Delegation war sehr klein. Nur Kipper, Jed Culver, seine Stabschefin Karen Milliner und ein halbes Dutzend Sicherheitsleute in dunklen Overalls und mit Kampfausrüstung gehörten dazu. Die konnte man einfach nicht loswerden. Jede Menge Plünderer suchten zurzeit die Ostküste heim und nahmen alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, angefangen bei Sportwagen und schwerem Gerät bis hin zu Computer-Spielkonsolen und Schmuck. Kipper musste oft an die alten Ureinwohner Amerikas denken und ihr Schicksal, als die Europäer auftauchten. Auch jetzt war der ganze Kontinent reif für eine Übernahme, und niemand in der Welt dort draußen schien sich Gedanken darüber zu machen, dass eine kleine Gruppe von Einheimischen bereits Anrechte hatte.
Die traurige Ironie war in seinen Augen, dass die eigentlichen Ureinwohner vom Effekt wahrscheinlich vollkommen ausgelöscht worden waren. Er hatte keine Ahnung, wie viele von ihnen übrig geblieben waren. Die Volkszählung im nächsten Jahr würde möglicherweise etwas Licht in die Sache bringen. Bislang war einfach keine Zeit gewesen, sich zu vergewissern, wie groß die US-Bevölkerung überhaupt noch war. Es gab zu viel zu tun, um das nackte Überleben zu sichern. So war zum Beispiel die Ostküste inzwischen von Piraten und Gangstern überrannt worden. Viele von ihnen gehörten zu großen kriminellen Organisationen aus Europa oder Südamerika, manche operierten mit der stillschweigenden Rückendeckung bestimmter Staaten, jedenfalls wenn sie aus Gegenden stammten, wo es noch Staaten gab. Andere, kleinere Gruppen waren in der Karibik beheimatet, aber es gab auch Banden, die aus Afrika oder Osteuropa stammten. In den Berichten, die zu Hause in seinem Büro in Seattle lagen, stand, dass man sich mit solchen Leuten besser nicht anlegen sollte. Die Hälfte von ihnen hatte sich die letzten Reste von Vernunft mit Cocktails irgendwelcher Dschungel-Drogen weggepustet. Sie interessierten sich nur für die teuren Autos und Luxusgüter. Sie kamen, um Kupfer, Eisen und Stahl aus den Trümmern zu bergen. Sie kamen, um Edelsteine, Gold und Kunstwerke zu plündern. Das Museum of Modern Art und ähnliche Einrichtungen waren längst leergeräumt und ihre Schätze in alle Winde verstreut worden. Manche kamen auch einfach nur, um in die Straßen von Manhattan zu kacken.
Andere wiederum drangen ein, um jeden Amerikaner zu töten, den sie aufspüren konnten.
Nach Culvers Einschätzung suchten jeden Tag etwa achtbis neuntausend Freibeuter die Straßen von New York heim. Und im Gegensatz zu Armee und Miliz wurden sie nicht von irgendwelchen Regeln oder Gesetzen behindert.
»Haben Sie mal hier gearbeitet, Jed?«
»In dieser Straße hier, Mr. President? Nein. Vor sechs Jahren hatte ich eine Weile in New York zu tun, bei Arthur Anderson. Aber in der Wall Street war ich nie beschäftigt.«
Kipper reckte den Kopf und schaute sich nach den Soldaten des Marinekorps um, die sich in den Gebäuden entlang seiner Route verschanzt hatten. Er konnte sie nirgends entdecken und unterdrückte den leichten Schauer, der ihn erfasste. Irgendetwas war hier faul. Die Vegetation war viel schneller gewachsen, als er sich vorgestellt hatte, wahrscheinlich hatten die Überflutungen und die Stürme der letzten Jahre ihren Beitrag dazu geleistet. Die ganze Stadt machte auf ihn den Eindruck eines überwucherten Friedhofs. Eines Friedhofs, der gleichzeitig ein Schlachtfeld war.
Eine ganze Kampfbrigade der übrig gebliebenen US-Army, unterstützt von Milizeinheiten war nötig gewesen, um den südlichen Bereich der Insel von Manhattan für seinen Besuch zu säubern. Und sogar diese Säuberung war nicht hundertprozentig, es gab immer noch genügend unbewachte Schlupflöcher und Durchgänge. Zusätzliche Einheiten der Marines und der Special Forces sowie private Sicherheitsdienste waren nötig gewesen, um ein keilförmiges Gebiet zwischen World Trade Center und Battery Park bis hin zur Anlegestelle der Fähre abzusichern – und nachdem das geschehen war, hatte eine Abteilung der irregulären Manhattan-Miliz von Gouverneur Schimmel einen Kordon eingerichtet, den niemand lebend passieren konnte.
Karen Milliner trat neben ihn und sprach mit gesenkter Stimme.
»Die Medien sind hier, Mr. President. Wir sollten einen Schritt zulegen.«
Ihm war schon klar, warum sie es für nötig hielt zu flüstern. Er hatte deutlich zu verstehen gegeben, dass er diesen Teil seiner Inspektionsreise allein durchführen wollte, nur er und sein Stabschef. Karen war bloß mitgekommen, weil die Medien zu Anfang und am Ende seines Besuchs der toten Stadt bedient werden sollten.
Kipper wandte sich von der Börse ab, und schon blieb sein Blick an den großen dorischen Säulen der Federal Hall hängen, dem alten Kongressgebäude. Die Statue von George Washington stand immer noch dort auf einem Sockel vor dem Gebäude, das die letzten Jahre offenbar besser überstanden hatte als die vielen modernen Gebäude in der Umgebung. Eine Putzbrigade hatte den Schutt weggeräumt und die wuchernden Pflanzen auf der Steintreppe beseitigt. Nun glänzte die Statue des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten frisch geschrubbt im Licht der Sonne.
»Nur eine Minute, bitte«, sagte Kipper.
Er überquerte die Straße, und sein Sicherheitstrupp eilte hinterher. Jed Culver geriet ziemlich aus der Puste beim Versuch, mit ihm Schritt zu halten. Am Fuße der Treppen schaute Kip nach oben in die Augen von George Washington und senkte dann den Blick, um die Inschrift im Sockel zu lesen.
An dieser Stellewurdeam 30. April 1789
GEORGE WASHINGTON
als erster Präsidentder Vereinigten Staaten von Amerikavereidigt.
»Mr. President?« Culver zupfte an seinem Ärmel.
Kipper warf ihm einen ungehaltenen Blick zu. Er hatte sich tapfer bemüht, seinen Stabschef dazu zu kriegen, ihn Kip zu nennen oder vielleicht auch Jimmy – tatsächlich hatte er es ihm sogar befohlen -, aber der ehemalige Rechtsanwalt bestand darauf, die Formalitäten einzuhalten. Kipper vermutete, dass es ihm Spaß machte. Jed Culvers mächtiger Körper steckte in einem dreiteiligen dunkelblauen Anzug, der an einem derart schwülen Tag ziemlich lästig sein musste. Der Präsident hingegen trug Jeans, Schnürstiefel von Carhartt und eine kugelsichere Weste über einem alten Hemd von L. L. Bean. Sogar diese ziemlich praktische Kleidung war an diesem feuchtheißen Tag nicht gerade bequem.
»Nur noch eine Minute, Jed.«
Kipper sah die Statue an und fragte sich, was wohl wirklich an diesem Tag durch Washingtons Kopf gegangen war. Er war der Führer einer frisch geborenen Nation geworden, deren Staat am Rand einer weiten Wildnis existierte, umgeben von tatsächlichen und möglichen Feinden. Entgegen dem Rat vieler Offiziere hatte er das Kommando über die Armee abgegeben. Er hatte vollstes Vertrauen in das Regierungssystem, das er gerade eingeführt hatte. Das war ein Grundsatz, den Kipper von George Washington übernommen hatte.
Kipper hatte sich selbst dazu verdonnert, die Biografien seiner Amtsvorgänger zu lesen, weil er sich für dieses Amt nicht im Geringsten qualifiziert fühlte. Dennoch hatte er nicht herausgefunden, was diese Männer im Innersten bewegt hatte. Wenn überhaupt, dann konnte er sich mit Truman ein wenig identifizieren, der gar nicht glücklich darüber gewesen war, dass ihm nach dem Tod von Roosevelt die Regierungsgeschäfte zufielen.
Aber wenigstens hatte er geahnt, was auf ihn zukam, dachte Kipper reumütig. Er dachte an den Weg, den er gegangen war: Als unbekannter Chef der Stadtwerke von Seattle war er zum provisorischen Präsidenten ernannt und schließlich für eine volle vierjährige Amtszeit gewählt worden. Nun war er seit Januar 2004 der Präsident der Überreste der Vereinigten Staaten von Amerika. Kurz danach hatte sich der zerstörerische Effekt verflüchtigt. Es war der reine Wahnsinn.
»Okay, ich habe wohl erst mal genug gesehen«, lenkte er ein. »Ich dachte nur, es könnte vielleicht wichtig sein, mal persönlich einen Blick darauf zu werfen.«
»Genau dafür lieben die Leute Sie, Sir«, sagte Culver lächelnd. »Sie machen sich die Hände schmutzig, wenn es sein muss. So, können wir jetzt zum Konvoi zurückgehen? Ich bekomme hier nur Alpträume.«
Sie gingen den gleichen Weg durch die Wall Street zurück und achteten darauf, den hier und da herumliegenden Kleiderhaufen auszuweichen, die nicht weggeweht oder weggespült worden waren. Es waren nicht mehr viele davon übrig. Culver und Kipper kamen an einem im Weg stehenden, verrosteten Kinderwagen vorbei, der auf die Seite gefallen war. Beide vermieden es geflissentlich hineinzusehen. An einem bestimmten Punkt fiel ein Lichtstrahl zwischen zwei ausgebrannten Gebäuden hindurch und beleuchtete eine kleine Galaxie blinkender Sterne auf dem Bürgersteig. Einige der weniger gut organisierten Freibeuter taten nichts weiter, als die Straßen nach Ringen, Uhren, Halsketten oder ähnlichen kleinen Kostbarkeiten abzusuchen, die übrig geblieben waren, nachdem ihre Besitzer verschwunden waren. Hier lagen immer noch jede Menge Wertsachen herum. Als Kipper einer teuer aussehenden, silbrig glänzenden Uhr auswich, hörte er entferntes Gewehrfeuer. Sein Sicherheitschef sprach sofort ins Funkgerät, aber Kipper ging davon aus, dass es sich nur um ein kleines Scharmützel handelte, das zu weit entfernt war, als dass es sie betraf.
Der Konvoi erwartete sie an der Kreuzung zur William Street. Es waren vier schwarze Humvees des Secret Service und drei mit Maschinengewehren und Granatwerfern bestückte Strykers. Weitere Sicherheitsleute eilten ihnen entgegen.
»Gibt’s Ärger?«, fragte Jed.
»Nichts, was wir nicht in den Griff bekommen könnten, Sir«, sagte der Befehlshaber. »Nur ein kleines Feuergefecht auf dem Kanal. Hat nichts mit uns zu tun, aber wir sollten trotzdem aufbrechen.«
Kipper hörte deutlich mehrere Explosionen in einiger Entfernung. Das dumpfe Rattern der Hubschrauber wurde lauter, entfernte sich aber, bevor sie zu sehen waren. Immerhin sind es welche von uns, dachte er. Keine fremde Nation hat bislang gewagt, in das souveräne Territorium der Vereinigten Staaten einzudringen.
Die Sicherheitsleute drängten ihn in sein Fahrzeug. Culver stieg sofort nach ihm ein, dann kam Karen Milliner. Ihre teuren schwarzen Seidenhosen waren staubig und schmutzig. Sie schob sich auf den Sitzplatz direkt gegenüber von Kipper.
»Tut mir leid, Sir, aber ich habe gerade mit dem Sicherheitschef gesprochen und fürchte, ich muss Sie bitten, diese Tour abzubrechen. Heute Morgen hat es drei größere Feuergefechte auf der Insel gegeben und weitere drüben in Brooklyn. Ein richtiger Kawenzmann war es auf dem JFK, wo es Gefechte mit der Air Force gegeben hat.«
Kip amüsierte sich köstlich über Karens vollkommen falsche Benutzung des Wortes »Kawenzmann«.
»Karen, überall in der Stadt finden Feuergefechte statt, Tag und Nacht«, sagte er. »Meist sind es Freibeuter und Piraten, die sich gegenseitig bekämpfen. Zu keiner Tageszeit wird man hier irgendwo eine Idylle finden, wie Sie sich das vielleicht erträumen. Also lassen Sie’s einfach gut sein.«
Man hörte, wie die Türen der Fahrzeuge des Konvois zugeschlagen wurden, dann sprang der Motor des schwer gepanzerten Geländewagens an.
»Wo wir gerade davon sprechen, Sir, wenn ich das mit allem Respekt sagen darf. Sie hätten mir ein Kamerateam zugestehen sollen, um Aufnahmen von Ihrem kleinen Rundgang zu machen. Ich meine, was ist denn der tiefere Sinn von diesem Herumlaufen und Mit-den-Leuten-Reden, wenn wir daraus keine Sendungen machen?«
Kipper lächelte und zuckte mit den Schultern, als das Fahrzeug nach vorn ruckte. »Der tiefere Sinn? Vom Herumlaufen und Mit-den-Leuten-Reden?«
Karen wollte etwas erwidern, aber Jed unterbrach sie.
»Gib’s auf, Herzchen. Dagegen kommst du nicht an. Seit er diesen Job hat, versuche ich, ihn dazu zu bringen, sich wie ein Erwachsener anzuziehen, aber er sieht immer noch aus, als wäre er der Anführer einer Gruppe Wanderarbeiter.«
Kipper winkte in Richtung der Gruppe von Räumungsarbeitern, die sie vorhin getroffen hatten.
»Aber genau das bin ich doch, Jed. Dieses Amt ist nicht mehr das, was es einmal war. Tatsächlich ist es gar nicht so weit entfernt von dem Job, den ich früher hatte, und das geht völlig in Ordnung. Dieses Land braucht keinen Oberkommandierenden, sondern einen Chefingenieur, wenn du mich fragst. Sieh dir doch nur an, was in dieser Stadt hier noch alles getan werden muss, wenn wir irgendwann einmal wieder den Osten besiedeln wollen.«
Jed starrte missmutig aus dem Fenster, während der Konvoi die Broad Street entlangfuhr. Das ausgebrannte Gebäude der Goldman Sachs Bank tauchte vor ihnen auf.
»Aber Mr. President, wir können diese Arbeit doch nicht erledigen, ohne vorher das Gebiet abzusichern. Die Leute, die wir eben getroffen haben, könnten doch ihrer Arbeit nicht nachgehen, wenn dieser Teil der Stadt nicht von Plünderern und Piraten gesäubert wäre. Nun haben wir sie gesäubert, also umgebracht, und einen Teil von Manhattan abgeriegelt. Wir müssen diese Gegend halten, was bedeutet, dass wir unsere Miliz dortlassen müssen und mindestens eine Armeebrigade, um den JFK-Flughafen, die Brücken und die Straßen zu sichern zwischen …«
Kipper hob die Hand, um ihn zu unterbrechen.
»Das weiß ich alles, Jed. Du musst mich nicht ständig daran erinnern. Aber an manchen Tagen kommt es mir so vor, als würde ich in einer abseitigen Sendung des History Channel leben, in der wir den Wilden Osten besiedeln oder wieder besiedeln sollen. Überall um uns herum lauern Feinde, das Militär ist geschwächt, wir haben gigantische Schulden, die Staaten und die Bundesregierung liegen im Dauerclinch, und unsere Wirtschaft ist vor vier Jahren völlig zum Erliegen gekommen. Das ist alles nichts Neues für mich, Kumpel. Aber als ich zugestimmt habe, diesen Job zu übernehmen, habe ich das unter einer Bedingung getan: Ich wollte den Wiederaufbau. Ich weiß natürlich, dass die Rückeroberung des Terrains und die Kämpfe dazugehören. Aber das ist nicht die Hauptsache. Nicht für mich. Mir geht es um Instandsetzung und Erneuerung. Das sind meine wichtigsten Punkte. Wenn es nicht mehr in der Hauptsache darum geht, dann lasse ich den Job sausen.«
Er schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme, um seine Position zu unterstreichen. Niemand bezweifelte, dass James Kipper es damit ernst meinte. Er selbst war sich nicht mal sicher, ob er an der nächsten Wahl teilnehmen wollte, und das hatte er auch freimütig erklärt. Gerade diese Offenherzigkeit war es, die seine Mitarbeiter Tag für Tag zur Verzweiflung brachte. Culver hob die Hände, um zu zeigen, dass er sich ins Unausweichliche fügte.
»Sie sind der Boss.«
»Ja, das bin ich«, sagte Kip. »So steht’s auf meiner Unterwäsche geschrieben.«
02
Texas, Bundesverwaltung
Die morgendliche Eiskruste knirschte unter den Stiefeln von Miguel Pieraro, als er sich hinkniete, um eine Handvoll kalter, feuchter Erde zu greifen. Er roch an der fruchtbaren texanischen Erde, ließ den dunklen, sandigen Humus durch die Finger gleiten und warf einen Blick über die smaragdgrüne Ebene, die sich vor ihm unter dem grauen Himmel ausbreitete. Seine Stute, die er an einem Zaunpfahl angebunden hatte, senkte den Kopf und zupfte am Gras. Mit saftigen Halmen bewachsene Erdschollen lösten sich aus der Erde, und das Pferd verschlang genussvoll die fleischigen Blätter, während Miguels älteste Tochter ihm mit der Hand über das kastanienbraune Fell strich. Er wollte sie schon zur Vorsicht ermahnen, aber dann ließ er es bleiben. Sofia war zwar gerade erst ein Teenager geworden, aber sie bewegte sich ganz selbstverständlich inmitten von Pferden, weil sie es so gewohnt war.
Miguel wandte sich wieder seinem Besitz zu. Eintausend Morgen Land waren es, jetzt noch in Staatsbesitz, aber in einigen Jahren würde es an ihn übergehen. Genauso wie das Vieh und was sonst zu diesem Anwesen dazugehörte, das Haus, die Scheunen, die Ausrüstung, alles. Und etwas anderes kam noch hinzu, etwas, das noch viel kostbarer war, die Staatsangehörigkeit. Eine Heimat. Von jetzt an und für immer würden er und seine Familie für El Presidente Kipper arbeiten, und Miguel war glücklich darüber. Während er über das Land blickte, sah er, wie ein Dutzend Weißwedelhirsche sich über eine Anhöhe bewegte, Fleischlieferanten auf vier Beinen, die aus Australien importiert worden waren. Mit gesenkten Köpfen und hin und her fliegenden Schwänzen bewegten sie sich zielstrebig über den dichten Teppich nahrhaften Grases und suchten nach den besonders saftigen Stellen. Miguel hatte schon recht früh herausgefunden, dass diese besonders saftigen Stellen Hinweise auf den Verbleib der früheren Bewohner der Ranch waren, größtenteils Longhorn-Rinder. Obwohl die meisten Tiere den Effekt gut überstanden hatten, waren viele Arten während des anschließenden ökologischen Zusammenbruchs verschwunden.
»Sofia«, rief er laut. »Sattle dein Pferd, es wird Zeit für einen Kontrollritt durchs Gelände.«
Er sprach jetzt Englisch mit seiner Tochter und legte Wert darauf, sich mit allen Familienmitgliedern in dieser Sprache zu verständigen. Englisch war die Sprache ihrer neuen Heimat, und sie würden sich hier besser hineinfinden, wenn sie sie gut beherrschten. Er verbot niemandem Spanisch oder Portugiesisch zu sprechen, schließlich waren das die Muttersprachen seiner Angehörigen, aber er ermutigte niemanden, sie zu benutzen. Für Miguel war klar, dass seine recht ausgedehnte Familie nicht bloß einfache Bauern waren. Er verstand sich als Siedler, als Pionier, der ein neues Kapitel in der Geschichte dieses Landes aufschlug, und er wollte, dass seine Kinder einmal in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielten. Wahrscheinlich würden sie ihr Leben lang auf dieser Ranch arbeiten, aber ihre Kinder wiederum würden eines Tages auf eine Universität im Nordwesten gehen oder vielleicht sogar im Osten, wenn die Banditen und sonstigen Kriminellen von dort vertrieben und die Städte wieder für ehrbare Leute bewohnbar waren.
Seine Tochter führte beide Pferde herüber, sein großes und ihr kleineres Pony.
»Dad, ist denn nicht bald Zeit fürs Mittagessen?«, fragte sie mit einem leichten australischen Akzent, den sie sich während der achtzehn Monate in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Sydney eingefangen hatte. Alle seine Kinder hatten sich dort diese flache, nasale Sprechweise angewöhnt, die in seinen Ohren fremdartig klang, aber er machte sich nicht die Mühe, sie zu korrigieren. In einigen Jahren würden sie den texanischen Tonfall übernommen haben. Der war für Miguel zwar genauso fremd, aber zumindest gehörte er hierher. Nicht dass er etwas gegen Australien gehabt hätte. Dort zu leben war gar nicht schlecht gewesen, das musste er zugeben. Vor allem gab es dort nicht so viele gefährliche Zwischenfälle wie auf dem Boot von Miss Julianne. Sie hatten ein Dach über dem Kopf gehabt und genügend zu essen. Die Kinder konnten in die Schule gehen, und die Erwachsenen arbeiteten sechs Tage die Woche für irgendwelche Regierungsprojekte. Größtenteils im Agrarbereich, aber einige halfen auch, ein paar Monate lang Eisenbahnlinien für die Armee zu bauen. Schließlich war die Welt allmählich wieder in so etwas wie einen Normalzustand zurückgekehrt … auch wenn man das eigentlich nicht normal nennen konnte. Aber die Verhältnisse hatten sich beruhigt, und die Turbulenzen, die nach dem Großen Verschwinden ausgebrochen waren, hatten sich gelegt. Und Miguel und seine Frau hatten über ihre Zukunft nachgedacht und ob das Leben ihnen nicht noch mehr zu bieten hätte als das Dasein in einem Flüchtlingslager.
»Papa? Mittagessen?«
»Das Mittagessen wird uns auf unserem Ritt nicht begegnen, großes Mädchen«, scherzte er, aber sie verstand die Anspielung nicht. Sehr wahrscheinlich hatte Sofia nicht die leiseste Idee, wer John Wayne war. Für Miguel war er der größte aller Cowboys.
Sie verzog das Gesicht, holte einen Apfel aus ihrer Satteltasche, biss hinein und seufzte theatralisch, als das Pony ihr zu verstehen gab, dass es auch ein Stück von dem Leckerbissen haben wollte.
Miguel band sein Pferd los, schwang sich in den Sattel und ließ seinen Blick zufrieden über seinen Besitz streifen. Oder über das, was bald sein Besitz sein würde. Es war ein großer Unterschied, das hatte er festgestellt, ob man für einen Vorgesetzten schuftete oder den Schweiß für ein Stück Land vergoss, das man sein Eigen nannte. Viele Hektar grünes Gras wiegten sich in der sanften Brise, erstreckten sich über hügeliges Land hinab ins Tal, wo genetisch veränderter Spinat und Mangold sprossen und ausgedehnte Felder mit Hartweizen zu sehen waren. Alles wuchs besonders schnell und wurde von Jahr zu Jahr größer. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er die Ernte Jahr für Jahr um das Dreifache steigern. Mit dem wechselhaften Klima, den kalten Wintern und heißen Sommern dieser Gegend kamen die neuen Pflanzen wesentlich besser zurecht als die aus der Zeit vor dem Effekt. Und falls es irgendwelche Probleme mit ihnen gab, hatte Miguel die jedenfalls noch nicht bemerkt.
Er selbst machte sich nicht viele Gedanken über genmanipulierte Pflanzen. Was auch immer seiner Familie half zu überleben, war seiner Ansicht nach gut, auch wenn er wusste, dass die Grünen im Kongress und in der Regierung in Washington bestrebt waren, diese Wunderpflanzen zu verbieten. Er schüttelte den Kopf, als er sein Pferd von dem alten Holzzaun fortlenkte. Warum machten die so was? Das war doch Wahnsinn, gerade jetzt, da das Land so große Schwierigkeiten hatte, seine Bürger zu ernähren. Es fehlte nicht nur an fruchtbarem Land und an Saatgut, sondern auch an erfahrenen Farmern und – wie hieß das nochmal? – Infrastrukturen, um die Ernte auf den Markt zu bringen. Geeignete Maschinen für die Agrarwirtschaft zu finden war ziemliche Glückssache. Und wenn die Ernte eingefahren war, musste sie oftmals tagelang mit Pferden von den Höfen zu den Silos transportiert werden. Diese Konvois wurden oftmals von Banditen überfallen.
Sofia tauchte neben ihm auf. Er empfand Stolz, als er sah, wie aufrecht sie im Sattel saß und mit welcher Leichtigkeit sie ihr Pferd führte. Sie war ein braves Mädchen und würde in einigen Jahren eine wundervolle Frau sein. Zweifellos würde er dann seine Flinte brauchen. Nicht zuletzt deshalb, weil immer mehr Siedler in dieser Gegend auftauchten, was ja zu erwarten war. Zurzeit teilten sie sich das Tal mit einer Handvoll anderer Familien, und mindestens die Hälfte von ihnen kam, wie seine Angehörigen, aus dem Ausland. Die Polen mochte er am liebsten. Sie waren ruhig und erdverbunden und kannten sich mit Landwirtschaft aus. Die Yankees, die aus Seattle gekommen waren, gehörten zwar zu der netten Sorte, aber sie waren zu rücksichtsvoll und hatten eigenartige Ideen. Sie sprachen immer davon, dass das Land ihre Mutter Erde sei, und benutzten andere merkwürdige Begriffe. Freude, Glück, Selbstverwirklichung und so ein Zeug.
Sie stritten sich ständig mit der Siedlungsbehörde herum, weil die Regierung in Seattle darauf bestand, dass ein bestimmter Prozentsatz der Aussaat aus neuen, genveränderten Pflanzen bestehen musste. Immer wieder fochten sie Konflikte mit den Inspektoren und Aufsichtsbeamten aus, die alle paar Monate vorbeischauten, und beharrten darauf, biologische und bio-dynamische Anbaumethoden anwenden zu dürfen. Außerdem waren sie völlig verstört wegen der Jagd auf die Hirsche, die auf Miguels Ranch im letzten Herbst stattgefunden hatte. Sie waren extra gekommen, um gegen seine »mörderischen Praktiken« zu protestieren. Ausgerechnet da kam Sofia angerannt, von oben bis unten mit Blut besudelt, und hielt den abgeschnittenen Kopf des Zehnenders, den sie an diesem Tag selbst geschossen und ausgenommen hatte, triumphierend in die Höhe. Prompt war einer von denen aus Seattle in Ohnmacht gefallen. Ein Mann!
Miguel glaubte nicht, dass sie es lange hier aushalten würden.
»Worüber amüsierst du dich denn, Papa?«, fragte Sofia, nachdem sie ihren Apfel verspeist hatte.
»Ach, nichts«, sagte er zufrieden. Dies hier war seine Heimat. Bald würde die Ranch ihm gehören. Seine Herden wurden größer und fraßen sich fett auf den saftigen Weiden. Sogar die Apfel-Plantage neben der Hazienda machte sich gut. Aus der Ernte konnte man einen schmackhaften Cidre herstellen, der zu den beliebtesten Getränken in Marias Rasthaus gehörte und auch von den anderen Farmern geschätzt wurde. Selbst der Maiswhiskey war nicht von schlechten Eltern.
Sie kamen wirklich gut voran, dachte er, als er seinem Pferd den Hals streichelte. Die Stute spitzte ihre Ohren und schaute auf. Sie erzitterte leicht und zog am Geschirr, aber er hielt sie fest.
»Ruhig«, flüsterte er auf Spanisch. »Ganz ruhig.«
Und dann hörte er es auch, das Knallen von Gewehrschüssen. Ihm war, als würde ihm ein Eimer eiskaltes Wasser über den Kopf gekippt. Das Geräusch erinnerte ihn an die Hagelkörner, die manchmal auf das Blechdach seines Geräteschuppens fielen. Aber er wusste sehr genau, dass es sich hier um Schusswaffen handelte. Hatten die Onkel die Jungs zu Schießübungen mitgenommen? Sie nahmen alle regelmäßig an solchen Übungen teil, aber die fanden normalerweise erst nach dem Abendessen statt, und es wurde kontrolliert geschossen, um die Treffsicherheit zu erhöhen. Diese Geräusche jedoch klangen eindeutig nach einem Feuergefecht.
Es gibt Ärger, dachte er.
Eilig ritt er den kleinen Hügel hinauf, der ihm die Sicht auf seine Ranch versperrte, und stieg ab, bevor er die Kuppe erreichte. Sofia folgte ihm. Sie schien sich über seinen besorgten Gesichtsausdruck zu wundern. Sie hielt die Pferde fest, während ihr Vater auf die Anhöhe stieg. Er hörte weiteres Knallen und glaubte, auch Schreie zu vernehmen. Sein Herz pochte heftig, und in seinem Magen breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Er warf sich auf den Boden, griff nach dem Fernglas, das er um den Hals trug, und schaute hindurch. Vor der Hazienda standen fremde Fahrzeuge. Einige davon waren Geländewagen mit Vierradantrieb, die, wie die Gringos es ausdrückten, »höher gelegt« waren, damit sie im Gelände besser manövrieren konnten. Sie waren schmutzig, verbeult und mit allerlei Sachen beladen. Diebesgut, dachte er sofort. Zwanzig oder mehr Männer, bewaffnet mit militärischem Gerät, waren über das Gelände von Miguels Besitz ausgeschwärmt.
Leichen lagen herum.
Miguel spürte, wie sich seine Gedärme zusammenzogen, als er einen der leblosen Körper näher in Augenschein nahm. Die kleine Maya, die gerade mal sieben Jahre alt war, lag auf dem Rücken und starrte in den grauen winterlichen Himmel. Da wo ihr Bauch gewesen war, konnte man nur noch eine hässliche rote Masse erkennen. Erinnerungen überfielen ihn, wie sie lachend umherrannte oder sich weinend darüber beklagte, dass ihre Windeln sie kratzten. Neben dem Kind lag Oma Ana mit dem Gesicht nach unten, ihre erstarrte Hand umkrampfte noch das Messer, mit dem sie sich verteidigt hatte. Einer der Angreifer trat gegen ihre Leiche, während er sich den verletzten Arm verband.
Sofia rannte zu ihm. Sie zitterte vor Angst.
»Was ist denn los, Papa?«
»Bleib zurück!«, sagte er grob. Seine Kehle krampfte sich zusammen, er bekam kaum einen Laut heraus.
Von der Hazienda drangen Schreie zu ihnen, das schrille Heulen einer Frau, es war seine eigene. Sie schrie in ihrer Muttersprache und schlug auf ihre Peiniger ein, die allesamt Weiße zu sein schienen, auch wenn die meisten von ihnen so schmutzig waren, dass man es kaum erkennen konnte.
Road Agents, dachte er. Das Wort klang in seinem Hinterkopf nach wie die Rasseln einer Klapperschlange. Eine Horde von vorgeblichen Landarbeitern in Kampfanzügen oder Cowboy-Outfit, die in Wahrheit nichts weiter waren als Plünderer und Banditen. Wie eine Heuschreckenplage tauchten sie in den abgelegenen Gebieten der Texanischen Republik auf und richteten Unheil an. Aber Miguel hatte noch nie gehört, dass sie sich so weit auf das Bundesgebiet trauten. Deshalb hatte er sich mit seiner Familie ja hier angesiedelt, weil es sicher war. Eine ungeheure Wut erfasste ihn, als ihm klarwurde, wie sehr er sich geirrt hatte. Er hatte sie hierhergeführt, und nun starben sie vor seinen Augen. Er zitterte so heftig, dass er kaum noch in der Lage war, deutlich zu erkennen, was dort drüben passierte. Es war in gewisser Weise ein Segen, denn in diesem Moment machten sich drei Männer über seine Frau her.
Miguel hatte nur wenige Sekunden lang dieses grausige Geschehen beobachtet, aber es genügte. Noch mehr von diesem Horror anzusehen wäre gleichbedeutend damit gewesen, selbst daran schuld zu sein. Er ließ das Fernglas fallen und bemühte sich aus dem grünen, wuchernden Dickicht aufzustehen. Sein Magen rebellierte, und er musste würgen, als er sich umdrehte, um vom Kamm des Hügels zu seiner Tochter hinabzusteigen.
Sie war jetzt womöglich sein einziges noch lebendes Kind.
Er taumelte den Abhang hinunter, stürzte beinahe hin, stakste hilflos wie eine Puppe seiner ältesten Tochter entgegen und rannte sie in seiner blinden Panik beinahe um.
»Vater? Papa?«
Mit heftig zitternden Händen nahm er ihr die Zügel aus der Hand und schaffte es irgendwie, sich in den Sattel zu heben. Vielleicht war es ja jemandem gelungen zu flüchten, vielleicht stammten die Schüsse ja auch von den Überlebenden, die diese Banditen bekämpften. Er könnte jetzt hinüberreiten, um ihnen zu helfen. Vielleicht würden sie die Angreifer in die Flucht schlagen.
Vielleicht, nur vielleicht …
»Was ist denn, Vater? Sag’s mir«, bat Sofia mit erstickter Stimme. Auch sie hörte das Gewehrfeuer und die Schreie, die über den Hügel hallten.
Miguel zog seine Winchester aus dem Halfter und spürte ihre tödliche Kraft in den Händen. Es war zu spät, viel zu spät, um seine Familie zu retten, aber es war höchste Zeit, sich mit denjenigen zu befassen, die sie auf dem Gewissen hatten.
Vielleicht …
Er prüfte die Ladung und schob das Gewehr ins Sattelhalfter zurück. Er stieß die Fersen in die Seiten seines Pferdes, und es kletterte den Hügel hinauf. Sofia stieg auf ihr Pony und folgte ihm. »Ich komme mir dir«, rief sie aus.
Miguel schüttelte den Kopf. »Nein, du bist viel zu eigensinnig, das ist gefährlich. Bleib hier. Ich werde …«
Ein lautes Krachen aus dem Lauf einer schweren Waffe donnerte über die Ebene wie fernes Donnergrollen. Er drehte sich im Sattel um und hob das Fernglas so hastig, dass er sich damit gegen den Kopf stieß. Seine Frau lehnte gegen die Wand der Veranda, die um das Haus herum führte. Einer der drei Vergewaltiger spuckte sie an. Sie sank langsam zu Boden und hinterließ eine dunkle, schmierige Spur auf der weißen Mauer.
Ein leiser Ton drang aus Miguels Mund. Eine Mischung aus Stöhnen und Wimmern. Ein graues Flimmern trat vor seine Augen, dunkle Flecken erschienen, und er schwankte heftig. Beinahe wäre er ohnmächtig geworden.
Mit einem Mal wurde es ruhig, nur gelegentlich waren die Stimmen der Banditen zu hören. Die Waffen verstummten. Er suchte die Umgebung nach Hinweisen ab, ob jemand überlebt hatte, einer seiner Söhne vielleicht oder Mariellas Brüder. Vielleicht waren sie in Deckung gegangen und warteten nur darauf, dass er ihnen zu Hilfe eilte.
Jetzt war Sofia auf einmal neben ihm und nahm ihm das Fernglas aus der Hand, um sich selbst Gewissheit zu verschaffen.
»Nein«, flüsterte sie. »Bitte nicht.«
»Es ändert nichts«, stieß Miguel hervor, als er wieder zu sich kam. »Warte hier.«
Sofia nahm die Zügel seines Pferdes. Er drehte sich zu ihr um und sah sie an mit einem Gesichtsausdruck, der sie zusammenzucken ließ. Sie wich ein Stück zurück, behielt die Zügel aber fest in der Hand.
»Sofia«, sagte er ruhig. »Gib mir die Zügel.«
»Nein, Papa, bitte. Lass mich hier nicht allein zurück. Geh nicht da runter. Sie werden dich umbringen, und dann habe ich überhaupt niemanden mehr.«
Das Gesicht seiner Tochter war eine verzerrte Fratze der Angst und des Schmerzes und verschwamm vor seinen Augen, die sich mit Tränen füllten. Miguel konnte kaum noch sprechen. »Sofia, du denkst vielleicht, du bist zu alt für eine Ohrfeige«, presste er hervor. »Aber du wirst gleich eine bekommen, wenn du mir nicht sofort die Zügel gibst.«
»Das ist mir egal, wenn du am Leben bleibst«, sagte sie. »Bitte!«
Miguel hatte das Gefühl, er müsste sterben. Ganze Kontinente von Trauer und Wut, gigantische tektonische Platten, hoben sich, zerbrachen und zermalmten sich gegenseitig in seinem Innern. Sein Herz schien kurz davor zu explodieren. Durch dieses ganze Aufbäumen widerstreitender Gefühle hindurch hielt ihn nur eines in der Wirklichkeit, und das war Sofias kleine blasse Hand, die seinen Arm umklammert hielt und verhinderte, dass er sich kopfüber in ein brutales Handgemenge und damit in den sicheren Tod stürzte.
Sein ganzer Körper erbebte in Hilflosigkeit, während sie sich in den Sattel stellte und das Farmgelände mit ihrem eigenen Fernglas in Augenschein nahm. Motoren wurden angelassen, gut gelaunte Rufe und laute Flüche waren zu hören. Gelegentlich ertönte noch ein einsamer Schuss, aber in ihre Richtung wurde nicht gezielt.
»Sie hauen ab«, sagte Sofia. »Sie haben uns nicht bemerkt.«
Miguel nahm sein Fernglas wieder in die Hand und schob Sofia ein Stück zurück.
»Gib mir dein Fernglas, bitte«, sagte er. Er hatte sein eigenes, aber er wollte nicht, dass sie sehen konnte, was dort drüben alles passiert war.
Sie reichte es ihm.
Die Banditen rückten ab und feuerten noch ein paar Schüsse auf die Fenster der Hazienda ab. Ein Wagen hielt beim Hühnerstall an, und ein paar Männer stiegen aus, während die anderen Fahrzeuge weiterfuhren. Es war ein blassblauer Ford F-150, ein älteres Modell und an manchen Stellen ziemlich verrostet. Der Auspuff röhrte ziemlich laut. Der Fahrer blieb am Steuer sitzen, während die anderen sich die Hühner griffen. Die Tiere waren schon von den Schüssen und dem Geschrei verschreckt und flatterten hin und her, während die anderen Fahrzeuge im Konvoi hinter der nächsten Straßenbiegung verschwanden. Die Nachzügler kümmerten sich nicht darum. Jetzt stieg auch der Fahrer aus dem Wagen, um seinen Kameraden bei der Hühnerjagd zu helfen. Er hielt eine Kühltasche in der Hand, aus der er eine Bierdose holte.
Miguel kniff die Augen zusammen.
Drei gegen einen war besser, als zwanzig gegen einen, dachte er. Das wäre ein Anfang.
»Hier.« Er warf seiner Tochter das Fernglas zu. »Fang.«
Er hörte ihren Aufschrei, als er ihr die Zügel entriss und davonritt.
»Bleib dort«, befahl er ihr, als er über die Hügelkuppe preschte. Die ersten grellen Sonnenstrahlen fanden ihren Weg zwischen den Wolken hindurch. »Keine Widerrede! Ich rufe dich, wenn die Luft rein ist.«
Er war nicht sicher, ob sie gehorchen würde. Aber als er kein Hufgetrappel hinter sich hörte, wusste er, dass sie zurückgeblieben war. Er zog seine Winchester aus dem Halfter und lud sie durch. Er legte die Zügel in den Schoß und führte das Pferd mit den Knien oder indem er sein Gewicht verlagerte. Nun ritt er den Hügel hinunter.
Das hier war nicht Hollywood. Er brüllte nicht los oder schwor bittere Rache. Die drei Banditen waren noch immer damit beschäftigt, die Hühner zu fangen, und freuten sich vielleicht schon auf das Abendessen, das sie ihnen bescheren sollten. Sie lachten sogar über ihre eigene Ungeschicklichkeit und Dummheit. Ihre Stimmen schallten bis zu ihm herüber.
Zuerst ritt er langsam, beschleunigte dann und näherte sich der Farm im Galopp. Er ignorierte die grauenerregenden Anzeichen des Massakers, versuchte zumindest jede Gefühlsregung zu unterdrücken. Es war, als würde sich um sein Herz eine dicke Kruste geronnenen Blutes legen wie ein Schutzpanzer. Als er noch ungefähr achtzig Meter entfernt war, nahm er die Zügel wieder in die Hand und hielt sein Pferd an. Von Osten her blies ein leichter Wind und brachte den Geruch nach vergossenem Blut zu ihm und das Gelächter der drei Männer, die seine Familie umgebracht hatten. Er hörte sofort, dass sie betrunken waren, sehr sogar. Als er sich mit lautem Hufgetrappel näherte, drehte sich der Fahrer des Wagens zu ihm um. Er glotzte ihn verständnislos an, als Miguel abstieg. Dann grinste er und winkte ihm zu, bevor er die Bierdose hob und einen Schluck trank.
Er war noch gut vierzig Meter entfernt, und zwischen ihnen lagen zwei Leichen. Zum einen war es der Sohn des Viehtreibers, der andere Tote sah aus wie der alte Armando, Mariellas Onkel. Unbändiger Hass schoss wie ein reißender Strom durch Miguels Kopf.
»Hola«, lallte der Bandit und nahm noch einen Schluck. »Cómo estás?«
Miguel hob die Winchester an und schoss dem Banditen direkt in den Kopf. Die Bierdose, aus der er gerade trank, zerfetzte in viele Einzelteile, bevor sein Kopf zersprang und sein Körper nach hinten taumelte.
»He!«
»Was soll das denn?«
Die anderen hatten ihn jetzt bemerkt. Der Mann, der am weitesten entfernt war, ein Gringo mit fettigen strähnigen Haaren in Bluejeans mit ledernen Beinschützern und einer langen Lederjacke, hatte es endlich geschafft, ein Huhn zu packen. Immerhin war er geistesgegenwärtig genug und ließ das Tier wieder los, um nach dem Gewehr zu greifen, das er sich um die Schulter gehängt hatte. Miguel verpasste ihm eine Kugel, bevor er seine Waffe zu fassen bekam. Er schrie auf und fiel um, sein Körper erbebte, als zwei weitere Kugeln ihn trafen.
Der letzte Eindringling drehte sich um und rannte zum Wagen. Ob er sich dort eine Waffe holen oder einfach nur flüchten wollte, würde Miguel nie erfahren. Er nahm ihn zwei Sekunden lang ins Visier und schoss ihm dann in die Hüfte. Der Mann brach zusammen wie ein Pferd in vollem Galopp, das in ein Erdloch getreten ist. Er schrie auf vor Entsetzen und Todesangst wie ein gefangenes Tier. Miguel lud sein Gewehr und trat näher. Der Mann war schlaksig, obwohl er einen Bierbauch hatte, den er sich offenbar über viele Jahre hinweg angetrunken hatte. Genau wie seine Kumpane trug auch er eine schräge Kombination aus Wildwest-Klamotten und modernem Gangster-Outfit. Panisch kroch er durch den Dreck in der Hoffnung, den rettenden Wagen doch noch zu erreichen. Gleichzeitig hielt er sich mit einer Hand die verletzte Hüfte, aus der im Rhythmus seines Herzschlags kleine Blutfontänen sprühten.
Miguel biss die Zähne so heftig zusammen, dass es wehtat, als er über die Leiche seines Sohnes stieg. Alle guten und ehrbaren Gefühle richteten sich auf den Körper des kleinen Jungen, den er nun anhob, als würde er nur schlafen, um ihm einen sanften Gutenachtkuss auf die Augenlider zu geben. Aber ein kurzer erschütternder Blick auf seine Wunden genügte, um Miguel die grausame Gewissheit zu geben, dass sein Sohn für immer von ihm gegangen war. Er schüttelte alle guten und ehrbaren Gefühle ab, die noch in seinem Herzen zu finden waren, und zerstörte sie, während er die Faust ballte, als würde er einen kleinen Vogel zermalmen.
Nur ganz schwach vernahm er noch die Stimme der Vernunft, die nur ein leises Flüstern im brüllenden Chor der Rachegelüste und des erlittenen Grauens war. Es war seine eigene Stimme, die da zu ihm sprach, eine Stimme aus einer anderen Zeit. Sie erinnerte ihn daran, dass es besser wäre, das Leben des Mannes vor ihm zu schonen, wie missraten dieser Dreckskerl auch war, denn er musste herausfinden, wer ihm das angetan hatte und warum. Aber dann übermannte ihn eine Welle von wildem unbeherrschbarem Hass, die alle Reste der Vernunft überspülte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und hässlichen Gedanken ging er ganz langsam und vorsichtig auf den jammernden und stöhnenden Verletzten zu, der vor ihm davonkriechen wollte. Als er neben ihm angekommen war, trat er mit dem Stiefel gegen seinen Brustkorb und drehte ihn um, woraufhin der Gepeinigte laut aufschrie. Miguel hob ein Bein und trat wie besessen mit dem Absatz immer wieder in das Gesicht des Mannes, der zuerst laut protestierte und dann vor Schmerz aufbrüllte. Wieder trat er ihm ins Gesicht. Zähne brachen ab, Lippen und Wangen zerplatzten.
Noch ein Tritt.
Und noch einer.
Und noch einer.
Als er fertig war, war der Teufel, der sich in seinem Kopf eingenistet und für kurze Zeit das Kommando übernommen hatte, verschwunden. Sein Bein schmerzte, seine Stiefel und seine Jeans waren voller Blut, zerspritztes Gehirn und gesplitterte Knochen klebten daran. Der Kopf des Banditen war jetzt platt wie ein ekelhafter Pfannkuchen.
Ein kalter Hauch schien durch seinen Körper zu wehen. Miguel brach zusammen und blieb zitternd auf der Erde liegen.
03
Wiltshire, England
Caitlin erwachte vom Schreien ihres Babys. Es war hungrig und musste gewickelt werden. Heute hatte Bret frei, was allerdings angenehmer klang, als es tatsächlich war. Vielleicht verkroch er sich ja noch ein paar Minuten unter seiner Bettdecke, während sie sich um die kleine Monique kümmerte und den Kohlenofen anfeuerte, damit sie Kaffee kochen konnten. Es war ganz gut, dass sie dafür gesorgt hatten, dass noch etwas Glut übrig war. Das war angenehmer, als sich vor Tagesanbruch im Kalten damit herumzuplagen, zusammengeknülltes Papier und Kohlen in den ausgekühlten Ofen zu stopfen. Caitlin rieb sich den Schlaf aus den Augen. Eine weitere Nacht mit wenig Schlaf war vorüber. Sie schaute auf die Uhr. Ihre Tage fühlten sich an, als hätten sie vierhundertzwanzig Stunden. »Oh-Mann-und-dreißig«, sagte Bret immer, wenn er im Dunkeln aufstehen musste. Sie schwang ihre langen, schlanken muskulösen Beine über den Rand des Bettes und setzte ihre nackten Füße auf den Fliesenboden. Es war ein weiter Weg nach unten. Das altertümliche Eisenbett war ganz schön hoch.