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Seitdem vor sechs Jahren ihre Eltern verschwunden sind, lebt das dreizehnjährige Mädchen Emilia mit ihren beiden kleinen Geschwistern bei ihrer Pflegemutter Adelheit in einem Haus in Kanada. Da diese sie aber nicht gut behandelt, beschließt sie zu fliehen. Auf ihrer Reise erfährt Emilia von einer alten Schäferin mit Namen Ellia, von der geheimnisvollen zweiten Welt und trifft die Entscheidung, dort hinzuziehen. Doch die zweite Welt wird von den bösartigen Schattengestalten, den Torkinlarnt adrinromal bedroht. Und so macht sich das Mädchen auf die Suche nach den alten Schmieden von Oragon, denn nur dort findet man das einzige Metall, welches den Schattenwesen standhalten kann. Emilia wird in eine Reihe von gefährlichen Abenteuern hineingezogen und dann ist da auch noch das große Geheimnis der Kalinor, über das ihr niemand etwas sagen will.
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Seitenzahl: 274
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Carlotta Oertel
Das Vermächtnis
von
Synaton I
Texte: © Copyright by Carlotta Oertel
Umschlaggestaltung: © Copyright by Carlotta Oertel
Verlag:Dr. Astrid OertelGroendelle 842555 Velbert
Druck und Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Inhalt
Inhalt3
Prolog5
Die Entscheidung8
Aufbruch12
Der Weg17
Ellia25
Die zweite Welt41
Ein Geheimnis48
Eine ungerechte Welt58
Goldener Bach60
Schicksal80
Larjina89
Schatten114
Mathilda131
Ein unerfreulicher Empfang138
Ein Rat und ein Plan186
Die Reise211
Unerwünscht231
Die Hatz234
Wettlauf im Sturm241
Warten263
Kuhfladen und eine neue Bekanntschaft269
Ein dummer Plan281
Schweigsam286
Ein Fremder als Rettung323
Rammbock335
An einem Samstagmorgen eine Woche später stand Emilia um fünf Uhr auf. Hastig zog sie sich an und lief die Treppe hinunter. Samstags mussten Emilia und ihre Geschwister vormittags nur den Pferdestall ausmisten und nicht früh aufstehen, da ihre richtige Arbeit erst am Nachmittag begann, weil Adelheit sich am Wochenende nicht vor zwölf Uhr blicken ließ. Als Emilia unten war, schnappte sie sich ihren kleinen roten Rucksack und ihren Helm, lief aus dem Haus, schwang sich auf ihr Fahrrad und radelte in die Stadt. Da Emilia für sich und ihre Geschwister selbst einkaufen musste, bekam sie von ihrer Pflegemutter 400 Euro im Monat. Das reichte für das Essen und wenn man etwas sparte auch für ein neues Kleidungsstück. Das Fahrrad hatte sie bekommen, damit sie allein in die Stadt kam.
Als Emilia am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne durch die roten Wände des kleinen Zeltes. Von draußen hörte sie die Stimmen ihrer Geschwister. Im Freien spielten die beiden Fangen und jagten sich durch die Gegend. Als die zwei Emilia sahen, hörten sie auf zu spielen und kamen zu ihr. „Wir wollten uns was zum Essen holen, aber es war nichts da“, beklagte sich Rebekka. Emilia lachte laut auf: „Da habt ihr aber ein schönes Chaos angerichtet. Ihr habt die falsche Tasche ausgepackt.“ Überall lagen kleine Dosen und Fläschchen verstreut. „Wolltet ihr etwa den Waldboden verarzten“, fragte Emilia die Kleinen mit in die Hüften gestemmten Armen, obwohl sie nicht wirklich sauer war. Mio und Rebekka schienen sich zu schämen. „Wir haben doch nichts kaputt gemacht, oder“, fragte Mio. „Genau, war das schlimm“, hakte Rebekka nach. „Ach, halb so wild“, beruhigte Emilia sie, „wie wäre es damit: Ich räume das weg und mache Frühstück, während ihr nach den Pferden seht.“ „Okay“, riefen Mio und Rebekka im Chor und schon rannten sie los. Emilia sammelte den Inhalt des Medizintäschchens wieder ein. Zum Glück war alles heil geblieben. Dann machte sie sich daran, das Frühstück vorzubereiten. Unter ihren Essensvorräten waren zwei Flaschen Milch und Haferflocken, aus denen sie Müsli zubereitete. Sie mussten sparsam mit dem Essen umgehen. Lange würde es nicht reichen und sie hatten nicht mehr viel Geld. Nach dem Frühstück packten sie ihre Sachen und ritten weiter. Gegen Mittag hatten sie den Waldsaum erreicht und standen am Rand eines kleinen Dorfes. Wehmütig dachte Emilia an ihre Schule und ihre Freunde. In der Schule war es immer toll gewesen. Sicherlich machten Theo, Carla, Mathilda, Lari und Pia sich schon Sorgen um sie, wo doch wahrscheinlich schon die Polizei nach ihr und ihren Geschwistern suchte. Die drei Kinder ritten weiter, wobei sie sich immer dicht am Dorfrand hielten. Als sie schließlich eine Straße überqueren mussten, scheute sich Bilbo heftig hinüberzugehen. „Na los, lauf schon“, schimpfte ihn Mio aus. Emilia wollte gerade absitzen, um ihrem Bruder zu helfen, als sie etwas hörten, was ihnen den Schreck in die Glieder fahren ließ. Sirenen kamen von hinten immer näher. Schon konnte Emilia das Polizeiauto in der Ferne ausmachen. Es war zwar noch weit entfernt, kam aber schnell näher. „Los, Bilbo, mach schon!“, feuerte Emilia den Rappen an. Und endlich, als sie schon die Gesichter hinter der Scheibe erkennen konnte, setzte das Welsh-Pony sich in Bewegung. „Kommt die Polizei wegen uns?“, wollte Rebekka ängstlich wissen. „Nein, keine Sorge“, beruhigte Emilia ihre kleine Schwester. Sich selbst konnte sie damit nicht beruhigen. Wenn die Polizei sie fand, würde das Leben bei Adelheit noch viel schrecklicher werden als zuvor. Außerdem gäbe es dann bestimmt keine zweite Chance abzuhauen. Ein hupendes Auto riss sie aus ihren unangenehmen Gedanken. Quälend langsam bewegte sich Bilbo über die Straße. Sobald die Hufe der Pferde nicht mehr auf dem Asphalt klapperten, galoppierte Emilia ihre Stute Damy an. Ein Blick nach hinten zeigte, dass ihr die Kleinen auf ihren Ponys folgten. Der Weg auf dieser Seite der Straße machte gleich zu Beginn einen scharfen Knick, ideal, wenn man von der Straße aus nicht gesehen werden wollte. Gerade als die Polizisten an der Stelle, wo sie die Straße überquert hatten, vorbeifuhren, bogen die Kinder um die Kurve. Der Weg führte zwischen hügeligen Feldern hindurch. Erst ein ganzes Stückchen weiter verlangsamte Emilia das Tempo. Die Kleinen konnten einfach noch nicht gut genug reiten, um lange Strecken im Galopp durchzuhalten. So ritten sie in schnellem Trab weiter. Pausen machten sie keine, stattdessen aßen und tranken sie vom Pferd aus. Nur einmal hielten sie an einem Bach an, damit die Pferde trinken und ihre Notdurft verrichten konnten. Zwar war sich Emilia im Nachhinein fast sicher, dass die Polizei wirklich nicht ihretwegen gekommen war, doch das beruhigte sie nur wenig. Die Landschaft blieb gleich, weite Wiesen, Felder und sanfte Hügel. Ziemlich schutzlos, fand Emilia. Nur selten kamen sie an vereinzelten Häusergruppen und Straßen vorbei. Menschen begegneten sie nicht. Als es dämmerte, schaute Emilia sich nach einem Schlafplatz um. Ihr Blick schweifte über die ins Dämmerlicht getauchten Wiesen. Hier konnten sie unmöglich schlafen, nichts bot ihnen Schutz vor Wind und neugierigen Blicken. Plötzlich vernahm sie Hufgetrappel. Ein graues Pferd erschien aus der Dunkelheit und in dem schwindenden Licht konnte Emilia ein Mädchen auf dessen Rücken erkennen. Sie mochte wohl ein paar Jahre älter sein als sie selbst. „Hallo“, sprach das Mädchen sie an, „ich bin Juliette.“ Emilia war so verdattert, angesprochen zu werden, dass sie kein Wort herausbrachte. Stattdessen ergriff Mio das Wort: „Hallo Juliette, ich bin Mio und ich bin acht Jahre alt. Rebekka ist erst sechs. Das ist Emilia und sie ist schon dreizehn. Unsere Ponys sind Bilbo, Ronja, Damy …“ „Still jetzt“, unterbrach Emilia ihren Bruder, „das reicht!“ „Ist schon gut, Emilia“, mischte sich Juliette ein, „ich weiß schon alles über euch, aber ich schwöre, dass ich kein Wort darüber verraten werde. Ich spreche euch aus einem anderen Grund an. Falls ihr auf eurem Weg eine Schäferin namens Ellia treffen solltet, gebt ihr bitte das hier von mir.“ Während sie das sagte, holte sie einen kleinen Zettel hervor. „Klar“, war alles, was Emilia herausbrachte, so verdutzt war sie über das, was sich hier abspielte. „Danke, vielen, vielen Dank“, stammelte Juliette. Im Davonreiten drehte sie sich noch einmal um: „Habe ich ganz vergessen - hinter dem Hügel hier ist ein kleiner Hain. Wenn ihr euch von dort aus nach Nordosten wendet, werdet ihr bald ein gutes Versteck finden. Viel Glück!“ Damit drückte sie die Schenkel in die Seiten ihres Pferdes und galoppierte davon. Als die Unbekannte außer Sicht war, sah Emilia sich den Zettel genauer an. Überrascht stellte sie fest, dass er in einer anderen Sprache geschrieben war, von der sie kein Wort lesen konnte. Er war sauber und in ordentlicher Schrift geschrieben und am Ende mit dem Symbol eines Schwans versehen. Der weiße Vogel hatte seine Schwingen weit ausgebreitet. Auf dem Zettel standen die folgenden, für Emilia unverständliche Worte: Nin am toranich, nin am Falian, falint nin am lanit, mins tasonika. Darunter entdeckte sie einen weiteren Satz, diesmal in einer anderen Schrift geschrieben. Sie sah so ähnlich aus wie die Runen der Wikinger, die sie sich mal im Geschichtsunterricht angeguckt hatten. Aus beidem wurde sie nicht schlau. „Los!“, rief sie ihren Geschwistern zu, „wir müssen im Versteck sein, bevor es vollends dunkel wird.“ Es war zweiundzwanzig Uhr, als sie das beschriebene Wäldchen erreichten. Das Versteck fanden sie schnell. Es war eine kleine Lichtung in einem Dickicht aus Bäumen und Gestrüpp. Zwischen ein paar Felsen sprudelte ein Bach hervor, der dann munter plätschernd die Felsen hinunter in sein nasses Bett sprang. Der Boden war von federnden Kiefernnadeln und Moos bedeckt, sodass die weiche Erde kaum noch zu sehen war. Sie verbreiteten einen herrlichen Duft. Die drei aßen ein paar Scheiben hartes Brot aus ihrem Vorrat und tranken Wasser aus der Quelle. Sie sah sauber aus, deshalb sparte Emilia die reinigenden Tabletten für später auf. Nachdem sie die Pferde entlastet und angebunden hatten, schlüpften sie in das kleine Wanderzelt und kuschelten sich in die ausgepackten Decken. Fast augenblicklich schliefen sie alle ein.
Am nächsten Morgen schliefen die Kinder lange, etwa bis halb elf, und machten dann zusammen Frühstück. Nach dem Essen bauten sie das Zelt ab und machten sich fertig zum Aufbruch. Emilia versorgte noch schnell die Wunden an Mios Fingern, wo er sie sich an den Zügeln aufgerieben hatte. Die beiden Kleinen wollten die kleine Lichtung, die ihnen so sicher erschien, nur ungern verlassen, und auch Emilia tat es nicht gern. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie weiter mussten, einen Platz suchen, wo sie vielleicht sogar leben konnten. Sie ritten den ganzen Tag lang über Wiesen und Felder. In ihrem nächtlichen Lager war es sehr unbequem, denn sie übernachteten in einem kleinen Haselgebüsch. Der nächste Tag war nicht anders als der davor. In ihrem nächtlichen Versteck war es bequemer und sie blieben dort zwei Tage, da die beiden Kleinen eine Pause vom vielen Reiten brauchten, und brachen am Samstag wieder auf. Es war schon Dienstag, als sie wieder mal auf eine Straße stießen, die ihre Wegrichtung kreuzte. Bisher hatten sie so gerade wie möglich auf die Berge zugehalten, aber nun mussten sie, um in die Berge zu kommen, diese Straße überqueren. Es war zwar lediglich eine Landstraße, auf der nur ab und zu ein Auto entlangfuhr, aber trotzdem fürchtete sich Emilia irgendwie, sie zu überqueren. Doch sie wusste auch, dass ihre Vorräte an Nahrungsmitteln nicht mehr lange halten würden. Sie mussten etwas zu essen kaufen, um überhaupt bis an ihr Ziel zu kommen, und wenn sie der Straße folgen würden, müssten sie irgendwann ja notgedrungen in eine Stadt oder wenigstens in ein Dorf kommen. Doch nun, da sie darüber nachdachte, kamen ihr Bedenken. Hatten sie denn ein Ziel? Die Antwort konnte Emilia sich selber geben. „Nein, haben wir nicht“, murmelte sie vor sich hin. Was sollten sie in den Bergen tun? Wie sollten sie sich dort ernähren? All diese Fragen gingen Emilia durch den Kopf, als sie überlegte, welchen Weg sie nehmen sollten. Auf der einen Straßenseite wuchs verfilztes Dornen- und Farngestrüpp, auf der anderen Seite dichter Wald. Von hinten, wo sie herkamen, brandete der Wald wie ein grün-braunes Meer an die Hügellandschaft, über die sie die letzten Tage geritten waren. Vorne verlief die Straße weiter in offeneres Gelände. „Wir reiten noch ein wenig am Waldsaum entlang und überqueren dann die Straße, wenn das Dornengestrüpp aufhört!“ Rebekka nickte, doch Mio schien nicht richtig zugehört zu haben, denn eine halbe Stunde später sagte er: „Wir hätten die Straße doch schon eben überqueren können.“ Emilia seufzte und Rebekka wiederholte, an Mio gewandt, was Emilia gesagt hatte. Etwa eine halbe Stunde später endete auf der anderen Straßenseite das Dornengestrüpp, und es wurde Zeit, auf die andere Seite zu wechseln. „Wir warten noch ein wenig, ob ein Auto kommt und wenn ich jetztsage, reitet ihr los“, sagte Emilia zu Rebekka und Mio. „Passt auf: eins, zwei, drei - jetzt!“ Sie trieb Damy an und zog an Mailons Strick, um ihn ebenfalls anzutreiben. Ihre Stute galoppierte an und Mailon folgte ihnen. Bilbo und Ronja trabten so schnell sie konnten über die Straße. Als sie es geschafft hatten, atmete Emilia aus, doch dann bemerkte sie plötzlich, dass das Gelände auf dieser Seite anders war, als sie gedacht hatte. Von Weitem hatte es so ausgesehen, als wäre es zwar eine ebene Landschaft, allerdings mit mehreren Verstecken und Gebüschen. Als sie jedoch näherkamen, sahen sie, dass das, was von fern wie Gebüsch ausgesehen hatte, in Wahrheit jeweils ein Baum war, der von einer Hecke umgeben war. Und dahinter war kein normaler Wald, sondern eine Reihe von ordentlichen, gepflegten Obstbäumen. Es gab anscheinend immer eine Reihe von Pflaumenbäumen und zwischen den Reihen waren Gräben gezogen. Da konnten sie unmöglich hindurch, ohne dass jemand ihre Spuren finden würde. Emilia wusste nicht, wozu die von Hecken umgebenen Bäume da waren, aber wahrscheinlich waren sie kein sicheres Versteck. Sollten sie die Straße gleich nochmal überqueren? Und was dann, sollten sie umkehren oder durch den Wald auf der anderen Seite reiten, an dessen Saum sie eben gekommen waren? Was immer die Kinder taten, sie mussten es bald tun, denn gleich der erste Autofahrer, der vorbeikam, würde sie sehen. Da erblickten die drei das Haus und fragten sich, wieso sie es nicht früher gesehen hatten, aber es lag so gut versteckt zwischen den Obstbäumen, dass man es kaum bemerkte. Da überkam Emilia plötzlich die Sehnsucht nach ihren Freunden und am meisten nach Mathilda, mit der sie immer am engsten befreundet gewesen war. Aber auch Pia, Lari, Theo und Carla vermisste sie sehr. Wie in Trance sah sie zu dem Haus hinüber, bis Mio sie aus ihren Gedanken riss. „Emilia, ich glaube es kommt ein Auto.“ „Was, von wo?“ Emilia war so erschrocken, dass sie schrie. Rebekka zuckte zusammen. „Ich glaube, Mio hat Recht, ich höre ein Auto vor uns auf der Straße“, meinte sie, als sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, und klang dabei fast fröhlich. Sie schien noch immer nicht begriffen zu haben, wie schlimm es war, wenn sie jemand erwischte. Natürlich, sie war noch zu klein gewesen, um sich an ihre Eltern oder die kurze Zeit im Kinderheim zu erinnern. Sie kannte, genau wie Mio, nur Adelheit. Für die Kleinen wäre es nicht so schlimm, wieder zurückzugehen, sie würden es zwar doof finden, aber nicht so schlimm wie Emilia, da sie nicht wussten, wie es war, wenn man ein normales Leben führte. Oder vielleicht doch nicht? Unterschätzte sie die Kleinen und besonders Mio nur? Doch wie auch immer, darüber konnte sie sich später Gedanken machen, nun musste sie schnell entscheiden, wo sie entlangreiten sollten. Gerade als sie sich entschieden hatte, so schnell wie möglich den Obsthain zu durchqueren, wurde die Tür des kleinen Hauses aufgerissen und eine Frau kam heraus. „Kommt schnell her“, rief sie ihnen zu, und ohne zu wissen, was sie tat, kam Emilia zu ihr. Ihre Geschwister folgten ihr. Wie magisch angezogen ritten sie der Unbekannten entgegen. „Hallo, mein Name ist Ellia, aber für mehr Erklärungen ist später Zeit, geht ins Haus, ich bringe eure Pferde weg. Macht schnell!“, drängte die Frau, und die Kinder saßen ab und liefen durch die offene Tür. Als Emilia das Haus betrat, hatte sie ein komisches Gefühl. Sie konnte es nicht beschreiben, aber sie war sich sicher, dass diese Frau ihnen helfen konnte, und auch, dass sie sie von irgendwoher kannte. Auch ihr Name rührte an etwas in ihrem Gedächtnis. „Wenn ihr einer Schäferin namens Ellia begegnet, gebt ihr bitte dies von mir.“ Um das hatte das Mädchen namens Juliette sie gebeten. War dies die Schäferin Ellia, die sie gemeint hatte? Bestimmt war sie das, denn der Name kam nicht gerade häufig vor. Da kam Ellia schon wieder, ihre schwarzen Haare waren schon von grauen Strähnen durchzogen und sie trug sie offen. Erst fühlte sich Emilia unangenehm an Adelheit erinnert, doch diese Frau wirkte irgendwie lockerer und freundlicher. „Sollen wir zusammen eine Tasse Tee trinken und ein Stück Kuchen essen?“, fragte sie und lächelte. „Ja, gerne“, antworteten die drei wie aus einem Munde. Ellia führte sie durch eine Tür und einen kurzen Flur, bis sie in ein Esszimmer kamen. Es war ein behaglicher, aber nicht besonders großer Raum. In einem kleinen Kamin brannte ein Holzfeuer und in der Mitte des Raumes stand ein langer glatter Tisch aus hellem Holz. Die Stühle passten nicht zusammen, manche waren groß, mit steilen Lehnen, andere waren kleine Schaukelstühle und wieder andere wirkten fast wie kleine Sessel. Doch waren sie alle aus dem gleichen hellen Birkenholz. Die Geschwister nahmen auf einen Wink von Ellia in dreien der Sessel Platz. „Ich bin gleich wieder da, ich hole nur schnell den Tee und etwas zu essen“, sagte sie und ging gleich darauf aus der Tür. „Also mir gefällt es hier“, meinte Mio und Rebekka stimmte ihm zu. „Bleiben wir jetzt für immer hier?“, fragte Emilias kleine Schwester, an ihre älteren Geschwister gewandt. „Fürs Erste ja, aber nicht für immer“, antwortete Emilia auf Rebekkas Frage. Wieso um Himmelswillen sagt sie nur so etwas, dachte sie. Da war ihre Gastgeberin auch schon wieder zurück, mit einem Tablett, auf dem vier Tassen Tee, eine Kanne mit Milch, Honig und Zucker, vier Teller mit Kuchen zusammen mit Teelöffeln und Kuchengabeln lagen. „Hier, lasst es euch schmecken, währenddessen können wir reden.“ „Okay“, sagte Mio, bevor Emilia auch nur den Mund aufmachen konnte. Dabei war es doch Emilia, die ihre Geschichte von Anfang an erzählen müsste, denn die beiden Kleinen konnten sich ja nicht an ihre Eltern erinnern. Doch schon wieder kam ihr der unangenehme Gedanke, dass sie die beiden unterschätzte. Auf einmal ergriff Ellia das Wort: „Wie wäre es, wenn ihr mir zuerst eure Geschichte erzählt, danach werde ich vielleicht ein paar eurer Fragen beantworten, und dann werdet ihr euch erst einmal ausruhen. Nach dem Abendessen werde ich euch dann meine Geschichte erzählen.“ Und Emilia begann zu erzählen. Wieso, wusste sie selbst nicht, aber wenn, so glaubte sie, sie jemandem vertrauen konnte, dann Ellia. „Als ich sieben war, also vor ungefähr sechs Jahren, sind unsere Eltern verschwunden, kurz nachdem Rebekka geboren wurde. Mio war gerade zwei. Eines Tages kam unser Vater vom Einkaufen wieder. Sein Gesicht war ganz bleich und kaum hatte er das Wohnzimmer betreten, schrie er: ‚Sie sind da! Sie sind da! Sie haben uns gefunden!‘ Als meine Mutter das hörte, ließ sie fast Rebekka fallen, die sie gerade im Arm trug. ‚Wo sind sie und wie viel Zeit bleibt uns noch?‘, fragte sie mit zittriger Stimme. ‚Fünf Stunden.‘ Die Stimme meines Vaters klang rau. ‚Wir müssen tun, was wir uns geschworen haben, um unsere Kinder zu schützen.‘ Seine Worte haben mir damals eine riesige Angst eingejagt, obwohl ich nicht verstanden habe, was er meinte. Dann erst bemerkten unsere Eltern, dass ich im Zimmer war, und verstummten. Danach war der Abend wieder ganz normal, Mama brachte uns drei ins Bett und wünschte uns eine gute Nacht wie jeden Abend. Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, waren sie beide verschwunden. Am Nachmittag holte uns ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern ab und nahm uns erst einmal auf. Doch die zwei hatten selbst schon drei Kinder und nur sehr wenig Geld. So wurden wir ins Kinderheim gebracht. Niemand sagte uns, was mit unseren Eltern passiert war, nur dass sie nicht zurückkommen würden. Im Heim blieben wir nicht lange, nur etwa zwei Wochen. Dort fühlten wir uns alle nicht wohl. Es ähnelte so wenig unserem alten Haus. Dann wurden wir von einer Frau namens Adelheit Müller und ihrem Mann Gerhard adoptiert und blieben sechs Jahre bei ihnen. Sie behandelte uns jedoch nicht gut, nachdem Gerhard gestorben war. Je älter wir wurden, desto mehr mussten wir arbeiten. Vor und nach der Schule und am Wochenende. Wir haben 400 Euro im Monat bekommen, da wir für uns selbst einkaufen mussten. Am Samstag vor einer Woche sind wir aufgebrochen. Wir haben in Verstecken geschlafen und sind immer so gerade wie möglich auf die Berge zugeritten. Das ist unsere bisherige Geschichte.“ Als Ellia wieder das Wort ergriff, sah sie aus, als hätte sie sich zu irgendetwas entschlossen. Sie saß plötzlich gerade und aufrecht in ihrem Stuhl, doch in ihren Augen glitzerten Tränen. „Ihr könnt nicht ewig hierbleiben, aber ein paar Tage denke ich schon. Ich weiß einen Ort, wo ihr euch verstecken und vielleicht sogar leben könnt. Aber erst einmal müsst ihr euch ausruhen. Ich schicke gleich meine Nichte zu euch, sie kann euch helfen, während ich Abendessen mache.“ „Warten Sie, ich habe noch etwas für Sie“, sagte Emilia, denn plötzlich war sie sich sicher, dass der Brief von Juliette an diese Frau gerichtet war. „Was denn“, fragte Ellia ahnungslos. „Einen Brief von einem Mädchen namens Juliette, das wir unterwegs getroffen haben.“ Sie gab ihrer Gastgeberin den Brief. Ellia las ihn durch und schloss kurz die Augen, dann atmete sie tief ein und wieder aus. „Si giran dju ark rans.“ Die Worte sprach sie und lächelte Emilia zu. „Meine Nichte Isabelle wird euch alles zeigen und euch helfen. Ich mache schon mal Essen.“ Als das Mädchen eintrat, war Emilia zuerst sicher, Juliette vor sich zu haben, obwohl sie Juliette nur im Dunkeln gesehen hatte. „Hallo, ich bin Isabelle“, stellte das Mädchen sich vor und lachte, als sie Emilias verdutzte Mine sah. „Wie ich höre, hattet ihr schon eine Begegnung mit meiner Zwillingsschwester Juliette. Viele haben schon gesagt, dass wir uns sehr ähnlich sehen.“ „Ja, ihr seht euch sehr ähnlich, aber das ist bei Zwillingen ja so“, meinte Mio fröhlich. Die Geschwister folgten Isabelle durch den Flur und eine kurze, aber steile Treppe hinauf auf einen Dachboden. Es sah sehr gemütlich aus, in einer Ecke stand ein altes Bücherregal und daneben ein großer Kleiderschrank. Eine Tür führte in ein großes Badezimmer und an der rechten Wand waren drei Doppelbetten und zwei Einzelbetten aufgestellt. Eins der großen und die beiden kleinen Betten waren frisch bezogen und neben dem Schrank standen ihre Rucksäcke und Satteltaschen. „Ihr könnt alles einräumen, euch waschen und duschen, wenn ihr wollt, im Bad stehen auch zwei Waschmaschinen, wo ihr eure schmutzigen Sachen waschen könnt. Macht es euch einfach gemütlich.“ Mit diesen Worten stieg Isabelle wieder die Treppe hinunter und ließ sie allein. Als Erstes gingen die drei duschen und schmissen alle ihre schmutzigen Kleider und ihre Decken in die beiden Waschmaschinen. Danach räumten sie die wenigen anderen Dinge, die sie dabeihatten, in ihre jeweiligen Nachttische und den Badezimmerschrank ein. Als sie damit fertig waren und festgelegt hatten, wer wo schlafen würde, gingen sie wieder nach unten. In der Küche waren Isabelle und Ellia gerade dabei, das Abendessen zu kochen. „Wenn ihr wollt, könnt ihr schonmal den Tisch decken, das Besteck ist in der obersten Schublade unter dem Herd und die Teller sind im Schrank neben dem Kühlschrank“, sagte Ellia. Schon flitzten Mio und Rebekka los, um Messer, Gabeln und Löffel zu holen, während Emilia Teller und Schüsseln aufdeckte. Nachdem sie auch Gläser und Tassen auf den Tisch gestellt hatten, war das Essen fertig. Es gab Spaghetti Bolognese. Es war toll, mal wieder etwas Warmes zu essen denn; obwohl sie noch nicht lang auf der Flucht waren, war es für Emilia und ihre Geschwister der wundervollste Abend, seit ihre Eltern verschwunden waren. Als sie alle aufgegessen hatten, räumten sie ihr Geschirr weg und setzten sich in die Sessel am Kamin und Ellia begann, eine eindrucksvolle Geschichte zu erzählen, die Emilia in tiefes Staunen versetzte.