Das Vermächtnis der Orphans - Gregg Hurwitz - E-Book
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Das Vermächtnis der Orphans E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Der »Nowhere Man« geht auf seine letzte Mission Als »Orphan X« hat Evan Smoak jahrelang für die US-Regierung im Verborgenen getötet, bis er ausstieg und in den Untergrund ging, immer auf der Flucht vor seinen Auftraggebern. Um seine Taten zu sühnen, setzt er als »Nowhere Man« seine Fähigkeiten ein und hilft denen, die keinen Ausweg mehr haben. Doch der Schatten, den das »Orphan«-Programm auf Evans Leben geworfen hat, ist mit dem Tod dessen Schöpfers verschwunden. Nun will Evan auch den »Nowhere Man« in den Ruhestand schicken und das größte Wagnis eingehen, dass er sich vorstellen kann: ein normales Leben führen. Zuvor will er ein allerletztes Mal zum Telefon greifen und fragen »Brauchen Sie meine Hilfe?«. Dabei weiß er noch nicht, dass diesmal er es ist, der alle Hilfe brauchen wird, die er kriegen kann.

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Seitenzahl: 614

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Zum Buch

Mit aller Macht versucht Evan Smoak, seinen Ruhestand zu regeln. Als ehemaliger Auftragsmörder mit allen Wassern gewaschen, scheinen ihm im privaten die kleinsten Dinge nicht zu gelingen. Gerade wegen seiner Vergangenheit sehnt sich Smoak eigentlich nach Ruhe und Ordnung, doch er muss feststellen, dass sich manche Dinge einfach nicht planen lassen. Umso erfreuter ist er deshalb, als ihn ein letzter Auftrag ereilt: Max Merriweather ist ein gebrochener Mann, der niemanden mehr hat – und seit sein Cousin unter mysteriösen Umständen ermordet wurde, schwebt er in großer Gefahr. Denn Max hat von ihm Beweise erhalten, die einen großangelegten Geldwäschefall offenlegen könnten. Für Merriweather wird Evan Smoak ein letztes Mal zum »Nowhere Man« und stellt sich dem Vermächtnis der Orphans …

Zum Autor

Gregg Hurwitz schreibt neben Thrillern Drehbücher für die großen Hollywood-Studios sowie Comicbücher für so prestigeträchtige Verlage wie Marvel (Wolverine, Punisher) und DC (u. a. Batman). Mit seinen Büchern hat er den Weg auf die New-York-Times-Bestsellerliste gefunden, seine Thriller sind mittlerweile in 22 Sprachen übersetzt worden.

Lieferbare Titel

Orphan X Projekt Orphan Die Spur der Orphans

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem TitelInto the Fire bei Minotaur Books, an imprint of St. Martin’s Publishing Group, New York

© 2019 by Gregg Hurwitz Deutsche Erstausgabe © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Published by arrangement with St. Martin’s Publishing Group, 120 Broadway, New York, NY 10271. Covergestaltung von Hauptmann & Kompanie, Zürich Coverabbildung von Malivan_Iuliia, vesperstock / Shutterstock E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749950997

www.harpercollins.de

Widmung

Meinen Eltern, Alfred und Marjorie Hurwitz Je älter ich werde, desto mehr wird mir das wahre Ausmaß dessen bewusst, was sie mir gegeben haben

1. THE TERROR

Die großen automatischen Schiebetüren fuhren zur Seite, und ein Schwall eiskalter Gebirgsluft, dicht wirbelnder Schnee und panische, raue Rufe drangen herein. »Hallo, verdammt, kann uns jemand helfen? Er ist schwer verletzt. Er ist wirklich … Oh Mann, Grant, komm zu dir. Bitte, wach einfach … Helfen Sie uns!«

Im Schneetreiben konnte man jetzt Terzian ausmachen, der seinen verletzten Freund ins Wartezimmer schleppte. Grants Kopf war zur Seite gefallen, und der Arm, der um Terzians Hals drapiert war, hing schlaff herunter. Die Spitzen seiner Gummistiefel schleiften über den Fliesenboden des Krankenhauses, was alle paar Meter für ein quietschendes Geräusch sorgte.

Sofort sprang die Aufnahmeschwester von ihrem Sitz auf und streckte die Hand zur Gegensprechanlage aus, um Dr. Patel zu wecken, die sich gerade auf der Liege im Bereitschaftszimmer ausruhte. Die Ambulanz verfügte über nur eine Ärztin; es gab sechs Betten, zwei Krankenschwestern – und ebenjene Notärztin, die gerade die Hälfte ihrer 48-Stunden-Schicht hinter sich hatte. Die strategisch an einer steilen Bergstraße zwischen den Ferienorten am See, Big Bear und Arrowhead, gelegene Einrichtung mit Minimalbesetzung kümmerte sich um abenteuerlustige Urlauber, die durch plötzliche Wetteränderungen oder schlicht durch die eigene Dummheit zu Schaden gekommen waren. Kreuzbandrisse durch klemmende Skibindungen, Unterarmbrüche vom Ausrutschen auf Glatteis, durch den Aufprall aufs Lenkrad zertrümmerte Schlüsselbeine: All das waren die Art von Verletzungen, die routinemäßig in der der extremen Witterung ausgesetzten Klinik versorgt wurden.

Grants Zustand wirkte jedoch weit bedrohlicher.

Die Aufnahmeschwester schoss hinter ihrer Theke hervor, und Jenna, die Stationsschwester, rannte bereits mit einer Transportliege den Flur entlang auf die beiden Männer zu. Dr. Patel folgte ihr im Laufschritt, wobei sie sich mit einer Hand das Stethoskop an die Brust drückte, damit es nicht ständig dagegenschlug. Obwohl sie noch ein wenig schlaftrunken dreinblickte, sah sie so aus, als könne sie sofort mit der Arbeit beginnen; die Ärmel ihres petrolfarbenen OP-Kittels waren bis über die Schultern hochgekrempelt.

»Wir müssen ihn sofort in die Waagerechte bringen«, rief sie und fischte in ihrer Brusttasche nach einer Stiftleuchte.

Die Schwestern traten zum Patienten, der ihnen von Terzians Schulter in die Arme glitt. Sie ließen ihn auf die Liege sinken. Obwohl sich die Türen wieder geschlossen hatten, tanzte die schneeerfüllte, nach Fichten duftende Novemberluft noch immer im Eingangsbereich.

Dr. Patel bombardierte Terzian mit einer Frage nach der anderen: »Wie lautet sein Name?«

»Grant. Grant Merriweather.«

»Und Sie sind?«

»Terzian. Sein Freund.«

»Was ist passiert?«

»Er saß am Steuer, hat die Kontrolle über den Wagen verloren – Schneematsch – … und … und … dann sind wir auch schon in den Abgrund gesegelt, genau da draußen …« Mit zitterndem Finger deutete er auf einen Punkt hinter der Wand. »Wir sind gegen einen Baum geprallt, und dann war er wie jetzt. Ich musste ihn aus dem Auto ziehen. Gott sei Dank waren Sie ganz in der Nähe. Wie durch ein Wunder.«

»Linke Pupille stark vergrößert und reagiert nicht.« Patel schaltete die Stiftleuchte aus. »Epidurales Hämatom.«

»Moment … was? Was bedeutet das?«

»Er hat eine Blutung im Gehirn. Der Druck ist zu groß. Wir müssen ein CT machen – auf der Stelle.«

»Sie müssen ihn retten. Sie müssen ihn unbedingt retten.«

Die Räder der fahrbaren Liege ratterten über den Boden, als die drei Frauen, gefolgt von Terzian, in den benachbarten Raum eilten und den bewusstlosen Grant Merriweather in die riesige weiße Röhre schoben. Er begann sich zu verkrampfen, seine Muskeln versteiften sich, die Gliedmaßen spannten sich an. Seine vergrößerte Pupille sah nicht aus wie die eines Menschen, sondern wie die starre Halbkugel eines Stofftierauges.

Als das Gerät beruhigend vor sich hin surrte, riss Terzian sich die Jacke herunter. Die Bündchen seines langärmeligen Shirts waren dunkel vor Schweiß. Voller Unruhe trat er von einem Fuß auf den anderen, zog an seinen Ärmeln, sodass sein aus der Hose gerutschtes Hemd hin und her schwang. Ein dünner Schweißfilm stand ihm auf der Stirn, und er atmete schwer; die Luft hier, zweitausendeinhundert Meter über dem Meeresspiegel, war ziemlich dünn.

Jenna legte ihm beruhigend die Hand auf den Rücken. »Wir werden uns gut um ihn kümmern.«

Dr. Patel stand auf der anderen Seite des Zimmers bei den Monitoren und interpretierte die Anzeigen. »Es ist eine Mittellinienverlagerung; das Gehirn ist an die rechte Schädelseite gedrängt. Sheila, fordern Sie einen Rettungshubschrauber an. Wir müssen ihn in ein Hirnzentrum schaffen – ins Cedars oder das UCLA.«

»Halt, Sie können ihn nicht mitnehmen «, rief Terzian. »Sie können ihn nicht einfach so mitnehmen.«

Patel ging nicht darauf ein. »Jenna, holen Sie mir den Bohrer.«

Jenna zögerte. »Sie wollen trepanieren? Haben wir die nötige Ausrüstung?«

»Nein. Aber wenn wir den Druck nicht etwas abbauen, wird er’s nicht bis in die Stadt schaffen.« Patels Blick huschte zu Terzian. »Und schaffen Sie den da raus. Sir, Sie müssen das Zimmer verlassen.«

Aber Jenna war bereits verschwunden.

»Wacht er davon auf?«, fragte Terzian.

»Möglicherweise. Sir, nach draußen, bitte. Wir müssen uns um Ihren Freund kümmern.«

Terzian ging rückwärts durch die Schwingtür, als Jenna mit dem Bohrer hereinstürmte. Sie übergab ihn und durchtrennte die Vorderseite von Grants Sweatshirt mit einer Kleiderschere, um leichter an seinen Brustkorb zu kommen, falls sie ihn schocken mussten. Sie zog ein Hosenbein seiner Jeans hoch, bevor Patel sagte: »Moment. Das muss warten. Halten Sie seinen Kopf.«

Die Ärztin bereitete den Schädelbohrer vor, dann setzte sie die Bohrerspitze drei Zentimeter oberhalb des linken Ohrs an, startete den Motor und durchstieß das Scheitelbein.

Ein dünnes Rinnsal Blut trat aus, dann zuckten Grants Lider. Er stöhnte leise auf, dann noch einmal. »B-bitte …«, murmelte er.

Vorsichtig klappte Jenna Grants Shirt zur Seite; sie schlug die Hand vor den Mund. »Doktor? Doktor?«

Patel blickte nach unten auf die kreisrunden Wunden, die sich über Grants Brustkorb und Bauch zogen. Weitere glänzende knallrote Fleischwulste waren über den sichtbaren Teil seines Oberschenkels verteilt.

Die beiden Frauen hörten das schabende Geräusch, mit dem sich die Tür öffnete, und Sheila kam hereingestürmt. »Der Rettungshubschrauber ist auf dem Weg vom …« Sie deutete Patels Gesichtsausdruck korrekt, trat auf Zehenspitzen an den Patienten heran – und war vollkommen sprachlos.

»Dieser Mann hatte keinen Autounfall«, sagte Patel langsam. »Er wurde gefoltert.«

»Bitte«, murmelte Grant erneut. »M-mach, dass es aufhört.«

Wieder ertönte das Schaben der Tür.

Ein dunkler Umriss tauchte hinter Sheilas Schulter auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde waren die Frauen wie erstarrt vor lauter Angst. Dann drehten sich alle im selben Moment um.

Terzians schallgedämpfte Pistole gab drei Mal einen unterdrückten Knall von sich.

Ein Kopfschuss-Hattrick.

Die Frauen sackten in sich zusammen wie von unsichtbaren Händen umgerissen. Sofort stürzten sie zu Boden, sodass Terzian freie Sicht auf Grant Merriweather hatte.

Nichts erinnerte mehr an den Terzian von vorhin. Keinerlei Besorgnis zeigte sich auf seinem Gesicht. Er hielt den Lauf seiner Waffe jetzt auf Grants Leiste gerichtet, vollkommen ruhig. Dunkle, halbkreisförmige Schweißflecken befanden sich unter seinen Achseln; einen ausgewachsenen Mann unter Kontrolle zu halten, während man mit Elektrokabeln und Klemmen hantierte, war schließlich eine ziemlich anstrengende Angelegenheit.

Terzians Ärmel waren über seine muskelbepackten Unterarme hochgerutscht und gaben den Blick auf die Stelle frei, an der er ein geschwungenes Muster in die Haut geritzt hatte und die entstandenen Narben kunstvoll hervortraten. Hellrosa Kerben zogen sich bogenförmig über die warmbraune Haut, wo in gotischer Schrift sein Spitzname prangte: THETERROR.

Jetzt sprach er mit seiner richtigen Stimme, und sein Akzent kam durch: gerundete Vokale und gerollte Rs.

»Gib mir den Namen«, sagte er ruhig. »Oder das Ganze fängt von vorne an. Nur noch schlimmer.«

Ungläubig fasste sich Grant seitlich an den Kopf. Dann betrachtete er seine dunkle, klebrige Handfläche.

»Der Name«, wiederholte Terzian.

Grant blinzelte gegen die Tränen an. Unwillkürlich entfuhr ihm ein zittriges Seufzen; mit diesem Geräusch gab er sich geschlagen. »Mein Cousin«, flüsterte er. »Max Merriweather.«

Terzian platzierte eine Kugel in das Loch, das Dr. Patel praktischerweise für ihn gebohrt hatte.

Nachdem er den Schalldämpfer vom Gewinde des Laufs geschraubt hatte, steckte er ihn ein. Dann bückte er sich, um seine Jacke aufzuheben. In der Entfernung konnte man allmählich das Geräusch des Rettungshubschraubers über dem Heulen des Windes ausmachen.

Nachdem er sich die Jacke übergestreift hatte, trat er über die Leichen hinweg und drängte sich Schulter voran durch die Schwingtür nach draußen.

2. RÄTSEL, DIE ER NICHT LÖSEN KONNTE

Am Ausgangspunkt des Runyon-Canyon-Wanderwegs an der Fuller Avenue verschränkte Max Merriweather die Hände hinter dem Rücken und beugte sich nach vorne, um seinen unteren Rücken zu dehnen, wo sich dreiunddreißig Jahre Verschleiß bemerkbar machten. Es wimmelte nur so von Wanderern, schwulen Pärchen und extrem durchtrainierten Moms, Leuten mit Hunden und der ein oder anderen Celebrity mit überdimensionierter Sonnenbrille und Du-siehst-mich-gar-nicht-Riesen-Beanie. Richtung Westen verabschiedete sich die Sonne gemächlich hinter einer Wolkenwand, und der dunkelrosa Schein begann sich in einen feurig strahlenden Sonnenuntergang zu verwandeln.

Je älter er wurde, desto mehr Rätsel, die er nicht lösen konnte, hielt das Leben für ihn bereit. Wie man einer geregelten Arbeit nachging. Geld beiseitelegte. Und Violet.

Es war zwei Jahre und sieben Monate her, und noch immer konnte er nicht an Violet denken, ohne es in seiner Brust zu spüren, ein Ziehen tief in seinem Innern.

Er wusste, dass man ihm diese Belastung am Gesicht, an den verspannten Schultern und dem steifen Rücken ansah. Derzeit schauten die Leute ihn an, als wollten sie nicht, dass er sie damit ansteckte. Das konnte er ihnen nicht zum Vorwurf machen. Er wollte ja selbst nicht, dass er sich damit ansteckte.

Na ja. Wie sein alter Herr immer sagte: Eine Menge Leute kriegen’s besser hin, obwohl sie schlechter dran sind.

Die leichte Brise brachte den Duft von Salbei und Chaparral mit sich, den staubigen Geruch der Santa Monica Mountains, wenn man den Asphalt und die Autoabgase hinter sich gelassen hatte. Max fing an, den Wanderweg entlangzulaufen, und näherte sich einem in diverse Schichten zerschlissener Klamotten gehüllten Obdachlosen. Der Mann schien unten aus dem Zaun zu wachsen, ein aus ramponiertem Karton, Fetzen von Bettzeug und schmutzstarrender Haut bestehendes Lebewesen. Geschwollene Beine ragten aus einer zerlumpten Decke; seine Haut hatte dieselbe Farbe wie das Material, wie der Schmutz. Er hatte keine Schuhe an, seine Fußsohlen waren so voller Risse wie gesprungenes Plastik. Neben ihm lag zusammengerollt ein Pitbullmischling, dessen Schnauze so vernarbt war wie ein alter Schiffsrumpf – vermutlich aus Hundekämpfen gerettet.

Der Mann klimperte mit ein paar Münzen in einem stark mitgenommenen Fatburger-Becher. »Ham Sie ’ne Kleinigkeit für mich?«

»Uns geht’s allen beschissen, Kumpel«, sagte Max.

Der Mann nickte weise. »Kann man wohl sagen.«

Max joggte den Pfad hinauf, wobei er sich durch die zahllosen Feierabend-Spaziergänger schlängeln musste. Designer-Minihündchen trippelten an glitzersteingeschmückten Leinen. Rihanna dröhnte aus Beats-Kopfhörern. Ein Grüppchen junger Männer mit Mad Men-Seitenscheitel-Frisur bewegte sich im Pulk wie ein Löwenrudel, während sie am Handy viel zu laut irgendwelche Deals aushandelten. Ein silberhaariges Ehepaar hielt Händchen und sah so zufrieden aus, wie Max es außer in der Fernsehwerbung noch nie gesehen hatte.

Er war am Inspiration Point angekommen und betrachtete die Skyline von Downtown, die mehrere Meilen entfernt im Südosten lag. Das niedrige Buschwerk entlang des Pfads im Vordergrund bildete einen Rahmen für die sich in alle Richtungen erstreckende Großstadt dahinter, eine Momentaufnahme von Los Angeles in all seiner wild wuchernden Pracht.

Violet hatte diesen Blick immer geliebt. Und jetzt kam er nicht näher an sie heran als bis an diesen Ort.

Eine Mutter drängelte sich mit einem Gelände-Kinderwagen neben ihn, der so robust aussah, dass er auch von der United States Army hätten entworfen sein können. Hinter einem dunklen Netzstoff krähte ein Baby; rasch drehte Max sich weg.

Auf dem Rückweg rannte er noch schneller.

Als er durch das Tor trat, hörte er den Obdachlosen mit seinen paar Münzen klimpern und dem Rudel junger Männer etwas zurufen.

Der Lauteste der Gruppe hielt sich das Telefon vor die Brust, um den Mann auszublenden. »Hör auf, alle zu nerven, Alter. Du bist ’ne totale Witzfigur.«

»Dann helfen Sie mir, keine Witzfigur zu sein«, entgegnete der Obdachlose.

Der junge Mann lachte, sodass seine weißen Zähne aufblitzten, und deutete mit dem Zeigefinger auf sein Gegenüber. »Netter Versuch, Kumpel. Netter Versuch.«

Max ging die Straße hinauf bis zu der Stelle, wo er seinen Truck abgestellt hatte, einen TrailBlazer mit Rostflecken, die sich langsam durch die Radkästen fraßen. Er musste über den Beifahrersitz ins Auto klettern, da ihm jemand einige Monate zuvor die Fahrertür eingedrückt hatte und einfach weitergefahren war.

Die Hände am Lenkrad, saß er einen Moment lang nur da. Er dachte an den obdachlosen Mann da hinten am Zaun, an die schmerzhaften, tiefen Schrunden, die sich durch seine vor Schmutz schwarzen Fußsohlen zogen. Helfen Sie mir, keine Witzfigur zu sein.

Er ließ den Truck an, brachte es aber nicht über sich, den Wählhebel auf D zu stellen.

Eine Menge Leute kriegen’s besser hin, obwohl sie schlechter dran sind.

Geschlagen stellte er den Motor wieder aus, kletterte über die Mittelkonsole und stieg aus. Dann machte er sich auf den Rückweg zum Ausgangspunkt des Wanderwegs.

Drei Minuten darauf war er wieder zurück.

Und zwar barfuß.

Er holte ein schmutziges Paar Socken und seine von seinem Gelegenheitsjob auf dem Bau abgetragenen Arbeitsschuhe von der Ladefläche seines Trucks. Als er wieder hinter das Steuer krabbelte, klingelte sein Handy im Handschuhfach.

Er öffnete das uralte Klapphandy, das er benutzte, seit er die Raten für sein iPhone nicht mehr bezahlen konnte.

Eine SMS von seinem Vater wartete auf ihn: DEINCOUSINGRANTISTGESTERNERMORDETWORDEN. DACHTEMIR, DUSOLLTESTESWISSEN.

Max ließ den Kopf sinken und atmete ein paarmal tief durch; seine Hand, mit der er das Telefon umklammerte, war feucht vor Schweiß. Dann rammte er den Vorwärtsgang ein und machte sich auf den Weg zu dem, was immer der Tag für ihn bereithalten mochte.

Als Max sich seinem Apartment in der letzten, noch nicht der Gentrifizierung zum Opfer gefallenen Straße von Culver City näherte, rief er sich ins Gedächtnis: Er wusste von rein gar nichts.

Allgemein betrachtet schien das natürlich der Wahrheit zu entsprechen. Aber im Besonderen bedeutete es, dass er sich keine Sorgen machen musste – oder sich keine machen müssen sollte –, was den ganzen Quatsch anging, den Grant ihm vor zwei Monaten aufs Auge gedrückt hatte.

Er erinnerte sich mit der für schmerzhafte Erlebnisse vorbehaltenen Klarheit an den Vorfall. Goldjunge Grant, der ganze Stolz der Familie Merriweather, hatte Max’ miesem Apartment im ersten Stock zum ersten Mal einen Besuch abgestattet und stand in seinem Tausend-Dollar-Anzug auf dem fadenscheinigen Teppich, damit er sich nicht auf die fleckige Couch setzen musste. Grant, dessen Heldentaten und Erfolge Max bei jedem seltenen Treffen mit einem Familienmitglied zu hören bekam. Grant, der Forensische Wirtschaftsprüfer, mit Zulassung für interne Revision, Unternehmensbewertung, Betrugsprüfung, Finanzforensik und Gott weiß was noch; selbst die verdammten Weihnachtskarten an die Familie unterschrieb er komplett mit offiziellem Titel. Grant, heldenhafter Ermittler in Sachen Gesetzesübertretung, der im Auftrag von Versicherungsgesellschaften, Polizeibehörden, Anwaltskanzleien, Banken, Gerichten und staatlichen Aufsichtsorganen, gelegentlich auch von Privatpersonen, die Geschäftsbücher durchkämmte. Grant, mit dem kernig guten Aussehen, dem markanten Kinn, den hochglanzpolierten Halbschuhen mit Lochmuster und dem superakkuraten Haarschnitt. »Exaktheit ist mein Geschäft«, hatte er bei mehr als einer Gelegenheit zu Max gesagt. Und tatsächlich musste Max, der auf seinem schäbigen Sofa herumlümmelte, feststellen, dass er sich vermutlich an der Bügelfalte der Hose seines Cousins böse Schnittverletzungen zuziehen konnte.

Grant hatte ihm einen kanariengelben Umschlag gereicht und gesagt: »Falls mir je etwas zustoßen sollte, ruf die Nummer da drin an.«

»Ist diese Hitchcock-Aktion ernst gemeint?«, fragte Max.

»Vollkommen.«

Max musste schlucken und fragte: »Wem gehört die?«

»Einer Reporterin bei der L.A. Times. Vertrau die Sache niemandem an außer ihr. Versprich es mir.«

»Was ist los mit dir, Grant?«

Grant lachte. »Gar nichts. Mir wird schon nichts zustoßen. Hör zu, ich habe geschäftlich mit einigen ziemlich einflussreichen Leuten zu tun. Und auch eine ganze Reihe von zwielichtigen Typen überführt. Ich will nur sichergehen, dass ich …« Er hielt inne, zweifellos, um das folgende Wort mit seiner legendären Exaktheit auszuwählen. »… eine Rückversicherung habe. Für den Fall, dass ich eines Tages in der falschen Ecke rumschnüffle. Das ist natürlich nichts, womit du’s zu tun haben würdest, in deinem …« Eine weitere exaktheitsschwangere Pause. »… Tätigkeitsfeld. Aber wie du schon sagtest, du kennst so was aus dem Kino.«

Im Kino, dachte Max, geht so was immer gut aus. Der Held stellt seinen »Im Falle meines Todes«-Ordner zusammen, als Abschreckungsmittel, damit ihn niemand in einer dunklen Gasse kaltmacht. Dann begibt er sich mitten hinein in die Verschwörung, enttarnt die Bösen und rettet die Lage. Und niemand muss auch nur einen einzigen Gedanken an den armen Idioten mit dem Rückversicherungsumschlag verschwenden.

Aber das hier war kein Film, und wenn Max im wirklichen Leben eines gelernt hatte, dann, dass es nie so gut ausging wie dieser Kino-Blödsinn.

Er sah hinunter auf die durchgewetzten Knie seiner Jeans, wo in den weißen Schussfäden des Gewebes noch Sägespäne hingen. »Ich weiß nicht, Mann. Dieser Agentenkram ist nicht so mein Ding.«

»Jetzt komm schon, Max«, sagte Grant betont nachsichtig, als spräche er mit einem Kind oder einem unterbelichteten Kundendienstmitarbeiter. »Stell dich vielleicht einmal im Leben einer Herausforderung, übernimm ein bisschen Verantwortung.«

Ein wohlplatzierter Stich in die Eingeweide. Max brauchte einen Moment, bis er wieder richtig atmen konnte. Er hielt den Blick gesenkt, weil er nicht wollte, dass Grant mitbekam, wie ungeheuer wirkungsvoll sein netter kleiner Seitenhieb gewesen war. Vermutlich hatte Grant ihn das ein oder andere Mal vor dem Spiegel in seinem Fitnessclub geübt.

Max betrachtete eingehend seine Hände. »Was ist denn mit Jill?«

»Meine Frau steht mir ja wohl zu nah, als dass es sicher wäre. Oder meine Familie. Die Sache mit dir ist, das merkt keiner. Niemand würde doch jemals auf dich kommen.«

»Aha«, sagte Max.

»Du weißt schon, was ich meine. Jetzt, bitte, Max.« Grant sah demonstrativ auf seine Breitling. »Ich muss zurück ins Büro. Kann ich auf dich zählen?«

Max pulte an einem abstehenden Stück Daumennagel, das er sich mit der Bandsäge angeritzt hatte. Ohne aufzusehen, hob er die Hand. »Ich versprech’s.«

»Toll. Vielen, vielen Dank.« Grant wirkte beinahe aufrichtig. »Danke, Mighty Max.«

Er dachte an damals, als er mit fünf Jahren bei einem Familienpicknick am Point Dume die größte Sandburg gebaut hatte. Dann war er mit Riesenschritten durchgetrampelt wie Godzilla und hatte sie kaputt gemacht, und alle hatten gelacht und auf ihn gezeigt, sogar sein Vater, und Grant hatte ihm den Spitznamen verpasst. Ein kurzer, glanzvoller Moment, als er der Stolz der Merriweathers gewesen war.

Grant trat einen Schritt näher und klatschte Max den steifen kanariengelben Umschlag in die Hand. Darin schlug irgendetwas gegeneinander, klein, aber massiv.

Ein Hauch teuren Duftwassers, und Grant war verschwunden.

Mir wird schon nichts zustoßen.

Jetzt, im am Bordstein geparkten Wagen, erinnerte sich Max, wie lange er damals mit dem Umschlag in der Hand dagesessen hatte. Wie er ihn mit Gewebeband hinter den Spülkasten seiner Toilette geklebt hatte, bevor er losgefahren war, um sich gemeinsam mit den hart arbeitenden Latino-Tagelöhnern vor dem Home Depot aufzustellen, in der Hoffnung, dass jemand ihm einen Job gab.

Er holte sein Klapphandy heraus und las sich noch mal die letzte SMS-Unterhaltung durch für den Fall, dass sie sich wie von Zauberhand innerhalb der letzten Viertelstunde umgeschrieben hatte.

ICH: WIEISTERUMGEKOMMEN?

DAD: WAHRSCHEINLICHERSCHOSSEN. VERMUTLEINERDERBÖSEWICHTE, DIEERIMVISIERHATTE. VERDAMMTESCHANDE. IMMERDIEBESTEN, DIEJUNGSTERBEN.

Nachdem er das Handy wieder eingesteckt hatte, wollte Max gerade aus dem Truck klettern, sah dann aber hoch und hielt auf allen vieren auf dem Beifahrersitz inne. Oben im ersten Stock seines Gebäudes war der permanent unrasierte und nachnamenlose Mr. Omar aus seiner Wohnung getreten und hatte sich auf den Weg nach nebenan zu Max’ Apartment gemacht. Er schlurfte durch die blässlichen Lichtkegel der Deckenlampen im außen gelegenen Flur. Vor Max’ Tür angekommen, klopfte er mit beträchtlicher Kraft an.

»Max, Max, Max. Du bist wieder zu spät dran. Max? Ich kann dich da drin hören. Lass mich nicht immer wieder diesen Zirkus veranstalten, mein Freund. Ich habe Wichtigeres zu tun, das kannst du mir glauben.«

Mr. Omar polterte noch ein paarmal an die Tür, stieß ein deutlich vernehmbares Seufzen aus und ging wieder zurück zu seinem Apartment. Durch das große Vorderfenster beobachtete Max, wie er es sich, gebadet in das Aquariumlicht seines Fernsehers, wieder in seinem BarcaLounger-Liegesessel bequem machte.

Mit der morgigen Schicht wäre Max wieder im grünen Bereich, was die Miete für diesen Monat anging: Von der Arbeit würde er sich schnurstracks zu Mr. Omar begeben und bezahlen.

Als er aus dem Truck geklettert war, schloss er so leise wie möglich die Tür. Anstatt sich über die Treppe und an Mr. Omars Fenster vorbeizuwagen, lief er zum Telegrafenmast am Rand des Gebäudes. Der Mast war mit praktischen hufeisenförmigen Sprossen versehen.

Dann ging’s nach oben, bis er einen Fuß auf den ebenso praktischen Rand der Regenrinne setzen konnte, und dann durch das Badezimmerfenster hinein, das er für Augenblicke wie diesen immer offen ließ.

Er trat vom geschlossenen Toilettendeckel herunter und wollte gerade nach der Tür greifen, als er etwas im Schlafzimmer hörte.

Ein reißendes Geräusch.

Ritsch ritsch ritsch.

Er traute seinen Ohren nicht und hielt inne.

Da war sie wieder, diese Abfolge von drei beunruhigenden Ratschgeräuschen hintereinander.

Auf einmal fühlten sich seine Lippen ganz trocken an. Als er die Hand zum Türknauf ausstreckte, zitterte sie kaum merklich.

Langsam drehte er den Türknauf. Zum Glück quietschten die Angeln nicht. Das Licht in der Wohnung war aus, aber ein etwa fünf Zentimeter breiter blassgelber Streifen fiel quer über sein Gesichtsfeld, als er durch den Türspalt spähte.

Ein Mann.

In seinem Schlafzimmer.

Der sich in der Dunkelheit an irgendetwas zu schaffen machte.

Ärmelloses T-Shirt. Ausgeprägte, schweißglänzende Armmuskeln, auf denen sich noch etwas anderes abzeichnete: Tätowierungen? Hennatattoos? Narben? Eine davon am Trizeps hatte im Kreis angeordnete Flügel wie ein Windrad. Der Mann stand mit dem Rücken zu ihm; seine Schultermuskulatur bewegte sich auf und ab, während seine Hände mit etwas beschäftigt waren, das Max nicht sehen konnte. Der Geruch des Mannes hing schwer im ungelüfteten Raum, eine penetrante Ausdünstung wie von Fleisch, kurz bevor es schlecht wird.

Max’ Schubladen waren ausgeleert worden; seine wenigen Besitztümer lagen achtlos auf dem Boden verstreut, die Kommode war von der Wand auf den Boden gekippt worden, der Fernseher umgestoßen, und die Gipskartonwand wies eine Menge Löcher auf.

Der Mann richtete sich auf und wischte sich die Stirn mit dem Arm; jetzt war seine Hand zu sehen, die ein Kampfmesser mit gezahnter Klinge umklammerte.

Die Buchstaben auf seinem Unterarm traten so weit aus der Dunkelheit hervor, dass Max sie entziffern konnte: THETERROR. Hinter den Oberschenkeln des Mannes, unter dem zur Seite gerissenen Bettzeug, konnte man die Matratze erkennen: Sie war in Abständen aufgeschlitzt worden, die Füllung quoll hervor wie Gedärm.

Mit geübter Routine wirbelte der Mann das Messer in der Hand herum, beugte sich erneut über die Matratze und rammte die Klinge an einer noch unberührten Stelle hinein. Sie machte ein sattes Geräusch, als ob sie sich in menschliches Fleisch bohrte.

Dann ertönte das gruselige Sägen erneut: Ritsch ritsch ritsch.

Ein Gedanke flimmerte durch Max’ Hirn. Wenn er am Wanderweg nicht zu dem obdachlosen Typen zurückgelaufen wäre, wäre er drei Minuten früher dran gewesen, was bedeutete, dass er Mr. Omar nicht gesehen hätte, was wiederum bedeutete, dass er geradewegs durch seine Wohnungstür mitten in diesen Albtraum spaziert wäre.

Das immer stärker werdende Brennen in seiner Brust verlangte, dass er vorsichtig den Atem entweichen ließ. Millimeter für Millimeter schob er die Tür wieder zu und ließ den Türknauf erneut einrasten. Das Klicken, als er ihn losließ, hätte ebenso gut ein Donnerschlag sein können.

Rückwärts schlich er zur Toilette und kniff die Augen zusammen, als das blasige Linoleum mit einem hellen Knacken unter seinem Gewicht nachgab. Im Zimmer nebenan konnte er ein ersticktes Ächzen, ein weiteres Einstichgeräusch und dann das Ritsch Ritsch Ritsch der Klinge hören.

Max konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie das Messer sich durch Sehnen und Bänder hindurcharbeitete. Dunkle Punkte tanzten vor seinen Augen, und ein plötzlicher Anflug von Schwindel überkam ihn. Er stellte sich wieder gerade hin und blinzelte, bis die Panikattacke vorüber war.

Los jetzt, ermahnte er sich. Schnell und ohne einen Laut. Du schaffst das.

Blind tastete er hinter dem Spülkasten herum, riss den kanariengelben Umschlag ab und zwängte sich durch das Fenster wieder nach draußen.

3. GANZ NORMAL

Im einundzwanzigsten Stock des vornehmen, wenn auch ein wenig in die Jahre gekommenen Apartmenthochhauses Castle Heights befindet sich eine Tür.

Sie sieht aus wie eine ganz normale Tür, aber das ist sie nicht.

Die dünne Holzverblendung, die wie jede andere Wohnungstür in diesem Gebäude aussieht, verdeckt ein Innenleben aus Stahl, in dem wiederum ein ausgeklügeltes System von Sicherheitsriegeln verborgen ist. Die Hohlräume im Innern sind mit Wasser gefüllt, eine neue Sicherheitsmaßnahme, die die Wucht von einem Rammbockangriff verteilen soll. Der Rammbock wird eher verbiegen, bevor er diese Tür durchstößt.

Hinter der Tür befindet sich ein Penthouse.

Es sieht aus wie ein ganz normales Penthouse, aber das ist es nicht.

Wenn man über die 650 Quadratmeter stahlgrauen Fußboden schlendert, sieht man diverse Trainingsstationen, von Sandsäcken bis hin zu auf Regalen gelagerten Kettlebells. Man entdeckt einen freistehenden Kamin, das ein oder andere selten benutzte Sofa, eine Wendeltreppe, die hinauf in ein Leseloft führt. Der offene Grundriss erlaubt ungehinderte Sicht in die Küche mit ihren Arbeitsplatten aus Gussbeton und den Armaturen aus gebürstetem Nickel. Des Weiteren stößt man auf eine Grüne Wand, aus der Minze, Kamille und ein ganzes Potpourri an anderen Küchenkräutern sprießen. Was einem jedoch nicht auffallen wird, ist die Tatsache, dass die bodentiefen Panoramafenster, die nach Osten auf Downtown Los Angeles und nach Süden auf Century City blicken, aus einem kugelsicheren thermoplastischen Kunststoff bestehen. Oder dass die automatisch ausfahrbaren Sonnenschutzrollos in einem harmlosen lilablauen Farbton aus einem ungewöhnlichen, so dicht gewebten Titanmischgewebe bestehen, dass es jegliche Scharfschützenmunition abhalten würde, die eventuell doch durch die kugelsicheren Scheiben dringen könnte.

Ganz hinten in dem ordentlichen, minimalistisch gehaltenen riesigen Raum kann man den einzigen Flur hinuntergehen. Der führt in ein großes Schlafzimmer. Rechter Hand liegt ein Bad.

Es sieht aus wie ein ganz normales Badezimmer, aber das ist es nicht.

Wenn man die Milchglastür der Dusche antippt, gleitet sie lautlos auf Laufrollen aus Carbonstahl zur Seite. Im Hebel für das heiße Wasser verbergen sich unsichtbare Sensoren, die nur auf den Handabdruck einer einzigen Person ansprechen. Nahtlos in das Fliesenmuster der Duschwand eingepasst, befindet sich eine Geheimtür.

Das Schlafzimmer ist ebenso sparsam eingerichtet und makellos sauber wie der Rest der Wohnung: Kommode, Boden, Bett.

Es sieht aus wie ein ganz normales Bett, aber das ist es nicht.

Auf den zweiten Blick fällt einem vielleicht auf, dass es schwebt. Die Matratze liegt auf einer Platte, die durch Neodym-Seltenerdmagnete in der Luft gehalten wird, die so stark sind, dass ein kleines Schiff daran vor Anker gehen könnte. Stahlkabel halten die Platte in einer Höhe von drei Fuß über dem Boden. Würde man sie durchtrennen, würde die Platte nach oben sausen, durch die Decke schlagen und über dem Wilshire Corridor durch die Luft segeln.

Auf dem Bett sitzt ein Mann im Schneidersitz, die Wirbelsäule kerzengerade, so reglos, dass er ebenso gut eine Statue aus Marmor sein könnte. Er lebt nach bestimmten Geboten, und diese Meditation ist eine Verkörperung des Zweiten: Totaler Fokus im Großen wie im Kleinen. Seine Augen sind bis auf einen kleinen Spalt geschlossen. Seine Hände, die Handflächen nach oben, ruhen auf den Oberschenkeln. Er ist nirgendwo, aber gleichzeitig genau an diesem Ort. Er ist nichts weiter als sein Atem. Er ist nur mit einer einzigen Sache beschäftigt. Das hier ist das komplette Gegenteil von Multitasking.

Er sieht aus wie ein ganz normaler Mann.

Aber das ist er nicht.

Auf höchster Ebene der Geheimdienstkreise einflussreicher, aber instabiler Nationen war Evan Smoak bekannt unter dem Namen Orphan X.

Im Alter von zwölf Jahren hatte man ihn aus einem Kinderheim in East Baltimore geholt und im Rahmen eines streng geheimen Programms erzogen, das so tief im Apparat der US-Regierung verborgen war, dass so gut wie niemand überhaupt von dessen Existenz wusste. Seine Ausbildung hatte aus gnadenlosem körperlichem, emotionalem, kulturellem und psychologischem Training bestanden, das seine Fähigkeiten wie ein Schleifstein immer weiter geschärft hatte, bis er zu einem tödlichen Werkzeug geworden war. Sein Betreuer, Jack Johns, hatte ihn nicht nur zu einem Elitekiller erzogen, sondern gleichzeitig seine Menschlichkeit herausgebildet – zwei hochexplosive Komponenten, die, wenn man sie genügend Druck aussetzte, leicht in die Luft gehen konnten.

Und dann hatte Jack ihm beigebracht, wie man diese Bausteine in seine Persönlichkeit integrierte. Auf der haarfeinen Trennlinie zwischen Yin und Yang balancierte. Und nicht in die Luft ging.

Es war eine Herausforderung, die ihn sein ganzes Leben begleitete.

Als Evan sich vom Orphan-Programm losgesagt hatte, hatte er seinen zweiten Decknamen – der Nowhere Man – beibehalten und es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen in einer ausweglosen Situation beizustehen, die sonst niemanden hatten, an den sie sich wenden konnten. Seine Klienten erreichten ihn, indem sie eine wenig bekannte Nummer wählten, die zu einer urbanen Legende geworden war: 1-855-2-NOWHERE. Jeder digitalisierte Anruf wurde über das Internet durch ein Gewirr von verschlüsselten VPN-Tunneln versendet und umrundete einmal den Globus, bevor er auf Evans RoamZone-Handy landete.

Jedes Mal meldete er sich mit demselben Satz: Brauchen Sie meine Hilfe?

Und dann griff er ein, um die Unschuldigen zu beschützen, weil es sonst niemand tat. Um sie vor denjenigen zu schützen, die ihnen Böses wollten. Um ein Ungeheuer zu jagen, musste man selbst zu einem werden, so lautete das abgedroschene Sprichwort. Aber für Evan hatte dieser Spruch schon immer heuchlerisch geklungen.

Es gab eine Zeit, da war er selbst ein Ungeheuer gewesen, eine nur auf einen einzigen Zweck ausgerichtete Waffe. Seine Tätigkeit als der Nowhere Man stellte eine Art Wiedergutmachung dar. Jedes Mal, wenn er jemandem half, gewann er einen winzig kleinen Teil seiner Seele zurück.

Und wenn er einen Auftrag beendet hatte, bat er seine Klienten, den Gefallen weiterzugeben. Sich selbst zu stärken, indem sie jemand anderes fanden, der sich in einer ausweglosen Situation befand.

Zuletzt hatte Evan einem jungen Mann mit sanftem Wesen und einem besonderen Gehirn geholfen, der von einer ganzen kriminellen Organisation terrorisiert worden war. Wie jeder Klient vor ihm hatte Trevon Gaines eine bestimmte Aufgabe gehabt: die nächste Person für Evan zu finden, die dringend seine Hilfe brauchte. Dann dieser Person die Telefonnummer des Nowhere Man zu geben. Und Evan würde aufs Neue am anderen Ende der Leitung warten, bereit, abzuheben und das Ganze wieder von vorne in Angriff zu nehmen.

»Erlösung« war ein nur unzureichender Begriff für das, wonach er strebte. Der Welt mit seinen eigenen Regeln gegenüberzutreten, mit der schwachen Flamme seiner eigenen Moralvorstellungen ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen – das war ein Prozess der allmählichen Verwandlung.

Der Verwandlung in etwas weniger Tödliches. Etwas Menschlicheres.

Je mehr vom alltäglichen Leben er zuließ, desto mehr konnte er spüren, wie sich ganz entfernt die Umrisse einer neuen Art von Dasein flirrend wie eine Luftspiegelung abzuzeichnen begannen. Seit er zwölf Jahre alt war, hatte er sich auf einer einzigen Flugbahn befunden: wie mit dem Katapult auf all die Bedrohungen abgeschossen, die die Menschheit zu bieten hatte. Als der Nowhere Man hatte er seinen Kurs verändert, ganz klar, aber nicht die grundsätzliche Ausrichtung.

Im Laufe des vergangenen Jahres hatte er das Krebsgeschwür seiner Vergangenheit herausgeschnitten. Er hatte die korrupten Orphans vernichtet, die ihn jagten. Und auch den Mann, auf dessen Befehl hin sie gehandelt hatten: den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Der Plan, die unschuldigen Orphans auszuschalten, war vereitelt worden, und die Überlebenden hatten sich in alle Winde zerstreut.

Jetzt, da Evan nicht mehr vor irgendetwas davonlief, hatte er angefangen sich zu fragen, worauf er zulief. In letzter Zeit fühlte er sich vollkommen aufgerieben, erschöpft bis ins Mark. Zunehmend stiegen von irgendwo tief verborgen in seinem Innern Fragen an die Oberfläche.

Wie viel Buße war genug?

Wie viel länger konnte er sich durch die abfallverstopften Gassen verschiedener Städte kämpfen und in abgrundtief böse Augen blicken, Seelen, verdunkelt von den grauenvollen Taten, die sie planten?

Würde er einfach immer weitermachen, bis er auf einem Tisch im Leichenschauhaus landete?

Würde er irgendwann genug seiner selbst zurückgewonnen haben, um etwas Besseres zu verdienen?

Er wusste es nicht. Dennoch hatte er eine Entscheidung getroffen.

Das nächste Abenteuer würde sein letztes sein.

Noch ein weiteres Mal würde das robuste schwarze Handy klingeln, das er stets bei sich trug. Noch ein weiteres Mal würde er sich seinen Weg hinunter in die Unterwelt kämpfen und – falls er es lebend wieder herausschaffte – jemanden aus der Verdammung befreien. Und dabei ein weiteres Mal mit seinem Schweiß und seinem Blut bezahlen, um einen Teil seiner Seele zurückzugewinnen.

Ein letzter Einsatz, und dann wäre die Sache für ihn beendet.

4. EINE GESUNDE PORTION PARANOIA

In seinem in einer kleinen Gasse hinter einem Supermarkt in West L.A. geparkten Truck holte Max tief Luft und riss den Umschlag in heiterem Gelb auf, den Grant ihm gegeben hatte.

Darin befand sich ein gefalteter Bogen Briefpapier mit Grants Briefkopf, darauf ein hastig hingekritzelter Name und eine Telefonnummer. Lorraine Lennox, bei der es sich, wie Max vermutete, um die Reporterin der Los Angeles Times handelte, der er laut Grant vertrauen konnte. Als er den unteren Teil des Briefbogens auffaltete, fiel ihm ein kleinerer gelber Umschlag in den Schoß. Auf der Vorderseite stand in Großbuchstaben: »NICHTÖFFNEN«. Er hatte ein gewisses Gewicht, als enthielte er einen Silberdollar.

Max warf den kleineren Umschlag auf den Beifahrersitz. Er starrte auf die Telefonnummer.

»Falls mir je etwas zustoßen sollte, ruf die Nummer da drin an.«

Max selbst mochte vielleicht nicht viel taugen, aber auf sein Wort konnte man sich verlassen.

Er wählte die Nummer.

Viermal Klingeln, dann schaltete sich die Mailbox ein. Die Stimme von Lorraine Lennox, die ihn bat, eine Nachricht zu hinterlassen, klang ziemlich vertrauenswürdig. Nach dem Piep sagte er: »Ja, hallo, hier ist … äh, Max Merriweather. Ich muss … Ich muss Sie dringend so schnell wie möglich sprechen. Also, rufen Sie mich zurück. Sofort.« Er konnte hören, wie seine Stimme immer lauter und eindringlicher wurde, und holte erst einmal tief Luft, bevor er fortfuhr. »Tut mir leid, wenn ich gerade wie ein Stalker geklungen habe. Es ist nur … Hören Sie, ich befinde mich gerade in einer extrem komischen Situation – einer ziemlich gefährlichen sogar –, und ich muss … Ähm, Sie sind die Einzige, mit der ich reden darf. Weil ich’s versprochen habe, und …« Unsicher, wie er das Ganze erklären sollte, rieb er sich die müden Augen. »Bitte rufen Sie mich zurück. Okay. Danke.«

Er leierte seine Telefonnummer herunter und legte dann auf.

Zittrig stieß er den Atem aus und ermahnte sich, dass eine Menge Leute es besser hinkriegten, obwohl sie schlechter dran waren und er auch gerade in Aleppo oder Falludscha sein könnte.

Und dass er gerade keine verdammte Scheißangst hatte.

Sein Tank war nur noch ein Viertel voll, und er hatte keine Klamotten, kein Geld und keinen blassen Schimmer, was er als Nächstes tun sollte. Er überlegte zum fünften oder auch fünfzigsten Mal, ob es nicht besser wäre, sich an die Cops zu wenden, aber Grant hatte ihm gesagt, er sollte niemandem außer Lorraine Lennox vertrauen. Max hatte ihm sein Wort gegeben, und jetzt hatte Grants Bitte ein Upgrade erfahren und war zu seinem letzten Wunsch geworden. Außerdem, auf einen Jagdmesser schwingenden Psychopathen mit dem Spitznamen »The Terror« zu treffen, hatte bei ihm für eine gesunde Portion Paranoia gesorgt.

Die durch die Lüftungsschlitze der Klimaanlage einströmende Luft brachte den ekelhaft süßlichen Geruch nach verrottendem Obst und Gemüse mit sich, was für die vor sich hin brodelnde Säure in seinem Magen nicht gerade förderlich war.

Er legte die Hände ans Lenkrad, als wollte er irgendwohin fahren, aber es gab kein Irgendwo, wohin er hätte fahren können. Er verfluchte Grant, sich selbst, die ganze vertrackte Situation, dann gab er innerlich doch nach und griff erneut nach dem Telefon.

Diesmal verkündete ein Ansagetext, dass die Büro-Mailbox von Mrs. Lennox voll sei.

Er legte auf und warf dem »NICHTÖFFNEN«-Umschlag einen giftigen Blick zu.

Dieser blickte ebenso giftig zurück.

Er streckte die Hand nach dem Umschlag aus, dann zog er sie wieder zurück.

Grant erweckte irgendwie den Wunsch in einem, sich ihm unterzuordnen. Als ältester der Cousins und Cousinen war er immer der Patriarch dieser Generation der Merriweathers gewesen. Zu seinem fünfzigsten Geburtstag hatte er eine Jacht gemietet und eine Champagner-bei-Sternenlicht-Party in der Marina abgehalten. Max hatte die Einzelheiten brühwarm von seinem Vater erfahren: Krebsscheren und Perrier-Jouët, ein Streichquartett und iPads als kleine Aufmerksamkeiten für die Gäste, jedes luxuriöse Detail aufgezählt mit einer Art Vorwurf in der Stimme.

Was seinen Vater betraf, war Max bereits als Enttäuschung auf die Welt gekommen. Seine Mutter war bei seiner Geburt an Komplikationen, einem durch eine Fruchtwasserembolie verursachten Herz-Kreislauf-Versagen, gestorben. Schwierige Begriffe, die er schon sehr früh gelernt hatte. Sein Vater, der aus einer einander sehr nahestehenden Familie mit fünf Brüdern stammte, hatte ihn mit stoischem Gleichmut großgezogen und so getan, als trage er ihm nicht nach, dass sein einziges Kind ihn der Chance beraubt hatte, das Leben zu führen, das er sich ausgemalt hatte. Terry hatte seine väterlichen Pflichten mit freudloser Kompetenz erfüllt, indem er ihn mit dem Nötigsten versorgte, aber wenig darüber hinaus.

Wie Max rasch herausgefunden hatte, war sein bester Schutz, nicht aufzufallen, unsichtbar zu sein, ein Rädchen, das sich drehte, ohne zu quietschen. Es gab ja schließlich schon genug, wofür er sich entschuldigen musste. Um seinem Vater nicht zur Last zu fallen, war er mit einem vorzeitigen Abschluss von der Culver City Highschool abgegangen und hatte sich einen Job gesucht. Solange er tun und lassen konnte, was er wollte, war er damit zufrieden gewesen, der mickrigste Spross am Familienstammbaum zu sein.

Bis zu Violet.

In dem Sommer, in dem er sechsundzwanzig wurde, hatte er sie nach einem George-Thorogood-Konzert im Morongo Casino in der Nähe von Palm Springs kennengelernt. Sein Kumpel hatte sich um die Tickets gekümmert, und Max hatte die überteuerten Biere besorgt, und nach dem Konzert waren sie ins Casino gegangen, »Bad to the Bone« noch dröhnend im Ohr und mit einem unverdienten Gefühl von Optimismus, was den Verlauf des restlichen Abends anging.

Er hatte sie vor einer Quarter-Slotmachine entdeckt, als sie sich eine Strähne ihres seidigen schwarzen Haars um den Finger wickelte, einen fast leeren Behälter Quarters auf dem Schoß. Ihre Sandalen lagen auf dem Boden; einen nackten Fuß hatte sie auf dem Sockel des leeren Hockers neben sich abgestützt. Dunkle Augen und rote Lippen zu einer Haut so hell wie Porzellan. Sie sah aus wie von einem Künstler gezeichnet, verführerisch und rätselhaft, als verbargen sich unbekannte Tiefen hinter diesem ruhigen Äußeren.

Max’ Freund war komplett in ein Roulettespiel vertieft, also war Max schnell einen Fünfdollarschein einwechseln gegangen, wobei er sich die ganze Zeit umblickte aus Sorge, dass sie nur seiner Vorstellung entsprungen sein und sich wieder in Luft auflösen könnte. Zum ersten Mal seit der Junior High musste er seinen ganzen Mut zusammennehmen, um jemanden vom anderen Geschlecht anzusprechen.

»Darf ich mich hier hinsetzen?«, fragte er und rasselte mit seinem Münzbehälter.

»Ich hab gerade ’ne Pechsträhne«, erwiderte sie, ohne aufzublicken. »Wenn du schlau bist, hältst du dich so fern von mir wie nur möglich.«

»Keine Sorge«, hatte er geantwortet, »so schlau bin ich nicht.«

Daraufhin hatte sie ihn mit einem schiefen Grinsen bedacht.

Und wie aufs Stichwort gewann er beim ersten Zug am Hebel des einarmigen Banditen den Jackpot, und ein Regen von Münzen prasselte aus der Auswurfschale. Zweihundertzwanzig Dollar, ausgezahlt in Vierteldollarmünzen, hatten sich angefühlt wie eine ganze Million.

Zusammen mit einem halben Dutzend Leuten, die zugeschaut hatten, hatte sie ihm gratuliert. Er hatte sein Geld eingesammelt, seinen ganzen Mut zusammengenommen und gesagt: »Ich würde dich wirklich gern zum Essen einladen.«

Zu diesem Zeitpunkt waren sie sich nah genug, dass er ihr Parfüm riechen konnte, Orangenblüten und Vanille. Er kannte sich mit Düften nicht aus, aber dieser roch teuer.

Sie betrachtete ihn aus dunklen Augen. »Da hast du also ’nen Haufen Geld gewonnen, und jetzt willst du dich mit mir verabreden?«

»Fairerweise muss man sagen, dass ich mich schon mit dir verabreden wollte, bevor ich den Haufen Geld gewonnen habe«, hatte er erwidert. »Aber jetzt kann ich’s mir auch leisten.« Er zuckte die Achseln. »Ich brauchte nur eine Ausrede, um mich neben dich zu setzen.«

Sie kniff die Lippen zusammen und musterte ihn, aber er konnte an den kleinen Fältchen rund um ihre Augen erkennen, dass sie es lustig fand. Und wieder spürte er den Optimismus von vorhin.

»Na schön«, sagte sie, »aber wir teilen uns die Rechnung.«

Sie stammte aus einem gut betuchten Elternhaus, und zwar richtig gut betucht; ihre Eltern besaßen um die tausend Wohneinheiten in diversen weniger ansprechenden Gegenden im Großraum Los Angeles. Sie hatten so lange die Finanzen ihrer Tochter kontrolliert, hatte sie ihm zögerlich bei Surf ’n’ Turf anvertraut, dass sie geglaubt hatte, so funktioniere eine Familie nun mal.

Wie angekündigt, bestand sie darauf, sich die Rechnung zu teilen, aber am nächsten Abend – zurück in Los Angeles – durfte er das Essen bezahlen und auch am Abend darauf. »Damit verpflichtest du dich zu nichts«, hatte er gesagt, als er nach der Rechnung griff.

»Du meinst, ich muss nicht mit dir schlafen?«, hatte sie gefragt.

»Du musst mich noch nicht mal ansehen.«

»Gott sei Dank«, hatte sie gesagt und sich an ihn gelehnt.

Sie hatten sich nicht Hals über Kopf ineinander verliebt, aber ihrer beider Leben hatten sich dennoch ganz allmählich miteinander verwoben. Tagsüber SMS. Klamotten zum Wechseln beim jeweils anderen in der untersten Schublade deponiert. Gemeinsam den Einkauf erledigt.

Und dann war es mehr.

Sie waren beinahe ein Jahr zusammen, als sie sich nach einer Mitternachtsvorstellung von Alien auf dem Hollywood-Forever-Friedhof auf der Picknickdecke an ihn gekuschelt und eins ihrer beider Lieblingslieder zitiert hatte: »Let’s grow old together and die at the same time«.

Er sah ihr in die Augen und begriff, was sie wirklich fragte. »Bei einem Propellermaschinenabsturz über der Serengeti?«

Sie grinste. »Ich hatte eigentlich gedacht, bei einem tragischen Tauchunfall auf einer Reisetour für Greise.«

Im flackernden Licht des Projektors, dort inmitten der ganzen Kinofans und Grabsteine, hatte er plötzlich ein so überwältigendes Gefühl der Dankbarkeit verspürt, dass ihm die Tränen gekommen waren. »Violet McKenna«, sagte er und sank auf ein Knie. »Willst du?«

»Ja, verdammt, und ob ich will.«

Dann küssten sie sich, und die Leute um sie herum, die ihnen noch Augenblicke zuvor vehement zugezischt hatten, sie sollten ruhig sein, begannen zu applaudieren.

Danach, wenn sie sich wieder einmal über den Weg gelaufen waren, hatte der Merriweather-Clan Violet ins Herz geschlossen. Wie hätten sie es auch nicht tun können? Mit ihr, so schien es, hatten sie endlich etwas gefunden, das Max für sie akzeptabel machte. Sie fingen an, ihn beziehungsweise sie beide häufiger einzuladen und mit Waffel-Sonntagen und Taco-Dienstagen wieder in den Familienverband aufzunehmen. »Verbock es nicht«, raunte ihm sein Vater bei jedem Abschied zu, wobei er mit dem Kinn in Violets Richtung deutete und ein Lächeln zur Schau trug, das eigentlich gar keines war.

Im Gegensatz dazu konnten sich Violets Eltern – altes Geld, zumindest nach kalifornischen Maßstäben – überhaupt nicht mit der Beziehung anfreunden. Violet kümmerte das wenig. Mit ihrem Gehalt als Kindergärtnerin und Max’ Baustellenjobs hatten sie genug Geld zur Verfügung, was genau das aushebelte, womit ihre Eltern Kontrolle über sie ausgeübt hatten. Wenn überhaupt, dann verlieh ihre Missbilligung der Verbindung eher einen Hauch von Romeo und Julia.

Als sie Max zum unausweichlichen Brunch im Four Seasons in Sierra Madre eingeladen hatten, sagte Max in der Hoffnung auf einen Neuanfang zu. Sobald der Zwölf-Dollar-Orangensaft im Glas war, räusperte sich Clark. »Also, Maxwell. Was genau sind deine Absichten?«

Da er jetzt spürte, dass es eine kurze Mahlzeit werden würde, legte Max die gestärkte Serviette wieder akkurat entlang der gebügelten Falten zusammen und platzierte sie auf seinem Gedeck. »Meine Absichten sind: Ich liebe Ihre Tochter.«

Gwendolyn blinzelte ein paarmal hinter den bernsteinfarbenen Gläsern ihrer Sonnenbrille, die sie Tag und Nacht trug. »Falls du dich entschließen könntest, dich anderweitig zu orientieren, wären wir selbstverständlich bereit, dir den Abschied zu erleichtern. Zum Beispiel durch ein neues Auto.«

»Ein Auto«, wiederholte Max, der sich nicht sicher war, ob er richtig gehört hatte.

»Ich weiß, die Sache zwischen euch fühlt sich ganz romantisch an«, fuhr sie fort und nahm einen Schluck von ihrem Arnold Palmer, »aber wir kommen aus ganz anderen Verhältnissen. Violet ist eine schwierige junge Frau. Wie willst du für sie sorgen? Indem du sie liebst?«

Sie schnaubte verächtlich, als sei diese Vorstellung das Naivste auf der Welt.

Was sie natürlich auch war.

Max fasste das Ganze allerdings nicht als Beleidigung, sondern als Herausforderung auf. Er nahm jede Gelegenheit wahr, zusätzliche Schichten zu übernehmen und Überstunden zu machen. Nach einer kurzen Zeremonie auf dem Standesamt von Van Nuys gingen sie mit einigen Freunden im Chili’s mittagessen. Mehr brauchten sie nicht.

Bestärkt von Violet, verwendete Max das Wenige, was sie beiseitegelegt hatten, für Abendunterricht an der California State University in Northridge. Aus seinem Zwölfstundentag wurde einer mit sechzehn Stunden. Er hatte vor, einen BA zu machen und danach eventuell noch ein Jurastudium dranzuhängen. Mit ihr an seiner Seite konnte er derjenige sein, der er nie gewagt hatte zu sein.

Als sie eines Morgens aus dem Bad kam, ein lila Stäbchen in der Hand, auf dem ein Pluszeichen für »positiv« stand, und vor Freude auf und ab hüpfte, kriegte er sich gar nicht mehr ein und fing hemmungslos an zu heulen. Sie besorgten Steckdosenschutz aus Plastik, fingen an, über Durchschlaftraining und selbst gekochte Babynahrung nachzulesen, misteten den begehbaren Kleiderschrank aus und strichen die Wände blasslila.

Jene ersten hoffnungsvollen Noten, ins Leben gerufen von George Thorogood und ein paar lauwarmen Bud Light, waren zu einer Melodie und jetzt zu einer Symphonie angewachsen. Sie waren zum Soundtrack seines Lebens geworden.

Er konnte nicht ahnen, dass er nur noch drei glückliche Monate vor sich hatte, bevor alles in die Brüche gehen würde.

Max erwachte aus seinem Tagtraum dort in seinem Truck, geparkt zwischen zwei Supermarkt-Abfallcontainern, und atmete den Müllgestank ein. Dicht vor seinen Fenstern ragten zu beiden Seiten die Wände der schmalen Gasse in die Höhe, und vor lauter Bedrängnisgefühl fiel ihm das Atmen schwer.

Die einzige Kontaktperson, die Grant ihm genannt hatte, hatte einen Anrufbeantworter, der keine Nachrichten mehr annahm. Er war im Besitz eines Umschlags, den er nicht öffnen durfte. Und es war ihm ein Typ namens »The Terror« auf den Fersen.

Max umklammerte erneut das Lenkrad, sackte dann nach vorne und ließ den Kopf auf die Hände sinken. Er hatte seinen Cousin nicht sonderlich gut leiden können, aber er schuldete es Grant, sich etwas einfallen zu lassen, genauso wie er es sich selbst schuldete, sich nicht umbringen zu lassen.

Er brauchte Antworten.

Und das bedeutete, dass er sich an den Ort begeben musste, an dem er momentan am allerwenigsten sein wollte.

5. GESELLIGE UMGEBUNG

Evan saß in der Dunkelheit der Tiefgarage unter seinem Apartmenthochhaus, die Einkaufstüte neben sich auf dem Beifahrersitz. Handgeangelter Lachs, Zitrone, Dill, Kapern, Butter, grober schwarzer Pfeffer, Mineralwasser mit Kohlensäure. Er hatte den Duft des fertigen Essens förmlich schon in der Nase, würzig und gehaltvoll. Dazu würde hervorragend ein geschmeidiger Wodka passen, irgendetwas auf Traubenbasis.

Hier in seinem Truck, einem mit ebenso vielen versteckten Sicherheitsfeatures wie sein Penthouse aufgerüsteten Ford F-150 Pick-up, war es einfach wunderbar. Jetzt, in diesem Moment, genau eingepasst in einen Parkplatz zwischen zwei Pfeilern, könnte er auch irgendjemand anderes sein, der zu den Annehmlichkeiten seines Zuhauses zurückkehrte und dessen Abend nichts für ihn bereithielt als ein gut gekochtes Essen und ein wohliges Wärmegefühl von einem kleinen Drink.

Aber er konnte nicht irgendjemand anderes sein.

Zumindest noch nicht.

Die Einkaufstüte im Arm, machte Evan sich auf den Weg durch die Garage des Castle Heights. Oben auf der kurzen Treppe zögerte er einen Moment vor der Tür zur Lobby, um sich bereit zu machen für den Übergang in eine andere Identität. Bei den Bewohnern des Gebäudes war er als ein Wohnungseigentümer bekannt, der als Importeur von Industriereinigern ein ziemlich langweiliges Leben führte. Er hatte einen durchschnittlichen Körperbau, um möglichst wenig aufzufallen, und sorgte dafür, dass seine Muskeln stets trainiert, aber nicht zu massig waren. Ein ganz normaler Typ in den Dreißigern, mit durchschnittlich gutem Aussehen.

Als er sich kurz Zeit nahm, um sich in seiner anderen Identität wieder zurechtzufinden, bemerkte er, dass er nervös war. Erneut die eintönige Welt des Castle Heights zu betreten, löste manchmal dieses Gefühl in ihm aus. Die Windabweichung eines Scharfschützengeschosses zu berechnen, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Aber sich an den Briefkästen mit anderen Bewohnern über Belanglosigkeiten austauschen zu müssen, war die reinste Folter.

Dann öffnete er die Tür.

Die überaus aktive und überaus übergriffige Eigentümergemeinschaft hatte vor Kurzem beschlossen, das Lobbymobiliar zu modernisieren in dem Bestreben, eine geselligere Umgebung zu schaffen.

Evan hatte eine Abneigung gegen gesellige Umgebungen.

Aber natürlich hatte sich auf den kleinen Sofas ohne Armlehne neben der Nespresso-Maschine ein ganzer Pulk von Bewohnern versammelt. Ida Rosenbaum aus 6G, eine vertrocknete Schildkröte von Frau, zeigte einigen Laute der Bewunderung von sich gebenden Betrachtern eine altmodische Kette aus Markasit und Amethyst. »Endlich bin ich mal an den Safe gegangen und habe dieses Ding hier rausgeholt«, sagte sie gerade. »Ich meine, ich werde ja schließlich nicht jünger. Über meinen Herb, Gott hab ihn selig, kann man sagen, was man will, aber für Mode hatte er ein Auge.«

Evan schlüpfte durch die Tür und schloss sie mit taktischer Präzision so leise wie möglich. Im gesamten Gebäude gab es nur zwei Menschen, die ihm wirklich etwas bedeuteten: Mia Hall und ihr neunjähriger Sohn Peter. Mia und Evan hatten vorübergehend etwas gehabt, das mehr als eine Affäre, aber weniger als eine richtige Beziehung gewesen war. Er fand ihren Verstand und ihren Körper über die Maßen anziehend, und es schien, als hätte auch sie etwas an ihm anziehend gefunden. Unglücklicherweise wurde die zwischen ihnen bestehende Anziehung durch die Tatsache verkompliziert, dass sie, falls sie – als Bezirksstaatsanwältin – je herausfinden sollte, wer er in Wirklichkeit war, gezwungen wäre, ihn festnehmen zu lassen. Als sie sich in groben Zügen zusammengereimt hatte, welcher Art von Tätigkeit er im Geheimen nachging, hatten sie sich auf einen wenig befriedigenden »Don’t ask – Don’t tell«-Kurs geeinigt, der ungefähr so gut funktioniert hatte wie damals bei Clinton. Ihre Weder-Affäre-noch-Beziehung hatte nicht harmonisch geendet.

Evan war erleichtert zu sehen, dass Mia sich nicht in dem Grüppchen von Leuten befand, das es sich auf den neuen Lobbymöbeln bequem gemacht hatte. Mit gesenktem Kopf hielt er schnurstracks auf den Aufzug zu.

»Evan! Warum so eilig, Chief?«

Evan blieb reglos stehen, ein Beutetier-Instinkt, als könne er mit dem Hintergrund verschmelzen und sich unsichtbar machen.

Johnny Middleton, der mit seinem im Ruhestand befindlichen Vater in 8E wohnte, breitete die Arme aus wie ein Autoverkäufer, der im Ausstellungsraum einen Kunden begrüßt. Sein typischer Trainingsanzug, auf dem das Logo eines Mixed-Martial-Arts-Studios prangte, war um die Körpermitte hochgerutscht und gab den Blick auf einen für das mittlere Lebensalter charakteristischen Bauchansatz frei. »Ida hier hat uns gerade ein bisschen was von ihrem Old-School-Bling gezeigt.«

»Ach, lassen Sie den bloß in Ruhe«, krächzte Ida mit einem abschätzigen Wedeln ihrer mit Altersflecken bedeckten Hand. »Der interessiert sich für keinen außer sich selbst. Stimmt doch, oder? Sie flitzen sofort rauf in Ihr Penthouse. Keine Zeit, ein kleines Schwätzchen zu halten.«

»Ja, Ma’am«, erwiderte Evan pflichtschuldig.

Schwaden ihres penetranten Fliederparfüms hatten sich in der gesamten Lobby verteilt. »Zu gut für den Rest von uns.«

»Nein, Ma’am.«

Lorilee Smithson, 3F, schlang einen yogagestählten Arm um Evans Bizeps. Etliche Schönheitsoperationen hatten sie in das künstliche Abbild einer attraktiven Fünfzigjährigen verwandelt, was vielleicht auch ihr tatsächliches Alter war. Andererseits konnte sie auch achtzig sein.

»Ev«, flötete sie. »Ich habe den Auftrag, mich um die Pappteller und – becher für die Eigentümerversammlung am Mittwochabend zu kümmern, und als solches muss ich Sie zwangsbitten, ein paar Knabbereien mitzubringen, in Ordnung?«

Ev? Zwangsbitten? Knabbereien?

Die Castle-Heights-Geheimsprache zu dechiffrieren war schwerer als kantonesische Betonung. Ihr ausgesetzt zu sein schlimmer als Waterboarding.

Evan räusperte sich, ein für ihn untypisches nichtverbales Signal, und krächzte: »Wie bitte?«

Sie wiederholte ihre Bitte. Dann fügte sie hinzu: »Irgendwas Einfaches. Sie wissen schon, selbst gebackene Kekse, vielleicht eine Rohkostplatte.«

»Rohkostplatte«, wiederholte er tonlos.

Er blickte in all die Gesichter, die ihn ansahen. Außerhalb der normalen Welt zu leben hatte ihm wenig an die Hand gegeben, was den ganz alltäglichen Umgang mit anderen anging, aber er wusste, dass jetzt irgendeine Form von Höflichkeitsfloskel gefragt war. Wieder räusperte er sich und versuchte, sich an die Worte zu erinnern. »Schön, Sie alle zu sehen.«

Mrs. Rosenbaum schnaubte verächtlich.

Evan trat rückwärts den Rückzug an, wobei er ein Winken andeutete, was er umgehend bereute. Vor den Aufzügen drehte er sich um und sah sich unmittelbar Mia gegenüber.

Das Handy ans Ohr gepresst und ihre überquellende Aktentasche mit Trageriemen in der Hand, hielt auch sie überrascht inne. Aus unerfindlichen Gründen trug sie eine Kuchenform mit einer Gipsnachbildung von Kalifornien.

Nachdem sie den peinlichen Moment durchgestanden hatten und gemeinsam in den Aufzug gestiegen waren, sagte Evan: »Ich hab gehört, ein Navi soll zuverlässiger sein.«

Verständnislos sah Mia ihn an. Er deutete auf die Staats-Skulptur. Sie sah nach unten und dann wieder zu ihm. Nicht die Spur eines Lächelns.

Stattdessen widmete sie sich mit erneutem Eifer ihrem Telefonat. »Ist mir egal, ob er jeden Sonntag mit dem Bürgermeister im Country Club von Bel Air brunchen geht. Mir ist auch egal, ob ihm der Country Club von Bel Air gehört. Ich habe einen Detective, der keine Angst hat, sich einen Durchsuchungsbeschluss für seinen Wohnsitz zu besorgen. Wäre schön, wenn mein eigener Chef nicht noch mehr Angst vor Gegenwind hätte als ich.«

Ihr Tonfall bestätigte, was er ohnehin bereits wusste: Mia war keine Bezirksstaatsanwältin, mit der er sich anlegen wollte.

»Hör zu, Don«, fuhr sie fort, »wir wissen nicht, wie weit die Krakenarme bei dieser Sache reichen. Ich reiße mir jeden Abend den Arsch auf. Nach der Schule ist Peter noch bei der Mathe-Nachhilfe, und der Babysitter holt ihn ab. Ich renne schon den ganzen Tag mit einer dämlichen Nachbildung eines Bundesstaats in der Gegend rum, weil heute Morgen keine Zeit war, den Gips richtig fest werden zu lassen, und beschwere ich mich? … Okay. Aber ich meine davor? … In Ordnung. Ich bitte dich ja nur, mich meinen Job machen zu lassen.«

Es hatte mal eine Zeit gegeben, da hätte sie vielleicht aufgelegt, als sie Evan sah. Es hatte auch mal eine Zeit gegeben, da hätte sie ihn angelächelt. Ihm sogar direkt in die Augen gesehen.

Stattdessen standen sie nebeneinander, den Blick nach oben auf die Stockwerkanzeige gerichtet. Er konnte ihre nach Zitronengras duftende Körperlotion und den sauberen Geruch ihres Shampoos riechen. Ihr üppiges, leicht gewelltes kastanienbraunes Haar war unordentlich hochgesteckt, einzelne Strähnen hatten sich gelöst und hingen ihr vor dem linken Auge. Die Strähnchen leuchteten hervor, blond und dunkelrot.

Nicht dass er auf so etwas achten würde.

Als Mia ihre Last zurechtrückte, berührten sich zufällig ihre Hände.

Sofort erstarrten beide, und sie trat ein kleines Stück zur Seite.

Durch das Telefon konnte Evan ihren Chef reden hören, nicht das, was er sagte, aber seinen leiernden Tonfall.

Sie sah zu Evan hinüber, und für einen kurzen Moment spiegelte sich ein Gefühl in ihrem Blick – so etwas wie Wehmut.

Dann widmete sie sich wieder ihrem Telefonat. »Ich verstehe«, sagte sie. »Aber irgendwann ist meine Geduld am Ende.«

Allerdings, dachte Evan.

Der Aufzug hielt jetzt im zwölften Stock.

Sie nickte Evan knapp zu und trat nach draußen. Er lauschte, wie sich ihre Schritte entfernten, der unnachgiebigen Beharrlichkeit ihrer Stimme. Sie würde mit einem breiten Grinsen die Tür zu 12B aufschließen. Ihr Apartment würde nach Knete, irgendeiner Duftkerze und einer Spur von dem riechen, was auch immer der Babysitter Peter zum Abendessen gemacht hatte – vermutlich Chicken-Nuggets in Dinosaurierform. Auf dem Sofa würde die frisch gewaschene Wäsche liegen, schmutziges Geschirr in der Spüle, mindestens ein Wachsmalstift wäre in den Teppich getreten. Zu Mias Missfallen (und insgeheim zu ihrer Freude) wäre Peter noch auf, völlig überdreht von zu viel Zucker, und würde auf eine Gutenachtgeschichte und ein Glas Wasser warten und darauf, dass sie unter dem Bett nachsah, ob sich dort auch keine Monster versteckten. Sie würde ihm einen Kuss auf die Stirn geben, genau unterhalb der Stelle, an der sein ansonsten glatter Pony immer abstand, und ihn in seinem wie ein Rennwagen aussehenden Bett zudecken. Dann würde sie sich unter der Dusche den Arbeitstag abwaschen, etwas Jazz hören, vielleicht das Oscar-Peterson-Trio.

Und dann ins Bett gehen.

Wie seltsam, dass das Leben ihn und Mia so nah an etwas herangeführt hatte, das sie niemals haben konnten.

Er fuhr weiter in den einundzwanzigsten Stock, den Duft von Zitronengras noch immer in der Nase, und eilte mit großen Schritten den Flur entlang. Als er seine Wohnungstür hinter sich schloss, fiel sie mit einem satten Geräusch zu und versiegelte ihn gewissermaßen hermetisch im Innern.

Vor ihm tat sich das riesige dunkle Penthouse auf: harte Flächen, hohe Decken und überall Glas. Kein einziger Krümel auf den Arbeitsflächen. Kein einziger Fleck verunzierte die Fenster. Nicht eine einzige Schublade stand auch nur das allerkleinste Stück offen.

Es war unglaublich wohltuend. Und gleichzeitig entbehrte es jeglicher menschlicher Wärme.

Wie seltsam, dass beides gleichzeitig zutreffen konnte.

Nachdem der aktuelle Einsatz abgeschlossen war, würde er jede Menge Zeit haben, sich zu überlegen, wie man diese Gegensätze vereinen konnte. Bis dahin befand er sich in einer Art Warteschleife, gezwungen, zwischen zwei Kapiteln seines Lebens auszuharren.

Seine Schritte hallten von den Wänden wider, als befände er sich in einem Mausoleum. Bei der Kochinsel angekommen, zog er einen der Barhocker heraus. Der Hocker quietschte über den Betonboden. Dann saß er in der Dunkelheit einfach nur da.

Nach einer Weile sah er auf das RoamZone, aber es zeigte keine verpassten Anrufe an.

Er steckte es wieder ein und legte die Hände ineinander.

Jetzt hätte er gerne etwas gehabt, mit dem er sich beschäftigen konnte.

6. SO VIEL MEHR ZU ZERSTÖREN

Die Villa im spanischen Stil – zurückgesetzt hinter einer Rasenfläche gelegen, die groß genug war, um ein Polomatch darauf abzuhalten – strahlte ein Zwanziger-Jahre-Flair aus. Über unzählige Renovierungen hinweg, von denen Max unzählige Male gehört hatte, hatten Grant und Jill die ursprüngliche Einheit des Hauses bewahrt, was auch immer das eigentlich bedeuten sollte. Max wusste nur, dass er sich einmal auf der Suche nach der Toilette verlaufen hatte.