Das Vermächtnis von Blackwood Castle - Gila Gold - E-Book

Das Vermächtnis von Blackwood Castle E-Book

Gila Gold

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Beschreibung

Eine Studienreise nach England, in die Heimat ihrer Vorfahren und ein Jobangebot in einer renommierten Firma? Was will man mehr? Trotzdem kann Maggie nie vollends glücklich sein. Durch einen Gendefekt fürchterlich entstellt, ist ihre Leben gekennzeichnet von Ablehnung und Zurückweisung. Als sie sich dann noch hoffnungslos in einen neuen Kollegen verliebt, wird ihr schmerzlich bewusst, wie einsam sie doch ist. Auf den Boden der Realität geworfen, passiert plötzlich etwas, was ihr Leben komplett verändert. Sie erhält die Chance auf Familie und Liebe durch ein Vermächtnis der besonderen Art. Jedoch lauern hier auch tödliche Gefahren, getrieben von Eifersucht und Gier...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Zwei Jahre davor

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Epilog

Anmerkung der Autorin

1

Blinkende Lichter tauchten die Straße in unheilvolles Blau. Der eintreffende Polizist bahnte sich den Weg zur Einsatzleiterin, um den Stand der Dinge abzufragen.

„Kollision von einer Radfahrerin mit einem LKW. Unschöne Sache! Die Radfahrerin hat offenbar ein Stoppschild überfahren und den LKW nicht gesehen. Warum auch immer. Der LKW-Fahrer steht unter Schock. Er wird dort drüben betreut. Für die Fahrradfahrerin kam jede Hilfe zu spät. Identität ist noch nicht festgestellt. Sie hatte keinen Ausweis bei sich. Aber ein Handy. Wird noch ausgewertet.“

„Tja, so schnell kann es gehen.“

Zwei Jahre davor

Maggie war nervös. Der Professor war bisher immer zufrieden gewesen mit ihrer Arbeit. Und nun wurde sie in sein Büro beordert? Das konnte nichts Gutes bedeuten, und sie ahnte schon, was kommen würde. Ihr Assistentenvertrag lief bald aus. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, sie loszuwerden. Mit einem Summa Cum Laude Abschluss hatte der Professor Maggie vor drei Jahren übernehmen müssen, aber nun? Sie war sicher, dass er ihren Vertrag nicht verlängerte. Warum sollte er auch? So abstoßend, wie sie war. Maggie drehte ihre langen, dunkelbraunen Haare zu einem Dutt. Weiter zu spekulieren, half nichts. Sie musste sich dem Gespräch stellen. Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Sie straffte ihren gut durchtrainierten Körper und machte sich auf den Weg.

Professor Mayer erwartete sie schon. Er lächelte.

„Dr. Walfare, schön, dass Sie so schnell kommen konnten. Bitte, setzen Sie sich.“

Maggie grüßte ihn, setzte sich und beobachtete argwöhnisch, wie er eine Schublade aufzog und eine Mappe hervorholte. Ihre Bewertungspapiere, mutmaßte sie. Ihr Bauch krampfte. Sie hatte so gerne an diesem Institut gearbeitet. Architektur, insbesondere die Restaurierung von alten Gebäuden war ihre Leidenschaft. Sie kannte alle Details, vom Kölner Dom über die Wiener Sezession bis zu St. Paul vor den Toren in Rom. Irgendwie war es ihr gegeben, denn sie brauchte das nicht zu lernen, sie saugte dieses Wissen auf, wie ein Schwamm. Dennoch war ihr klar, dass sie eine Zumutung war.

Warum?

Sie hatte kein Gesicht. Also nicht so, wie man sich ein Gesicht vorstellte. Abgesehen von ihren großen, grünen Augen war alles entstellt, verzerrt, verschoben. Ein Gendefekt ihrer Familie. Mütterlicherseits, wie ihr versichert wurde. Da hatte sie was davon! Ihren Vater kannte sie ohnehin nicht. Wahrscheinlich hatte er wegen ihrer Entstellung ihre Mutter verlassen. Wer wollte schon ein hässliches Kind? Ihr Leben war nicht leicht gewesen. Abgesehen vom Sport und ihrer schulischen und universitären Laufbahn, war es gezeichnet von Schmähung, Zurückweisung und sogar Spott. Und jetzt würde die nächste Zurückweisung folgen. Sie richtete sich auf und schaute Professor Mayer direkt in die Augen.

„Dr. Walfare“, begann er freundlich und strich sich in gewohnter Manier über seinen ansehnlichen Bart, „Sie sind nun schon seit drei Jahren an meinem Institut, und ich muss sagen, dass ich sehr zufrieden mit ihren Leistungen bin …“

Das war wohl die positive Einleitung zur Hiobsbotschaft, dachte sich Maggie und wippte nervös mit dem Fuß. „…dennoch finde ich, dass es Zeit wird, dass sie auch mal hinaus ins reale Leben sollten.“

Da war es also. Maggie schluckte.

„Sie sind doch gebürtige Engländerin, stimmt das?“

Maggie nickte etwas verwirrt. Was hatte das jetzt mit ihrem Vertrag zu tun?

„Wie es der Zufall will“, führte der Professor weiter aus, „wurde ich zum Studium eines außergewöhnlichen Gebäudes in Südengland eingeladen, nach Oakridge Manor einem Nebensitz des herrschaftlichen Anwesens Blackwood Castle.“

Maggie wurde immer verwirrter, wieso erzählte er ihr davon?

Professor Mayer schien ihre Irritation nicht zu bemerken und fuhr mit seinen Erläuterungen fort. „Oakridge Manor war in den vergangenen dreihundert Jahren unter Verschluss. Nichts wurde seither renoviert oder restauriert. Es gibt keine Aufzeichnungen über dieses Anwesen. Dr. Walfare, das ist eine einmalige Chance, ein spannendes Projekt!“ rief er voller Enthusiasmus. „Und ich möchte Sie dazu mitnehmen. Wir würden August und September dort verbringen. Was sagen Sie, Dr. Walfare? Sind Sie dabei?“

In fünf Minuten würde das Taxi kommen. Dann ging es los. Zuerst nach München zum Flughafen, dann nach London und dann mit dem Leihauto zum Herrenhaus, Blackwood Castle. Das Anwesen lag etwa sechzig Meilen südwestlich von London. Wie der Name verriet, war es schon über viele Generationen der Stammsitz der ehrwürdigen Familie Blackwood. Das Schloss war im fünfzehnten Jahrhundert errichtet, seitdem jedoch mehrmals erweitert und renoviert worden. Maggie hatte sich natürlich umfassend auf diese Feldstudie vorbereitet und alles an Literatur verschlungen, was es zu Blackwood Castle gab. Das herrschaftliche Anwesen war seit Anbeginn im Besitz der Familie Blackwood. Das Haupthaus hatte unfassbare Ausmaße und war noch immer nicht vollständig dokumentiert. Über das Forschungsobjekt Oakridge Manor gab es tatsächlich nichts zu finden, außer, dass es dieses Anwesen gab. Maggie war elektrisiert und nach wie vor im siebenten Himmel, weil Professor Mayer gerade ihr dieses einmalige Angebot gemacht hatte.

Das Gepäck stand bereit. Sie nahm nur das Notwendigste mit. Jeans, Shirts und für alle Fälle packte sie sich ein schlichtes, dunkelblaues Strickkleid und einen gewebten Wollschal ein. Der Schal war ein Erbe ihres Vaters. Das Einzige, was ihr von ihm geblieben war, abgesehen von ihren grünen Augen. Sonst wusste sie nichts über ihn. Ihre Mutter hatte immer nur geschwiegen, wenn sie nach ihm gefragt hatte. Kurz nachdem Maggie ihr Studium begonnen hatte, war ihre Mutter an Demenz erkrankt, vor zwei Jahren war sie dann verstorben und hatte ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Maggie hatte sich damit abgefunden, nie zu erfahren, wo ihre Wurzeln väterlicherseits lagen, doch nun würde sie in die Heimat ihrer Eltern fahren und dort ein geheimnisvolles Gebäude erforschen. Das war das schönste Geschenk, das sie je erhalten hatte. Das Taxi hupte, und Maggie machte sich auf den Weg.

Der Flug war turbulent. Zur bestehenden Aufregung gesellte sich ein flauer Magen, aber Maggie ließ sich die Freude nicht verderben. Die Fahrt von London nach Blackwood Castle setzte noch eins drauf. Professor Mayer hatte so seine Probleme mit dem Linksverkehr, und so gab es die eine oder andere brenzlige Situation und auch den einen oder anderen verärgerten Verkehrsteilnehmer. Dennoch scherzte der Professor mit ihr, und es kam ihr vor, als würden sie in Urlaub fahren. Sie fühlte sich frei und glücklich und war gleichzeitig gespannt, was sie an ihrem Zielort entdecken würden. Ihr Professor beschwichtigte ihren Enthusiasmus.

„Erwarten Sie sich nicht zu viel, Dr. Walfare“, sagte er nicht nur einmal. Je öfter er es wiederholte, desto stärker spürte sie, dass auch er komplett unter Strom stand, und die Beschwichtigungen wohl eher sich selbst galten als seiner Begleiterin.

Sie trafen am frühen Nachmittag in Blackwood Castle ein und wurden von einer zart gebauten, hübschen Frau vor dem Haus begrüßt. Die etwa 25-Jährige hatte einen dunkelbraunen dichten Bob, ein dreieckiges Gesicht und unglaublich schöne, grüne Augen. Ihr Blick war intelligent, aber trotzdem freundlich.

„Willkommen auf Blackwood Castle“, sagte sie schlicht und streckte Margaret Ihre Hand entgegen, „ich bin Elisa Blackwood, bitte nennen Sie mich Elisa.“

Maggie ergriff ihre Hand und stellte sich etwas verdutzt vor. Elisa war der erste Mensch, den ihr entstelltes Gesicht kein bisschen schockierte. Im Gegenteil, es war, als würde Elisa Blackwood sich freuen, sie zu sehen. Maggie fühlte sich sofort wohl. Nachdem Elisa auch dem Professor die Hand gereicht hatte, deutete sie ihnen, ihr ins Haus zu folgen.

„Sie werden das dreißig Meilen östlich liegende Oakridge Manor erforschen, wohnen werden sie aber hier auf Blackwood Castle. Oakridge Manor ist seit mehr als zwei Jahrhunderten gepflegt, nicht aber bewohnt worden. Langfristig möchte ich mich dort niederlassen. Blackwood Castle ist viel zu groß, um darin zu leben“, erläuterte sie weiter, „da jedoch testamentarisch festgelegt wurde, dass das Anwesen erst nach der Untersuchung durch Professor Mayer renoviert werden darf, habe ich Ihnen diese Einladung zukommen lassen, und ich freue mich sehr, dass Sie dieser gefolgt sind.“

Dieses Testament fand Maggie mehr als nur rätselhaft. Woher kannte der Ersteller des Testaments Professor Mayer? Außerdem gab es in England viel renommiertere Professoren in diesem Fachgebiet. Maggie und auch der Professor schauten Elisa fragend an. Diese machte aber keine Anstalten, die Faktenlage weiter zu erläutern. Stattdessen führte sie ihre Gäste in die Eingangshalle von Blackwood Castle. Als Maggie das herrschaftliche Gebäude betrat, lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken.

Ihr Professor missdeutete ihre Reaktion als ehrfurchtsvolles Staunen und beteuerte, „Mir geht es ähnlich. Dieser Eingangsbereich ist atemberaubend. Diese Ausmaße sind unfassbar!“

Für Maggie war es eher ein Albtraum-Gefühl, als würde ein Geist sie unwillkommen heißen in diesen Hallen. Sie sagte aber nichts und wischte diesen Gedanken schnell wieder weg.

Elisa führte sie in ihre Unterkünfte im ersten Stock im Westflügel.

„Um sieben Uhr gibt es Dinner im Speiseraum. Sie sind selbstverständlich herzlich dazu eingeladen.“ Als Elisa Maggie in ihr Zimmer brachte, merkte sie mit einem Augenzwinkern noch an, dass es zwar keinen strengen Dresscode gäbe, dass aber Jeans fürs Dinner nicht so passend wären. Dann ließ sie Maggie allein in ihrem neuen Reich.

Das Zimmer war ein wahr gewordener Traum. Das hatte Maggie für eine Studienreise nicht erwartet. Sie war eher auf Abstellkammer und Feldbett eingestellt gewesen. Deshalb staunte sie nicht schlecht als ihr Blick durch den Raum wanderte. Der Boden aus wertvollen Holzeinlegearbeiten strahlte Wärme aus, und die hohen Fenster ließen die Nachmittagssonne herein. Die Möbel waren im Stil der Renaissance. Der Raum enthielt einen Schrank, ein Himmelbett, eine Frisierkommode und einen zierlichen kleinen Schreibtisch mit einem gepolsterten Sessel vor dem mittleren der drei großen Fenster, wahrscheinlich zum Schreiben intimer Briefe, und um dabei verträumt auf den unglaublich schönen Gartenbereich schauen zu können… Maggie kam ins Schwärmen. In diesem Zimmer fühlte sie sich wohl. Sie warf sich aufs Bett, wie in einem kitschigen Film, schloss ihre Augen und stellte sich vor, eine Prinzessin zu sein und auf den Prinzen zu warten, der gerade von der Jagd zurückkam.

Ihre kindlichen Träume wurden durch das Klopfen des Professors unterbrochen.

„Dr. Walfare, es ist später noch Zeit, auszupacken. Ich würde gerne heute noch nach Oakridge Manor fahren, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen und das anschließende, gemeinsame Dinner mit Lady Blackwood nutzen, um Fragen zur Geschichte des Hauses zu stellen. Das ist leichter, wenn man sich schon mal ein Bild gemacht hat.“

Maggie seufzte lautlos, schwang sich wieder aus dem übergroßen Bett und folgte dem Professor zum Auto. Draußen angelangt, warf sie einen Blick gegen den Himmel. Das Wetter hatte urplötzlich umgeschlagen, und bedrohliche Gewitterwolken türmten sich vor ihnen auf. Dem Professor schien dies nicht aufzufallen. Er hatte sich den Schlüssel zum Haupthaus von Oakridge Manor besorgt und startete fröhlich pfeifend den Wagen.

Die Fahrt nach Ashhurst Wood, wo das Anwesen lag, dauerte etwa fünfunddreißig Minuten. Sie fuhren mitten in das Gewitter hinein. Als sie ankamen, zeigte der Donnergott alles, was er konnte. Das war eine Begrüßung! Maggie liebte Gewitter.

Der Professor lenkte das Auto direkt vor den Haupteingang und stellte den Motor ab. Das zweistöckige Haupthaus stand im düsteren Zwielicht des Unwetters vor ihnen und wurde durch Blitze immer wieder erhellt. Das Donnergrollen war so laut, dass sie sich fast schreiend im Auto unterhalten mussten, und es schüttete wie aus Kübeln. Maggie hoffte, dass das Dach des Hauses dicht war. Während sie noch zögerte, war der Professor schon aus dem Auto gesprungen. Sie öffnete die Autotür und rannte so schnell sie konnte zum Hauseingang, wo der Professor bereits dabei war, die Türe aufzuschließen. Tropfnass betraten sie die Eingangshalle. Und da war es. Das Gefühl, zu Hause angekommen zu sein. Blitze erhellten den imposanten Eingangsbereich. Er war sicher fünfmal kleiner als der von Blackwood Castle, aber kein bisschen weniger beeindruckend. Maggie war wie paralysiert vor Ehrfurcht. Durch das Gewitter war es schon ziemlich düster geworden. Margaret kramte zwei Taschenlampen aus ihrem Rucksack. Das Haus war seit zweihundert Jahren nicht renoviert worden, daher gab es auch keine elektrische Beleuchtung. Nachdem sie ihre Taschenlampen angemacht hatten, durchstreiften sie gemeinsam das Haus. Im Erdgeschoß befand sich rechts neben dem Eingang das Arbeitszimmer, dahinter das Schulzimmer, links das Speisezimmer und ein Raucher-Salon, weiter links daneben war ein einfaches Zimmer, wohl für das Personal, daneben die Küche mit Ausgang in den Küchengarten. Dieser lag aber hinter einer dunklen Regenwand und wollte sich für diesen Tag noch nicht erschließen. Neben der Küche lag ein kleines Zimmer, wahrscheinlich das des Butlers oder der Köchin. Auf der anderen Seite ging es weiter. Neben dem Schulzimmer gab es eine kleine Bibliothek, gespiegelt gleich groß, wie das Bediensteten-Zimmer, daneben ein grüner Salon, der eindeutig für die Dame des Hauses eingerichtet war und gegenüber eine Art Gästebadezimmer. Im hinteren Teil der Eingangshalle schwang sich die Treppe in das Obergeschoss. Neben dem Treppenaufgang befand sich der Ausgang in den Garten. Sie stiegen die Treppe hoch und fanden oben vier schöne große Schlafzimmer und zwei Bäder. Der zweite Stock beinhaltete weitere Schlafzimmer, wahrscheinlich für Besucher auf der Westseite und einfachere Zimmer für das Personal auf der Ostseite mit einer kleinen Treppe, die nach unten führte und für das Dienstpersonal gedacht war. Das Haus war sauber gehalten und Maggie hatte fast ein schlechtes Gewissen mit ihren abgetretenen Sneakers durch diese Hallen zu streifen. Die Böden waren traumhaft. Im Obergeschoß waren es hauptsächlich Holzböden mit wunderschönen Einlegearbeiten, wie auch auf Blackwood Castle. Die Möbel waren allesamt im Stil der Renaissance gehalten. Die Gemälde, die Einrichtung, alles war geschmackvoll aufeinander abgestimmt. Sie konnte sich nicht vorstellen, was man hier verändern wollte. Sie würde sofort einziehen, so wie es war. Schade, dass sie nicht hier wohnen durften. Ok, beim Blick in die Küche wurde ihr klar, dass die Neuzeit noch nicht eingezogen war, aber einen Herd mit Holz anheizen, das würde sie noch zustande bringen. Nichtsdestotrotz freute Maggie sich schon auf das Dinner mit dieser jungen, aparten Schlossbesitzerin und auf ihre Geschichten, die sie ihnen hoffentlich erzählen würde. Ein erster Blick war getan. Der Professor war hochzufrieden und Maggie schwebte im siebenten Himmel, wenn sie an die nächsten Wochen dachte.

Zurück in Blackwood Castle schlüpfte sie in ihr Strickkleid, das sie sich vorsorglich eingepackt hatte, steckte ihre Haare hoch und nahm den Wollschal ihres Vaters um die Schultern, da es nach dem Gewitter stark abgekühlt hatte, und sie nicht sicher war, ob im Speisezimmer eingeheizt wurde. Es war schließlich noch August. Als sie im Erdgeschoß eintraf, schaute Elisa sie mit kurzem Erstaunen an. Sie fing sich zwar gleich wieder, aber irgendwie hatte Maggie das Gefühl, als würde Elisa etwas an ihr erkennen.

„Ich hoffe, das Kleid ist passend?“ fragte sie deshalb leicht verunsichert.

„Oh, mehr als nur passend, möchte ich meinen“, antwortete Elisa etwas kryptisch mit einem geheimnisvollen Lächeln.

Wie schon vorhin wurde auf jede weitere Erklärung verzichtet, stattdessen geleitete Elisa sie in das Speisezimmer, oder besser gesagt in den Speisesaal, denn hier konnte man bei guter Tischeinteilung locker hundert Leute unterbringen. In diesem Raum aber stand nur eine lange Tafel aus dunklem Holz. Es wirkte alles sehr herrschaftlich. Ja, das war das Wort, das Maggie dazu einfiel.

Beim Essen wurden die Eckpunkte des Studienaufenthaltes erörtert. Dem Professor standen zwei Monate zur Verfügung. Im Oktober würden die Vorlesungen wieder starten. Bis dahin wollte er die Zeit nutzen, das Anwesen zu studieren. Er fragte nach Plänen, Beschreibungen von Umbautätigkeiten, und so weiter. Das Dinner verging wie im Fluge. So auch die folgenden vier Wochen. Oakridge Manor war faszinierend. Vor allem, als Maggie erfuhr, dass die Badezimmer original Anfang des Achtzehnten Jahrhunderts waren. Es war unglaublich! Sie wusste zwar, dass bereits Mitte des Sechzehnten Jahrhunderts ein gewisser Sir John Harrington das Wasserklosett erfunden hatte, dass aber seine Erfindung wieder in Vergessenheit geraten war. Erst 1775 wurde das erste Patent für ein Wasserklosett erteilt, und zwar dem Schotten Alexander Cummings. Durchgesetzt hatte sich das Wasserklosett erst im 19. Jahrhundert. Umso verwunderlicher war, dass es in diesem Haus gleich mehrere gab. Zwar musste man die Spülung mittels einer Handpumpe betätigen, aber es funktionierte. Maggie hatte es ausprobiert und war begeistert. Sie überlegte, den Professor zu fragen, ob sie eine Arbeit darüber verfassen durfte.

Im Außenbereich gab es einen wunderschönen, klassisch angelegten Küchengarten und natürlich die Orangerie. So etwas Traumhaftes hatte Maggie vorher noch nie gesehen. Sie verbrachte Stunden in diesem Gebäude aus Glas und Metall. Sie maß, zeichnete und studierte das gesamte Anwesen aus den verschiedensten Perspektiven. Ihr eindeutiger Lieblingsplatz allerdings wurde die uralte Eiche im Garten. Laut Elisa war sie über dreihundert Jahre alt. Ein Teil der Eiche war abgestorben. Ein Blitz musste sie vor langer Zeit getroffen haben. Vielleicht war das der Grund, warum sie noch immer lebte. Es war als hätte die Eiche nach dem Blitzschlag so sehr um ihr Überleben gekämpft und so viel Lebenskraft entwickelt, dass sie die Jahrhunderte überdauern konnte. Margaret war verzaubert von dem Anwesen – und auch von Elisa.

Elisa war wie eine verwandte Seele. Sie hatten sich rasch angefreundet. Wenn das Wetter es erlaubte, und der Professor sich abends zurückgezogen hatte, saßen sie noch lange auf der Terrasse auf der Südseite des Haupthauses mit einem Glas Wein und einer Tüte Chips und nutzten die noch lauen Spätsommerabende. Elisa selbst war wie ein windiger Sommertag. Lustig und unbändig. Und obwohl sie so zart gebaut war, war sie eine Kämpferin. Erst wenige Monate davor hatte sie sich von einem sehr schweren Unfall erholt, und schon totgeglaubt von den Ärzten, hatte sie sich ins Leben zurückgekämpft. Leider hatte Elisa bei dem Unfall ihren Verlobten verloren. Kinder gab es noch keine. Dennoch gab sie nicht auf und sah bemerkenswert zuversichtlich in die Zukunft. Sie strahlte eine Zufriedenheit und Fröhlichkeit aus, die Maggie sich nur wünschen konnte.

„Das liegt an den Genen“, beteuerte Elisa, „meine Vorfahrinnen waren alle sehr zäh und auch sehr fortschrittlich.“

Interessant fand Maggie, dass Elisa von der weiblichen Linie sprach, was für alte Adelsgeschlechter eher ungewöhnlich war. Doch auch hier schien das 21. Jahrhundert eingezogen zu sein.

Das Schöne an Elisa war, dass sie Maggie gegenüber so offen und frei war, und dass sie ihr damit eine neue Welt erschloss. Die Welt der Freundschaft. Sie durchstreiften miteinander Blackwood Castle, und Elisa zeigte ihr auch einige Familiengeheimnisse, die man nicht in der allgemein zugänglichen Literatur fand, wie zum Beispiel ein geheimes Zimmer im Turm des Ostflügels. Der Zugang zu diesem Turm führte durch eine verborgene Tür im Keller. Das Turmzimmer selbst konnte nochmal abgeschlossen werden. Der Reserveschlüssel war direkt neben der Tür hinter einem losen Stein in der Mauer versteckt.

„Wer war hier wohl mal eingesperrt?“, witzelte Maggie. „Das ist ja ein richtiges Verließ, keine Chance, dass man hier gefunden würde.“

Maggie sah sich in dem etwa fünfzehn Quadratmeter großen, runden Zimmerchen um. Der Raum war kärglich ausgestattet mit einem Bett, einem kleinen Schreibtisch und einem Hocker.

„Dem Staub nach zu urteilen, war hier sicher schon hunderte Jahre niemand mehr.“

Maggie bückte sich. Etwas Kleines unter dem Bett hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

„Ein Puppenschuh!“ Maggie pustete den Staub von dem kleinen Lederteil.

Elisa schüttelte lachend ihren Kopf.

„Dieser Kasten hat wahrscheinlich noch viele weitere Zimmer, Geheimgänge und Geheimkammern von denen wir nichts wissen. Irgendwann, wenn ich Zeit finde, nehme ich mir mal die Bücher aus der Bibliothek vor, vielleicht entdecke ich ja noch einen großen Schatz!“, scherzte sie.

Die Bibliothek war das Herzstück von Blackwood Castle. Maggie staunte über die Vielfalt der Werke und dachte bei sich, dass man mit Sicherheit ein paar Leben bräuchte, um hier alle Bücher zu lesen.

Die Zeit in Blackwood Castle und Oakridge Manor war bis dahin die glücklichste in Maggies Leben. Und sie endete früher als geplant. Es war der dritte September, als ihr Professor plötzlich einen Herzinfarkt erlitt. Es ging alles so schnell. Viel zu schnell. Er fasste sich nach dem Abendessen an die Brust. Er kippte um. Sie versuchten ihn wiederzubeleben. Die Rettung kam und kämpfte weiter um sein Leben. Der Notarzt stellte nach einer halben Stunde den Tod fest.

Der Bestatter holte den Leichnam des Professors ab und half Maggie bei den Formalitäten für die Überführung. Zurück in Deutschland fand eine Woche später das Begräbnis statt. Maggie hatte nicht nur einen wichtigen Menschen in ihrem Leben, sondern auch ihren gelebten Traum verloren.

Da ausdrücklich nur der Professor die offizielle Erlaubnis zur Erforschung von Oakridge Manor und der Veröffentlichung der Ergebnisse hatte, kamen alle Aufzeichnungen unter Verschluss und würden wohl nie publiziert werden. Da konnte auch Elisa nichts dagegen tun. Maggie verlor nach dem unerwarteten Tod ihres Professors ihre Anstellung an der Universität. Der neu berufene Professor brachte seine eigenen Leute mit und hatte es eilig, Maggie loszuwerden. Zu dieser Zeit war sie dreiunddreißig Jahre alt und abgesehen von ihrer sporadischen, da örtlich entfernt, aber innigen Freundschaft zu Elisa, war sie komplett allein.

Und so ging das Leben weiter. Maggie war wieder zurückgestoßen in die Lage der hässlichen Bittstellerin und holte sich eine berufliche Abfuhr nach der anderen. Die Frauen waren neidisch auf ihren Körper und die Männer ertrugen ihre abstoßende Fratze nicht. Auf der Straße starrten sie die Leute nach wie vor an, ab und zu hörte sie noch ein „na ja, mit einer Papiertüte über den Kopf würde es schon gehen.“ Eltern ermahnten ihre Kinder, sie sollten nicht mit dem Finger auf sie zeigen, und hin und wieder hörte sie einen empörten Ausruf über ihre Hässlichkeit. Maggies Leben war ein Sumpf, in dem sie unterzugehen drohte.

Bis sich das Blatt wendete.

Elisa erfuhr, dass die Firma Richton Restaurations Limited in Oxford dringend Experten suchte. Sie gab Maggie den Tipp, bereits im Bewerbungsschreiben zu erwähnen, dass sie eine nichtoperable, sehr entstellende Kieferfehlstellung hatte, dass diese aber keineswegs ihre Kommunikationsfähigkeit und ihre Fähigkeit zu Denken und zu Arbeiten behinderte. Nach nur einer Woche wurde sie zum Bewerbungsgespräch eingeladen. Und sie bekam den Job, allerdings nicht ganz den gewünschten. Sie wurde in die Untergrundabteilung verfrachtet und beschäftigte sich von nun an mit der Restaurierung und Sanierung von antiken Kanalanlagen. Maggie war trotzdem dankbar. Sie tigerte sich in die Materie und wurde die Beste, und auch wenn sie etwas spöttisch als „Kanalarchitektin“ bezeichnet wurde, machte ihr die Arbeit Spaß. Das Leben kam in ruhigeres Fahrwasser bis eines Tage Steven auftauchte.

Es war einer jener Tage, an denen man am liebsten im Bett geblieben wäre. Der Himmel öffnete seine Schleusen, und es schüttete wie aus vollen Kannen. Der Wind fegte die herabfallenden Wassermassen über die Straße und wer nicht von oben nass wurde, wurde es vom reflektierten Sprühregen, der durch die Wucht des Aufpralls der riesigen Regentropfen vom Asphalt zurückgeschleudert wurde. Maggie liebte diesen Regen. Sie wusste nicht warum, aber er gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. An diesem Tag also, nahm sie den Bus. An das Fahrrad war nicht zu denken, und ein Auto hatte sie sich nie angeschafft, schon der Umwelt zuliebe. In Oxford war ein Auto sowieso nicht nötig. Die Verbindung der öffentlichen Verkehrsmittel war ausreichend und den Rest erledigte sie mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Die Bushaltestelle lag zwei Blocks entfernt von ihrer Firma. Sie stieg aus dem Bus und öffnete ihren übergroßen, windfesten Schirm. Man brauchte schon ein bisschen Muskelkraft, um diesen Schirm bei Sturm halten zu können, aber er war groß genug, um zumindest die oberen zwei Drittel des Körpers trocken zu halten. Der Rest von ihr steckte in kniehohen Gummistiefeln und einer wasserabweisenden Hose, die sie über ihre Wollstoffhose gezogen hatte und bei normalem Regen zum Radfahren nutzte. So stapfte sie also, den Schirm tiefer gelegt in Richtung Arbeitsstätte.

Einen Block weiter wurde sie plötzlich von einer angenehm tiefen Männerstimme angesprochen: „Entschuldigen Sie, bitte. Wissen Sie, wie ich zur Firma Richton Restaurations Limited komme?“

Sie sah ein paar elegante Lederschuhe in einem Hauseingang stehen. Offenbar hatte sich der Eigentümer dorthin geflüchtet. Sie hob den Schirm und da stand er. Groß, dunkles, volles Haar, graue Augen, ein ungemein männliches Kinn und den sinnlichsten Mund, den sie je bei einem Mann gesehen hatte.

„Wie aus einem Kitschroman. Dass es solche Männer wirklich gibt…“, dachte sie noch, und bemerkte kaum das erschrockene Aufflackern in seinen Augen, das eigentlich immer auftrat, wenn jemand das erste Mal ihr Gesicht sah, dennoch stellte sie fest, dass er sich sehr schnell im Griff hatte und sie freundlich anlächelte.

Sie versuchte mit den Augen zurückzulächeln und antwortete: „Sie können mit mir kommen, ich arbeite dort. Es ist gleich einen Block weiter. Zu wem müssen Sie?“

Der Fremde belohnte sie mit einem erleichterten Strahlen, „Danke, das ist sehr freundlich. Ich bin der neue Controller aus der Londoner Zentrale und muss zum Geschäftsführer Doktor Lindner für den Monatsabschluss. Mein Name ist Steven Longrich.“

„Sehr erfreut!“, erwiderte sie, „Ich heiße Margaret Walfare und leite die Tiefbauabteilung.“ Sie streckte ihm ihre Hand hin, und er ergriff sie ohne Zögern.

„Ah, ja, dann sind Sie also die …“, er stockte ertappt.

„Die Kanalarchitektin, ja“, ergänzte sie mit verzogener Grimasse. „Machen Sie sich nichts draus“, fuhr sie schnell fort, als sie merkte, dass er zu einer Entschuldigung ansetzte, „ich bin meine leidige Berühmtheit schon gewohnt. Zumindest habe ich Wiedererkennungswert.“

Er lachte herzlich. Das gefiel ihr. Er war offen und charmant gleichzeitig. Das war der Moment, in dem sich die Tür zu ihrem Herz öffnete. Sie offerierte, den Schirm mit ihm zu teilen und er nahm dankbar an, allerdings nur unter der Bedingung, dass er den Schirm trug. Er zog den Schirm weit über ihre Köpfe, wobei er seinen Kopf etwas zu ihrem neigte, und es fühlte sich plötzlich an, als wäre sie allein mit ihm in einem Raum, als gäbe es nur ihn und sie. Und er war ihr nahe. So nahe war ihr noch nie ein Mann gekommen, mal abgesehen von ihrem Zahnarzt. Der aber trug einen Mundschutz. Sie roch sein Aftershave und spürte fast die Wärme seiner Wange. Maggie wurde schwindlig, also hakte sie sich kurzerhand bei ihm ein, um mit ihren weichen Knien nicht auch noch zu stolpern.

Eiligen Schrittes trabten sie zum Haupteingang der Firma, denn es regnete wirklich unverschämt heftig. Dort angekommen war Maggie ein bisschen atemlos, aber nicht wegen des Laufschrittes, denn sie war durchtrainiert und hatte eine Kondition, die einem Spitzensportler alle Ehren machen würde. Dennoch klopfte ihr Herz ganz schön heftig. Rechtzeitig erinnerte sie sich noch daran, die Umklammerung seines Unterarmes zu lösen, ohne es peinlich werden zu lassen. Steven schloss den Schirm und schüttelte ihn ein paarmal kräftig, dass das Wasser ablief. Dann überreichte er ihn ihr mit einem Lächeln, das ihr bis ins Herz schoss und bedankte sich bei ihr.

„Er sollte einen Waffenschein beantragen für sein Lächeln“, dachte Sie noch, während sie ihm den Weg zum Vorstandsbüro zeigte und einen erfolgreichen Tag wünschte. Sie blickte ihm nach. Es war um sie geschehen. Sie hatte sich verliebt.

Und so kam er, Monat für Monat, jeden ersten Montag ins Büro, unwiderstehlich kalkulierbar, und für Maggie eine wiederkehrende Erinnerung an das, was sein könnte. Natürlich war er der Schwarm aller Ladies im Büro, und jeden ersten Montag im Monat waren fast alle weiblichen Kolleginnen sexy gekleidet, geschminkt und immer etwas aufgekratzt. Die eine mehr, die andere weniger. Für Maggie wurde dieser Tag zum wichtigsten Tag im Monat, ja zum Inhalt ihres Lebens. Seit einem Jahr war sie nun schon in Steven verliebt, und es schien kein Ende zu nehmen. Wenn er kam, war er immer sehr höflich und gab ihr die Hand zum Gruß, aber mit den anderen scherzte er und zwinkerte ihnen schalkhaft zu. Ihr hatte er noch nie zugezwinkert. Oder hatte sie es einfach nur übersehen, weil sie immer so nervös war? Und sie war nervös, und wie! Sie konnte es kaum erwarten und freute sich schon auf den Moment, wenn er ihre Hand mit seinen schönen langen Fingern umschloss und sanft drückte. Dann blieb für eine Sekunde ihr Herz stehen. Für diesen Moment lebte sie von Monat zu Monat. Danach machte sie immer die gleichen Phasen durch. Zuerst schwebte sie im siebenten Himmel. Das hielt ungefähr eine Woche an. Lächelte er sie dieses Mal nicht besonders vielsagend an, und war nicht sein Händedruck etwas länger als sonst? Er nannte sie auch immer beim Namen, wenn er sie grüßte, aber nicht die abgekürzte Form, nein, er nannte sie „Margaret“. Sie schmolz jedes Mal dahin, wenn er ihren Namen sagte. Er sagte es mit so einem besonderen Unterton. Da musste doch etwas dahinterstecken! Sah er vielleicht ihre wahre Schönheit, und hatte er diesmal den Menschen in ihr gesehen, den liebenswerten Menschen, der sie war? Nach einer Woche mischten sich in die Hochstimmung meist ein paar Zweifel. Er hätte sich ja bei ihr melden können, vielleicht unter einem Vorwand, nur um mit ihr in Kontakt zu kommen. Nach zwei Wochen sah sie klar und schalt sich eine Närrin. Wie konnte sie nur so viel in einen flüchtigen Händedruck und ein aufgesetztes Lächeln hineininterpretieren! Er gab ihr nur die Hand, weil es so üblich war, schließlich gab er allen anderen auch die Hand. Das Lächeln setzte er vielleicht nur aus Höflichkeit auf, um seine Abscheu vor ihr zu verbergen. Und hatte sie sich nicht selbst als Margaret vorgestellt und nicht als Maggie? Doch diesen schmerzhaften Gedanken hing sie nie lange nach, zu trübe wurde ihr Alltag dadurch. Zumindest nutzte sie die Zeiten des ernüchternden Realismus für sich und ihre Weiterbildung. So konnte sie sich am besten von Steven ablenken. Sie belegte verschiedenste Kurse. Rein aus Interesse. In den letzten Jahren hatte sie sich so zum Beispiel ein beachtliches medizinisches Wissen angeeignet, vor allem vertiefte sie sich in die Wirkung heimischer Heilkräuter. Auch den heilenden Körperübungen des Qi Gong hatte sie sich verschrieben. Die langsamen Bewegungen kräftigten den Körper und brachten gleichzeitig die Seele ins Gleichgewicht. So konnte sie ihren stressigen Alltag mit immer neuer Energie meistern. Sie machte die Übungen jeden Morgen, bevor sie losrannte und jeden Abend vor dem Schlafengehen. Kaum hatte sie sich gefangen und ins Gleichgewicht gebracht, stand auch schon der nächste erste Montag des Monats ins Haus, und in ihr begann die Hoffnung wieder aufs Neue zu keimen. Vielleicht schaffte sie es diesmal, ihm aufzufallen, oder zu beeindrucken. Sie könnte ihn ja auch mal in ein Gespräch verwickeln. Wie gerne würde sie mit ihm fachsimpeln. Das wäre ein schöner Anknüpfungspunkt, aber mit Finanzen hatte sie nun so gar nichts am Hut. Ein Fachgespräch war somit ausgeschlossen. Leider war sie auch immer so nervös und wusste nicht, was sie sagen sollte. Und bevor sie einen Blödsinn sagte und sich blamierte, blieb sie lieber still und versuchte ihr hübschestes Gesicht aufzusetzen. Sie hatte das vor dem Spiegel geübt. Wenn sie lächelte, sah es nicht gerade einladend aus. Am besten war es, wenn sie ihre Gesichtszüge nicht allzu sehr bemühte, dann war ihr Anblick gerade mal so erträglich. Sobald sie lächelte, sah sie wie ein Monster aus.

Maggie hatte noch dreißig Minuten, dann musste sie losfahren. Wie immer war sie schon um fünf Uhr aufgestanden, um Laufen zu gehen. Nach der allmorgendlichen Sportstunde stand sie nun unter der Dusche und ließ sich das warme Wasser über den makellosen, durchtrainierten Körper fließen. Mit gemischten Gefühlen dachte sie an den Tag, der vor ihr lag. Es war der erste Montag im Monat und „Er“ würde heute wieder da sein. Sie warf einen Blick auf ihr Spiegelbild. So makellos ihr 34jähriger Körper war, so glänzend und voll ihre langen braunen Haare waren, so entstellt war ihr Gesicht. Sie hatte von Geburt an diese Kieferfehlstellung, und weil das noch nicht genug war, machte ihre Nase irgendwie den Eindruck, immer weiter wachsen zu wollen. Traurige grüne Augen blickten sie aus dem Spiegel an. Durch die Kieferfehlstellung konnte sie den Mund nicht ganz schließen und sosehr sie ihre Zähne pflegte, ragten sie ihr trotzdem ungehörig schief aus ihrem missratenen Gesicht. Den Blick in den Spiegel hielt sie immer so kurz wie möglich.

Sie tat alles für ein attraktives, gepflegtes Äußeres, und doch würde es nie genug sein. Zumindest nie genug, um „Ihm“ zu gefallen, oder gar, um „Ihn“ in sie verliebt zu machen. Wie konnte sie mit dieser Fratze je einem Mann gefallen?

Natürlich war sie schon bei einem Dutzend Ärzten gewesen. Die plastische Chirurgie des einundzwanzigsten Jahrhunderts leistete wahre Wunder, allerdings war die Sache in ihrem Fall nicht so einfach. Leider waren die Verwachsungen in ihrem Kiefer verknöchert. Sie hatte mehrere Ärzte konsultiert, aber jeder hatte ihr mehr oder weniger dasselbe gesagt. Sie könnte froh sein, normal essen, atmen und sprechen zu können. Bei einem operativen Eingriff bestünde das Risiko, dass diese Funktionen nicht voll erhalten blieben. Dieses Risiko wollte Maggie nicht eingehen, und so musste sie sich damit abfinden, hässlich zu sein und ihre Abende und Nächte einsam zu verbringen.

Maggie war gedanklich wieder in ihrem Badezimmer gelandet und kümmerte sich nun um eine ihrer Schwachstellen, sie putzte ihre Zähne. Sie war die gründlichste Zahnputzerin aller Zeiten. Elektrische Zahnbürste, Interdentalbürsten, Zahnseide, Zahnspülung und Munddusche. Mehr geht wirklich nicht. Schnell schlüpfte sie in Ihre kakifarbige Cargohose und streifte eine kurzärmelige weiße Bluse über. Dieses Mal versuchte sie einen etwas sportlicheren Look. Vielleicht macht auch er Sport und spricht sie darauf an? Das wäre doch ein Anknüpfungspunkt. Noch während sie darüber nachdachte, kamen ihr auch schon Zweifel. Zwar war er für seine vierzig Jahre sehr gut gebaut, aber er hatte einen kleinen Bauchansatz und seine sinnlichen Züge erzählten eher von einem Genießer als von einem Sportbegeisterten. Aber was soll’s. Sie hatte keine Zeit mehr zum Umziehen, so schlüpfte sie in ihre weißen Sneakers, nahm ein paar Schluck vom vorbereiteten Gemüsesmoothie, deckelte den Behälter zu, verstaute ihn in ihrem Rucksack und machte sich auf den Weg in die Arbeit.

Erfrischt von der frühmorgendlichen Fahrradfahrt betrat sie die Firma. Sie hatte noch zwei Stunden Zeit, bis er kam. In dieser Zeit wollte sie ihre Emails abarbeiten. Dann noch schnell ihre Hände waschen, dass sie schön trocken waren. Nichts ist abstoßender als ein feuchter Händedruck. Und nervös war sie jetzt schon. Wie immer hatte sie eine Schicht Make-up aufgetragen, dass er nicht merkte, wenn sie rot wurde. Denn das wurde sie jedes Mal, wenn er sie berührte. Sie konnte es sogar spüren, und so sehr sie wollte, dass er sich in sie verliebte, so wenig wollte sie, dass er erkannte, dass sie in ihn verliebt war. Es war kompliziert.

Sie hatte am Vorabend noch mit Elisa telefoniert und sie für eine gute Stunde in Beschlag genommen, in der sie ihre Gefühle zerpflückte und wieder zusammenbastelte. Elisa war immer sehr geduldig mit ihr. Maggie fand sogar - viel zu geduldig. Sie sprach immer ganz ruhig mit ihr über Steven und riet ihr, ihrem Herz zu trauen und an ihrer Liebe festzuhalten.

„Die Liebe, die wir empfinden, ist ein Geschenk“ sagte sie immer wieder, „wir dürfen dieses Geschenk nicht abweisen, wir müssen es annehmen und das Beste daraus machen“.

Eigentlich wollten sie sich vor zwei Wochen treffen, aber Elisa musste zu einer Hochzeit von einem ihrer Cousins. Gerne hätte sie Maggie dazu eingeladen, um sie auf andere Gedanken zu bringen, aber Maggie scheute Hochzeiten wie die Pest. Hochzeiten waren das Allerschlimmste. Mit anderen unverheirateten jungen Damen an einen Tisch verfrachtet den mitleidigen Blicken ausgesetzt zu sein, das konnte man nun doch wirklich vermeiden. Naja, vielleicht würde sie mittlerweile auf den Witwentisch gesetzt werden, schließlich war sie jetzt schon über dreißig. Die Gedanken an die Unerträglichkeit von Hochzeiten lenkte sie ein wenig ab und die Zeit verging wie im Flug.

Dann war es so weit. Ihr Herz setzte aus, als er in der Tür erschien. Er trug einen marineblauen Anzug mit passender Krawatte, perfekt, wie aus dem Ei gepellt. Das Sakko kaschierte sein kleines Bäuchlein geschickt. Wie gerne würde sie mit ihrer Hand über dieses Bäuchlein streichen und vielleicht auch etwas tiefer… schnell lenkte sie ihren Blick ab. Niemand sollte merken, was sie gerade dachte. In dem Moment kam er auch schon auf sie zu.

„Margaret, schön sie zu sehen. Wie geht’s dem Kanalbau?“ Er strahlte sie an.

Sie wusste, er meinte das nicht ironisch, und er wollte sie damit auch nicht verletzen. Er hatte ja keine Ahnung, dass sie eigentlich eine Spezialistin für alte Herrschaftssitze war und wahrscheinlich nur wegen ihres Äußeren in der Kanalabteilung gelandet war. Maggie bekam, wie immer weiche Knie, und sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss.

Irgendwie strahlte er an diesem Tag besonders, so konnte sie sich die Frage nicht verkneifen, „Sie strahlen heute so, Steven! Haben sie Geburtstag?“

Steven lachte sie an und antwortete mit einem Augenzwinkern, „Nur beinahe, meine Liebe! Aber sie sind eine gute Beobachterin. Tatsächlich habe ich vor zwei Wochen geheiratet und bin vorgestern erst aus den Flitterwochen zurückgekommen. Die wirken noch nach.“

Maggie gefror die mühsam eingeübte Miene. Sie beteuerte, wie sehr sie sich freute, und gratulierte ihm, während sich in ihrem Inneren alles einschnürte. Sie entschuldigte sich und ging vielleicht etwas zu schnell aus dem Büro. Auf dem Gang angelangt, spürte sie schon, wie ihr die Tränen hochstiegen.

„Jetzt nichts wie weg!“, dachte sie noch.

Sie stürzte aus dem Gebäude, rannte zu ihrem Fahrrad und fuhr los. Sie radelte wie eine Verrückte. Der Schmerz machte sich in ihrem Inneren breit, und sie wollte ihn mit ihrer Muskelkraft vertreiben. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sah den LKW von rechts nur mehr verschwommen, als sie sich der Kreuzung vor der Brücke näherte. Erst zu spät wurde ihr klar, dass der LKW zu nah war und nicht mehr halten konnte. Von der Kollision merkte sie nichts mehr. Eine tröstliche Dunkelheit umfing Maggie.

2

Die Dunkelheit blieb. Es fühlte sich an, als wäre sie in einer dunklen pulsierenden Masse gefangen. Sie sah nichts, sie spürte nichts, sie konnte auch nicht wirklich denken. Es war, als ob sie nur existierte, irgendwie. Langsam kam die Kontrolle über ihre Wahrnehmung zurück. Sie versuchte in der Dunkelheit etwas auszumachen, doch da war nur Schwärze. Sie lauschte, aber sie hörte nur ein dumpfes, dröhnendes Pochen. Doch da, hatte sie sich das nur eingebildet? Jemand rief ihren Namen, oder etwa nicht? Sie lauschte so konzentriert sie konnte. Ja! Jetzt konnte sie es ausmachen, sie hörte etwas, weit, weit weg. Sie versuchte dieser rufenden Stimme näher zu kommen. Es war als würden ihre Gedanken gegen die schwarze Masse, die sie umschloss, ankämpfen. Sie hörte es wieder. Jemand rief ihren Namen.

„Margaret!“

Sie kämpfte sich weiter. Es schien, als kämen die Rufe aus einer anderen Welt. Sie wollte weg aus der Dunkelheit, nahm all ihre Willenskraft zusammen und strebte dieser Stimme zu, die immer wieder ihren Namen rief. Nicht aufhören, bitte nicht aufhören, dachte sie. Die Rufe wurden lauter, deutlicher. ...

„Margaret, Lady Margaret, ja, da, sie öffnet ihre Augen.“

Je näher Margaret der Stimme gekommen war, umso heftiger schmerzte ihr Kopf, und als sie endlich die Augen öffnete, dachte sie, ihr Kopf müsste zerspringen. Sie sah in das Gesicht eines erschrockenen Mannes mit einem komischen Hut. Ihr war, als würde sie Pferde riechen. Sie stöhnte, schloss gleich wieder ihre Augen und fiel in einen traumlosen Schlaf.

„Sie wacht auf! Kommt, sie wacht auf!“ Die helle Stimme eines kleinen Jungen drang an ihr Ohr.

Ihr Kopf brummte, als hätte sie eine Flasche billigen Wodka geleert. Langsam öffnete sie ihre Augen. Sie lag in einem altmodischen Bett mit einem Himmel aus dunkelgrünem Samt. Ein etwa zehnjähriger Junge stand neben dem Bett und schaute sie mit großen, graugrünen Augen aufgeregt an. Eine junge Frau um die Dreißig mit einem eigentümlichen Häubchen tauchte neben ihm auf.

„Mylady, Ihr seid wach! Ich schicke sofort nach dem Doktor.“

Mylady? Was meint sie damit, dachte Maggie noch.

„Mama, Du bist wach! Du hast zwei Tage lang geschlafen. Ich habe gelauscht und gehört, wie Doktor Frey sagte, du würdest vielleicht nie wieder aufwachen. Du hast dir den Kopf bei der Ausfahrt gestoßen. Die Kutsche ist umgekippt. Ich bin schuld, weil ich Dich zur Ausfahrt überredet habe. Ich bin so froh, dass du wieder wach bist.“

Die Worte plätscherten nur so aus dem kleinen Jungen. Er strahlte über das ganze Gesicht, Tränen kullerten gleichzeitig aus diesen riesigen Augen und er drückte ihre Hand wie wild.

Sie versuchte sich zu erinnern, was passiert war. Ach ja, sie war von der Arbeit früher weggegangen, oder besser gesagt, sie war überstürzt geflohen. Ihr war schlecht geworden, als Steven von seiner Heirat erzählt hat. Und da war doch etwas auf der Straße. Sie musste ausweichen. War da nicht diese Brücke? Was hatte der Junge gesagt? Sie hatte sich ihren Kopf gestoßen? Bei einer Ausfahrt womit? Einer Kutsche? Und warum sagte der Junge Mama zu ihr? Und warum lag sie in diesem Bett? Vielleicht halluzinierte sie. Möglicherweise hatte man ihr starke Schmerzmittel gegeben, obwohl, angesichts ihrer dröhnenden Kopfschmerzen dürften sie nicht so besonders wirken.

„Lady Margaret, wie fühlen sie sich?“

Ein Mann in den besten Jahren und einem Anzug aus dem vorletzten Jahrhundert stand plötzlich neben ihrem Bett, nahm ihre Hand und fühlte den Puls.

„Ich weiß nicht ... Ich habe Kopfschmerzen. Wo bin ich? Was ist passiert?“

„Sie sind zu Hause, sie hatten einen Unfall mit der Kutsche“, antwortete der Mann.

„Oh Mann“, dachte sie, „die Drogen, die mir verabreicht wurden, sind nicht von schlechten Eltern!“

„Schlafen sie, ihr Kopf muss sich erholen!“, hörte sie den seltsamen Mann noch sagen, dann schloss Sie ihre Augen und dämmerte wieder weg.

Als sie das nächste Mal aufwachte, saß wieder die junge Frau mit der eigentümlichen Kopfbedeckung neben dem Bett. Die Frau hatte ihre Augen geschlossen. Sie trug ein schwarzes, langes Kleid mit einer weißen Schürze. Im Prinzip könnte sie ein Dienstmädchen aus einem Jane Austin Film sein, dachte Margaret noch, da öffnete die junge Frau ihre Augen.

„Sie sind wieder wach! Wie fühlen sie sich, Mylady?“

„Was für eine Ansprache!“, ging es Maggie durch den Kopf, der schon etwas klarer war, aber immer noch brummte. Der Fakt, dass jemand in Theatergewand sie mit Mylady ansprach, begann Margaret langsam zu beunruhigen.

„Wo bin ich?“, fragte sie deshalb.

"Zuhause, Mylady, in ihrem Gemach", antwortete das Mädchen mit einem beunruhigten Lächeln.

„Ich hole Doktor Frey.“ Sie erhob sich aus dem Sessel und verließ rasch das Zimmer.

Margaret versuchte sich aufzusetzen. Ihr Kopf dröhnte um drei Stufen lauter. Sie gab auf und legte sich wieder zurück. Doch in dieser Bewegung nahm sie etwas anderes wahr. Irgendetwas stimmte nicht mit ihrem Körper. Alles fühlte sich an, wie in Watte gepackt, und sie war irgendwie unbeweglich. Margaret berührte ihre Hüften und erschrak. Dann weiter ihren Bauch, die Brüste, sie hatte plötzlich Brüste, und was für welche!

„Um Himmels Willen!“, schrie sie innerlich, „Ich bin fett!"

Wie lange war sie hier gelegen, dass sie so zugenommen hatte? Sie zog ihre Hände unter der Bettdecke hervor und betrachtete sie. Das waren nicht ihre Hände. Sie hatte doch diese Knubbel an den Gelenken und am Mittelfinger diese lästige Warze, die sie nicht loswurde. All das war verschwunden. Sie sah sich ihre zwei gut gepolsterten Hände an. Abgesehen von der Polsterung waren es schöne Hände, vor allem schöne Nägel. Nicht zurückgebissen bis zur Mitte und keine Rillen. Die Nägel waren glatt, hatten eine angenehme Länge und waren vor allem sehr gepflegt. Sie atmete kurz durch, schnappte die Decke, warf sie zur Seite und rappelte sich auf. Im wahrsten Sinn des Wortes kämpfte sie sich aus dem Bett und stellte sich auf die Füße. Es war der Horror. Ihr Körper hatte keine Kraft mehr, keine Spannung, alles an ihr wabbelte wie ein Pudding. Sie brauchte einen Spiegel, um das wahre Ausmaß ihrer körperlichen Veränderung begutachten zu können. Margaret entdeckte den Frisiertisch und stapfte schnaufend darauf zu. Eine völlig Unbekannte starrte sie entsetzt aus dem Spiegel an. Sie griff sich instinktiv ans Gesicht und beugte sich näher an den Spiegel. Kein Zweifel, das war sie nicht, das war jemand anderes. Diese fremde Frau hatte neben mindestens sechzig Pfund Übergewicht auch schreckliches Haar. Es war gelb, dünn, struppig und reichte bis an die Schultern. Der Rest war nicht so schlecht. Die unbekannte Person hatte tiefgrüne, riesige Augen, ein kleines Stupsnäschen und einen schön geschwungenen Mund. Sie formte einen Kussmund. Das Gefühl der weichen Lippen war sagenhaft. Sie versuchte, die Unbekannte im Spiegel anzulächeln. Gott, waren das schöne Zähne! Wie eine Perlenreihe. Und nicht so schlecht gepflegt, wobei sie sich gerade jetzt nach einer Zahnbürste sehnte… Dann besah sie sich ihre Nase von der Seite. Tatsächlich war die Nasenspitze ein bisschen nach oben gebogen. Ein Schönheitschirurg hätte sie nicht schöner hingebracht. Der Rest vom Gesicht verriet seine Form nicht wirklich, weil auch hier eine ansehnliche Menge Fett so einiges verbarg. Sie hörte Schritte und Stimmen von draußen. So rasch sie konnte, hechtete sie ins Bett zurück und bekam durch die ungewohnte Bewegung auch gleich mächtig Herzklopfen, von den dröhnenden Kopfschmerzen kaum zu sprechen. Schon wurde auch die Tür geöffnet und der ältere Herr mit dem altertümlichen Anzug kam an ihr Bett. Noch während er mit etwas besorgter Miene ihren Puls maß, erkundigte er sich nach Ihrem Befinden.

„Es geht mir schon besser“, sagte sie noch etwas atemlos, „Aber… wo bin ich hier? Und wer sind Sie? Und was mich noch mehr beschäftigt, wer bin ich?“

„Ich bin Doktor Frey, Sie sind Lady Margaret Blackwood, und sie befinden sich in ihrem derzeitigen Zuhause Oakridge Manor. Woran können sie sich erinnern?“

Sie überlegte kurz, was sie sagen sollte. Wenn sie jetzt damit anfing, dass sie eigentlich jemand anderer war und plötzlich einen neuen Körper hatte, würde man sie vielleicht für verrückt erklären.

„Ich kann mich an nichts erinnern“, hörte sie sich also sagen und bemerkte noch, dass sich ihre Stimme auch anders anhörte.

Der Doktor nickte. „Ich habe schon befürchtet, dass der Unfall nicht ganz ohne Folgen bleiben würde. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie Sie eine so schwere Kopfverletzung überleben konnten! Sie hatten wahnsinniges Glück! Es kann sein, dass Ihr Gedächtnis langsam wieder zurückkommt. Machen Sie sich keine Sorgen! Am besten Sie schlafen so viel wie möglich in den nächsten Tagen, bis die Schmerzen verschwunden sind.“

Der Doktor führte noch einige Untersuchungen durch und reichte ihr ein Glas Wasser, in das er zuvor eine dunkle Tinktur getröpfelt hatte. Die Medizin schmeckte bitter. Margaret trank tapfer und sank wieder erschöpft in die Kissen zurück. Es war offensichtlich ein Beruhigungsmittel, denn bald übermannte Margaret die Müdigkeit und sie dämmerte trotz sich überschlagender Gedanken wieder ein.

Anne, Edward und die junge Kammerfrau Mary warteten unten im Salon. Als der Arzt eintrat, eilte Anne ihm entgegen.

„Wie geht es unserer Mutter? Wird sie wieder gesund?“

Anne war die Sorge um ihre Mutter ins Gesicht geschrieben. Sie wirkte für Ihre dreizehn Jahre schon sehr reif. Ihr rotes, langes Haar war kunstvoll geflochten, und aus ihrem runden Gesicht blickten zwei ernste, große, hellgrünen Augen den Doktor erwartungsvoll an.

Dieser versuchte mit betont ruhiger Stimme die Aufregung etwas zu dämpfen.

„Sie hat jetzt das Schlimmste überstanden. Und sie wird auch wieder gesund, allerdings scheint es, als habe sie ihr Gedächtnis verloren.“

„Ihr Gedächtnis verloren? Was meinen Sie damit Doktor Frey?", fragte Anne erschrocken.

„Sie kann sich an nichts mehr erinnern“, antwortete der Arzt, „nicht, wer sie ist, und auch nicht, wer Sie alle sind. Ich weiß, das ist jetzt sehr schmerzhaft für Sie, aber lasten Sie das Ihrer Mutter nicht an. Sie kann am wenigsten dafür. Wir müssen froh sein, dass sie den schrecklichen Unfall überlebt hat.“

Sein Blick wurde in diesem Moment noch ernster und schweifte kurz in die Ferne. Der Unfall bereitete ihm Kopfzerbrechen. Er hätte unter normalen Umständen nie passieren dürfen. Die Achse der Kutsche war gebrochen, und das auf der Straße nach St. Claire, wo doch genau dieser Streckenabschnitt dieses Jahr im Frühling erneuert wurde. Da gab es keine Schlaglöcher, und auch keinen Steinschlag. Jetzt wo Lady Margaret das Schlimmste überstanden hatte, musste er mit dem Stallmeister reden. Er hatte die Kutsche gelenkt und den Unfall unverletzt überlebt. Nur deshalb konnte er so rasch Hilfe holen und das Leben seiner Ladyschaft retten.

Er wandte Seine Gedanken wieder den beiden Kindern zu, die das Gehörte erst einmal verdauen mussten.

„Sie müssen ihrer Mutter jetzt beistehen und ihr so viel wie möglich erzählen. Helfen Sie Ihr, sich zu erinnern, und seien sie geduldig mit ihr. Bei so schweren Kopfverletzungen, wie die Ihrer Mutter, kann es auch vorkommen, dass sich nicht nur das Denken und die Art zu sprechen, sondern auch der Charakter, das Gemüt ändert. Seien sie darüber nicht erschrocken. Das Beste wird sein, wenn Sie Ihrer Mutter so gut es geht in allem, was sie tun will, unterstützen und sich nicht gegen die Veränderung wehren. Gewöhnen Sie sich am besten gleich daran, dass vieles nicht mehr so sein wird, wie früher.“

„Aber Lizzy wird das noch nicht verstehen!“, wandte Edward ein.

Er war gerade neun geworden und für sein Alter ungewöhnlich groß. Sein dunkles, dichtes Haar war leicht gewellt und hing in Locken über die Ohren. Er wollte es sich wachsen lassen, wie es der neuen Mode entsprach, seit der Krieg gegen die Spanier beendet wurde. Sein Körperbau war sehr stabil und für sein Alter jetzt schon muskulös, er würde einmal ein stattlicher Lord Blackwood werden. Man sah, dass er gerne ausritt und auch schon Kampfkunst trainierte.

Doktor Frey beruhigte Edward. „Miss Lizzy wird von alledem am wenigsten bemerken. Sie ist, wie Sie selbst sagten, noch zu klein, um das alles zu verstehen.“

Der Arzt wandte sich an Anne. „Miss Anne, Sie sind die Älteste. Ich würde vorschlagen, dass Sie Ihr Gesinde zusammenholen und über den Sachverhalt aufklären. Es ist wichtig, dass niemand in ihrer Umgebung seltsam auf Lady Margaret reagiert. Kann ich Ihnen das zumuten?“

Sie nickte.

„Nun, da sich Ihre Mutter deutlich besser fühlt, werde ich mich für heute verabschieden. Ich komme morgen Vormittag wieder vorbei.“

Der Arzt verabschiedete sich und machte sich auf den Weg zu den Stallungen.

Er fand den Stallmeister Briggs bei der Koppel, die hinter den Ställen anschloss. Als Briggs ihn bemerkte, eilte er ihm ein paar Schritte entgegen.

„Doktor Frey, wie geht es Ihrer Ladyschaft? Ist sie noch immer bewusstlos?“

„Nein, Briggs. Ich komme mit guten Nachrichten. Lady Blackwood ist erwacht und auf dem Weg der Besserung. Briggs, mich beschäftigt noch etwas Anderes. Können Sie mir genau beschreiben, wie es zu dem Unfall kam und was genau passierte?“

„Das ist schnell gesagt“, antwortete dieser, „wir fuhren auf der Straße nach St. Claire. Wir nahmen die offene Kutsche, da Master Edward Ihrer Ladyschaft seine neuesten Reitkünste vorführen wollte, und sie ihn so besser beobachten konnte. Er ritt auf der Wiese, entlang der Straße und nahm jede Hürde mit Bravour, sei es ein Busch, oder eine kleine Steinmauer. Plötzlich krachte es unter der Kutsche, sie kippte weg. Ich sprang in letzter Sekunde von Kutschbock auf das Pferd und schaffte es, es zum Stehen zu bringen. Ihre Ladyschaft stürzte mit der Kutsche um. Ich rannte sofort zu ihr. Sie wurde aus der Kutsche herausgeschleudert und war dem Himmel sei Dank, nicht eingeklemmt und mitgeschleift worden, aber sie hatte sich den Kopf an einem Randstein angeschlagen. Sie blutete sehr stark und sie war bewusstlos. Ich zog sie ins Gras und bettete den Kopf auf eine Decke, und ich rief immer wieder und wieder ihren Namen. Und dann plötzlich öffnete sie kurz ihre Augen. Da wusste ich, Sie lebte noch. Ich nahm das Pferd von Master Edward und ritt so schnell es ging, um Hilfe zu holen. Den Rest kennen Sie, Doktor Frey. Ich mache mir schreckliche Vorwürfe, weil ich nicht gut genug aufgepasst hatte. Ich war abgelenkt von Edwards Reitkünsten und Lady Margaret war so fröhlich, wie noch nie zuvor. Ich muss ein Schlagloch übersehen haben, oder einen Stein. Ich kann es mir nicht anders erklären.“

Briggs Verzweiflung war spürbar.

„Ich bin so froh, dass Ihre Ladyschaft wieder gesund wird. Ich könnte mir das nie verzeihen!“

Der Arzt hatte dem Stallmeister ruhig zugehört, dann schlug er vor, sich doch einmal die Unfallstelle genau anzusehen. Briggs stimmte zu und so ritten sie in Richtung St. Claire davon.

Die Unfallspuren waren auf der Straße noch deutlich zu erkennen. Die Furchen der umgekippten Kutsche und der dunkle Blutfleck von Lady Margarets Verletzung waren noch sichtbar. Der Arzt und der Stallmeister schritten die Strecke vor dem Unfall ab und begutachteten penibel die Straße auf Schlaglöcher oder Hindernisse, welche einen so schweren Unfall verursacht haben könnten. Sie fanden nichts. Die Straße war in einem tadellosen Zustand.

„Wo ist die Kutsche jetzt?“, fragte Doktor Frey.

„Henley, der Verwalter und ich haben Sie mit Hilfe des Bauern Thompson ins Wagenhaus gebracht. Dort wartet sie jetzt auf die Reparatur.“

Da Doktor Frey sich die gebrochene Achse noch genauer ansehen wollte, ritten sie zurück und Briggs schloss die Tür zum Wagenhaus auf. Nach kurzer Zeit hatten sie die gebrochenen Teile der Wagenachse auf dem Werktisch liegen. Die Nachmittagssonne warf ihr Licht genau auf das Korpus Delikti. Der Arzt atmete scharf ein.

„Das ist nicht gut“, hörte Briggs ihn sagen und verstand sofort, was er meinte.

An der Bruchstelle war die Achse angesägt worden. Sie blickten sich an. Briggs hatte plötzlich Panik in den Augen.

„Doktor Frey, ich war das nicht, wirklich nicht. Ich würde mich doch selbst nicht in Gefahr bringen und schon gar nicht Ihre Ladyschaft! Außerdem habe ich sofort Hilfe geholt. Bitte, glauben Sie mir!“ Sein Ton war flehend.

Doktor Frey nickte. „Ich glaube Ihnen, aber ich muss das Regiment einschalten. Dieser Unfall war ein Anschlag auf Leib und Leben Ihrer Ladyschaft und wer auch immer das war, muss gefasst werden. Bis dahin ist Lady Margaret in Gefahr. Wer hat Zugang zum Wagenhaus?“ Briggs überlegte: „Einen Schlüssel habe ich, und den zweiten hat Henley, der Verwalter. Diesen lässt er oft im Verwaltungsgebäude am Schlüsselbrett hängen. Aber dem habe ich noch nie getraut. Lady Blackwood, die Mutter von Lord Robert hat darauf bestanden, dass er die Verwaltung hier übernimmt, als Lady Margaret vor zwei Jahren von Blackwood Castle hergezogen ist. Lady Margaret weiß nichts davon und Lady Blackwood warnte uns davor, es ihr zu sagen, anderenfalls würde sie uns kündigen. Dr. Frey, Sie wissen, dass Lady Blackwood alles ernst meint, was sie sagt.“

Doktor Frey ordnete an, die Achse sicher aufzubewahren, dass niemand sie fände, und das Wagenhaus mit einem zusätzlichen Vorhängeschloss zu sichern. Den Schlüssel ließ er sich aushändigen. Niemand sollte mehr Zugang zum Wagenhaus haben. Er bläute Briggs ein, mit niemandem über ihre Erkenntnisse zu sprechen, auch nicht mit seiner Frau, nicht mit dem Verwalter und schon gar nicht mit ihrer Ladyschaft. Er selbst wollte umgehend nach London reiten um General Haze, einen guten Freund aus vergangenen Tagen beim Militär zu benachrichtigen. Der würde wissen, was zu tun sei. Der Arzt stieg auf sein Pferd und machte sich auf den Weg. Briggs blickte ihm besorgt nach.

Margaret wachte auf. Ihr Kopf schien sich erholt zu haben. Die Schmerzen waren zwar noch da, aber erträglich. Sie rappelte sich im Bett auf und begann ihre Gedanken zu ordnen. Offenbar hatte sie keine Halluzinationen und ihre Wahrnehmung war nicht von Schmerzmitteln oder anderen Drogen beeinflusst. Es schien, als wäre sie in einer anderen Zeit als ein anderer Mensch aufgewacht. Sie erinnerte sich, dass sie in dieser schwarzen undurchdringlichen Masse auf eine Stimme zustrebte. Sie konnte es sich nur so erklären, dass sich ihr Bewusstsein beim Unfall vom alten Körper gelöst hatte und dann in diesem schwarzen Irgendwas gefangen war. Als sie dann ihren Namen hörte, bewegte sie sich darauf zu und erwachte in diesen fremden Körper. Irgendwie so musste es geschehen sein, denn die Tatsache ließ sich nicht leugnen, dass sie nun da war.